Javier Marías
Die sterblich Verliebten
Roman
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Fischer e-books
Javier Marías, 1951 als Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als interessantester Erzähler Spaniens. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.
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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel ›Los enamoramientos‹ im Verlag Alfaguara, Madrid 2011
© Javier Marías, 2011 published by agreement with Casanovas & Lynch Agencia Literaria S. L., Barcelona and Michi Strausfeld, Barcelona-Berlin
Für die deutsche Ausgabe © 2012 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Romain Baillom/ Millennium/ plainpicture
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ISBN 978-3-10-401997-0
Für Mercedes López-Ballesteros,
weil sie mich besucht und erzählt hat.
Und für Carme López Mercader,
weil sie noch immer in mein Ohr lacht
und zuhört.
Das letzte Mal sah ich Miguel Desvern oder Deverne, als ihn auch seine Frau Luisa zum letzten Mal sah, was eigentlich seltsam, ja ungerecht ist, denn sie war seine Frau und ich nur eine Unbekannte, die nie ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Selbst wie er hieß, wusste ich nicht, erfuhr es allzu spät, als er bereits in der Zeitung abgebildet war, voller Stichwunden, die Brust entblößt, im Begriff, ein Toter zu werden, wenn er es in seinem entschwundenen Bewusstsein, das nie wiederkehrte, nicht schon war: Als Letztes hatte er wohl wahrgenommen, dass jemand auf ihn einstach, irrtümlich und grundlos, purer Wahnwitz also, ein ums andere Mal, ohne Erbarmen, wieder und wieder, mit dem Ziel, ihn aus der Welt zu schaffen, schnellstens ins Jenseits zu befördern, hier und jetzt. Doch allzu spät für was, frage ich mich. Offen gesagt, ich weiß es nicht. Wenn jemand stirbt, denken wir immer, nun ist es zu spät für dies und für das, für alles – auf ihn zu warten vor allem –, und wir streichen ihn von der Liste. Selbst unsere Allernächsten, so schwer es uns fällt, sosehr wir sie beweinen, sooft uns ihr Bild im Geist begleitet, ob draußen oder zu Hause, solang wir auch glauben, uns niemals abzufinden. Aber von Anfang an – von dem Augenblick, da sie uns sterben – wissen wir, dass wir nicht mehr mit ihnen rechnen dürfen, nicht für die kleinste Kleinigkeit, einen banalen Anruf, eine dumme Frage (Habe ich den Autoschlüssel liegen lassen? Wann sind die Kinder heute aus dem Haus?), für nichts. Rein gar nichts. Im Grunde erstaunlich, denn es setzt Gewissheit voraus, und mit Gewissheiten steht unsere Natur auf Kriegsfuß: dass jemand gewiss nicht wiederkehrt, nichts mehr sagt, keinen Schritt mehr tut – ob er nun kommt oder geht –, uns nicht mehr anschaut, nicht mehr wegschaut. Ich weiß nicht, wie wir das aushalten, wie wir darüber hinwegkommen. Weiß nicht, wie wir manchmal vergessen können, während die Zeit verstreicht und uns von ihnen, die sich nicht mehr vom Fleck rühren, entfernt.
An so vielen Morgen hatte ich ihn gesehen, hatte ihn reden und lachen hören, in den letzten Jahren fast allmorgendlich, nicht allzu früh, ich kam sogar verspätet ins Büro, um diesem Pärchen ein Weilchen nah zu sein, nicht ihm – wohlgemerkt –, sondern beiden, beide wirkten sie beruhigend auf mich, machten mich froh, bevor ich den Arbeitstag begann. Sie wurden mir fast zur Notwendigkeit. Nein, das Wort taugt nicht für das, was uns Freude und Ruhe schenkt. Zu einem Aberglauben vielleicht, doch auch das trifft es nicht: Ich erwartete keinen Unglückstag, wenn ich nicht mit ihnen frühstückte, separat, versteht sich; ich begann den Tag nur weniger heiter, weniger optimistisch, wenn ich auf ihren Anblick verzichten musste, der für mich eine heile Welt bedeutete, eine harmonische, wenn man so will. Nun gut, ein winziges Stück Welt, das nur wenige sahen, wie bei jedem Bruchstück, jedem Leben, so öffentlich und vor aller Augen es auch stattfinden mag. Ungern vergrub ich mich für so viele Stunden, ohne sie gesehen, sie beobachtet zu haben, nicht heimlich, doch diskret, denn um nichts auf der Welt hätte ich ihnen lästig fallen oder sie stören wollen. Sie zu vertreiben, hätte ich mir nie verziehen, es wäre zu meinem eigenen Schaden gewesen. Es machte mich froh, dieselbe Luft zu atmen oder – wenn auch unbeachtet – Teil ihres morgendlichen Panoramas zu sein, bevor die beiden sich bis zur nächsten Mahlzeit, vermutlich dem Abendessen, trennten, an so vielen Tagen. An jenem letzten, an dem seine Frau und ich ihn sahen, gab es für sie kein gemeinsames Abendessen mehr. Nicht einmal ein Mittagessen. Sie wartete zwanzig Minuten an einem Restauranttisch auf ihn, verwundert, aber ohne Besorgnis, bis mit dem Klingeln des Telefons ihre Welt unterging und sie nie wieder auf ihn wartete.
Vom ersten Tag an war mir klar, dass sie ein Ehepaar waren, er, um die fünfzig, sie, ein gutes Stück jünger, wohl noch nicht vierzig. Besonders nahm mich ein, wie sehr sie ihre Gesellschaft genossen. Zu einer Tageszeit, zu der kaum jemand für etwas zu haben ist, schon gar nicht fürs Scherzen und Lachen, redeten sie unentwegt, amüsierten und ermunterten sich, als hätten sie sich eben erst getroffen, ja kennengelernt, wären nicht gemeinsam aus dem Haus gegangen, hätten sich nicht gleichzeitig zurechtgemacht – vielleicht sogar im selben Badezimmer –, wären nicht im selben Bett aufgewacht und hätten nicht als Erstes das Gesicht des anderen gesehen, Tag für Tag seit langen Jahren, dazu noch Kinder, die sie ein paarmal begleiteten, das Mädchen um die acht, der Junge um die vier und seinem Vater unglaublich ähnlich.
Er kleidete sich distinguiert, eine Spur altmodisch, ohne dass er im Geringsten lächerlich oder unzeitgemäß gewirkt hätte. Das heißt, er ging immer im Anzug, passend kombiniert, maßgeschneiderte Hemden, teure, schlichte Krawatten, Einstecktuch, Manschettenknöpfe, blitzsaubere Schnürschuhe – schwarz oder aus Wildleder, Letzteres nur ab dem Frühsommer, wenn er die hellen Anzüge wählte –, manikürte Hände. Trotzdem vermutete man keinen eitlen Manager in ihm, keinen feinen Pinkel. Er schien eher ein Mann zu sein, dessen gute Erziehung es nicht gestattete, anders gekleidet auf die Straße zu treten, zumindest nicht an einem Wochentag; an ihm wirkte der Aufzug ganz natürlich, als hätte ihm sein Vater beigebracht, dass sich derlei ab einem bestimmten Alter gehört, unabhängig von den Moden, die schon bei ihrer Geburt hinfällig sind, und von unserer zerlumpten Zeit, auf die er nichts geben musste. So klassisch ging er, dass ich niemals ein ausgefallenes Accessoire an ihm entdeckte: Er wollte nicht den Originellen spielen und wirkte doch ein wenig so inmitten dieses Cafés, in dem ich ihn immer sah, ja inmitten unserer nachlässigen Stadt. Seine Natürlichkeit wurde noch verstärkt von einem zweifellos warmherzigen Charakter, heiter, ja ungezwungen (doch nie etwa den Kellnern gegenüber, die er siezte und mit heute ungebräuchlicher Liebenswürdigkeit behandelte, ohne sich dabei anzubiedern): Tatsächlich erregte sein häufiges, fast schallendes Gelächter Aufsehen, wirkte aber keineswegs störend. Er verstand es, zu lachen, kräftig, doch aufrichtig und herzlich, niemals, als wollte er sich einschmeicheln oder anpassen, sondern als bereitete ihm tatsächlich etwas Heiterkeit, und das war oft der Fall, ein großzügiger Mann, immer bereit, sich auf die Komik des Moments einzulassen und Witze zu würdigen, zumindest die sprachlicher Natur. Vielleicht erzählte sie ihm seine Frau, es gibt Menschen, die uns zum Lachen bringen, auch wenn sie es nicht darauf anlegen, es gelingt ihnen vor allem durch ihre Gegenwart, bei der unser Lachen nicht viel Anschub braucht, es reicht, sie zu sehen, bei ihnen zu sein, ihnen zuzuhören, auch wenn sie nichts Weltbewegendes von sich geben, ja bewusst dumme, plumpe Scherze aneinanderreihen, die jedoch alle unsere Heiterkeit erwecken. Die beiden schienen füreinander solche Menschen zu sein; und obwohl man ihnen ansah, dass sie verheiratet waren, überraschte ich sie nie bei einer affektierten, aufgesetzten Geste, nicht einmal bei einer eingeübten wie bei manchen Ehepaaren, die seit Jahren zusammenleben und sich öffentlich mit ihrer anhaltenden Verliebtheit brüsten wie mit einem Verdienst, das sie aufwertet, oder einer Zierde, die sie schmückt. Bei ihnen hatte man den Eindruck, dass sie einander sympathisch und angenehm sein wollten, wie im Vorfeld eines Werbens; oder dass sie sich bereits vor ihrer Ehe, ja bevor sie überhaupt ein Paar waren, so sehr geschätzt und gemocht hatten und einander in jedem Fall aus freien Stücken – nicht aus ehelicher Pflicht, nicht aus Bequemlichkeit oder Gewohnheit, nicht einmal aus Treue – zum Gefährten oder Begleiter, zum Freund, Gesprächspartner oder Komplizen erwählt hätten, in der Gewissheit, was auch immer geschehen oder eintreten mochte, was auch immer zu erzählen oder zu hören war, es wäre in jedem Fall weniger interessant oder amüsant mit einem anderen. Für ihn ohne sie, für sie ohne ihn. Da war Kameradschaft und vor allem Überzeugung.
Miguel Desvern oder Deverne hatte sehr angenehme Gesichtszüge, deren Ausdruck auf männliche Weise zärtlich war, was ihn aus der Distanz sehr anziehend machte und im Umgang, wie ich vermutete, unwiderstehlich. Wahrscheinlich war er, nicht Luisa, mir zuerst aufgefallen, oder er hatte mich veranlasst, auch auf sie zu achten, denn die Frau sah ich oft ohne ihren Mann – er verließ immer zuerst das Café, sie blieb meist ein paar Minuten länger, mal allein mit einer Zigarette, mal mit ein, zwei Kolleginnen, anderen Müttern oder Freundinnen, die sich an manchen Morgen im letzten Moment zu ihnen gesellten, wenn er schon aufbrach –, aber ihn sah ich niemals ohne seine Frau. Sein Bild existiert für mich nur mit ihr zusammen (das war einer der Gründe, weshalb ich ihn anfangs in der Zeitung nicht erkannt hatte, denn da war er ohne Luisa zu sehen gewesen). Doch sofort interessierten sie mich beide, sofern dies das treffende Verb ist.
Desvern hatte kurzes Haar, dicht und dunkel, nur an den Schläfen grau, wo es auch krauser zu werden schien (hätte er sich Koteletten wachsen lassen, wären ihnen womöglich überraschende Löckchen entsprossen). Sein Blick war lebendig, ausgeglichen und fröhlich, beim Zuhören mit einem Schimmer Naivität und Kindlichkeit, der Blick eines Menschen, den das Leben im Allgemeinen vergnügt oder der es nicht durchleben will, ohne seine abertausend heiteren Seiten zu genießen, selbst inmitten von Mühsal und Unglück. Wovon er allerdings weniger erlitten haben mochte, als ein Menschenschicksal gewöhnlich aufweist, was ihm wohl half, sich diese vertrauensvollen, lächelnden Augen zu bewahren. Sie waren grau und schienen alles zu bemerken, als wäre alles für sie neu, selbst das, was sich vor ihnen tagtäglich an Belanglosem wiederholte, dieses Café im oberen Teil von Príncipe de Vergara mit seinen Kellnern, mein stummes Gesicht. Er hatte ein Grübchen am Kinn. Dabei kam mir eine Filmszene in den Sinn, in der eine Schauspielerin Robert Mitchum oder Cary Grant oder Kirk Douglas, ich weiß nicht mehr, fragt, wie er sich dort bloß rasiere, und ihren Zeigefinger in die Kerbe legt. Ich hatte jeden Morgen nicht übel Lust, vom Tisch aufzustehen, zu Devernes zu gehen, ihm dieselbe Frage zu stellen und mit Daumen oder Zeigefinger seines zu berühren, ganz leicht. Er war immer makellos rasiert, Grübchen eingeschlossen.
Die beiden achteten weit weniger, unendlich weniger auf mich als ich auf sie. Sie bestellten ihr Frühstück an der Theke und trugen es selbst zum Tisch am Fenster, während ich weiter hinten saß. Im Frühling und im Sommer setzten wir uns alle nach draußen, und die Kellner reichten uns die Bestellungen durch ein offenes Fenster auf Höhe des Tresens, was zu häufigerem Hin und Her, zu häufigerem Augenkontakt führte, zu mehr kam es zwischen uns nie. Sowohl Desvern als auch Luisa tauschten hier und da einen Blick mit mir, aus reiner Neugier, ohne jede Absicht, niemals lang. Er sah mich nie schmeichelnd, verführerisch oder selbstgefällig an, das hätte mich enttäuscht, und auch sie zeigte mir keinerlei Argwohn, Überlegenheit oder Missfallen, das hätte mich geärgert. Die beiden gefielen mir, beide zusammen. Ich beobachtete sie nicht mit Neid, ganz und gar nicht, sondern mit der Erleichterung, dass es im wirklichen Leben tatsächlich so etwas geben kann, ein in meinen Augen perfektes Paar. Ein solches waren sie für mich noch mehr, weil Luisas Aussehen nicht mit Devernes harmonierte, was Stil und Kleidung anging. Neben einem Mann in solchem Anzug hätte man eine Frau von ähnlicher Erscheinung erwartet, klassisch und elegant, wenn auch nicht berechenbar, meist in Rock und hochhackigen Schuhen, in Kleidern von Céline zum Beispiel, mit Ohrringen und Armbändern, auffallend, aber geschmackvoll. Sie jedoch wechselte zwischen einem sportlichen Stil und einem, sagen wir, saloppen, lässigen, jedenfalls keineswegs aufgeputzten. Etwa gleich groß wie er, hatte sie eine leicht getönte Haut und eine braune Mähne, sehr dunkel, fast schwarz, und schminkte sich kaum. Wenn sie Hosen trug – oft Jeans –, zog sie dazu eine gewöhnliche Windjacke und Stiefel oder flache Schuhe an; trug sie Röcke, dann waren die Schuhe halbhoch und ohne Firlefanz, fast wie die der Frauen in den fünfziger Jahren, im Sommer dann feine Sandalen, die den Blick auf für ihre Statur kleine, zarte Füße freigaben. Niemals sah ich Schmuck an ihr, und ihre Taschen hatten immer Schulterriemen. Sie sah ebenso sympathisch und fröhlich aus wie er, und wenn ihr Lachen nicht ganz so klangvoll war, kam es doch nicht weniger prompt und womöglich noch herzlicher, mit ihren blitzenden Zähnen, die ihr einen fast kindlichen Ausdruck verliehen – bestimmt lachte sie seit ihrem vierten Lebensjahr nicht anders, immer spontan –, vielleicht waren es auch die Wangen, die runden Bäckchen. Als gönnten sich die beiden Tag für Tag zusammen diese Atempause, bevor jeder sich zu seiner Arbeit aufmachte, nach der morgendlichen Hetzerei einer Familie mit kleinen Kindern. Einen Moment für sich allein, damit sie sich nicht inmitten all des Durcheinanders trennen mussten und noch angeregt plaudern konnten, und ich fragte mich, worüber sie sprachen, was sie sich erzählten – wie es kam, dass sie sich so viel zu erzählen hatten, wenn sie doch gemeinsam zu Bett gingen und aufstanden und sich gewiss über ihre Gedanken und Erlebnisse austauschten –, doch von ihrem Gespräch erreichten mich nur Fetzen oder einzelne Wörter. Einmal hörte ich, wie er sie »Prinzessin« nannte.
Ich wünschte ihnen also das Allerbeste, wie den Figuren aus einem Roman oder einem Film, für die man von Anfang an Partei ergreift, im Wissen, dass etwas Schlimmes passieren, irgendwann etwas schiefgehen wird, sonst wäre es kein Roman, kein Film. Im wirklichen Leben jedoch war das nicht zwangsläufig so, und ich erwartete, sie wie üblich jeden Morgen zu sehen, ohne eines Tages eine einseitige oder gegenseitige Abneigung zu entdecken, ein stockendes Gespräch, die Ungeduld, einander aus den Augen zu kommen, eine Geste gegenseitigen Ärgers oder der Gleichgültigkeit. Die beiden waren das kurze, bescheidene Schauspiel, das mir gute Laune machte, bevor ich in den Verlag ging, wo ich mich mit meinem größenwahnsinnigen Chef und seinen lästigen Autoren herumschlug. Wenn Luisa und Desvern ein paar Tage ausblieben, fehlten sie mir, und ich ging meinen Arbeitstag bedrückter an. In gewisser Weise fühlte ich mich in ihrer Schuld, denn unbewusst und unbeabsichtigt halfen sie mir tagtäglich und erlaubten mir, über ihr Leben zu spekulieren, das ich mir gern makellos vorstellte, so makellos, dass ich froh war, es nicht ergründen, es nie überprüfen zu können, damit nichts mich aus meiner flüchtigen Verzauberung riss (meines war voller Makel, und tatsächlich dachte ich an die beiden erst wieder am nächsten Morgen, während ich im Bus darüber fluchte, so früh aufgestanden zu sein, denn das bringt mich um). Ich hätte ihnen zu gern etwas Ähnliches geboten, aber das war nicht der Fall. Sie brauchten mich nicht, vermutlich niemanden, ich war beinahe unsichtbar, ausgelöscht durch ihre Zufriedenheit. Nur zweimal, als er sich beim Gehen mit dem üblichen Kuss auf den Mund von Luisa verabschiedete – sie erwartete diesen Kuss niemals im Sitzen, sondern stand auf, um ihn zu erwidern –, machte er eine leichte Kopfbewegung in meine Richtung, fast ein Nicken, nachdem er zuvor den Hals gereckt und die Hand leicht angehoben hatte, um sich von den Kellnern zu verabschieden, als wäre ich einer von ihnen, nur weiblich. Seine Frau als gute Beobachterin machte eine ähnliche Bewegung in meine Richtung, als ich ging – immer nach ihm und vor ihr –, die beiden Male, an denen ihr Mann diese Geste gezeigt hatte. Aber als ich mit einem noch leichteren Nicken antworten wollte, hatten sowohl er als auch sie bereits den Blick abgewandt und sahen mich nicht. So schnell waren sie oder so besonnen.
Ich beobachtete sie, wusste jedoch nicht, wer sie waren, was sie taten, auch wenn sie zweifellos Leute mit Geld waren. Reich wohl nicht, aber wohlhabend. Denn wären sie Ersteres gewesen, hätten sie ihre Kinder nicht selbst in Schule und Kindergarten gebracht, was sie, da war ich mir sicher, vor ihrer Pause im Café taten, bestimmt ins Colegio Estilo gleich um die Ecke, obwohl es in der Gegend mehrere gibt, renovierte Villen in El Viso, kleine Residenzen, wie man sie früher nannte; in einer solchen war ich selbst früher im Kindergarten gewesen, in der Calle Oquendo, nicht weit weg; auch hätten sie nicht fast täglich in diesem einfachen Lokal gefrühstückt, wären nicht um neun zur Arbeit gegangen, er kurz vorher, sie kurz danach, wie mir die Kellner versicherten, als ich mich nach den beiden erkundigte, und ebenso eine Kollegin aus dem Verlag, mit der ich später über den makaberen Vorfall sprach und die sie zwar auch nicht besser kannte als ich, jedoch so einiges in Erfahrung gebracht hatte, vermutlich finden Klatschsüchtige und Böswillige immer heraus, was sie wissen wollen, vor allem, wenn es unerfreulich oder ein Unglück im Spiel ist, sowenig es sie auch betreffen mag.
An einem Morgen Ende Juni blieben die beiden aus, was an sich nicht ungewöhnlich war, das kam vor, und ich nahm an, dass sie auf Reisen waren oder zu beschäftigt, um sich diese Atempause zu gönnen, die sie offensichtlich so genossen. Dann war ich selbst fast eine Woche fort, mein Chef hatte mich zu einer idiotischen Buchmesse ins Ausland geschickt, damit ich Public Relations machte, aber im Grunde nur an seiner statt den Trottel spielte. Nach meiner Rückkehr erschienen sie immer noch nicht, an keinem Tag, und das beunruhigte mich doch, weniger um ihret- als um meinetwillen, die ich nun meinen morgendlichen Antrieb verlor. Wie leicht verschwindet jemand von der Bildfläche, dachte ich. Da muss einer nur woanders arbeiten oder wohnen, schon erfährt man nichts mehr von ihm, sieht ihn sein Lebtag nicht wieder. Ja er muss bloß seinen Zeitplan ändern. Wie brüchig sind doch die visuellen Bande. Ich fragte mich, ob ich nicht doch einmal das Wort an sie hätte richten sollen, nachdem sie so lange für mich die Fröhlichkeit verkörpert hatten. Nicht, um sie zu belästigen oder ihnen den Moment ihres Beisammenseins zu verderben, schon gar nicht, um sie außerhalb des Cafés zu sehen, versteht sich, das wäre fehl am Platz gewesen; nein, nur um ihnen meine Sympathie zu zeigen, meine Wertschätzung, sie von da an zu grüßen und mich zu einem Wort des Abschieds verpflichtet zu fühlen, falls ich den Verlag verließ und nicht mehr in diese Gegend kommen würde, und auch sie zu Ähnlichem zu verpflichten, falls sie umzogen oder ihre Gewohnheiten änderten, so, wie uns der Händler im Viertel Bescheid sagt, wenn er den Laden schließt oder weitergibt, und auch wir fast alle Welt benachrichtigen, wenn wir umziehen. Damit man sich wenigstens bewusst macht, dass man die Menschen, die alltäglich um uns sind, nicht mehr vor Augen haben wird, auch wenn man ihnen immer nur einen distanzierten oder zweckdienlichen Blick geschenkt hat, bei dem man kaum auf die Gesichter achtet. Ja, das tut man gewöhnlich.
Also fragte ich schließlich die Kellner. Ihrer Ansicht nach war das Paar bereits in die Ferien gefahren. Das klang mehr nach Vermutung als nach verlässlicher Auskunft. Es war ein wenig früh dafür, aber manche verbringen den Juli lieber nicht in Madrid, wenn die Hitze zu Feuer wird, und vielleicht konnten Luisa und Deverne es sich erlauben, zwei Monate wegzufahren, wohlhabend und frei genug schienen sie zu sein (ihr Einkommen hing womöglich nur von ihnen ab). Zwar bedauerte ich es, bis September auf meinen kleinen morgendlichen Anreiz verzichten zu müssen, war jedoch beruhigt, dass er zurückkehren würde und nicht für immer vom Erdboden verschwunden war.
Ich erinnere mich, dass mir damals eine Schlagzeile untergekommen war, die von einem erstochenen Madrider Unternehmer handelte, und ich schnell weitergeblättert hatte, ohne den Artikel ganz zu lesen, gerade wegen des Bilds zur Nachricht: das Foto eines hingestreckten Mannes mitten auf der Straße, auf der Fahrbahn, ohne Sakko, Krawatte und Hemd oder vielmehr mit offenem, herausgezogenem, den die Samur-Sanitäter wiederzubeleben, zu retten versuchten, inmitten einer Blutlache, das weiße Hemd durchtränkt und befleckt, wie ich es mir nach flüchtigem Blick zumindest ausmalte. Das Gesicht war aus dem gewählten Blickwinkel kaum zu erkennen, und ich schaute es mir ohnehin nicht an, ich hasse die heutige Manie der Presse, dem Leser oder Zuschauer die brutalsten Bilder nicht zu ersparen – oder womöglich verlangen sie gerade danach, gestört, wie sie sind, im Großen und Ganzen; doch verlangt niemand, was er nicht schon kennt und bekommen hat –, als reichte die Beschreibung mit Worten nicht, und ohne die geringste Rücksicht gegenüber dem brutal Misshandelten, der sich nicht mehr wehren oder vor den Blicken schützen kann, denen er sich bei Bewusstsein niemals ausgesetzt hätte, wie er sich vor Unbekannten auch nicht im Bademantel oder Pyjama zeigen würde, weil er sich darin nicht für präsentabel hält. Einen toten oder sterbenden Menschen zu fotografieren, vor allem nach einer Gewalttat, halte ich für eine Unverschämtheit, für die größte Respektlosigkeit vor dem, der gerade zum Opfer, zum Leichnam geworden ist – solange man ihn sieht, scheint er noch nicht ganz tot, nicht ganz Vergangenheit zu sein, und dann muss man ihm gestatten, vollends zu sterben und ohne störende Zeugen oder Zaungäste aus der Zeit zu treten –, ich bin nicht bereit, mir diese Sitte aufzwingen zu lassen, habe keine Lust, das anzusehen, wozu man uns drängt oder fast nötigt, und neugierige, entsetzte Augen unter die der Tausenden zu mischen, deren Köpfe beim Zuschauen mit unterdrückter Faszination oder wohliger Erleichterung denken mögen: ›Ich bin es nicht, ein anderer liegt da vor mir. Bin es nicht, weil ich sein Gesicht sehe, und es ist nicht meins. Ich lese seinen Namen in der Presse, und auch der ist nicht meiner, sie stimmen nicht überein, so heiße ich nicht. Es hat einen anderen getroffen, was mag der getan haben, auf welche Geschichten, welche Schulden mag er sich eingelassen haben, was hat er Furchtbares angerichtet, dass man ihn dergestalt aufschlitzt. Ich lasse mich auf nichts ein, schaffe mir keine Feinde, halte mich fein raus. Oder halte mich nicht raus, richte auch mein Teil an, doch erwischt hat man mich nicht. Zum Glück ist es ein anderer, nicht ich bin der Tote, den man uns hier zeigt und über den man spricht, also kann ich mich heute sicherer fühlen als gestern, gestern bin ich entkommen. Den armen Teufel hat’s erwischt.‹ Nicht einen Augenblick kam mir der Gedanke, diese überblätterte Nachricht mit dem angenehmen, lächelnden Mann in Verbindung zu bringen, den ich täglich frühstücken sah, und der, ohne es zu wissen, mit seiner Frau die unendliche Freundlichkeit besessen hatte, mich zuversichtlich zu stimmen.
Ein paar Tage lang rechnete ich, nach Rückkehr von meiner Reise, noch immer mit dem Ehepaar, obwohl ich wusste, dass es nicht kommen würde. Nun traf ich jeden Morgen pünktlich im Verlag ein (ich verdrückte mein Frühstück und Schluss, es gab keinen Anlass zum Bummeln), doch etwas trübsinnig und vor allem unlustig, es ist erstaunlich, wie schlecht unser Alltag Veränderung verträgt und sei sie zum Guten, diese war es nicht. Es kostete mich mehr Überwindung, meine Arbeit anzugehen, zuzusehen, wie mein Chef sich aufblies, und die nervtötenden Anrufe oder Besuche der Schriftsteller zu empfangen, was aus unerfindlichem Grund an mir hängengeblieben war, vielleicht, weil ich ihnen vergleichsweise mehr Beachtung schenkte als meine Kollegen, die ihnen bewusst aus dem Weg gingen, vor allem den besonders eingebildeten, fordernden, aber auch den besonders lästigen, hilflosen, denen, die allein lebten, den kaputten Typen, die einen aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz anmachten, denen, die unsere Nummer wählten, damit ihr Tag anfing und jemand wusste, dass es sie noch gab, egal, unter welchem Vorwand. Es sind seltsame Leute, zum Großteil. Sie stehen auf, wie sie zu Bett gegangen sind, immer in Gedanken bei ihren Kopfgeburten, die sie rund um die Uhr beschäftigen. Die von der Literatur und ihren Grenzgebieten leben und somit keiner festen Arbeit nachgehen – das sind inzwischen einige, in dem Geschäft steckt Geld, sosehr man auch das Gegenteil behauptet, vor allem für Verleger und Händler –, sie verlassen nicht ihre Wohnung, müssen sich nur wieder an den Computer oder die Schreibmaschine setzen – manch Kauz benutzt noch Letztere, und die Texte müssen nach Abgabe eingescannt werden –, mit unbegreiflicher Selbstdisziplin: Etwas Überspanntheit gehört wohl dazu, wenn man sich an eine Arbeit macht, ohne dass sie einem aufgetragen wurde. Ich hatte nun also weit weniger Lust und Geduld, fast täglich einem Schriftsteller beim Ankleiden zu assistieren, Cortezo hieß er und rief mich unter einem unsinnigen Vorwand an, um zu fragen, »da ich dich schon mal an der Strippe habe«, ob meiner Ansicht nach Kluft oder Klamotten, in denen er ging oder gehen wollte und die er mir beschrieb, zueinander passten.
»Glaubst du, zu Nadelstreifenhose und braunen Mokassins mit Troddeln, du weißt schon, als Verzierung, passen da Rautensocken?«
»Welche Farbe haben die Rauten?«, fragte ich.
»Braun und orange. Aber ich habe auch rot-blaue und grün-beige, was meinst du?«
»Besser die blau-braunen, die du anhast«, antwortete ich.
»Die Kombination habe ich nicht. Soll ich welche kaufen gehen?«
Ich hatte ein Fünkchen Mitleid, obwohl es mich maßlos ärgerte, dass er mir mit solchen Fragen kam, als wäre ich seine künftige Witwe oder seine Mutter, und dass dieser Mensch sich so viel auf seine Texte einbildete, die von der Kritik gelobt wurden, mir jedoch dümmlich erschienen. Aber ich wollte ihn nicht losschicken, damit er sich in der Stadt noch mehr abartige Socken kaufte, die ihm auch nicht weiterhelfen würden.
»Nein, ist nicht nötig, Cortezo. Warum schneidest du aus den einen nicht die blauen, aus den anderen die braunen Rauten heraus und setzt sie zusammen? Mach ein Patchwork, wie es auf Neuspanisch heißt. Ein Kunstflickwerk.«
Es dauerte, bis er merkte, dass es ein Scherz war.
»Aber so was kann ich doch nicht, María, ich kann mir ja nicht mal einen Knopf annähen, und meine Verabredung ist in anderthalb Stunden. Ach so. Du nimmst mich auf den Arm.«
»Ich? Niemals. Aber besser, du ziehst einfarbige an. Marineblaue, wenn du die hast, und in dem Fall rate ich dir zu schwarzen Schuhen.« Am Ende half ich ihm ein wenig, soweit möglich.
Doch nun war ich ganz und gar nicht bei Laune und wimmelte ihn sofort ab, voll Überdruss und etwas böswilliger Tücke: Wenn er sagte, er gehe in einem dunkelgrauen Anzug zu einem Cocktail in der französischen Botschaft, empfahl ich ihm kurzerhand nilgrüne Socken und versicherte, das sei das neuste Wagnis, alle würden staunen, was ja im Grunde nicht falsch war.
Liebenswert zu bleiben fiel mir auch bei einem anderen Schriftsteller schwer, der als Garay Fontina firmierte – mit zwei Nachnamen also, ohne Vornamen, das hielt er wohl für originell und geheimnisvoll, es klang aber nach Schiedsrichter auf dem Fußballplatz – und der Ansicht war, der Verlag habe ihm jede Mühe und Unannehmlichkeit aus dem Weg zu räumen, auch wenn es nicht im Geringsten mit seinen Büchern zu tun hatte. Er verlangte von uns, einen Mantel bei ihm abzuholen und in die Reinigung zu bringen, einen Informatiker vorbeizuschicken oder die Maler, ihm eine Unterkunft in Trincomalee oder in Batticaloa zu suchen und seine gesamte Privatreise dorthin zu planen, den Urlaub mit seiner tyrannischen Gattin, die manchmal bei uns anrief oder persönlich auftauchte und nicht etwa mit Bitten, sondern mit Befehlen. Mein Chef hielt große Stücke auf Garay Fontina und war ihm über uns gern gefällig, nicht etwa, weil er so viele Bücher von ihm verkauft hätte, sondern weil er sich hatte einreden lassen, man lade ihn häufig nach Stockholm ein – zufällig wusste ich, dass er dort immer auf eigene Faust hinfuhr, um ins Blaue hinein zu intrigieren und die Luft dort zu schnuppern – und werde ihm den Nobelpreis geben, obwohl niemand ihn nominiert hatte, weder in Spanien noch sonst wo. Nicht einmal jemand in seiner Geburtsstadt, wie es bei so vielen der Fall ist. Doch er stellte es meinem Chef und seinen Angestellten als Tatsache dar, und wir wurden rot bei Sätzen wie »meine nordischen Spione sagen, dass er in diesem oder nächstem Jahr fällig ist« oder »ich habe schon im Kopf, was ich Carl Gustav bei der Zeremonie auf Schwedisch vorsetzen werde, Kleinholz mache ich aus dem, sein Lebtag wird der nichts Wilderes gehört haben, und das in seiner eigenen Sprache, die sonst niemand lernt«. »Ja was denn, was denn?«, fragte mein Chef mit vorauseilender Erregung. »Das wirst du am nächsten Tag in der Weltpresse lesen«, erwiderte Garay Fontina hochnäsig. »Keine Zeitung wird sich das entgehen lassen, und alle werden es aus dem Schwedischen übersetzen müssen, sogar die hiesigen, ist das nicht lustig?« (Es war geradezu beneidenswert, mit wie viel Selbstvertrauen er auf ein Ziel hinlebte, wenn auch beides, Ziel und Selbstvertrauen, frei erfunden waren.) Ich bemühe mich, diplomatisch zu bleiben, meine Stelle wollte ich nicht aufs Spiel setzen, aber jetzt kostete es mich unsägliche Überwindung, wenn ich ihn in aller Frühe mit einer maßlosen Forderung am Telefon hatte.
»María«, sagte er mir etwa an einem Morgen, »ihr müsst mir zwei Gramm Kokain besorgen, für eine Szene im neuen Buch. Jemand soll es mir vorbeibringen, so bald wie möglich, aber auf jeden Fall vor Einbruch der Dunkelheit. Ich will mir die Farbe bei Tageslicht anschauen, nicht, dass ich mich irre.«
»Aber Herr Garay …«
»Garay Fontina, meine Liebe, wie oft habe ich dir das schon gesagt; Garay allein kann jeder heißen, ob im Baskenland, in Mexiko oder Argentinien. Sogar ein Fußballspieler.« So sehr ritt er darauf herum, dass ich mir sicher war, den zweiten Nachnamen hatte er erfunden (bei einem Blick ins Madrider Telefonbuch fand ich keinen Fontina, nur einen Laurence Fontinoy, ein noch unwahrscheinlicherer Name, wie der Sturmhöhe entsprungen), vielleicht hatte er auch beide erfunden und hieß womöglich Gómez Gómez oder García García oder sonst etwas doppelt Gemoppeltes, dessen er sich schämte. Wenn es ein Pseudonym war, wusste er sicher nicht, dass Fontina ein italienischer Käse ist, ich weiß nicht, ob von Kuh oder Ziege, den man im Aostatal herstellt, wie mir scheint, und den man vor allem zum Schmelzen gebraucht. Nun gut, es gibt ja auch Erdnüsse mit Namen Borges, was den wohl kaum gestört hätte.
»Ja, Herr Garay Fontina, verzeihen Sie, es war nur um der Kürze willen. Aber wissen Sie«, das konnte ich mir nicht verkneifen, auch wenn es darum gar nicht ging, »zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Farbe. Ich kann Ihnen versichern, sie ist weiß, ob bei Sonnenlicht oder Lampenlicht, das ist allgemein bekannt. In vielen Filmen kommt es vor, haben Sie seinerzeit nicht die von Tarantino gesehen? Oder den mit Al Pacino, wo er sich ganze Berge davon reinzieht?«
»So weit reicht’s bei mir noch, liebe María«, entgegnete er pikiert. »Immerhin lebe ich auf diesem dreckigen Planeten, sowenig es auch den Anschein haben mag, wenn ich gerade schöpferisch tätig bin. Aber sei so lieb und unterschätz mich nicht, die du dich nicht aufs bloße Bücherproduzieren beschränkst wie deine Kollegin Beatriz und so viele andere, sondern sie außerdem liest, mit gutem Urteil dazu.« Derlei sagte er mir bisweilen, vermutlich, um mich für sich zu gewinnen: Ich hatte ihm niemals meine Meinung über irgendeinen seiner Romane gesagt, dafür wurde ich nicht bezahlt. »Ich fürchte nur, nicht das präzise Adjektiv zu finden. Mal sehen, weißt du genau, ob es ein milchiges Weiß ist oder ein Kalkweiß? Und die Beschaffenheit: Ist es eher wie zermahlene Kreide oder wie Zucker? Wie Salz, wie Mehl oder wie Talkum? Na, sag schon.«
Da hatte ich mich auf eine absurde, gefährliche Diskussion eingelassen, überempfindlich, wie der baldige Laureat war. Ich hatte mich selbst reingeritten.
»Wie Kokain eben, Herr Garay Fontina. Heutzutage muss man es nicht beschreiben, denn wer hätte es nicht probiert oder vor Augen gehabt. Höchstens die Alten nicht, doch auch die haben es tausendmal im Fernsehen gesehen.«
»Willst du mir etwa sagen, wie ich zu schreiben habe, María? Ob ich ein Adjektiv setzen soll oder nicht? Was ich beschreiben soll und was überflüssig ist? Soll das eine Lektion für Garay Fontina sein?«
»Aber nein, Herr Fontina …« Es gelang mir einfach nicht, ihn jedes Mal mit beiden Namen anzusprechen, das dauerte eine Ewigkeit, und die Kombination war weder klangvoll noch gefiel sie mir. Dass ich »Garay« ausgelassen hatte, schien ihn aber weniger zu stören.
»Wenn ihr mir heute zwei Gramm Koks besorgen sollt, dann werde ich meine Gründe haben. Dann wird mein Buch sie heute Abend brauchen, und ihr wollt doch ein neues Buch und ohne Fehler, nicht wahr? Ihr habt nichts weiter zu tun, als es mir zu beschaffen und vorbeizubringen, ohne Widerrede. Oder muss ich persönlich mit Eugeni sprechen?«
Hier schob ich auf eigenes Risiko den Riegel vor und verhedderte mich dabei in einer katalanischen Satzstellung. So etwas hängte mir mein Chef an, der gebürtiger Katalane war und Katalanismen wie Pyramiden auftürmte, obwohl er sein ganzes Leben in Madrid verbracht hatte. Wenn ihm Garays Forderung zu Ohren kam, brachte er es fertig und schickte uns allesamt nach Drogen aus (in verrufene Viertel oder Gegenden, in die sich kein Taxifahrer vorwagt), nur um es ihm recht zu machen. Er nahm seinen eitelsten Autor allzu ernst, unfassbar, wie diese Leute so viele von ihrer Größe überzeugen können, ein rätselhaftes, allgemein verbreitetes Phänomen.
»Dass Sie uns für Dealer halten, Herr Fontina?«, sagte ich. »Sie verlangen von uns, dass wir gegen das Gesetz verstoßen, ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist. Kokain kauft man nicht im Tabakladen, das wissen Sie doch, auch nicht in der Eckkneipe. Und wozu brauchen Sie ausgerechnet zwei Gramm? Haben Sie eine Vorstellung, wie viel zwei Gramm sind, wie viele Lines das ergibt? Nicht, dass Sie eine Überdosis abkriegen, das wäre ein großer Verlust. Für Ihre Frau und für die Literatur. Sie könnten einen Hirnschlag bekommen. Oder abhängig werden und an nichts anderes mehr denken, aus mit der Literatur, aus mit allem, ein menschliches Wrack, aus mit dem Reisen, denn mit Drogen kann man keine Grenzen überqueren. Was halten Sie davon, die schwedische Zeremonie ist im Eimer, aus mit den Frechheiten für Carl Gustav.«
Garay Fontina schwieg einen Augenblick, als überlegte er, ob er mit seiner Forderung zu weit gegangen war. Aber ich glaube, am schwersten wog die Drohung, am Ende Stockholms Teppiche nicht betreten zu können.
»Ach was, von wegen Dealer«, sagte er endlich. »Ihr kauft es doch bloß, handelt nicht damit.«
Ich nutzte seine Unschlüssigkeit, um ein wichtiges Detail des geplanten Geschäfts zu klären:
»Na, und wenn wir es Ihnen übergeben? Wir drücken Ihnen die zwei Gramm in die Hand und Sie uns das Geld, nicht wahr? Was ist das? Etwa kein Dealen? Für einen Bullen zweifellos.« Das war keine Lappalie, denn Garay Fontina erstattete uns nicht immer die Kosten für die Reinigung, den Lohn für die Maler oder die Reservierungskosten in Batticaloa, bestenfalls ließ er sich ewig Zeit damit, und mein Chef bekam es mit der Angst, wurde nervös, wenn man den Mann zur Kasse bitten musste. Es hatte gerade noch gefehlt, dass wir ihm für den neuen Roman, unvollendet und somit noch nicht unter Vertrag, seine Laster finanzierten.
Ich merkte, dass er noch mehr zögerte. Vielleicht hatte er sich bisher keine Gedanken über die Ausgaben gemacht, verwöhnt, wie er war. Wie so viele andere Schriftsteller war er ein Schnorrer, ein Geizhals ohne Stolz. Er hinterließ horrende Rechnungen in den Hotels, wenn er seine Vorträge in der weiten Welt hielt oder eher in der engen Provinz. Eine Suite verlangte er, alle Extras inklusive. Es wurde gemunkelt, dass er auf Reisen seine schmutzige Kleidung und die Bettwäsche mitnahm, nicht etwa eine exzentrische Laune, ein Spleen, sondern das Hotel sollte sie ihm waschen, sogar die Socken, zu denen er sich nicht Rat bei mir holte. Das konnte nicht wahr sein – wie unglaublich lästig, so viel Gepäck mit sich herumzuschleppen –, doch niemand fand eine andere Erklärung dafür, dass die Veranstalter seines Vortrags einmal eine kolossale Wäscherechnung hatten begleichen müssen (an die zweihundert Euro, wie sich herumgesprochen hatte).
»Weißt du, was man heute für Kokain bezahlt, María?«
Ich kannte den genauen Preis nicht, schätzte an die sechzig Euro, setzte jedoch höher an, um ihn zu erschrecken und zu entmutigen. Ich witterte meine Chance oder zumindest einen Ausweg aus der Verlegenheit, es ihm beschaffen zu müssen, wer weiß, in welchen Spelunken, an welchen einsamen Ecken.
»Mir scheint, so an die achtzig Euro pro Gramm.«
»Hui.« Er wurde nachdenklich. Das Knauserkalkül der emsigen Maus arbeitete wohl in seinem Kopf. »Gut. Vielleicht hast du recht. Vielleicht reicht auch eins oder ein halbes. Kann man ein halbes kaufen?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis, Herr Garay Fontina. Ich nehme keins. Würde aber sagen, nein.« Besser, er sah keine Einsparmöglichkeiten. »Man kann ja auch kein halbes Fläschchen Kölnisch Wasser kaufen, vermute ich. Keine halbe Birne.« Kaum hatte ich das gesagt, merkte ich, wie absurd diese Vergleiche waren. »Oder eine halbe Tube Zahnpasta.« Das schien mir passender zu sein. Aber noch musste man ihn dazu bringen, die Idee ganz aufzugeben oder den Stoff auf eigene Faust zu besorgen, ohne dass wir straffällig wurden oder Geld vorschießen mussten. Bei ihm wusste man nie, ob man es je wiedersah, und zum Fenster konnte der Verlag sein Geld auch nicht hinausschmeißen. »Wenn ich fragen darf, wollen Sie es schnupfen oder nur anschauen und anfassen?«
»Ich weiß noch nicht. Das hängt davon ab, was das Buch heute Abend verlangt.«
Ich fand es lächerlich, dass ein Buch irgendetwas verlangte, ob abends oder tagsüber, schon gar kein ungeschriebenes, dazu noch von dem, der es gerade schrieb. Ich nahm es als poetische Metapher und ließ es kommentarlos durchgehen.
»Sehen Sie, im zweiten Fall, wenn Sie es bloß beschreiben, also ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Sie wollen doch ein universaler Schriftsteller sein, sind es ja bereits, und als solcher haben Sie Leser aller Altersgruppen. Sie möchten doch nicht, dass die jungen Leute denken, die Droge sei etwas Neues für Sie und Sie hätten keinen Schimmer, wenn Sie erst zu erzählen anfangen, wie sie aussieht und wirkt. Und dass sie sich über Sie lustig machen. Beschreibt man heutzutage Kokain, könnte man genauso gut eine Ampel beschreiben. Na, was wären die Adjektive? Grün, gelb, rot? Statisch, aufrecht, unerschütterlich, metallisch? Das wäre doch albern.«
»Du meinst eine Ampel, wie die auf der Straße?«, hakte er beunruhigt nach.
»Eben die.« Ich wusste nicht, was ich anderes mit »Ampel« hätte meinen sollen, zumindest in der Alltagssprache.
Er schwieg einige Augenblicke.
»Sich lustig machen, was? Keinen Schimmer«, wiederholte er. Ich merkte, dass diese Wörter ihr Ziel erreicht und Wirkung gezeitigt hatten.
»Aber nur in dem genannten Fall, Herr Fontina, so viel steht fest.«
Die Aussicht, dass sich ein paar junge Leute über eine einzige seiner Zeilen lustig machen könnten, war ihm wohl unerträglich.
»Gut, ich denke drüber nach. Ein Tag hin oder her, was macht das schon. Morgen sage ich dir, wie ich entschieden habe.«
Ich wusste, dass er nichts mehr dazu sagen würde, dass er sich schwachsinnige Experimente und Recherchen verkneifen und unser Telefongespräch nie mehr erwähnen würde. Er gerierte sich als unkonventionell und transmodern, war aber im Grunde wie Zola und so manch anderer: Er tat sein Äußerstes, um zu erleben, was er sich ausdachte, weshalb in seinen Büchern alles künstlich und bemüht klang.
Als ich auflegte, war ich verblüfft, dass ich Garay Fontina etwas abgeschlagen hatte, auch noch ohne Rückendeckung meines Chefs, auf eigene Faust. Schuld daran war, dass meine Laune litt, meine Lustlosigkeit zunahm, die Freude beim Frühstück ausblieb ohne das perfekte Paar, das nicht mehr da war, um mich mit seinem Optimismus anzustecken. Zumindest ein Vorteil dieses Verlusts: Schwäche, Anmaßung und Dummheit tolerierte ich nun weniger.
Das war der einzige Vorteil, und der lohnte nicht. Die Kellner hatten sich geirrt, und als sie es merkten, unterrichteten sie mich nicht davon. Desvern würde nie mehr zurückkehren und somit auch nicht das heitere Paar, das als solches ebenfalls aus der Welt geschafft worden war. Meine Kollegin Beatriz, die sporadisch in dem Café frühstückte und die ich auf das Besondere an dem Ehepaar aufmerksam gemacht hatte, erwähnte eines Morgens das Geschehene, zweifellos im Glauben, dass ich Bescheid wusste, es gleich danach erfahren hatte, also aus den Zeitungen oder von den Angestellten des Lokals, ja dass wir schon darüber gesprochen hatten, wobei sie vergaß, dass ich damals auf Reisen gewesen war, gleich nach dem Vorfall. Wir tranken nur kurz einen Kaffee draußen, als sie ernst wurde, mechanisch mit dem Löffel in dem ihren rührte und mit einem Blick auf die allesamt besetzten Tische murmelte:
»Wie entsetzlich, dass einem so was passiert, also wirklich, das mit deinem Ehepaar. Da fängt sein Tag wie jeder andere an, und du hast nicht die geringste Ahnung, dass heute dein Leben zu Ende geht, und so brutal dazu. Denn auf seine Art wird auch das ihre zu Ende sein. Für lange Zeit zumindest, Jahre sogar, und ich bezweifle, dass sie je darüber hinwegkommt. Was für ein sinnloser Tod, so ein schreckliches Unglück, das kriegt man doch sein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf: Weshalb musste es ihn treffen, weshalb mich, wo doch Millionen in dieser Stadt leben? Ich weiß nicht. Nimm mal Saverio, den ich zwar nicht mehr so liebe, aber wenn ihm so etwas zustoßen würde, ich glaube nicht, dass ich einfach nach vorn schauen könnte. Es ist nicht nur der Verlust, ich würde mich wie gebrandmarkt fühlen, als hätte es jemand auf mich abgesehen und wäre nicht aufzuhalten, weißt du, was ich meine?« Sie war mit einem großspurigen Italiener verheiratet, einem Schmarotzer, den sie kaum mehr ertrug, sie hielt bloß der Kinder wegen aus und weil sie einen Liebhaber hatte, der ihr die Tage mit seinen lüsternen Anrufen versüßte und mit der Aussicht auf sporadische Treffen, zu denen sie wenig Gelegenheit hatten, beide mit Partner und Kindern. Die nächtlichen Phantasien versüßte ihr ein Autor des Verlags, wohl kaum der dicke Cortezo oder Garay Fontina, widerwärtig von innen wie von außen.
»Sag mal, wovon redest du?«
Da erzählte sie es mir oder begann zu erzählen, erstaunt über mein Unwissen, allzu reißerisch und überstürzt, denn es wurde spät, und ihre Stellung im Verlag war weniger sicher als meine, sie wollte kein Risiko eingehen, schon schlimm genug, dass Fontina ihr nicht grün war und sich oft bei Eugeni über sie beklagte.
»Nicht mal in der Zeitung hast du’s gesehen? Sogar mit Foto, der arme Mann, in Blut gebadet am Boden. Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber schau im Internet nach, da wirst du sicher fündig. Deverne hieß er, der vom Filmverleih, weißt du: ›Deverne Films präsentiert‹, haben wir tausendmal im Kino gesehen. Sofort wirst du alles finden. Eine grauenvolle Geschichte. Die Haare könnte man sich ausreißen, allesamt, bei so einem entsetzlichen Unglück. Wenn ich seine Frau wäre, ich käme nicht drüber weg. Rein wahnsinnig wird sie sein.« Erst da erfuhr ich seinen Namen oder vielmehr seinen Künstlernamen.
An dem Abend gab ich »Tod Deverne« in meinen Computer ein, und tatsächlich tauchte die Nachricht auf, im Lokalteil von zwei, drei Madrider Zeitungen. Sein richtiger Nachname war Desvern, doch bestimmt hatte ihn die Familie seinerzeit fürs Geschäft geändert, fürs Publikum, um dem nichtkatalanischen Spanien die Aussprache zu erleichtern und vielleicht zu vermeiden, dass das katalanische ihn mit der Ortschaft Sant Just Desvern in Verbindung brachte, die ich nur kannte, weil dort mehr als ein Barceloner Verlag sein Lager hatte. Oder der Verleih sollte einen französischen Anstrich bekommen: Bei seiner Gründung – in den sechziger Jahren oder früher – kannte alle Welt noch Jules Verne, und das Französische genoss hohes Ansehen, nicht wie heute, bei diesem Louis de Funès ohne Glatze als Präsidenten. Ich erfuhr, dass die Devernes außerdem einige Premierenkinos im Zentrum besaßen, das Unternehmen sich jedoch vermutlich, je mehr von ihnen eingingen und in Einkaufsflächen umgewandelt wurden, diversifiziert hatte und sich nun vor allem dem Immobiliengeschäft widmete, nicht nur in der Hauptstadt, sondern weltweit. Miguel Desvern musste also reicher sein, als ich angenommen hatte. Das machte es noch unbegreiflicher, dass er fast jeden Morgen in einem Café frühstückte, das auch für mich erschwinglich war. Der Vorfall hatte sich an dem Tag ereignet, an dem ich ihn zum letzten Mal dort gesehen hatte, und deshalb wusste ich, dass seine Frau und ich uns zur gleichen Zeit von ihm verabschiedet hatten, sie mit den Lippen, ich nur mit den Augen. Es war – grausame Ironie des Schicksals – sein Geburtstag gewesen, so dass er ein Jahr älter als am Vortag gestorben war, mit fünfzig.
Die Presseberichte gingen in einigen Details auseinander (wohl je nachdem, mit welchen Anwohnern oder Passanten die jeweiligen Reporter gesprochen hatten), stimmten jedoch im Großen und Ganzen überein. Deverne hatte offensichtlich seinen Wagen wie üblich in einer Seitenstraße des Paseo de la Castellana geparkt, gegen zwei Uhr nachmittags – bestimmt wollte er sich mit Luisa zum Mittagessen in einem Restaurant treffen –, nicht weit von seiner Wohnung entfernt und noch näher an einem kleinen Parkplatz, der zur Technischen Hochschule für Industrieingenieure gehörte. Beim Aussteigen hatte ihn ein Penner angepöbelt, der dort für ein Almosen der Autofahrer als Parkeinweiser arbeitete – was man gemeinhin als Gorrilla