Realismus
Das große Lesebuch
Herausgegeben von Christian Begemann
Fischer e-books
Originalausgabe
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Unsere Adressen im Internet:
www.fischerverlage.de
www.fischer-klassik.de
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-10-402027-3
Ich möchte diese Einleitung nicht schließen, ohne meiner Mitarbeiterin Anna Birk für ihren unverzichtbaren Einsatz bei der bibliographischen Recherche, der Beschaffung und Korrektur der Texte sowie mancherlei andere Anregungen gedankt zu haben.
Eigene Worte Julians in einem von ihm vorhandenen Sonett.
Als Realismus bezeichnet man im Bereich der deutschsprachigen Literatur üblicherweise die Zeit zwischen etwa 1848 und 1890 und denkt dabei an prominente Autoren wie Stifter und Keller, Storm und Raabe, Meyer oder Fontane, gelegentlich auch an weniger bekannte wie Gustav Freytag, Otto Ludwig, Marie von Ebner-Eschenbach oder Ferdinand von Saar. Wie immer, wenn es um Epochen geht, lässt sich auch hier um die zeitlichen und sachlichen Grenzen streiten. Es ist durchaus möglich, mit Blick auf AutorInnen wie Annette von Droste-Hülshoff, Georg Büchner, Karl Immermann oder Jeremias Gotthelf von einem Frührealismus der 1830er und 1840er Jahre zu sprechen, doch ist dabei festzuhalten, dass er von den Autoren der Folgezeit außerordentlich kritisch gesehen und meist entschieden abgelehnt wurde. Plausibler erscheint daher die Epochengrenze um 1848. Zwar handelt es sich dabei um ein politisches Datum, dem keine unmittelbare literarhistorische Zäsur entspricht, doch markiert es einen folgenreichen Einstellungswandel in den bürgerlichen Schichten, denen die Autoren literarischer Werke überwiegend angehörten. Mit der gescheiterten Revolution verabschiedete man sich von den nun als illusionär und weltfremd angesehenen politischen Zielen der Vormärzzeit, wurde ›realistisch‹ und suchte einen sozialen Ausgleich mit jenen sozialen und politischen Kräften, an denen kein Weg vorbeizuführen schien. Zugleich verschärfte sich das Bewusstsein, in einer Zeit fortschreitender Unübersichtlichkeit und Kontingenz zu leben: Ökonomische, technische, soziale und kulturelle Prozesse, wie die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die Industrialisierung, das Bevölkerungswachstum, die Urbanisierung oder die Formierung von Unterschichten zu politischen Kräften, Phänomene der Entfremdung oder die Vervielfältigung und Spezialisierung des kulturellen Wissens stellten massive Herausforderungen des tradierten Orientierungswissens dar und führten zu Verunsicherung, ja zu Schockerfahrungen. Es ist nicht zuletzt dieser Kontext, in dem sich die realistische Literatur der 2. Jahrhunderthälfte lesen lässt. Ein eigentliches Epochenende lässt sich nur schwer festlegen. Man könnte eher sagen, das realistische Paradigma laufe allmählich aus. Seit den 1880er Jahren entstehen parallel zum Realismus, der mit Fontane und Meyer sowie den Spätwerken von Storm und Raabe noch einmal einen Höhepunkt erreicht, neue literarische Strömungen, zuerst der Naturalismus, dann die antinaturalistischen Strömungen der 1890er Jahre und der Jahrhundertwende, wie der Symbolismus oder der Ästhetizismus. Mit deren zunehmender Dominanz werden die späten Realisten zu Randfiguren im literarischen Feld, obgleich gerade sie eine sehr spezifische Form der Modernität ausbilden. Wenn 1899 mit Hastenbeck und Der Stechlin die letzten Romane Wilhelm Raabes und Theodor Fontanes publiziert werden, sind das nur noch Nachklänge der Epoche des literarischen Realismus, auch wenn Ferdinand von Saars späteste Novellen noch sieben Jahre danach, 1906, einen nun schon völlig unzeitgemäßen, allerletzten Epilog bilden.
Problematischer als die zeitlichen Grenzen ist indes die Kategorie, die der Epoche ihren Namen gegeben hat: die des Realismus. In vieler Hinsicht verspricht sie mehr, als sie halten kann, und es lohnt sich daher, sie etwas genauer ins Auge zu fassen. Anders als in historisch eher zufälligen Epochenbezeichnungen wie ›Barock‹ oder ›Biedermeier‹ scheint sich im Begriff des ›Realismus‹ ein Programm, eine Absicht und ein Versprechen zu verbergen. Mit ›Realismus‹ – abgeleitet vom lateinischen ›realis‹, das so viel bedeutet wie eine ›res‹, eine Sache betreffend – verbindet sich landläufig die Vorstellung einer irgendwie ›angemessenen‹ Beziehung zur Realität. ›Realistisch‹, das ist das Erwartbare und Wahrscheinliche, das, was mit unseren Vorstellungen von dem übereinstimmt, was wir für ›real‹ halten. ›Realistische‹ Literatur scheint sich der Realität anders, stärker und adäquater zuzuwenden als etwa ›romantische‹ oder ›symbolistische‹, so dass wir das Dargestellte nicht nur wiedererkennen, sondern ihm selbst eine Form von Wirklichkeit zuzusprechen geneigt sind. Man hat den Realismus daher immer wieder zu einer überhistorischen Kategorie machen wollen, mit der von der Antike bis in die Moderne bestimmte Formen der Darstellung erfasst werden sollten, die einen »Realitätseffekt« (Barthes 1968) bzw. eine »Referenzillusion« (Zeller 1980) bewirken. Eine solche Enthistorisierung aber kann nur problematisch ausfallen. Denn die Kategorie des Realismus impliziert den wie auch immer gearteten Bezug auf eine ›Realität‹, und Vorstellungen von Realität sind ihrerseits in einem hohen Maße historisch bedingt. Den Realismus gibt es schon deshalb nicht, weil wir damit unterstellen würden, wir könnten überhistorische Kriterien für eine ›realitätsadäquate‹ Beziehung von Darstellung und Gegenstand, Zeichen und Bezeichnetem aufstellen. Tatsächlich aber betrachtet jede Lesergeneration als ›realistisch‹ immer nur das, was mit ihrem eigenen Konzept von Wirklichkeit übereinstimmt. So tut man gut daran, die Kirche im Dorf zu lassen und Realismus als einen historisch relativen Begriff zu betrachten, der nur in seinem jeweiligen geschichtlichen Umfeld Sinn macht.
Bereits die Autoren der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sehen die Literatur seit 1848, sei es zustimmend, sei es bloß diagnostizierend, im Zeichen des Realismus, und es ist letztlich diese Selbsteinschätzung, die den historischen Ursprung unseres heutigen Epochenbegriffs bildet. Eine breite literaturtheoretische, -kritische und -programmatische Diskussion kreist nach 1848 um den Begriff des Realismus und verfolgt dabei das Anliegen einer neuen Positionsbestimmung von Literatur. »Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus«, bemerkt Theodor Fontane 1853 und meint damit nicht nur die Literatur und die bildende Kunst, sondern auch die Wissenschaft und die Politik (vgl. Kapitel 1.2.1). Die Welt sei »des Spekulierens müde« und habe sich daher den Tatsachen, den Erfahrungen, der Wirklichkeit verschrieben. Literatur wird dabei als Teil einer breiten kulturellen Bewegung gesehen. Sicherlich bringt Fontanes Einschätzung das Verhalten bürgerlicher Schichten nach der Revolution ebenso auf den Punkt wie die Entwicklung der Naturwissenschaften in Richtung Empirismus und Positivismus oder eine Tendenz der literaturprogrammatischen Diskussion. Aber auch die Literatur selbst? Tatsächlich erscheint heutigen Lesern die Literatur der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vielleicht gar nicht so sonderlich ›realistisch‹, ja, man kann mit einigem Recht feststellen, dass sie vielen Phänomenen gezielt ausweicht, die für uns das Bild der ›Wirklichkeit‹ des 19. Jahrhunderts in einer sehr grundlegenden Weise prägen: Eine Auseinandersetzung mit den Prozessen der gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Modernisierung etwa, der sozialen Frage oder den damals bewegenden Problemen der Politik sucht man meist vergebens in der Literatur des Realismus, die uns stattdessen oftmals in die fernen Räume der Geschichte entführt, in idyllische Dörfer und Kleinstädte und in Lebensverhältnisse, die schon damals nostalgisch anmuten mussten. So ergibt sich ein seltsam zwiespältiger Befund: Betrachten viele Autoren die ›realistische‹ Wendung zur Wirklichkeit als einen unverzichtbaren Faktor jeder künstlerischen Arbeit, so haben sie zugleich offenkundige Berührungsängste gegenüber der aktuellen Welt.
Dieser Befund führt zu einer wichtigen Differenzierung der Vorstellung von Realismus. Realismus nämlich ist für die Zeitgenossen nicht identisch mit einer kritischen Hinwendung zu sozialen, ökonomischen und politischen Missständen, wie das im Vormärz der Fall war. Der »wahre Realismus«, den man jetzt propagiert, ist keineswegs verpflichtet, sich der faktischen Realität in allen ihren auch unschönen, bedrängenden und verwirrenden Aspekten zuzuwenden. Im Gegenteil. Für Fontane etwa ist Realismus zwar die »Widerspiegelung« des »wirklichen Lebens«, doch wird dies in zweierlei Hinsicht modifiziert. Zum einen ist nicht die »bloße Sinnenwelt« mit all ihren »Schattenseiten« Gegenstand der Darstellung, sondern vielmehr »das Wahre«. Im Gegenstandsbereich der Kunst hat somit eine Selektion stattzufinden, die alles ausblendet, was mit »Misere« zu tun hat, und zugleich unter dem Zufälligen der Erscheinungen eine Tiefenschicht von Wesentlichem, Allgemeinem und Gesetzmäßigem freilegt. Zum anderen hat die Widerspiegelung »im Elemente der Kunst« zu erfolgen. Auch realistische Kunst versteht sich bei aller notwendigen Bindung an eine äußere Wirklichkeit in erster Linie als Kunst. Sie schreibt dabei nicht nur die goethezeitliche Forderung nach Autonomie des Kunstwerks fort, sondern sieht sich auch in klassizistischer Tradition auf die Darstellung des Poetischen, Idealen und Schönen verpflichtet. Häufig wird die zentrale Leistung der Kunst mit dem Begriff der ›Verklärung‹ umschrieben, der poetische Verdichtung, Überhöhung und Steigerung, aber auch Harmonisierung und Glättung von Widersprüchen meint. Die poetische Verklärung ist gleichsam der »Goldgrund« aus dem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer (vgl. Kapitel 6.5), in dessen Glanz das Dargestellte zu erstrahlen hat. Der Realismus, um den es den Zeitgenossen geht, ist mithin kein »gemeiner«, sondern ein »poetischer Realismus«, wie die historisch vielleicht folgenreichste, weil bis in die heutige Literaturwissenschaft nachwirkende Begriffsbildung lautet. In seinem Lichte erklären sich nicht nur die Vermeidungsstrategien der Literatur der 2. Jahrhunderthälfte gegenüber weiten Teilen der zeitgenössischen Wirklichkeit, die als nicht poesiefähig angesehen werden. Er begründet auch die Notwendigkeit verdichtender, überhöhender und idealisierender Verfahren der Literatur.
Seine Pointe aber verdient noch einmal unterstrichen zu werden. Wenn Otto Ludwig, der eigentliche Begründer des »poetischen Realismus«, bemerkt, dieser habe seine Welt noch einmal zu erschaffen, und zwar als eine in sich stimmige, einheitliche und notwendige, in der »der Zusammenhang sichtbarer ist als in der wirklichen« (1. 2. 12), dann wird implizit deutlich, dass die vorfindliche Wirklichkeit all diese Eigenschaften gerade nicht hat: Sie ist de facto disparat, zusammenhanglos, zufällig, unharmonisch und unverständlich. Ja, durch Ludwigs vorsichtige Formulierungen scheint hindurch, dass eine ratlos-irritierte, wenn nicht abwehrende Haltung gegenüber der aktuellen Wirklichkeit geradezu zu den Gründungsakten des poetischen Realismus gehört. Wenn die dargestellte Welt des poetischen Realismus also im Lichte der Verklärung erglänzen soll, dann muss sie schon hochgradig ästhetisch zugerichtet sein. Obwohl sie immer auch den Anspruch erhebt, ein ›Wesentliches‹ zu zeigen, erweist sie sich nicht so sehr als »Widerspiegelung« oder Abbildung einer vorfindlichen externen Wirklichkeit, sondern als eine ästhetische Konstruktion, die ihre künstlerische Idealisierung ›realistisch‹ verschleiern will und sie doch zugleich in der Bewegung des Differierens offenlegt. Es ist also nicht überspitzt, wenn man die realistische Literatur bei allen Bekenntnissen zu einem als verpflichtend aufgefassten Wirklichen immer auch in einer ästhetischen Opposition gegenüber diesem sieht. Das ›wahre‹ Wirkliche als Totalität, Zusammenhang und Sinn wird zur Aufgabe. Es muss als Leistung der Kunst allererst hergestellt werden. Nirgendwo wird das deutlicher als in Adalbert Stifters Bemerkung, er habe seinen Nachsommer »der Schlechtigkeit willen gemacht, die im Allgemeinen […] in den Staatsverhältnissen der Welt in dem sittlichen Leben derselben und in der Dichtkunst herrscht […] Ich habe ein tieferes und reicheres Leben, als es gewöhnlich vorkömmt, in dem Werke zeichnen wollen und zwar in seiner Vollendung« (vgl. Kapitel 1.4.4).
Diese Schwierigkeiten der Realisten mit dem Realen haben ihr Pendant in einem anderen Bereich. Bereits die Forderung, das Wahre und Wesentliche der Wirklichkeit zu extrahieren, impliziert eine Vielzahl grundlegender, und vielfach auch unlösbarer erkenntnistheoretischer Fragen: so etwa die, ob es überhaupt eine vom Betrachter unabhängige Wirklichkeit gebe; was dann als Wirklichkeit zu gelten habe; wie, in welchem Maße und bis zu welchen Grenzen Erkenntnis möglich sei; wo die Grenzen zwischen Erkenntnis, Einbildung und Wahn verlaufen; was als das Wesentliche des Wirklichen anzusehen und wie es aus dem Zufälligen zu extrahieren sei usw. – von den poetologischen Anschlussfragen ganz zu schweigen: was Mimesis sei; wie sich überhaupt eine Darstellung auf einen Gegenstand und Zeichen auf Dinge beziehen können, so dass eine Wiedererkennung möglich ist; wie also Nachahmungs- und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Literatur und Wirklichkeit theoretisch zu fassen sind usw. Zu einem guten Teil werden diese Fragen von den Programmatikern des Realismus ganz ausdrücklich aufgeworfen (vgl. Kapitel 1.1). Der programmatische Realismus erweist sich so als eine grundsätzlich epistemologisch orientierte Strömung, wie Ulf Eisele gezeigt hat (Eisele 1982). Aber das gilt nicht nur für die Theorie. Was sich von ihr sagen lässt, kann man nämlich ebenso gut auch von der Literatur selbst behaupten. Auch sie umkreist in immer neuen Variationen Fragen der Erkenntnis und des Wirklichkeitsbezugs. Das Wirkliche, die Ordnung der Dinge, ihre Beschaffenheit und ihr Wesen werden den Protagonisten zahlreicher realistischer Texte zur Aufgabe, an der sie scheitern, die sie aber auch lösen können. Von der Wetterprognostik bis zur Deutung von Gesichtszügen werden Zeichen gelesen, um daraus Rückschlüsse auf die Wirklichkeit zu ziehen, Fragen der Wissenschaft werden diskutiert, Perspektiven gegeneinander abgeglichen. Das hat auch praktische und moralische Konsequenzen, denn sich in die Wirklichkeit einzufügen und nicht eigenbrötlerisch zu ihr querzustehen, gehört zu den immer wieder an die literarischen Helden gerichteten Forderungen. Daneben werden konkurrierende historische Realitätsmodelle verhandelt, beispielsweise wenn unterschiedliche Erklärungen von Geschehnissen erwogen werden oder wenn in den Text eingelegte Erzählungen oder Märchen einen anderen Standard der Realitätsdeutung repräsentieren. Der epistemologische Ansatz, der der Literaturprogrammatik des Realismus zugrunde liegt, übersetzt sich so in Narrationen, in Handlungskonstellationen und Erzählmuster. Es ist dabei besonders bemerkenswert, dass das Wirkliche und Wesentliche in den literarischen Texten zumeist keineswegs selbstverständlich gegeben scheint, wie die Kategorie des Realismus vielleicht vermuten lassen könnte. Erweist sich die zeitgenössische Welt in ihrer sozialen, politischen oder ökonomischen Verfassung als fragwürdig, so zeigen sich nun die Beschaffenheit und das Wesen der Wirklichkeit schlechthin als so drängende Probleme, dass sie immer neu gestellt und unter immer neuen Versuchsanordnungen verhandelt werden müssen.
Es ist diese Problematik, die den vorliegenden Band strukturiert. Die Epoche des Realismus lässt sich zweifellos in sehr unterschiedlicher Weise repräsentieren: über kanonische Autoren und Werke, über Gattungen, über gemeinsame Themen oder Erzählformen und anderes mehr. Hier aber soll der Begriff des ›Realismus‹ gewissermaßen beim Wort genommen werden. Für die Textauswahl leitend war die Frage nach den epistemologischen Implikationen der realistischen Literaturprogrammatik sowie ihren poetologischen und poetischen Konsequenzen. Leitend war die Annahme, dass ›Realismus‹ mehr ist als eine zufällige Benennung, nämlich eine durchaus ›motivierte‹ Epochenbezeichnung, die ein Grundproblem der unter ihr versammelten Literatur schlagwortartig beim Namen nennt. Leitend war aber auch die Beobachtung, dass diese Epoche alles andere als einen selbstverständlichen Zugang zur ›Wirklichkeit‹ hat, die vielmehr als eine dauernde Herausforderung und eine Aufgabe für die Erkenntnis und das praktische Handeln erscheint. Die Ära des Realismus ist gerade durch ihre fundamentale Problematisierung des Begriffs der Wirklichkeit gekennzeichnet.
Die einzelnen Kapitel dieses Bandes bemühen sich um eine plausible Aufschlüsselung dieser leitenden Fragestellung. Dabei werden alle ausgewählten Texte durch eine knappe Einleitung kontextualisiert und im hier skizzierten Problemrahmen verortet. Kapitel 1 versammelt literaturprogrammatische und -theoretische Texte im Spannungsfeld von Realismus und Idealismus. Kapitel 2 bietet Texte rund um die Gestalten des Sonderlings, des Außenseiters und des Narren, die nicht nur gegen die Normen der sozialen Welt verstoßen, der sie sich verweigern, sondern sich damit auch die Möglichkeit intersubjektiver Erkenntnis verstellen und so an der Wirklichkeit zu scheitern drohen. Kapitel 3 geht im Gegenzug dazu den Möglichkeiten einer Annäherung an das Wirkliche nach und exponiert Wissenschaft und Zeichenlektüre als Verfahren, sich des Wirklichen zu versichern – fragwürdige Verfahren allerdings, zumal Wirklichkeitserkenntnis in vielen Texten von einem unhintergehbaren Perspektivismus behindert wird. Kapitel 4 widmet sich den Dingen, denen im 19. Jahrhundert eine immense Bedeutung zuwächst. Sie sind Repräsentanten des Wirklichen und seiner Ordnung, können aber auch ein magisches Eigenleben entfalten und das dominante Weltbild konterkarieren. In Kapitel 5 geht es um einige der hauptsächlichen Sphären des Wirklichen, wie sie in realistischen Texten vorgeführt werden, um die Mechanismen ihrer Selektion und die Verfahren ihrer Darstellung. Um dem Eindruck zu begegnen, Realismus sei nun also doch primär Nachahmung, Widerspiegelung oder Abbildung von vorgefundener Welt, wird immer wieder der Blick darauf gelenkt, dass die Texte selbst Wirklichkeit als Ergebnis von Konstruktionsakten ihrer Subjekte zeigen. Kapitel 6 führt diesen Gesichtspunkt fort, indem es anhand von Künstlerfiguren und Akten des Malens und Erzählens zeigt, wie das Verhältnis von Wirklichkeit, Kunst und Sprache im Zeichen des Realismus gestaltet wird: keineswegs linear als Wiedergabe von Gegenständen durch die Kunst. Ebenso zeigt sich nämlich auch das Umgekehrte: Nicht nur schafft sich Kunst ihre eigene Wirklichkeit, sie wirkt geradezu zurück auf die außertextuelle Welt und deren Wahrnehmung.
Die Orientierung an einer übergreifenden Problemstellung, wie sie hier versucht wird, versteht sich auch als Antwort auf ein notorisches Dilemma aller Lesebücher. Sie wollen eine Epoche darstellen, können dies aber nur, indem sie einzelne Abschnitte dekontextualisieren, d.h. aus ihrem Zusammenhang reißen. Werke, von denen man wünscht, dass der Leser sie ganz liest, müssen auf einzelne Kostproben reduziert werden. Der systematische Ansatz, der hier verfolgt wird, kann dieses Dilemma nicht umgehen. Aber er führt dazu, dass Textausschnitte nicht allein das Ganze eines Werks repräsentieren sollen, das man eigentlich kennen müsste, um sie wirklich zu verstehen. Vielmehr werden sie zugleich in einem Problemzusammenhang situiert, der es erlaubt, sie auch mehr oder weniger unabhängig von ihrem Werkkontext zu lesen, nämlich als Artikulationen einer buchstäblich epochemachenden Fragestellung. Wenn die gewählten Ausschnitte darüber hinaus Appetit auf mehr machen und zur Lektüre des gesamten Werks anregen – umso besser. Es sei hier unumwunden eingeräumt, dass auch diesem Verfahren ein hohes Maß an Willkürlichkeit eignet. Vieles fehlt. Einige Autoren sind stark repräsentiert, andere gar nicht. Der Blick fällt selten in die zweite und dritte Reihe der Poeten, doch hängt das durchaus mit dem Problembewusstsein der Autoren bzw. Texte zusammen. So fehlt weithin (mit der Ausnahme von Karl May) die Trivialliteratur in diesem Band, es fehlt weiterhin eine ganze Reihe von Autoren, die zwar Zeitgenossen sind, aber doch dem Realismus nicht umstandslos zuzuschlagen sind: Jeremias Gotthelf etwa, Friedrich Hebbel oder Paul Heyse, um nur einige wenige zu nennen. Ähnliches gilt von den Gattungen, unter denen das Drama kaum vertreten ist – was freilich selbst für die epochale Dominanz von Roman und Novelle signifikant ist. Und selbst im Thematischen kann keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Mancherlei Facetten der realistischen Problematik wird man vermissen, anderes ist im Ausschnitt kaum darstellbar. So sei der Leser mit der vielleicht wenig tröstlichen Bemerkung auf seine Erkundungsfahrt ins 19. Jahrhundert entlassen, dass der Facettenreichtum der ›realistischen‹ Literatur nicht weniger unermesslich ist als der der Realismusproblematik selbst.[1]
Die Frühphase des Realismus zwischen 1848 und etwa 1870 ist von einer unsystematischen, doch sehr ausgedehnten literaturprogrammatischen Diskussion gekennzeichnet, deren Schwerpunkt in den 1850er Jahren liegt. In der Forschung bezeichnet man sie daher auch gerne als ›programmatischen Realismus‹. Diese Debatte, die hier in einem schmalen Segment repräsentiert werden soll, findet gelegentlich in größeren ästhetischen bzw. poetologischen Arbeiten statt, wie etwa – um nur einige Titel zu nennen – in der einflussreichen Aesthetik des linkshegelianischen Philosophen und Schriftstellers Friedrich Theodor Vischer, zwischen 1846 und 1858 in nicht weniger als acht Bänden erschienen, der Poetik des Schriftstellers und Literarhistorikers Rudolph Gottschall von 1858, der Aesthetik des Kunsthistorikers, Philosophen und Wortführers des Münchner Dichterkreises Moriz Carriere von 1859 oder der 1872 erschienenen Aesthetik des hegelianischen Philosophen und Kunstkritikers Max Schasler. Doch der überwiegende Teil der Debatte besteht aus zerstreuten Schriften: programmatischen Essays, Literaturkritiken und literaturgeschichtlichen Reflexionen, aber auch Briefen und Notizen, wie etwa den aus dem Nachlass des 1865 verstorbenen Otto Ludwig herausgegebenen Studien zu Drama, Roman und Literaturgeschichte. Publizistische Zentren sind u.a. die Zeitschriften Deutsches Museum, herausgegeben von dem Literarhistoriker Robert Prutz, vor allem aber Die Grenzboten, zwischen 1848 und 1861 national-liberal ausgerichtet und herausgegeben von dem Literarhistoriker und Publizisten Julian Schmidt, dem polemischen und vielfach angefeindeten eigentlichen Vorkämpfer des programmatischen Realismus, und dem ungemein erfolgreichen Schriftsteller und Historiker Gustav Freytag. Eine ganze Reihe der Autoren, die die Diskussion führen, sind selbst Literaten und gelegentlich Grenzgänger zwischen Philosophie, Wissenschaft, Literaturkritik und Literatur, wie etwa Erich Auerbach, Karl Gutzkow, die Erfolgsautoren Paul Heyse und Gustav Freytag, der nicht minder produktive, heute aber weitgehend vergessene Romancier Friedrich Spielhagen, Otto Ludwig, Adalbert Stifter oder der frühe Theodor Fontane. Zweifellos muss man sich hüten, die Differenz zwischen den programmatischen Aussagen und den literarischen Texten der Epoche zu vernachlässigen. Erstere sind weder präskriptive Vorgaben, denen die Letzteren folgen, noch machen sie explizit, was die Literatur in ihrer impliziten Poetik tatsächlich tut. Man kann jedoch feststellen, dass die programmatische Diskussion ein Diskursfeld markiert, in dem sich vielfach auch die literarischen Texte bewegen. Sie bringt Begriffe und Argumentationsfiguren ins Spiel, etabliert Normen und arbeitet damit am historischen, kulturellen und literarischen Selbstverständnis der Epoche. Dabei zeichnet sich ein Bild ab, das bei allen internen Differenzen insgesamt doch bemerkenswert homogen ist. Man begegnet den theoretischen Kategorien und Argumentationsstrukturen auch in zahlreichen literarischen Texten, und zwar auch in solchen, die gewissermaßen quer zu den dominanten programmatischen Positionen stehen. Und noch da, wo diese längst schon selbst Literaturgeschichte geworden sind, beim späten Raabe, beim späten Storm, bei Meyer und Fontane, erweisen sie, in wie vermittelter Weise auch immer, ihre Wirkung. Ein Verständnis des literarischen Realismus kommt daher ohne die Kenntnis der literaturprogrammatischen Debatte nicht aus.
Zu den zentralen Begriffen dieser Diskussion gehört der des Realismus selbst. ›Realismus‹ ist nun aber keineswegs eine Identifikationskategorie der Epoche, die wir mit diesem Namen belegen, sondern ebenso sehr eine Kategorie der Differenzierung und der kritischen Abgrenzung. Dass die Literatur der eigenen Zeit faktisch im Zeichen des ›Realismus‹ stehe und dass dieser essentiell zu Literatur und Kunst gehöre, wird bei kaum einem Autor der Epoche bestritten. Die Frage ist vielmehr, um welchen Realismus es sich handelt bzw. handeln sollte. Um sie zu beantworten, wird der ›wahre‹ Realismus, den man für ästhetisch legitim erklärt, in Beziehung zu den Begriffen des ›Idealismus‹ und des ›Naturalismus‹ gesetzt. Es ist eine überaus breite Debatte, die sich dieser Problematik widmet – und sie wird mit den folgenden Texten keineswegs erschöpfend und in allen ihren Varianten wiedergegeben. Was die Literaturtheoretiker entschieden ablehnen, ist auf der einen Seite Mimesis im Sinne einer einfachen Nachahmung der Natur, die auch das Zufällige, Gleichgültige, Unwesentliche und Hässliche ungefiltert wiedergebe. Das sei nichts als ›gemeiner‹ Realismus und kruder ›Naturalismus‹: ästhetisch indiskutabel. Es ist das gerade erst erfundene Medium der Photographie, das dafür das viel geschmähte Beispiel abgibt. Es sind aber auch bestimmte Vertreter der europäischen Nachbarliteraturen, die sich angeblich mit einem auch als materialistisch diffamierten ›Naturalismus‹ gemein machen und daher zur Profilierung der eigenen Position geeignet sind: Flaubert und Zola etwa gehören zu den bevorzugten Feindbildern. Auf der anderen Seite wird eine Form des subjektiven ›Idealismus‹ verworfen, die sich in einem welt- und bodenlosen Idealisieren erschöpfe. Literarisch glaubt man ihn insbesondere in der angeblichen Realitätsverweigerung und Phantastik der Romantiker zu finden. Wie dem ›gemeinen‹, naturalistischen Realismus eine positiv bewertete, weil kunstgemäße Form des Realismus opponiert, so spaltet sich auch der Begriff des Idealismus. Er teilt sich in eine poetisch verwerfliche subjektive und eine objektive Variante, die auf die den Dingen inhärente Idee, ihr Wesen, ihre Substanz zielt. Es ist nun diese Form eines objektiven Idealismus, mit der der ›wahre‹ Realismus, der im literaturprogrammatischen Diskurs als berechtigt und notwendig erscheint, enggeführt wird, und zwar darum, weil die Idee die wesentliche Realität einer Sache ausmache. Am deutlichsten wird das bei Julian Schmidt, wenn er Realismus und Idealismus schlechterdings kongruieren lässt (vgl. 1.2.5). Andere Autoren sprechen vorsichtiger von einer Verbindung beider Komponenten in einem »Ideal-Realismus« (vgl. 1. 2. 10 und 11) oder einem »Real-Idealismus«. Arnold Ruge (1.2.4) und Otto Ludwig (1. 2. 12) behelfen sich mit der bis in die jüngste Forschung epochemachenden Prägung vom »poetischen Realismus«. ›Realismus‹ richtet sich demzufolge nicht auf die Oberfläche der Erscheinungen in all ihrer Kontingenz, sondern er richtet sich auf die ›Idee‹ seines Gegenstands, er richtet sich auf eine Ebene des Allgemeinen, des Wesentlichen, des Notwendigen und Gesetzmäßigen, die in der Vielfalt der Erscheinungen freigelegt werden muss. Mimesis, Nachahmung der Natur, ist der poetische Realismus also nur in diesem Sinne. Insofern eignet ihm, wie Ulf Eisele herausgearbeitet hat (Eisele 1982), eine dezidiert epistemologische Dimension, müssen doch Idee und Wesen des darzustellenden Realen in irgendeiner Weise erkannt werden, um Gegenstand der Darstellung werden zu können. Realismus setzt damit einen erkennenden Zugang zum Wirklichen voraus, und es ist nicht zuletzt dieser Aspekt, der erklärt, wieso Akte der Erkenntnis und die Frage nach ihren Grenzen ein so prominentes Thema auch der literarischen Texte der Epoche bilden, die mitunter regelrecht auf der Suche nach der Wahrheit des Wirklichen sind (vgl. Kapitel 3).
Nun ist Literatur nicht Theorie und Philosophie. Sie will und kann von ›Idee‹ und ›Wesen‹ nicht begrifflich und theoretisch sprechen, sondern bedarf dazu der ästhetisch vergegenwärtigten Gegenstände und Handlungen in ihrer sinnlichen Gegebenheit. Sie gibt, wie Emil Homberger formuliert, »die Wahrheit im Kleide der Wirklichkeit« (1.1.2), muss also das aus dem Einzelnen extrahierte Allgemeine und Wesentliche wieder durch individuelle Gestalten repräsentieren. Die Frage nach Art, Möglichkeit und Grenzen einer Wesenserkenntnis verlängert sich daher in die nach den literarischen Verfahren. Von besonderer Bedeutung sind dabei zwei Verfahren: Selektion und »Verklärung«. Die Selektion reinigt, läutert und entschlackt. Sie sorgt dafür, dass tatsächlich nur die entscheidenden Gegenstände bzw. deren ›wesentliche‹ Aspekte zur Darstellung gelangen, nicht aber das Unwichtige und Zufällige. Verklärung hingegen – ein Zentralbegriff der gesamten Diskussion – meint eine Form der poetischen Überhöhung und Verdichtung, die das Wesentliche am Dargestellten gewissermaßen heraustreibt und in seinem vollen Glanz erstrahlen lässt. Liegt mithin das Poetische am ›poetischen Realismus‹ einerseits in seinem mimetischen Bezug auf eine Dimension des Allgemeinen, Wesentlichen und Notwendigen, so stellt es sich andererseits allererst in einem Akt der künstlerischen Arbeit ein.
Dass dieser nicht selten, Selektion und Verklärung übergreifend, als ›Idealisierung‹ bezeichnet werden kann, deutet auf eine Crux der realistischen Literaturprogrammatik. Wenn der sensualistische Philosoph Adolf Horwicz in seinen Grundlinien eines Systems der Ästhetik von 1869 bemerkt, was das »Wesen der Dinge« sei, bleibe möglicherweise »ganz unbekannt« (Plumpe 1985, S. 83), dann entzieht er dem »Ideal-Realismus« in einer Weise den Boden, die auch seinen Zeitgenossen keineswegs so fremd war, wie ihre poetologischen Verlautbarungen eigentlich vermuten lassen. Die Texte bieten einige Evidenz, dass die hier artikulierte epistemologische Lücke mit Hilfe des ästhetischen Verfahrens der Idealisierung geschlossen werden soll. Je prekärer der Zugang zu der darzustellenden objektiven Idee erscheint, desto mehr verlagert sich die Last der Herstellung ästhetischer Plausibilität auf die Verfahren der Idealisierung, die zu einer subjektiven, dem Ermessen des Autors folgenden Idealbildung mutiert. Derselbe Julian Schmidt, der den »wahren Realismus« auf »den wahrhaften Inhalt der Dinge« bezieht und diesen wiederum mit ihrer »Idee« gleichsetzt (1.2.5), kann in einem anderen Text (1.2.9) sagen, der »Zweck der Kunst« sei es, »Ideale aufzustellen«, während der »Realismus« lediglich das »Mittel« dazu sei, »d.h. eine der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künstlerischen Ideale glauben«. ›Realismus‹, eben noch durch seine Entbergung der wesentlichen Realität der Dinge definiert, wird hier zu einem künstlerischen Verfahren der Plausibilisierung von Idealen – von Idealen zweifelhafter Herkunft, so sehr man immer wieder auch ihre objektive Begründetheit zu betonen sucht. Es verwundert von daher nicht, dass dem Verfahren einer Illusionsbildung im Realismus eine so wichtige Bedeutung zuwächst (vgl. 1.4.6). Derartige Konstellationen belegen nicht nur, dass die Literaturtheorie des Realismus von Bruchlinien durchzogen, von divergierenden Perspektiven und Interessen geleitet und alles andere als widerspruchsfrei ist. Sie zeigen auch, dass das, was als Kern einer objektiven Realität künstlerisch zur Erscheinung kommen soll, nichts anderes ist als eine ästhetische Konstruktion – und dass dies auch in vielen Texten unverhohlen artikuliert wird.
Die hier sichtbar werdenden argumentativen Spannungen scheinen aus einem tiefen Dilemma des deutschsprachigen Realismus zu erwachsen. Einerseits positioniert dieser sich durch Bezug auf eine externe Wirklichkeit, die von Autoren wie Julian Schmidt in ihrem idealen Kern bejaht wird, doch kollidiert dies andererseits mit den noch durchaus traditionalistischen, zum guten Teil, wie man etwa am Drama ablesen kann, klassizistischen ästhetischen Normen. Über weite Strecken wird die Auffassung geteilt, Kunst habe ›schön‹ zu sein und das ›Schöne‹ wiederzugeben. Doch die vorgefundene Wirklichkeit des angehenden Kapitalismus, der Urbanisierung und Industrialisierung hat wenig gemein mit dem »ewig unvergänglichen Reiche des Schönen«, das Robert Prutz wie viele seiner Zeitgenossen ästhetisch realisiert sehen will (1.2.8). Seit Hegel stellt die faktisch eingetretene »Prosa der Verhältnisse« die Kunst in einen neuen geschichtsphilosophischen Rahmen und vor neue Aufgaben. Angesichts der hässlichen und daher nicht poesiefähigen Seiten der zeitgenössischen Welt reagieren die ästhetische Theorie und die Literatur des Realismus mit den genannten Strategien der Vermeidung und der Idealisierung. Aus den abstoßenden Bereichen der Wirklichkeit soll sich die Literatur einerseits in die »grünen Stellen«, die letzten noch poesiefähigen Gefilde einer von Modernisierungswellen verhässlichten Welt zurückziehen (1.4.3), andererseits in den Bereich des Idealen, das mit dem Schönen zusammenfällt. Doch dieser modernen Welt lässt sich auch im Rekurs auf ihr Wesen kein Schönes mehr abringen. So verschiebt sich der Akzent von der Idee auf das Ideal, und Julian Schmidt zieht nur die Konsequenz, wenn er fordert, Kunst habe nicht die Menschen darzustellen, »wie sie sind, sondern wie sie sein sollen« (1.3.3) – eine ganz in aristotelischer Tradition stehende Mimesis des Möglichen, nicht aber des faktisch Wirklichen. Der deutschsprachige Realismus zeichnet sich so in mancher Hinsicht gerade durch seine Realitätsvermeidung aus. Unter dieser Perspektive ließen sich auch der sozialhistorische Ort und die Funktion des Realismus bestimmen. Es ist zweifellos problematisch, von einem ›bürgerlichen Realismus‹ zu sprechen, weil damit eine soziologische Kategorie zum bestimmenden Parameter der Literatur gemacht wird. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass sowohl der Auffassung, was als poesiefähig und ›schön‹ zu gelten habe, als auch den Vorstellungen, was wünschenswert sei, ›bürgerliche‹ Normen und Werte zugrunde liegen – freilich solche, die sich auch gegen ihr eigenes Herkunftsmilieu wenden lassen. Das belegen nicht zuletzt die poetischen Selektionskriterien, die etwa bei Stifter oder Fontane expliziert werden (1.2.1, 1.4.4).
Auch die Gattungstheorie des Realismus entfaltet sich in dem skizzierten Rahmen: Sie diskutiert die einzelnen poetischen Gattungen nicht nur mit Blick auf ihre Eignung für die realistische Poetik, sondern auch unter geschichtsphilosophischer Perspektive. Bei allem Bedürfnis nach Sinnstiftung und Verklärung der vorfindlichen Wirklichkeit erscheint primär die literarische Prosa der Prosa der Verhältnisse angemessen. Der Roman tritt, wie Friedrich Theodor Vischer im Gefolge Hegels formuliert, unter den Bedingungen der Moderne an die Stelle des Epos (1.4.3), und Robert Prutz bemerkt, die Schriftsteller würden »vor Allem in der episodischen Form des Romans ein bequemes Gefäß finden für den so vielfach auseinandergehenden, sich so vielfach durchkreuzenden Inhalt unserer Zeit«. Vom Drama hingegen, eigentlich der »höchste[n] Kunstform«, lasse sich das nicht behaupten: »wie wäre es denn möglich […], daß eine in sich so zerfahrene, zerflatternde, um ihren eigenen Inhalt noch so ringende Zeit wie die unsrige, sich zu dieser äußersten Plastik des dramatischen Kunstwerks zusammenfassen könnte?« (1.6.2). Und die Einschätzung der Lyrik schließlich leidet unter der Behauptung, sie widerstehe der Forderung nach Objektivität, wie etwa Julian Schmidt formuliert: »Fast in keinem Zweige der Kunst wird aber die Abweichung von diesem Gesetz so in’s Große getrieben, als in der Lyrik« (1.7.1). In ganz unterschiedlicher Weise stehen damit sowohl Lyrik wie Drama in einem prekären Spannungsverhältnis zu Grundkonstellationen der realistischen Ästhetik und Poetik. Die Literatur des Realismus mit ihrer entschiedenen Akzentuierung von Roman und Novellistik bestätigt diese theoretischen Begründungen.
Solange die Phantasie ihr inneres Bild nicht völlig in die Objectivität übergetragen hat, behält das Naturschöne ihr gegenüber den Werth einer selbständigen Form des Daseins des Schönen; […] erst wenn das Kunstwerk vollendet ist, verschwindet in ihm das Gebiet des Naturschönen, das in ihm dargestellt ist, ist ganz in ihm aufgehoben, so daß der ächte Beschauer nicht mehr von ihm weiß, es in seinem reinen Abbilde ganz vergißt und auch der Künstler für dießmal damit abgeschlossen hat. Auf dem ganzen Wege vom innern Bilde zur Ausführung dagegen steht das naturschöne Object noch da neben dem Bilde im Geist des Subjects, worein es eingegangen ist und in dem es verschwinden soll, es steht noch da als Richtmaaß für die Wahrheit der Nachahmung, freilich nicht für die gemeine, empirisch richtige, wohl aber als Richtmaaß für die wahre Nachbildung seiner ewigen Grundformen, wie sehr sie in ihm als Individuum getrübt sein mögen. […] Eine Art von Rache, die das Naturschöne an der siegreichen Phantasie noch nimmt, in die es einsinken mußte, um in ihr aufzuerstehen, einen nachgeholten Rechtsanspruch haben wir […] schon die Nothwendigkeit genannt, daß die Phantasie objectiv bilde, wie die Natur; nur eine Fortsetzung davon ist es, daß die eigentliche Phantasie nun noch diese Prüfung aushalten muß, ob sie sich aus der Willkühr und dem Taumel der bloßen Einbildungskraft wirklich erhoben habe zu ihrem Idealbildenden Acte, wozu den Prüfungsstein der Gegenstand in seiner realen Strenge abgibt: er zügelt die Phantasie, sie verstößt sich an ihm den Kopf, solange sie noch ungezogen ist. Was diese Strenge heißen will, davon wissen die Künstler zu sagen: nicht eine Blättergruppe, nicht eine Faltenmasse ist aus der Erinnerung allein zu geben, der Gegenstand will in seiner strengen Bestimmtheit noch einmal angesehen und verglichen seyn; vollends ein Ganzes, eine Handlung, menschliche Verhältnisse und Sitten: da wollen Studien jeder Art gemacht sein. Der Widerspruch, daß nunmehr die Phantasie an dem, was sie prinzipiell zu ihrem Object herabgesetzt hat, einen Widerhalt findet, der gegen sie drückt und ihr seine Strenge entgegenhält, daß sie über alles Einzelne hinausgehen muß, um aus der Trübung die wahre Form zu entbinden, und daß sie diese doch nicht finden kann ohne die Gegenwart und scharfe Anschauung dieses Einzelnen: dieser Widerspruch des gegenseitigen Correctivs ist ein vorhandener und getilgt wird er nur im fertigen Kunstwerk.
[…] Das Gesetz der Naturnachahmung löst sich im Versuche, es streng festzuhalten, in sich selbst auf, denn eigentlich im engsten Sinne die Natur nachzuahmen, ist gar nicht möglich, da selbst dann, wenn der Künstler jedes Atom durch das Vergrößerungsglas betrachten würde, nicht der ganze Umfang der Erscheinung zur Wahrnehmung und Nachahmung gelangen könnte; läßt man aber auch nur durch die kleinste Bresche ein Wählen zu, so ist das Prinzip aufgegeben. Wäre übrigens eine absolute Copie der Natur auch möglich, so ist nicht abzusehen, zu welchem Zweck man sich die Mühe geben soll, zu machen, daß die Dinge doppelt da sind, eigentlich und im Nachdruck; es müßte denn nur die Genugthuung sein, die in dem Machen an sich, in der Ueberwindung der Schwierigkeiten liegt, welche nöthig ist, um als geschickter Nachdrucker der Schöpfung diesen Schein einer Doublette hervorzubringen, und dieser Reiz der gemeinen Nachahmung ist allerdings sofort aufzunehmen, nur nicht als Seele der Kunst, sondern als einer der Ausgangspuncte der Technik. Das Prinzip der Naturnachahmung ist aber überhaupt historisch, nicht dogmatisch zu behandeln: es war der Ausdruck jener Opposition gegen die falsche Idealität, welche den volleren Schein der Natürlichkeit forderte und nun übersah, daß aus der Gerechtigkeit dieser Forderung nichts weniger folgt, als daß die Kunst eine Copie der Natur sein soll. –
Aus: Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik, 3. Teil: Die Kunstlehre, 1. Abschnitt: Die Kunst überhaupt und ihre Teilung in Künste, ß 513, S. 86.
Was heißt es daß der Dichter der Natur den Spiegel vorhalten soll? Welcher Spiegel vermag die Natur wiederzugeben? Und welche Natur vermag wiedergegeben zu werden?
Die Wirklichkeit ist endlos in Zeit und Raum, Erscheinung folgt auf Erscheinung; ihr gränzenloses Nebeneinander und Nacheinander – wie kann es in ein Bild gefaßt werden? Das Unternehmen wäre hoffnungslos wenn der Spiegel welcher die Natur abbilden soll ein todter Körper wäre, gleichsam eine Glas- oder Metallfläche, worauf die Erscheinungen im Vorüberhuschen sich abzeichneten. In ihrer Unbegränztheit, in ihrem wirren Gedränge, in ihrer unstäten Flucht – wie vermöchten sie ein klares und bleibendes Bild zu hinterlassen? Aber nicht auf einer todten Fläche, sondern in dem lebendigen Geiste des Dichters malen sich die Dinge, und dieser lebendige Geist, nachdem er die Eindrücke leidend empfangen, gestaltet sie thätig zum dauernden Bilde. Er gestaltet sie zum Bilde, nicht indem er die Erscheinungen alle abzubilden sucht, sondern indem er das Wesentliche in ihnen, das Bedeutende, das Dauernde, das Nothwendige festhält – mit einem Wort: er gibt statt des Zufälligen das Gesetz, statt der Wirklichkeit die Wahrheit, aber – denn er ist ja Dichter, nicht Philosoph – das Gesetz in der Form des Zufälligen, die Wahrheit im Kleide der Wirklichkeit.
Es ist also vergebens daß der Dichter uns glauben machen will: er verhalte sich nur empfindend und schaffe nicht, er gebe nur die Natur wieder und thue nichts von sich selber hinzu. Indem er die Natur wiedergibt, schafft er: er schafft mit geringerem oder größerem Bewußtsein, naiv oder reflectirend, er läßt sein eigenes Ich hervortreten, oder verbirgt es und ist subjectiv oder objectiv, aber immer ist er es welcher dem von der Außenwelt gelieferten Stoffe die Gestalt gibt, und immer thut er dieß indem er von der realen Welt deren ideales Bild zeichnet. Darum wäre es falsch, wollte man den Unterschied zwischen realistischen und idealistischen Dichtern so auffassen als stellten jene das Wirkliche dar, diese die Idee. Das dichterische Schaffen setzt sich nothwendig aus beiden Elementen zusammen, und jene Bezeichnungen gehen nur auf die Unterschiede des Verhältnisses des einen zum andern. Jeder Dichter ist zugleich Idealist und Realist, aber nur der große Dichter ist das eine so sehr als das andere. Nur der Dichter in welchem sich Idealismus und Realismus das Gleichgewicht halten, ist wahr – unwahr nicht allein derjenige welche, statt die Natur abzubilden, seine eigenen Einbildungen schildert, sondern auch der welcher die Erscheinungen selbst gibt, statt ihres Wesens. Der Idealist gibt die Willkür seines Gehirns, der Realist die Willkür, nämlich den Zufall, in der Außenwelt.
Der Realist glaubt, um die Natur wahr zu schildern, sie sich selbst schildern lassen zu müssen. Doch das ist ein verhängnißvoller Irrthum. Die Natur schildert sich nicht selbst. Ein Maler muß, um eine Landschaft zu malen, einen Standpunkt wählen, und sie aufnehmen nicht wie sie ist, sondern wie sie von diesem Standpunkt aus sich ihm vorstellt. Er kann nicht, um von einem Baum ein recht treues Bild zu geben, um den Baum herumgehen und neben die Vorderseite auch die Rückseite stellen, noch wird er die einzelnen Blätter zu zählen suchen, noch wird er durch ein Fernrohr erkunden ob auf dem Gebirge, dessen blaue Wand durch die Zweige des Baumes durchschimmert, Häuser stehen. Die Dinge an sich lassen sich nicht abbilden. Sonnen- und Wetterseite eines Baumes neben einander gestellt, geben nicht einen um so wahreren Baum, sondern eine Ungestalt, welche nie existirt hat. Es ist unmöglich die Blätter eines Baumes zu zählen, und wäre es möglich, so vermögen sie doch nicht alle, jedes in seiner besonderen Individualität, mit allen seinen Zacken und Fasern und Aederchen, dem Auge vorgeführt zu werden. Es ist unmöglich zugleich den nahen Baum und den fernen Berg mit derselben Deutlichkeit des Einzelnen zu sehen. Wer die Natur wiedergeben will, muß sie wiedergeben wie sie dem Auge sich darstellt. Das Nahe nah, groß, deutlich, das Ferne fern, klein, undeutlich. Es hilft nichts zu sagen daß ja in Wirklichkeit der ferne Berg größer sei als der nahe Baum. Das ist wirklich, aber wahr für die Anschauung wird es nur durch Beobachtung des Gesetzes der Perspective. Das Auge kann nun einmal nicht an zwei Orten zugleich sein. Einer der, um recht treu zu sein, das Ferne so deutlich darstellen wollte wie das Nahe, würde sich eben gegen die Treue der Natur versündigen, denn er würde das Ferne nicht so schildern wie er es sieht, sondern wie er es nicht sieht.
Was von dem Landschaftsmaler gilt, das gilt von jedem der es unternimmt »der Natur den Spiegel vorzuhalten.« Kein Künstler kann mit Mikroskop oder Teleskop hantieren: ein jeder muß das Gesetz der Perspective befolgen. Dieses Gesetz aber, kraft dessen allein sich die Körperwelt anschauen läßt, ist ein ideales, eine nur im menschlichen Auge oder Geist existirende Nothwendigkeit. Es gibt andere solche Gesetze durch welche die Anschauung der moralischen Welt bedingt ist. Das Ideal ist das einzige Mittel der Erkenntniß des Realen. Das Ideal bringt Ordnung in die Wirrniß der Erscheinungen, macht das Große zum Großen, das Kleine zum Kleinen, verbindet das Zusammenhanglose, und setzt dem Schrankenlosen Schranken. Wie die Bedeutung des Verses keineswegs bloß in der äußerlichen Harmonie für das Ohr besteht, sondern in der inneren, weil er den Dichter zwingt nur das Zweckmäßige, das Bedeutende, das wahrhaft Nothwendige zu sagen, so ist das Ideal nicht etwa, wie manche wähnen, ein geheimes Toilettenmittel, ein Schönheitswasser, womit der Dichter die Flecken und Runzeln der Wirklichkeit zu verbergen und ihr eine rosige Jugendblüthe anzumalen versteht, sondern es ist vielmehr der wunderthätige Quell der sein blödes Auge hell macht, und ihm Wesen und Wahrheit der Natur offenbart. Durch das Ideal wird der Dichter frei von Unklarheit und Unordnung, frei von blindem Zufall und gesetzloser Willkür – und so sind auch hier Freiheit und Gesetz unzertrennlich.
Wie der Idealismus welcher den Boden der realen Welt verläßt zu lustiger Phantasterei wird, so sinkt der Realismus welcher die Wirklichkeit, den Stoff, nicht durch das Ideal vergeistigt, zum plumpen Materialismus herab.
Aus: Emil Homberger: Der realistische Roman, S. 1207.