Karen Rose

Eiskalt ist die Zärtlichkeit

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Karen Rose

Karen Rose studierte an der Universität von Maryland. Ihre hochspannenden Thriller sind preisgekrönte internationale Topseller, die in zahlreiche Sprachen übersetzt worden sind. Auch in Deutschland feierte die Autorin große Erfolge. Ihr Thriller »Todesstoß« war Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Karen Rose lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Florida.

 

Mehr Informationen über die Autorin unter: www.karenrosebooks.com

Über dieses Buch

»So packend wie eine kalte Hand im Nacken – und doch zugleich auch eine bewegende Liebesgeschichte.«Publisher Weekly

 

Perfekt spielt Grace Winters die glückliche Ehefrau – doch in Wahrheit ist ihr Leben die Hölle. Ihr Ehemann Robb ist ein unberechenbarer Psychopath. Eines Tages setzt die junge Frau alles auf eine Karte: Sie täuscht ihren eigenen Tod vor, um endlich frei zu sein. Der Plan geht zunächst auch auf. Doch während Grace sich in ihrem neuen Leben einrichtet und sich schließlich sogar einer neuen Liebe zu öffnen wagt, hat Robb ihre Spur aufgenommen. Er will sich zurückholen, was ihm gehört!

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Don’t Tell« bei Warner Books, Inc., New York

eBook-Ausgabe 2011

Knaur eBook

Copyright © 2003 by Karen Rose Hafer

This edition published by arrangement with Warner Books, Inc., New York, New York, USA. All rights reserved.

Copyright © 2005 für die deutschsprachige Ausgabe by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Antje Nissen

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Nonstock, Inc./mauritius images

ISBN 978-3-426-41390-6

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Prolog

Asheville, North Carolina

Vor neun Jahren

Die Geräusche wirkten beruhigend. Das sanfte Piepsen der Monitore, das leise Scharren der Schwesternschuhe auf dem gefliesten Boden, die gedämpften Stimmen auf dem Flur. Sie lullten sie trotz der Schmerzen ein, und sie fiel in einen unruhigen Schlaf. In Sicherheit, dachte sie, bevor sie wegdämmerte.

»Wo ist meine Frau? Ich muss zu meiner Frau!«

Die verzweifelte Stimme riss Mary Grace aus ihrem Dämmerschlaf. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, erinnerte sich aber dann, dass sie zugeschwollen waren. Er ist hier.

Jemand hielt ihn zurück. Jemand mit einer tiefen Stimme, die in ihr kleines Zimmer drang. Vielleicht der Arzt. Ja, so musste es sein.

»Immer langsam, Officer Winters. Ihre Frau braucht Ruhe.«

»Was ist passiert? Lassen Sie mich los! Ich will zu Mary Grace!«

»Ihre Frau hatte einen bösen Unfall. Sie sieht ziemlich mitgenommen aus.«

»Was …« Sie hörte, wie er sich räusperte. »Ist sie schwer verletzt?«

Mary Grace lauschte angestrengt. Wie schwer war sie verletzt? Der scharfe Schmerz in ihrem Arm und ihrem Kopf drohte ihr das Bewusstsein zu rauben. Der Rest ihres Körpers fühlte sich taub an. Das kommt von den Schmerzmitteln, dachte sie und wehrte sich gegen die Benommenheit, die sie zu überwältigen drohte.

»Sie hat einen komplizierten Armbruch erlitten, den wir an zwei Stellen mit Metallstiften richten mussten. Auch ihr rechtes Bein ist gebrochen. Wir haben direkt über dem Knie einen weiteren Metallstift eingesetzt. Außerdem hat sie zahlreiche Blutergüsse im Gesicht und am Hinterkopf und über dem Auge eine tiefe Platzwunde. Es hat nur wenig gefehlt, und sie hätte das Auge verloren.«

Mary Grace unterdrückte ein Schaudern. Jede noch so kleine Kopfbewegung schmerzte höllisch.

»Aber sie wird sich bestimmt wieder erholen.« Sie hörte die Verzweiflung in der Stimme ihres Mannes.

Eine lange Pause folgte, die Mary Graces Herz zum Rasen brachte.

»Sie wird doch wieder gesund werden, oder? Verdammt, Doktor, sagen Sie mir die Wahrheit!«

Ja, bitte, die Wahrheit, dachte Mary Grace. Und machen Sie schnell. Die Benommenheit drohte sie wieder einzuholen.

»Ihre Frau ist eine Treppe hinuntergestürzt, Officer Winters. Dabei hat sie sich den neunten Wirbel des Rückgrats gebrochen. Sie ist eine ganze Weile mit gequetschtem Rückenmark bewusstlos dagelegen.«

»Oh mein Gott!«

Ihr Herz hörte auf zu rasen und schien stillzustehen. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder mühsam atmen konnte.

»Nun, sie hat Lähmungserscheinungen.«

Oh mein Gott, dachte Mary Grace. Oh mein Gott.

»Ist das … geht das vorüber?«

»Das ist zu diesem Zeitpunkt schwer zu sagen. Wir müssen warten, bis die Schwellung abklingt, dann lassen wir einen Spezialisten für Rückenmarksverletzungen aus Raleigh kommen, der Ihre Frau gründlich untersuchen wird.«

»Kann ich sie sehen?«

»Nur für ein paar Minuten. Ich werde hier auf Sie warten.«

Sie hörte, wie er sich in das Krankenzimmer schob; seine Cowboystiefel knirschten auf dem Boden. Dann konnte sie ihn riechen, sein aufdringliches Aftershave, das er stets benutzte. Sie spürte seine Körperwärme, als sich seine große Gestalt zu ihr herabbeugte.

»Gracie«, sagte er bekümmert. »Mary Grace, was hast du dir getan, Liebling?« Seine Finger strichen über ihren Handrücken, und ein kalter Schauer fuhr ihr über den Nacken. Er neigte sich vor, und seine Lippen streiften ihre Wange. Sein Schnauzbart kitzelte ihre Haut, als er ihre Wange bis zum Ohr mit einer Spur kleiner Küsse bedeckte.

Dann geschah es. Sie hatte darauf gewartet, hatte gewusst, dass es kommen würde.

»Ein Wort«, hauchte er so leise an ihr Ohr, dass niemand außer ihr ihn hören konnte. »Ein Wort aus deinem dämlichen Mund, und das nächste Mal leiste ich ganze Arbeit, das schwöre ich dir.« Es sah aus, als würde er mit den Lippen ihr Ohrläppchen liebkosen. »Verstanden?«

Mary Grace schaffte es, ein wenig mit dem schmerzenden Kopf zu nicken, damit er sich zufrieden gab. Er richtete sich auf, strich ihr mit der Hand über das Haar und griff unmerklich hinein, als wolle er daran ziehen. Eine Welle von Übelkeit überrollte sie.

»Ach, Gracie, Liebling. Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen.«

Instinktiv wich ihr Körper vor seiner bekümmert klingenden Stimme zurück, doch jede Muskelanspannung bereitete ihr weitere Schmerzen.

»Mehr Zeit kann ich Ihnen heute nicht gestatten, Officer Winters. Am besten gehen Sie zurück zur Wache, und wir benachrichtigen Sie, wenn sich etwas ändert. Noch besser wäre es allerdings, wenn Sie nach Hause fahren würden.«

»Das werde ich tun.« Sein schwerer Seufzer hing in der Luft. »Wo ist der Junge?«

Wieder setzte ihr rasendes Herz für einen Moment aus. Robbie. Wo war Robbie? Eine trübe Erinnerung nagte an ihrem Bewusstsein. Robbie, wie er ihre Hand hielt, wie er sie anflehte, nicht zu sterben, sie anflehte, doch zu warten, bis der Rettungswagen kam. War es dieses oder das vorige Mal gewesen? Sie kämpfte gegen die lähmende Wirkung der Medikamente an, denn sie musste wissen, bei wem ihr Sohn untergebracht war.

»Er ist bei der Krankenhaustherapeutin. Er hat seine Mutter gefunden, verstehen Sie? Der Schock kann ein böses emotionales Trauma in einem Jungen seines Alters auslösen.«

Robs barsche Stimme drang durch den Raum. Er steht jetzt neben dem Arzt, dachte sie. Er wird gleich gehen. Dann ist er allein mit meinem Sohn. »Der Junge ist stark. Er wird es überleben.«

Mary Grace krallte ihre Hände in das Laken, zerrte daran, bis ihre Finger schmerzten. Sie fühlte sich losgelöst von ihrem Bewusstsein. Hilflos in ihrem eigenen Körper gefangen. Er wird es überleben. Er muss überleben. Bitte, Robbie, halte durch, bis ich nach Hause komme.

Danach wird sich unser Leben ändern. Sie musste ihren Sohn beschützen und schwor sich, dass Rob Winters ihnen beiden nie wieder ein Haar krümmen würde. Aber wie sollte sie das schaffen?

Ich werde einen Weg finden.

1

Gegenwart

Douglas Lake, East Tennessee

Sonntag, 4. März, 9:30 Uhr

Gott, das hier hasse ich am meisten an unserer Arbeit. Wie, zum Teufel, kannst du jetzt etwas essen?«

Hutchins blickte über den Lake Douglas hinweg, der in der stillen Morgenfrühe vor ihnen lag, und dachte an die Leiche, die sie herausziehen würden, und an die widersinnige Verschwendung von Leben. Mit der unerschütterlichen Ruhe eines Sheriffs, der auf eine langjährige Erfahrung zurückblickte, stopfte er den Rest seines Doughnuts in sich hinein. »Weil ich bestimmt keinen Appetit mehr habe, wenn sie den Jungen rausgeholt haben. Verhungern will ich aber auch nicht.« Er warf einen mitfühlenden Blick auf das blasse Gesicht seines jüngsten Rekruten. »Wirst dich schon daran gewöhnen, Junge.«

McCoy schüttelte den Kopf. »Man sollte meinen, dass sie vernünftiger wären.«

»Die jungen Leute sind selten vernünftig. Schon gar nicht, wenn sie Frühjahrsferien haben. Auch daran wirst du dich gewöhnen. Ich rechne fest damit, dass wir noch weitere aus dem See ziehen werden, bevor die Urlaubssaison vorüber ist.«

»Vermutlich werde ich die Eltern informieren müssen, wenn unsere Arbeit beendet ist.«

Hutchins zuckte mit den Schultern und zündete sich eine Zigarette an. »Du hast den Fall übernommen, Junge. Dann musst du ihn auch zu Ende bringen. Meine Lieblingsbeschäftigung ist das auch nicht gerade, aber du musst noch lernen, schlechte Nachrichten zu überbringen.«

McCoy konzentrierte sich auf das Boot, das langsam einen Haken über den Boden des Sees zog. »Sie hoffen immer noch, dass er lebt. Heiliger Strohsack, Hutch – wie können Eltern sich dermaßen an ihre Hoffnung klammern? Die anderen Jungs haben es klar und deutlich zu Protokoll gegeben. Sie haben getrunken und herumgealbert, und der Kleine hat seinen Jet-Ski kaputtgefahren. Sie haben gesehen, wie er untergegangen ist.«

Hutchins sog an seiner Zigarette und stieß den Rauch mit einem Seufzer wieder aus. »College-Kids sind dumm. Ich sag’s dir immer wieder. Aber Eltern …« Er schüttelte seinen grauen Kopf. »Eltern hoffen. Sie hoffen, bis du sie zwingst, eine Leiche zu identifizieren.«

»Oder das, was davon übrig ist«, brummte McCoy.

»Hey, Tyler.« Die Worte tönten unter statischem Knistern aus McCoys Funkgerät.

»Hey, Wendell«, antwortete McCoy und schluckte. Bei der Vorstellung, was Wendells Haken zutage beförderte, kam ihm die Galle hoch. »Was hast du gefunden?«

»Tja, eine Leiche ist es nicht, so viel steht fest.«

Hutchins griff nach dem Funkgerät. »Was redest du da, Junge?«

»Es ist ein Auto, Sheriff.«

Hutchins schnaubte verächtlich. »Da unten liegen genug Autos herum, um einen Gebrauchtwagenhandel aufzumachen. Das Haus meiner Urgroßmutter steht auch da unten.« Der ganze Mist war noch übrig aus der Zeit, als die Tennessee Valley Authorities in den dreißiger Jahren die Staudämme gebaut und das Tal geflutet hatten. Das war allgemein bekannt.

»Ja, lauter Fords der Serie Model T. Der hier ist neueren Datums. Sieht aus wie ein Ford aus den späten Achtzigern. Auf dem Rücksitz liegt ein Kinderrucksack – einer von diesen Mutant-Ninja-Turtle-Dingern. Wir holen ihn ran.«

»Verdammt.« Hutchins zertrat seine Zigarette unter dem Stiefelabsatz. »Irgendwas ist immer. Holt ihn ran und sucht dann weiter nach dem Jungen.

Asheville, North Carolina

Sonntag, 4. März, 22:30 Uhr

»Verdammter Hurensohn.« Der Junge rang nach Luft. »Scheißkerl.«

Rob Winters starrte den Halbwüchsigen, der bereits kurz vor der Ohnmacht stand, leidenschaftslos an. Schade eigentlich. Er hatte gehofft, der Junge habe mehr Mumm. Mit vierzehn hatte er die Schläge seines Alten hoch erhobenen Hauptes über sich ergehen lassen. Er verstärkte den Druck auf die Hand des dunkelhäutigen Jungen, die er wie ein Schraubstock umklammert hielt. Der Junge stöhnte wieder und taumelte rücklings gegen die Gassenmauer. Ein dumpfer Aufprall ertönte, als sein Kopf mit den albernen Zöpfchen gegen den Stein schlug.

»Ich weiß nichts. Hab ich doch schon gesagt.« Der Junge sog scharf den Atem ein und versuchte seine Hand zu befreien. »Sie können mich ruhig gehen lassen. Ich sag den Bullen nichts, ich schwör’s, Mann. Beim Grab meiner Mutter.«

Winters verzog höhnisch die Lippen. »Ich wette den Monatsvorrat an Lebensmittelmarken deiner Mama darauf, dass sie noch quicklebendig ist, und wenn du auch am Leben bleiben willst, dann sagst du mir, was ich wissen will.« Winters’ Stimme klang ruhig und leise, im krassen Gegensatz zu den keuchenden Schreien, die über die blutigen, geschwollenen Lippen des Jungen kamen. »Alonzo Jones. Wo ist er?«

Der Junge wehrte sich, doch Winters drückte ihn fester an die Gassenmauer. Er wimmerte, woraufhin Winters seinen unbarmherzigen Griff noch verstärkte. Winters neigte sich so dicht dem Kopf des Jungen entgegen, dass seine Lippen dessen Ohr streiften. »Hör zu, Junge, hör mir sehr gut zu, denn ich sag’s nur einmal. Ich muss wissen, wo ich Alonzo Jones finde, und du willst eine gesunde Hand behalten. Wenn ich noch fester zudrücke, werden deine Nerven dauerhaft beschädigt sein, und du bekommst Probleme, wenn du das nächste Mal vorhast, ein Kaufhaus auszuräumen.«

Die Augen des Jungen weiteten sich, und das Weiße darin blitzte hell in der Dunkelheit auf. »Ich hab kein Kaufhaus ausgeräumt, Mann. Ich schwör’s. Oh, verdammt!« Das letzte entfuhr ihm als schriller Schrei, als Winters seine Hand hart quetschte.

»Doch, hast du. Wir haben dich auf Video aufgenommen, Junge. Du und diese Bande, mit der du dich rumtreibst. Anführer ist ein gewisser Alonzo Jones. Jetzt kannst du mit mir zur Wache kommen und uns ganz genau erzählen, wie ihr einem zweiundsechzigjährigen unbewaffneten Weißen ein Messer in den Bauch gestoßen habt, oder du erzählst mir, wo ich Alonzo Jones finde. Den will ich noch dringender sprechen, als ich deinen traurigen Arsch im Knast vergammeln sehen will.«

Der Junge fuhr sich mit der Zunge über seine blutige Lippe, und seine Augen wurden schmal vor Hass. »Du bist ein Bulle? Scheiße, Mann. Ich muss gar nicht mit dir reden. Ich brauche mit keinem anderen außer mit meinem Anwalt zu reden. Über brutale Übergriffe der Polizei. Ihr weißen Bullen habt Spaß daran, uns Schwarze zu verprügeln.« Er ließ sich gegen die Mauer fallen. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, als er versuchte, seine Hand aus dem eisernen Griff zu befreien. »Du bist am Arsch.«

Winters lächelte und genoss den Anblick des Jungen, als der Hass in seinen Augen wieder der Angst wich. Dann drückte er kräftig zu und senkte den Kopf, um über das Brüllen des Jungen hinweg das Knacken der Knorpel zu hören.

»Arschficker, Scheißkerl!«

»Dass deine ach so heilige Mutter dir einen solchen Wortschatz durchgehen lässt! Sag, wo Jones ist. Auf der Stelle

Der Junge sackte in sich zusammen, und seine Knie schlugen auf dem Asphalt auf. »Bei seiner Frau.«

Winters ließ die Hand des Jungen los, krallte die Finger um seinen dünnen, schmutzigen Hals und drückte sein Gesicht auf die Straße, während der Junge schützend seine verletzte Hand bedeckte. »Ihr Name?«

»Ich weiß …« Ein erstickter Schmerzensschrei unterbrach seine erbärmliche Lügen. Dann hob Winters den Daumen vom Kehlkopf des Jungen. »Chaniqua«, keuchte er.

Winters’ Stiefel traf den Jungen an der Hüfte, der sich daraufhin zusammenkrümmte und wie ein kleines Kind weinte. »Den Nachnamen, du unnützes …«, er trat erneut zu, und seine Stiefelspitze traf den Jungen in den Bauch und schleuderte ihn auf den Rücken, »… feiges Stück Scheiße.«

Ein schwaches Stöhnen drang zu ihm hinauf. »Pierce. Chaniqua Pierce. Friseurin. In … der Innenstadt.«

Winters verzog das Gesicht, als der Junge auf seine Stiefel kotzte. Wut und Abscheu kochten in ihm hoch, und er trat wieder nach dem Jungen. Dann noch einmal. Und noch einmal. »Jetzt weißt du, wie der alte Mann sich gefühlt hat, als er zusammengerollt auf dem Boden seines Ladens lag und in einer Lache seines eigenen Bluts sterben musste.« Winters wischte mit einem Stiefel den größten Teil des Erbrochenen an der schmutzigen Hose des Jungen ab. Dann zielte er erneut und trat hemmungslos zu. Der magere Körper des Jungen prallte gegen die Ziegelmauer, seine Augäpfel rollten nach hinten, und Blut floss in einem steten Strom aus seinem Mundwinkel. Ein finaler Tritt gegen den Kopf gab ihm den Rest, und der Junge erzitterte und stieß seinen letzten Atemzug aus.

Winters holte tief Luft und wischte den anderen Stiefel am Hemd des Jungen ab.

Ein Stück Scheiße weniger auf der Straße. Er fand, dass er gute Arbeit geleistet hatte, schälte sich die dünnen Latex-Handschuhe von den Fingern und warf sie in einen Müllcontainer. Man konnte nie vorsichtig genug sein, wenn man mit Straßengangs zu tun hatte. Fiese Krankheiten lauerten überall auf der Straße.

Während er die Viertelmeile zum Parkplatz seines Lieferwagens zurücklegte, entfernte er die Wattepads aus seinem Mund, den falschen Überbiss von seinem Oberkiefer und zog sich die graue Perücke vom Kopf. Nun konnte ihn niemand mehr mit diesem Straßenjungen in Verbindung bringen, selbst dann nicht, wenn sich jemand die Mühe machte, die Polizei zu rufen. Er warf einen raschen Blick über die Straße, bevor er sorgfältig seine Perücke verstaute, dann wechselte er die Stiefel und warf das schmutzige Paar mit gerunzelter Stirn auf den Rücksitz. Es waren seine besten Stiefel. Winters zuckte mit den Schultern. Sue Ann würde sie später reinigen. Er schwang sich auf den Fahrersitz und fühlte sich unbesiegbar.

Es war an der Zeit, Miss Chaniqua Pierce einen Besuch abzustatten.

Er war kaum fünf Minuten gefahren, als sich sein Pieper meldete. Aus dem Augenwinkel spähte er nach der Nummer, während er den Blick ansonsten auf den Abschaum gerichtet hielt, der zu dieser Zeit, wo anständige Menschen längst im Bett waren, herumlungerte. Verdammte Scheiße. Konnte dieses Weibsstück ihn nicht mal fünf Minuten in Ruhe lassen. Mit einem wütenden Knurren zog er sein Telefon aus der Tasche und gab die Nummer ein.

»Ross.«

Winters knirschte mit den Zähnen. Ross, wie in Lieutenant Ross. Wie in Quotenfrau, geschrieben in großen, schwarzen Druckbuchstaben. Das Miststück, das den Job an sich gerissen hatte, der ihm zustand.

Er bemühte sich, so viel falsche Freundlichkeit in seine Stimme zu legen, wie er mit halb vollem Magen zustande bringen konnte. »Winters. Was gibt’s?«

»Dasselbe wie die letzten sechs Male in der vergangenen Stunde, als ich versucht habe, Sie zu erreichen. Was ist Ihnen denn so viel wichtiger, als meine Anrufe zu beantworten, Detective?«

Winters holte tief Luft. Sie hatte ihn schon einmal wegen Insubordination abgemahnt. Insubordination. Schon bei dem Gedanken revoltierte sein Magen, und die Wut nagte an ihm. Er war »verwarnt« worden. Verwarnt, verdammt noch mal, von einem inkompetenten Miststück mit einem Arsch, so groß wie South Carolina. Mit einiger Mühe gelang es ihm, sich zu beherrschen. »Ich war bei einem Informanten, Lieutenant.«

»Haben Sie Jones gefunden?«

»Nein, aber ich weiß, wo er ist.«

»Möchten Sie mir verraten, wo?«

Damit sie einen ihrer handverlesenen, arschkriechenden Lieblinge hinschicken und ihn verhaften lassen konnte? Nie im Leben, zum Teufel. »Ich möchte lieber warten, bis ich mir sicher bin.«

»Das kann ich mir denken. Ich möchte es aber lieber jetzt wissen.«

Miststück. »Er ist bei seiner Freundin.«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine angespannte Pause. Ein Punkt für mich, dachte er. »Hat diese Freundin einen Namen, Detective? Und treiben Sie bitte nicht wieder Ihre Spielchen mit mir. Ich will Antworten, und zwar sofort.«

Winters biss die Zähne so heftig zusammen, dass es wehtat. »Sie heißt Chaniqua Priest.« Oder Pierce oder so. Am Ende hatte der Junge nur noch gegurgelt. Vielleicht hatte er auch Priest gesagt.

»Haben Sie eine Adresse?«

»Ich weiß nur, dass sie in der Innenstadt wohnt.«

»Sehr hilfreich, Detective. Halten Sie Ihren Informanten zur Verfügung, für den Fall, dass wir noch Fragen haben.«

Winters unterdrückte ein leises Lachen. Wenn sein Informant noch Fragen beantwortete, dann höchstens aufgespießt von den Zinken einer glühenden Forke. »Ja, Sir«, antwortete er, wohl wissend, dass das »Sir« sie mehr ärgerte als alles andere, wenngleich sie rein technisch gesehen ihn deswegen nicht belangen konnte. »Hatte es einen besonderen Grund, dass Sie mich sprechen wollten, Lieutenant?«

»Ja. Sheriff Hutchins aus dem Sevier County in Tennessee hat versucht, Sie zu erreichen. Er sagt, Sie sollen ihn dringend anrufen.« Sie rasselte die Telefonnummer herunter, und er speicherte sie unverzüglich in seinem Gedächtnis. Namen und Zahlen konnte er sich leicht merken. Auf dem Weg nach Gatlinburg war er einmal durch Sevier County gefahren, aber von einem Hutchins hatte er noch nie gehört.

Winters bog auf den Parkplatz des ersten Kaufhauses ein, an dem er vorbeikam, und wählte Hutchins’ Nummer. Der Sheriff wäre in Kürze zu sprechen, wie Hutchins’ Assistent ihm erklärte, er möge bitte warten. Winters tat brummend wie ihm geheißen. Wehe, es ist nichts Wichtiges, dachte er. Er vergeudete wertvolle Minuten, während er warten musste. Endlich bequemte sich der erlauchte Sheriff ans Telefon zu kommen.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ, Officer Winters«, sagte er atemlos, und Winters hörte im Hintergrund das Ächzen eines Stuhls, als der Sheriff sich offenbar setzte.

»Ich bin Detective Winters«, korrigierte er scharf. Hatte Ross ihm das nicht gesagt? Miststück.

»Oh, Verzeihung. Ihr Lieutenant sagte mir bereits, dass Sie befördert worden sind. Mein Gehirn ist im Augenblick ein bisschen überlastet. Wir haben den ganzen Tag lang den Douglas Lake nach einem Unfallopfer abgesucht, und eben gerade hatte ich das Vergnügen, die Eltern informieren zu müssen.«

»Ach, du Schande«, sagte Winters und verdrehte die Augen.

»Aber was geht es Sie an, nicht wahr? Hören Sie, Winters, als wir den See abgesucht haben, haben wir noch etwas anderes gefunden. Ich dachte, Sie sollten es erfahren, bevor die Bürokraten sich einmischen.«

Winters lauschte gespannt den Worten des Sheriffs, und plötzlich waren Lieutenant Ross und Alonzo Jones so ziemlich das Letzte, was ihn interessierte.

Sie hatten seinen Wagen gefunden. Sieben Jahre hilfloser Wut stürzten mit der Wucht eines Güterzugs auf ihn ein. Sie hatten seinen Wagen gefunden, aber sein Junge war nicht darin gewesen.

Seine Frau auch nicht.

2

Chicago

Montag, 5. März, 7:00 Uhr

Na, was ist der Anlass?«
Caroline fuhr so heftig zusammen, dass sie sich mit dem Mascarabürstchen über die Stirn fuhr und einen breiten schwarzen Streifen hinterließ. Mit erzwungener Ruhe wandte sie sich um, die Mundwinkel ärgerlich herabgezogen, die Augen schmal zusammengekniffen. Sie hasste ihre nervösen Reaktionen, die ihr auch die Zeit noch nicht hatte austreiben können, denn sie gaben ihr das Gefühl, in einer fremden Haut zu stecken. Caroline holte tief Luft und steckte das Mascarabürstchen wieder in seine Patrone zurück.

»Du sollst das nicht tun, das weißt du doch.«

Dana lehnte mit verschränkten Armen am Pfosten der Schlafzimmertür und hob die Augenbrauen. »Verzeihung.« Dann lächelte sie. »Du siehst ein bisschen wie ein Waschbär aus.«

Caroline stieß einen Seufzer aus, während sie ihr ruiniertes Make-up im Spiegel betrachtete. »So etwas kann ich heute wirklich nicht gebrauchen, Dana. Ich habe schon genug Stress, auch ohne dass du dich von hinten an mich heranschleichst.« Sie kramte in der Schublade nach einer Tube mit Make-up-Entferner.

Dana erstarrte. »Ich habe mich nicht angeschlichen. Ich habe nach dir gerufen, als ich in die Wohnung kam, und dann habe ich fünf Minuten lang mit Tom geredet, bevor ich dich gesucht habe. Du hast einfach nichts gehört. Ach, zum Kuckuck, Caro, mach doch nicht so ein Theater deswegen. Wisch es einfach ab.«

Caroline schloss ein Auge und rubbelte an dem verpfuschten Make-up herum. »Geht nicht. Es ist wasserfest.«

»Ich hasse dieses wasserfeste Zeug.« Dana beugte sich über Carolines Frisiertisch und griff nach der Mascara. »Seit wann benutzt du wasserfeste Wimperntusche?«

Caroline nahm ihr die Mascara aus der Hand und konzentrierte sich aufs Schminken. »Seit Eli gestorben ist.«

Danas Miene wurde ernst. »Entschuldige, Caroline. Das war gedankenlos von mir.«

Caroline schloss die Schublade mit einem Ruck. »Schon gut. Man könnte meinen, dass es inzwischen vorbei wäre, aber offenbar überstehe ich keinen Tag, ohne wenigstens ein oder zwei Mal ein bisschen zu heulen.«

»Es ist ja erst zwei Monate her, Schätzchen.«

»Zwei Monate und zwölf Tage.« Eli Bradford war ihr Lehrer gewesen, ihr Chef, ihr Freund. Abgesehen von Dana und Tom war Eli der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der ihr verborgenstes Geheimnis kannte. In der mittlerweile vertrauten Reaktion auf die Erinnerung an den Mann, der ihrer Vorstellung von einem Vater näher kam als jeder andere, schnürte sich ihr die Kehle zusammen. Jetzt war er nicht mehr da, und er fehlte ihr mehr, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. »Nun, wenn du schon mal in meine Privatsphäre eingedrungen bist: Wie sehe ich aus?«

Dana schürzte die Lippen und neigte den Kopf, bereit, auf Carolines gewünschten Themenwechsel einzugehen. »Der Haaransatz ist zu hell. Du musst nachfärben.«

Caroline beugte sich vor, um ihren Scheitel zu betrachten. Ein schmaler, goldener Streifen, der eindeutig in starkem Kontrast zu den kaffeebraunen Wellen stand, zog sich über ihren Kopf. »Verdammt. Ich habe doch erst vor zwei Wochen nachgefärbt.«

»Ich habe dir gesagt, dass du keine dunkle Farbe nehmen sollst. Aber hast du auf mich gehört? Nein.«

»Klugscheißerin. Damals dachte ich, es wäre am besten so.« Rasch flocht sie ihr Haar, um das verräterische Blond zu verbergen.

Dana schüttelte den Kopf. »Es ist zu dunkel. War von Anfang an zu dunkel. Du solltest es ein bisschen aufhellen.«

»Da-na«, seufzte Caroline und gab sich keine Mühe zu verbergen, wie gereizt sie war.

»Caro-line.« Dana imitierte ihren Tonfall, wurde dann jedoch sachlich. »Nach so langer Zeit glaubst du immer noch, dass du dich hinter dieser Haarfarbe verstecken musst?«

»Ich gehe lieber auf Nummer sicher.« Das war ihre Standardantwort.

»Auf jeden Fall«, sagte Dana leise und senkte für einen Moment den Blick. Dann sah sie Caroline mit ernster Miene an. »Du könntest es ein ganz klein wenig aufhellen. Der Kontrast lässt dein Gesicht so blass erscheinen. Besonders zu dieser Jahreszeit, wenn der Winter gerade erst vorüber ist.«

»Vielen Dank.«

Dana lächelte, und die Stimmung im Zimmer hellte sich plötzlich auf. »Keine Ursache. Aber dein Pulli gefällt mir wirklich. Das Blau passt gut zu deiner Augenfarbe.«

»Zu spät und nicht genug, liebe Freundin. Und diese Bezeichnung meine ich nur im weitläufigen Sinne.« Das war denkbar weit von der Wahrheit entfernt, und sie wussten es beide. Danas einzigartige Mischung aus Frohsinn und Nüchternheit hatte Caroline schon über manchen schwarzen Tag hinweggeholfen. Sie waren beste Freundinnen. Und nachdem sie über so viele Jahre hinweg völlig allein und auf sich gestellt gewesen war, wusste Caroline Stewart den Wert einer besten Freundin wie Dana Dupinsky weiß Gott zu schätzen. Eine bessere, klügere oder treuere gab es nicht. Caroline schob die Füße in ein Paar Pumps mit flachem Absatz. »Sieht man, dass die hier ein Sonderangebot zu zehn neunundneunzig sind?«

Mit zusammengekniffenen Augen musterte Dana Carolines Füße. »Nein. Wozu dieser Aufwand heute Morgen? Und das bringt uns zu meiner Frage zurück: Was ist der Anlass?«

»Mein neuer Boss hat heute seinen ersten Tag. Ich will einfach nur einen guten Eindruck hinterlassen.« Sie drehte sich seitlich zum Spiegel und prüfte ihre Erscheinung. »Ich möchte professionell aussehen, ohne zu übertreiben.« Sie betrachtete sich noch eingehender. »Meinst du, dass diese Ohrringe zu gewagt sind?«

Dana schnaubte durch die Nase. »Diese Ohrringe sind so weit davon entfernt wie du selbst, mein Herz.«

»Zieh jetzt bloß nicht über mein Liebesleben her. Beantworte einfach nur meine Frage.«

»Du hast kein Liebesleben, Caroline. Und die Ohrringe sind in Ordnung. Keine Sorge. Du siehst großartig aus. Du bist eine ausgezeichnete Sekretärin, und dein neuer Boss wird beeindruckt sein.«

Caroline seufzte. »Das hoffe ich. Ich habe mich so an die Zusammenarbeit mit Eli gewöhnt. Ich wusste, was er brauchte, noch bevor er es ausgesprochen hatte. Und diesen Job muss ich unbedingt behalten, wenigstens bis zu meinem Abschluss.« Nach dem College-Abschluss wollte sie sich an der juristischen Fakultät einschreiben, und dann wären die täglichen Sorgen einer Sekretärin, die das Büro der Historischen Abteilung am Carrington College zu organisieren hatte, Schnee von gestern.

»Alles wird gut.«

Caroline warf ihr einen milde tadelnden Blick zu. »Das sagst du immer.«

»Und ich habe immer Recht.«

Caroline lächelte. »Was bist du nur für ein Dickkopf.«

»Aber ein Dickkopf, der Recht hat.«

»Das stimmt.« Caroline trat dichter an den Spiegel heran und zog den Rollkragen ihres Pullis herab, um ihren Hals zu betrachten.

»Man sieht sie nicht«, sagte Dana weich. »Keine Angst.«

Caroline rückte den Kragen wieder zurecht und straffte den Rücken. »Dann bin ich bereit, Dr. Maximillian Alexander Hunter entgegenzutreten.«

Dana lachte. »Heißt er so? Das hört sich an, als wäre er ein vierhundert Jahre alter Geschichtsprofessor.«

»Er ist Geschichtsprofessor.«

»Sag ich doch.«

Caroline zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist er nicht älter, als Eli war. Solange ich nicht für Monika Shaw arbeiten muss, bin ich glücklich, selbst wenn Hunter sich als vierhundert Jahre altes ausgestopftes Känguru erweisen sollte.«

Sie ging in Richtung der Küche, und Dana folgte ihr auf den Fersen. »Wie nimmt die alte Shaw-Zicke es auf?«

Caroline lachte leise, doch ihre Miene wurde wieder ernst, als sie Tom an dem winzigen Klapp-Küchentisch sitzen und Cornflakes löffeln sah. Pro Tag verschlang er mindestens eine Packung. Mit vierzehn Jahren hatte er einen Wachstumsschub nach dem anderen und fraß ihr buchstäblich die Haare vom Kopf. Sie bediente sich ihres Mom-Tonfalls, als sie sagte: »Dana, hör bitte auf, sie als Zicke zu bezeichnen.«

»Lass es gut sein, Mom«, sagte Tom, und sein Löffel hielt auf halbem Weg zum Mund inne. »Ich hab gesehen, wie du gelacht hast.«

»Du!« Caroline zauste sein dickes, blondes Haar. Kurz geschoren, wie er es trug, fühlte es sich wie eine Scheuerbürste an und kitzelte ihre Handfläche. »Erwischt. Du musst dich beeilen, sonst …«

»Verpasst du den Bus«, vollendete Tom den Satz. Er schaufelte sich weitere vier Löffel in den Mund, bevor er nach seinem Rucksack griff. »Muss los. Nach der Schule hab ich Training, Mom. Vor fünf bin ich nicht zu Hause.«

»Pass …«

»Auf dich auf«, sagte er mit einem frechen Grinsen. »Du auch auf dich. Viel Glück mit Hunter.« Sein Lächeln erstarb. »Und nimm dich in Acht vor der Shaw, ja?«

Caroline legte eine Hand an seine Wange. Tom war über einsachtzig groß und seine Wange damit beinahe außerhalb ihrer Reichweite. »Mach ich. Keine Angst. Die Shaw kann uns nichts tun. Sie ist gehässig und rachsüchtig, aber eher gewinne ich den Nobelpreis, als dass sie sich die Zeit nimmt, unsere Familiengeheimnisse auszugraben. Mach dir keine Sorgen, Schatz, bitte.«

Tom furchte die Stirn, und seine blauen Augen sprühten vor einer Mischung aus Angst und Zorn. »Machst du dir selbst eigentlich niemals Sorgen?«

Caroline betrachtete sein Gesicht, das das Abbild ihres eigenen war. In dieser Hinsicht war das Schicksal ihnen gnädig gewesen. Hätte Tom ausgesehen wie er, wäre es entschieden schwieriger gewesen, den Jungen zu verstecken. »Doch, ich mache mir Sorgen«, erwiderte sie aufrichtig. Sie hatten so vieles gemeinsam durchgestanden, dass er nichts als die reine Wahrheit verdiente. »Manchmal überstehe ich einen ganzen Tag ohne die Angst, dass er hinter irgendeinem Gebüsch hervorspringt und mich zurückschleppt, doch diese Tage sind selten. An manchen Tagen wünsche ich mir, wir könnten uns wieder im Hanover House verstecken, aber ich weiß, dass Dana uns in den Allerwertesten treten und auf die Straße setzen würde.« Sie sah das Aufblitzen eines Lächelns in seinen Augen und wusste, dass ihr Humor seiner Angst die Spitze genommen hatte, wie immer.

Dana drängte sich neben Tom und legte ihm den Arm um die Schultern. »Genau das würde ich tun. In der Beziehung bin ich eine böse Hexe.«

Tom brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ja, ich erinnere mich. ›Iss deine Erbsen auf‹«, imitierte er Danas Stimme. »›Mach deine Hausaufgaben‹. ›Nach halb neun kein Gameboy-Spielen mehr.‹ Mann, war ich froh, als wir aus diesem Gefängnis ausziehen konnten.«

Das stimmte nicht. Caroline erinnerte sich noch sehr gut an den Tag, als sie den Schutz von Hanover House verlassen und in die große, böse Welt Chicagos hinaustreten mussten, mit nichts in der Hand außer einem Koffer voller Kleiderspenden von anderen, die das Schicksal weniger herausgefordert hatte. Sie erinnerte sich an seine stillen Tränen, den Ausdruck von höchster Not auf seinem kleinen Gesicht, die Art, wie sein Blick hektisch hin und her gehuscht war. Immer auf der Hut. Aber er hatte gehorcht. Hatte seine kleine Hand in ihre geschoben und war ohne einen einzigen Blick zurück auf die Straße hinausgetreten. In den sieben Jahren hatte er es weit gebracht. Sie beide hatten es weit gebracht.

»Tom, Schätzchen.« Caroline schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten. »Ich habe noch Angst. Aber ich bin nicht mehr zu Tode verängstigt. Er könnte uns aufspüren, das ist schon richtig. Er könnte aus irgendeinem Gebüsch springen und uns zurück nach North Carolina zerren.« Von »zu Hause« redete sie längst nicht mehr; sie sagte auch nie »Vater« oder »mein Mann«. Niemals, wirklich niemals benutzten sie die Namen, die sie hinter sich gelassen hatten. In diesen kleinen Dingen waren sie noch genauso wachsam wie vor sieben Jahren. Ihre Beachtung hatte ihnen Sicherheit beschert.

Und es war entschieden besser, Vorsicht als Nachsicht walten zu lassen, denn alles andere hätte ihren Tod bedeutet.

Caroline richtete sich ein wenig auf. »Aber jetzt sind wir stärker, wir beide. Jetzt stehen uns Waffen zur Verfügung, die wir damals nicht hatten.«

Dana verstärkte ihren Griff um Toms Schultern. »Ja, ich zum Beispiel.«

Caroline lächelte. »Und sie ist wirklich Furcht erregend, vergiss das nicht. Aber wir haben noch mehr. Ich besitze jetzt eine Ausbildung. Ich kenne meine Rechte.« Sie zögerte. »Und ich weiß, wie man wegläuft.«

Tom biss die Zähne zusammen. »Ich will nicht wieder weglaufen.«

»Und wir werden es wahrscheinlich nie wieder tun. Aber falls er kommt …«

»Wenn er kommt, lass ich dich nicht im Stich.«

Caroline seufzte und zuckte mit den Schultern. »Schatz, darüber haben wir schon tausend Mal geredet.«

»Ich laufe nicht weg«, versicherte er. »Ich lass dich nicht allein.« Plötzlich wirkte er so viel älter als vierzehn. Caroline stellte fest, dass ihr Sohn im Begriff war, ein Mann zu werden. Und sie wusste, was sie sagen musste, selbst, als ihr die Worte fast im Halse stecken blieben.

»In Ordnung. Sollte dieser Tag jemals kommen, bleiben wir unzertrennlich zusammen.« Wieder hob sie die Hand, um sein Gesicht zu berühren. »Aber mach dir wenigstens heute keine Sorgen. Und das Gleiche gilt für morgen und übermorgen.«

»Denk nicht über den Tag hinaus«, flüsterte er wie zu sich selbst.

»Du hast ihm viel beigebracht, Caro.«

Carolines Blick glitt von ihrem Sohn zu ihrer besten Freundin. Sie hatten ihm in der Tat viel beigebracht. Sie beide zusammen, sie und Dana. Und ob sie zusammenblieben oder nicht, Tom hatte das Zeug zu überleben, ganz gleich, was geschah. Sie hatte ihm geholfen, Freunde zu finden, die sich sofort seiner annehmen würden, sollte ihr etwas zustoßen. Das war eine tröstliche Sicherheit.

»Zeit für die Schule. Hab einen schönen Tag, Schatz.«

»Ich will’s versuchen.« Er zögerte kurz, beugte sich dann herab und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. »Tschüss.«

Beim Hinausgehen ließ er die Tür so stark hinter sich ins Schloss fallen, dass die Wände der kleinen Wohnung erzitterten. Einen Moment lang stand Caroline reglos da, dann zwang sie sich zurück in die Gegenwart. »Möchtest du Kaffee?«

»Nein. Ich habe schon welchen getrunken. Wie seid ihr ausgerechnet heute auf das Thema gekommen?«

»Ach, Tom hat Angst, dass Shaw sich an mir rächen will, weil ich zu dem Komitee gehörte, das Hunter als Elis Nachfolger empfohlen hat.«

»Sie wollte wohl selbst Fachbereichsleiterin werden, wie?«

»Von Anfang an. Ich glaube, sie hat die Tage bis zu Elis Pensionierung gezählt. Und als er dann den Herzinfarkt hatte …« Sie musste sich räuspern, damit ihre Stimme nicht brach, und unterdrückte mit Mühe das Zittern ihrer Hände, als sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte. »Du hättest sie auf Elis Begräbnis sehen sollen.«

»Ich habe sie gesehen.« Dana holte einen Karton halbfette Milch aus dem Kühlschrank und goss ein wenig davon in Carolines Tasse. »Sie war wie die sprichwörtliche Katze, die den Sahnetopf ausgeschleckt hat.«

»Tja, ich bin heilfroh, dass ich nicht für sie arbeiten muss. Hunter müsste schon fast so schlimm sein wie Jack the Ripper, damit ich ihn so … ablehne, wie ich Monika Shaw … ablehne.«

»Ablehne?« Dana hörte auf, Cornflakes in ein Schälchen zu schütten, und blickte grinsend über die Schulter zurück. »Starke Worte benutzt die Dame heute Morgen.«

Caroline erwiderte ihr Grinsen. »Na gut, ich hasse sie. Sie ist ein gemeines Luder. Zufrieden?«

Danas heiseres Lachen erfüllte die Küche. »Ja. Die reine Wahrheit reicht mir.«

Caroline warf einen viel sagenden Blick auf Danas gefülltes Cornflakes-Schälchen. »Ich dachte, du willst kein Frühstück.«

»Ich habe nur gesagt, dass ich keinen Kaffee will. Ich komme um vor Hunger. Meine Schränke sind leer.«

»Da-na.« Caroline seufzte. Sie setzten sich an den Tisch.

»Was?«

»Du hast alles den Kindern gegeben, nicht wahr?« Im Grunde war das keine Frage, sondern eine Feststellung.

Dana hob kampflustig das Kinn. »Ja.« Dann ließ sie die Schultern sinken. »Wir haben gestern eine neue Familie reingekriegt. Aus Toledo. Sie waren halb verhungert, Caro, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Mutter war so zugerichtet, dass ihr Gesicht nicht mal mehr zu erahnen war. Ihr Rücken …« Sie schauderte. »Es geht mir immer noch an die Nieren, nach all den Jahren.«

»Weil du ein Mensch bist. Wäre es nicht so, könntest du in deinem Beruf nicht so großartig sein, wie du es bist.«

Und Danas Beruf, dachte Caroline, besteht darin, Leben zu retten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dana führte Hanover House, eine Zuflucht für misshandelte Frauen und ihre Kinder. Hanover House bot Sicherheit und medizinische Betreuung, falls nötig – und meistens war sie dringend notwendig. Doch das Beste war, dass Hanover House Hoffnung und die Aussicht auf einen Neubeginn bot. Caroline wusste nicht genau, woher Dana neue Versicherungskarten und Geburtsurkunden bekam, und sie hatte sie nie danach gefragt. Sie war so dankbar gewesen, als sie die Urkunde mit dem neuen Namen ihres Sohnes in den Händen hielt, dass sie hatte weinen müssen. An diesen Augenblick erinnerte sie sich, als wäre es gestern gewesen und nicht vor sieben Jahren. Tom Stewart. Geboren im Rush Memorial Krankenhaus in Chicago, Illinois. Vater unbekannt. Der Nachname entsprach dem auf der Geburtsurkunde, die sie für sich selbst … entliehen hatte. Caroline Stewart. Es gab sogar Tage, an denen sie eine oder zwei Stunden lang nicht daran dachte, wer sie in Wirklichkeit war. Woher sie wirklich kam. An denen Mary Grace Winters nichts weiter als ein Albtraum war. An denen Mary Grace Winters nicht mehr existierte.

Caroline Stewart war ihre Zukunft. Und Caroline hatte die feste Absicht, das Beste daraus zu machen.

»Caroline?« Dana klimperte mit ihrem Löffel an den Rand des Schälchens.

Caroline seufzte. »Ich dachte nur gerade an meine eigenen Erfahrungen in Hanover House.« Über den Tisch hinweg drückte sie Danas Hand, sah die dunklen Ringe unter den braunen Augen ihrer Freundin, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. »Und an meine Erlebnisse mit dir. Aber was ist mit dir, Dana? Geht es dir gut? Du siehst so müde aus.«

»Und du hast die ganze Nacht bei ihm gesessen.«

Caroline drückte mit einer Hand Danas zusammengeballte Finger, die andere glitt seitlich an ihrem Hals hinauf und berührte ihre eigenen Narben. Make-up und Kragen verbargen sie vor den Augen anderer, doch für sie waren sie immer gegenwärtig. Vor ihrem inneren Auge sah sie sie wie damals, als sie noch frisch waren, und sie fühlte noch immer die lähmende Angst, roch noch immer den stechenden Geruch von verbranntem Fleisch.

Dana schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das noch kann, Caroline. Ich bin so müde.«

Wahrscheinlich stößt jeder mal an seine Grenzen

Dana schaffte ein kleines Lachen und wischte sich über die Augen. »Danke, aber ich kann nicht. Ich muss zurück und nach Cody sehen.«

Dana ließ müde die Schultern sinken. »Du hast ja Recht. Am besten bleibe ich ein paar Stunden hier. Siehst du Evie heute noch?«

»Dann sag ihr, dass alles in Ordnung ist. Sie kriegt Angst, wenn ich nicht nach Hause komme.«