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Inhalt

Für Ryan
und für meine Familie

Pilgerväter








Pilgerväter

Es war Thanksgiving und heiß, wie fast immer in New Orleans, und sie fuhren in einen Außenbezirk der Stadt, um bei fremden Leuten zu Abend zu essen. Ella drückte mit der Zungenspitze gegen ihren Wackelzahn und fächelte sich mit dem Saum ihres Samtkleides Luft zu. Neben ihr saß Benjamin und spielte an seinen Hemdknöpfen. Er hatte das Pilgervaterkostüm angezogen: braune kurze Hosen, ein weißes Hemd und Schuhe, auf denen gelbe Papierschnallen klebten. Ihr Vater, vorne am Steuer, schaute auf die Straße und schwieg, während ihre Mutter auf dem Beifahrersitz an der Fensterscheibe lehnte und döste. Sie trug ein blaues Kleid, eine Kette aus Jadeperlen und eine Baumwollstrickmütze, unter der sie kahl war.

Drei Monate zuvor hatte Ellas Vater ihnen erklärt, was Chemotherapie bedeutete und wie sie ihrer Mutter helfen würde. Einmal hatte er Ella sogar mit ins Krankenhaus genommen. Das kam ihr jetzt wie ein Film im Schulunterricht vor, eine Reihe irgendwie zusammenhängender Bilder, die sie lieber nicht gesehen hätte: ihre Mutter mit einer Kanüle im Arm, das stetige Tröpfeln aus einem Beutel mit orangefarbener Flüssigkeit, ihr Vater, der im Zimmer auf und ab ging und leise mit sich selbst sprach, ihre Mutter, die so stark zitterte, dass sie festgebunden werden musste.

Nachts pochten Ella und ihr Bruder einen Geheimcode an die Wand zwischen ihren Zimmern. Einmal Klopfen: ich hab Angst; zweimal Klopfen: sei ganz ruhig; dreimal Klopfen: bist du noch wach? Viermal: komm schnell. Und dann gab es noch das Notfall-Signal, einen nicht abreißenden Strom von Klopfzeichen, der bedeutete, dass ihr Bruder die Eltern im Schlafzimmer weinen hörte. Wenn es länger als eine Minute anhielt, klopfte Ella viermal zurück, und ihr Bruder kam angerannt und kroch zu ihr unter die Decke.

Es gab Veränderungen im Haus, Heilrituale, bei denen Ellas Mutter nach draußen gehen und Bäume umarmen oder mit dem Gesicht nach unten im Gras liegen musste. Manchmal führte sie eine Art asiatischen Tanz auf, der wie Karate aussah. Sie aß Bohnenmus und japanisches Gemüse oder in Seetang gewickelten, klebrigen braunen Reis. Und nun waren sie bei Leuten eingeladen, die sie noch nie zuvor gesehen hatten, Leuten, die ihr Leben lang Tag für Tag Seetang und braunen Reis aßen.

Sie fuhren durch den Garden District, wo die Bäume lange Bärte aus spanischem Moos trugen. Ella war zu Mardi Gras mit ihrem Bruder und ihrer Großmutter schon einmal hier gewesen, sie hatten die Straßenbahn bis zum French Quarter genommen und im Café du Monde Krapfen gegessen. Sie wünschte, sie säße auch jetzt wieder dort, auf einem der schmiedeeisernen Stühle, und streute Puderzucker auf einen Krapfen. Wie viel schöner wäre das, als zwischen lauter Fremden am Tisch zu hocken und Sachen zu essen, die nach dem Meeresboden schmeckten.

Sie bogen in eine Seitenstraße ein, und ihr Vater studierte die Wegbeschreibung. »An der nächsten Ecke müsste es sein«, sagte er.

Ellas Mutter richtete sich ein wenig auf. »Wo sind wir?«, fragte sie, und ihre Stimme klang ganz verträumt. Das kam von den starken Schmerzmitteln.

»Gleich da«, antwortete Ellas Vater.

Sie hielten bei einem weißen Haus mit baufälliger Veranda und einem zertrampelten Rasen davor. Kletterpflanzen bedeckten die Mauern, und zwischen den Dachschindeln wuchs dickes, grünes Moos. Unter dem Vordach standen ein ramponierter Honda und ein Volkswagen mit verschiedenfarbigen Türen. Ein altes Dreirad lag umgekippt mitten auf dem Weg.

»Also los«, sagte ihr Vater und lächelte sie müde an. »Rein ins Vergnügen.« Er stieg aus dem Auto und öffnete Ella, Ben und ihrer Mutter die Türen. Als sie herauskletterten, machte er mit dem Arm eine weit ausholende Chauffeursgeste.

Neben dem Eingang war eine angelaufene Messingklingel in Form eines Löwenkopfes. »Drück mal drauf«, sagte ihr Vater. Ella drückte. Ein Geräusch wie von Kirchenglocken hallte im Innern des Hauses wider.

Dann wurde die Haustür aufgerissen, und Mister Kaplan stand vor ihnen, ein hoch gewachsener Mann mit drahtigem orangefarbenen Haar und großen, trocken aussehenden Zähnen. Er schüttelte Ellas Eltern lange und energisch die Hand. Ella fand, es fehlte nur noch, dass er Herzlichen Glückwunsch sagte.

»Und ihr müsst Ben und Ella sein«, sagte er und beugte sich zu ihnen herunter.

Ella nickte stumm. Ihr Bruder trat gegen den Türpfosten.

»Na, dann hereinspaziert«, sagte er. »Ich habe ein Baumschloss hinten im Garten.«

Benjamin schaute hoch und verzog zweifelnd das Gesicht. »Ein was?«

»Die Kinder sind alle dort. Sie werden’s dir zeigen.«

»Was für eine interessante Diele«, sagte ihre Mutter. Sie bückte sich, um die Messingtiere auf dem Boden zu betrachten, eine Schildkröte, einen Schakal und ein Lama. Neben den Tieren stand eine blaue Vase voll rostiger Metallblumen. An der Decke hing ein Kristallleuchter, an dessen Armen Dutzende selbst gebastelter Sterne baumelten und winzige Plastikbabys, die von einer Mardi-Gras-Tortendekoration stammten. Auf einem niedrigen Holzregal an der Wand waren jede Menge Stoffschuhe, Turnschuhe und Birkenstocks gestapelt. Darüber war ein mit Buntstift gemaltes Schild angebracht: ACHTUNG SCHUHE AUS!

Ella blickte an sich herunter. Sie hatte ihre neuen schwarzen Lackschuhe an.

»Deine Socken sind auch hübsch«, sagte ihr Vater und tippte sie an die Schulter. Er stieg aus den braunen Slippern und stellte sie oben auf den Haufen. Dann ging er vor Ellas Mutter in die Hocke und streifte ihr die Pumps von den Füßen. »Schuhe aus«, sagte er zu Ella und Ben.

»Ich auch?«, fragte Ben. Er schaute auf die Papierschnallen hinunter.

Ihr Vater zog Ben die Schuhe aus und entfernte die Schnallen mitsamt den Klebestreifen. Dann drückte er je eine Schnalle auf Bens Socken. »So«, sagte er.

Ben sah aus, als würde er gleich weinen.

»Die anderen sind alle in der Küche«, sagte Mister Kaplan. »Wir kochen zusammen.«

»Wunderbar«, sagte Ellas Mutter. »Wir kochen schrecklich gerne.«

Sie folgten ihm einen höhlenartigen Gang entlang, an dessen Wänden sepiafarbene Fotografien von Kindern und Eltern hingen, die steinern aus den goldenen Rahmen blickten. Eine Treppe führte in den ersten Stock hinauf. Dann kamen sie an einem Raum vorbei, in dem sich nichts außer Strohmatten und Bildern von blauen, auf Wolken gebetteten indischen Göttinnen befand.

»Was ist das für ein Zimmer?«, fragte Ben.

»Das Meditationszimmer«, antwortete Mister Kaplan, als sei das etwas so Selbstverständliches wie ein Arbeitszimmer.

In der Küche roch es nach vor sich hin schmorendem Kürbis, Bratäpfeln und Gewürzen. Es gab einen alten Backsteinofen und einen Gasherd, der aus einem Restaurant gestohlen sein mochte, so viele Flammen hatte er. Am Küchentisch schnitten Männer und Frauen mit langen Haaren und weiten Kleidern Gemüse klein oder rührten Zutaten in Schüsseln. Manche von ihnen trugen Strickmützen wie ihre Mutter, hatten glanzlose, graue Haut und dunkelviolette Schatten unter den Augen. Ella kam es vor, als ob sie mit ihrer Mutter verwandt sein könnten, erst kürzlich aufgespürte, ungeliebte Vettern und Cousinen.

Eine große Frau mit einem grünen Schal um die Hüfte kam zu ihnen, umarmte Ellas Mutter und beugte sich herunter, um Ella und Benjamin an sich zu drücken. Sie roch nach einem rauchigen Parfum. Ihre kugelrunden Augen schielten in verschiedene Richtungen, als sehe sie gleichzeitig zwei auf gegenüberliegende Wände des Raums projizierte Filme. Ella wusste nicht, wie sie sie anschauen sollte.

»Wir freuen uns so, dass Sie gekommen sind«, sagte die Frau. »Ich bin Eddies Schwester Delilah.«

»Wer ist Eddie?«, fragte Ben.

»Mister Kaplan«, antwortete ihr Vater.

»Wir nennen uns alle bei unseren Vornamen«, sagte Delilah. »Hier gibt es keinen Mister.«

Sie führte ihre Eltern an den langen Tisch und gab ihnen Küchengeräte in die Hand. Ihre Mutter sollte Haferflocken in einen Kuchenteig rühren und ihr Vater Karotten klein schneiden, was Ella ihn noch nie hatte tun sehen. Er blickte hektisch um sich, beugte sich über den Tisch und begann, eine Karotte in unförmige Stücke zu schneiden. Immer wieder schaute er zu dem Mann links neben ihm, einem bärtigen Kerl mit kahl rasiertem Schädel, als wollte er sich vergewissern, ob er es richtig machte.

Delilah gab Ella und Benjamin harte Kekse, die nach verbranntem Reis schmeckten. Ella dachte, sie müsse bis in alle Ewigkeit darauf herumkauen. Der lockere Zahn wackelte in seiner Höhle.

»Die Kinder sind hinten im Garten«, sagte Delilah. »Ihr habt noch jede Menge Zeit zum Spielen, bis das Essen fertig ist.«

»Was für Kinder?«, fragte Benjamin.

»Du wirst schon sehen«, antwortete Delilah. Sie legte den Kopf schief und ließ eins ihrer Augen über Ellas Samtkleid wandern. »Ich hatte einen guten Trick, als ich ein Mädchen war«, sagte sie. Mit einer raschen Bewegung packte sie den hinteren Saum des Kleides, zog ihn zwischen Ellas Knien hindurch und stopfte ihn ihr in die Schärpe. »Jetzt hast du Shorts an«, sagte sie.

Ella fühlte sich überhaupt nicht so, als hätte sie Shorts an. Sobald Delilah sich abgewandt hatte, nahm sie den Rocksaum wieder aus der Schärpe und ließ ihn um ihre Beine fallen.

Die Holzveranda war mit Bauklötzen und Keramik-Blumentöpfen und Bilderbüchern übersät. Ella hörte in der Nähe Kinder schreien und lachen. Als sie und Benjamin an den Rand der Veranda traten, raschelte es im Gebüsch, und ein dünner Junge kam herausgesprungen. Mit nacktem Oberkörper, die Haare voller Blätter, stand er keuchend da und richtete einen Saugnapf-Pfeil auf sie. »Ihr habt Dienst«, sagte er.

»Wir?«, fragte Benjamin.

»Ja. Los.« Der Junge bedeutete ihnen mit dem Pfeil, von der Veranda herunterzukommen, und führte sie ums Haus herum. Dort befand sich, seitlich in eine ausladende Eiche hineingebaut, das größte und kunstvollste Baumhaus, das Ella je gesehen hatte. Es hatte winzige Zimmer aus Sperrholz, von Türen herabbaumelnde Strickleitern, ein Teleskop, eine Rutschstange wie bei der Feuerwehr und ein rotes Netz voller Laub. Von einer breiten Plattform, ungefähr auf der Höhe des Dachfirsts, konnte man offenbar in ein riesiges Trampolin springen. Noch etwas höher war eine Art Ausguck, wie ein schmaler, rund um den Stamm gebauter Balkon; ein Schild am Geländer verkündete in roten Buchstaben: GEFAR! Ella konnte die anderen Kinder schreien hören, aber sie sah sie nicht. Ein Collie stand vor dem Baum, bellte wie verrückt und starrte unverwandt nach oben.

»Zieht eure Socken aus! Das ist ein Befehl«, sagte der dünne Junge.

Benjamin warf Ella einen Blick zu. Ella zuckte mit den Schultern. Es war lächerlich, in Socken draußen herumzulaufen. Sie bückte sich und streifte ihre Söckchen ab. Benjamin nahm vorsichtig die Pilgervaterschnallen ab und steckte sie in die Tasche, setzte sich hin und zog die Socken aus. Der dünne Junge riss sie ihnen aus den Händen und stopfte sie in den Bund seiner kurzen Hosen.

Die Erde war schlammig und kalt zwischen Ellas Zehen, und Pekannussschalen stachen ihr in die Füße, während der Junge sie zum Baumhaus trieb. Er stieß Ella vor eine stachelig aussehende Strickleiter. Als sie den Fuß auf die unterste Sprosse setzte, schwang die Leiter auf den Baum zu, und sie knallte mit den Zehen gegen den Stamm. Der dünne Junge lachte.

»Weiter«, sagte er. »Schnell. Und fang bloß nicht an zu heulen.«

Das Seil brannte Ella an Händen und Füßen. Die Leiter schien kein Ende zu nehmen, und Ben, der unter ihr folgte, brachte sie noch stärker ins Schwanken und Schaukeln, während sie beide höher und höher kletterten. Oben war eine kleine viereckige Öffnung; Ella warf beide Arme hinein und hievte sich in ein dunkles Kabuff. Als sie sich aufrichtete, streifte etwas ihren Kopf, das an einem Band von der Decke baumelte. Es war ein Vogelschädel, nicht größer als eine Walnuss – einer von Dutzenden, die überall an der Decke hingen. Benjamin drängte sich an sie.

»Krank«, sagte er.

»Schau nicht hin«, sagte Ella.

Jetzt tauchte der Saugnapf-Pfeil durch das Loch im Boden auf.

»Weiter«, befahl der Junge. »Ihr seid noch nicht da.«

»Wo weiter?«, fragte Ella.

»Durch die Wand da.«

Ella wischte die Schädel aus dem Weg und stemmte sich mit der Schulter gegen eine der Sperrholzwände. Sie öffnete sich mit einem Quietschen wie eine Tür. Dahinter führte ein Ast, so dick wie Ellas Oberkörper, zu einer weiteren Sperrholzkiste hinauf, die um einiges größer war als die erste. Ella ließ sich auf die Knie fallen und kroch los. Benjamin folgte ihr.

Dies war anscheinend das Geisel-Gefängnis. Vier Kinder standen mit weit aufgerissenen Augen, reglos wie Skulpturen, im Halbdunkel. Sie waren an den Fuß- und Handgelenken mit Kletterpflanzen gefesselt. Zwei von ihnen, ein Junge und ein Mädchen, waren so dünn, dass Ella die Knochenumrisse in ihren Armen und Beinen ausmachen konnte. Sie hatten zottiges Haar mit kahlen Stellen dazwischen, und ihre Augen waren schwarz und mandelförmig. In einer Ecke wimmerte ein weißhaariger Junge mit purpurroter Latzhose leise vor sich hin. Genau in der Mitte des Raums war ein Mädchen in Benjamins Alter mit einem braunen Strick an den Baumstamm gefesselt. Sie hatte die gleichen wilden grauen Augen und Blätter in den Haaren wie der Junge mit dem Pfeil.

»Es gehört mir, es ist mein Baumhaus«, sagte sie, als Ella sie anstarrte.

»Ist Mister Kaplan dein Dad?«, fragte Benjamin.

»Mein Dad-die«, verbesserte ihn das Mädchen.

»Und wo ist deine Mom?«

»Sie ist gestorben«, sagte das Mädchen und schaute ihm kalt in die Augen.

Benjamin zog die Luft ein und warf Ella einen raschen Blick zu.

Ella hätte das Mädchen am liebsten geschlagen. Sie beugte sich ganz dicht zu ihr hinunter und kniff böse die Augen zusammen. »Wenn das dein Baumhaus ist«, sagte Ella, »wie kommt es dann, bitteschön, dass du gefesselt bist?«

»Dies ist ein Gefängnis«, fauchte das Mädchen. »Da wird man nun mal gefesselt.«

»Wir könnten dich losbinden«, sagte Benjamin. Er zupfte an einem der Stricke.

Das Mädchen öffnete den Mund und stieß einen so gellenden Schrei aus, dass Ellas Trommelfell dröhnte. Einmal hatte ihr Vater, als er bei Dunkelheit aufs Grundstück fuhr, ein Kaninchen angefahren und ihm den Hinterlauf zerquetscht; das Kaninchen hatte genauso ein Geräusch gemacht. Benjamin ließ den Strick los und schmiegte sich an Ella, und die Kinder mit den halb kahlen Köpfen lachten und hüpften auf der Plattform herum, bis sie krachte und ächzte. Der Junge mit der purpurroten Latzhose wimmerte in seiner Ecke.

Benjamin hielt seinen Mund an Ellas Ohr. »Ich weiß nicht, was das hier alles soll«, flüsterte er.

Jetzt war Geraschel an der Tür zu hören, und der dünne Junge betrat den Geiselraum. »Also«, sagte er. »Wen bringen wir um?«

»Die Kinder da, Peter«, sagte das Mädchen und zeigte auf Benjamin und Ella.

»Uns?«, fragte Benjamin.

»Wen denn sonst«, antwortete der Junge.

Er bohrte ihnen den Saugnapf-Pfeil in den Rücken und dirigierte sie zum Baumstamm, wo eine Leiter aus groben Brettern zur nächsthöheren Ebene führte. Ella und Benjamin kletterten hinauf, bis sie die schmale Plattform erreicht hatten; dort schob Peter sie zum Rand. Ella schaute auf das Trampolin hinab. Es war tiefer als ein Sprung vom Turm im Schwimmbad der Schule. Sie blickte über die Schulter zurück; Peter funkelte sie an. Unten bellte und bellte der Collie, die schwarze Schnauze auf sie gerichtet.

Benjamin nahm Ellas Hand und schloss die Augen. Dann gab Peter ihnen von hinten einen Schubs, und sie stolperten vorwärts in die Tiefe.

Es folgte ein Moment entsetzlicher Leere, nichts als Luft unter Ellas Füßen. Im Fallen hörte sie das Bellen des Collies näher kommen. Mit den Knien zuerst knallte sie auf das Trampolin und flog kreischend sofort wieder hoch in die Luft. Als sie zum zweiten Mal aufkam, krachte Benjamins Kopf ihr gegen das Kinn. Er rieb sich, während er sich aufrappelte, die Stirn, und Ella schmeckte Salz in ihrem Mund. Der Zahn hatte sich von seiner Wurzel gelöst. Sie spuckte ihn in die Hand und musterte seinen zerklüfteten Rand.

»Weg da«, rief Peter von oben. Der Junge mit der purpurroten Latzhose kletterte gerade auf die Plattform. Peter zerrte ihn nach vorne, bis sich seine Zehen über den Rand krümmten.

»Mein Zahn ist rausgefallen!«, rief Ella.

»Geht da runter!«

Benjamin krabbelte vom Trampolin. Ella hielt den glitzernden, rot geränderten Zahn zwischen den Fingern und kroch an die Seite, und schon wurde das Trampolin vom Gewicht des Jungen mit der purpurroten Latzhose erschüttert. Der Zahn flog ihr aus der Hand und landete im Gebüsch, zu klein, um beim Auftreffen auf der Erde ein Geräusch zu machen.

Als sie, aus dem Mund blutend, ins Haus gerannt kam, legten die langhaarigen Männer und Frauen die Rührlöffel weg und wandten sich ihr zu. Sie schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und hielt panisch nach ihrer Mutter und ihrem Vater Ausschau, aber die waren nirgends zu sehen. Sie konnte doch jetzt nicht sagen, dass sie sich gar nicht wehgetan hatte, sondern bloß weinte, weil ihr Zahn weg war und weil ihr alles an diesem Haus so merkwürdig vorkam, dass sie am liebsten weggelaufen wäre und sich irgendwo versteckt hätte. Die Erwachsenen zogen sie mit sorgenvollen Mienen ans Spülbecken und hielten ihr den Mund auf. Die schielende Frau, Delilah, drückte ein Taschentuch an die Stelle, wo ihr Zahn gewesen war. Ella konnte Zwiebeln und Äpfel an ihren Fingern riechen.

»Gerade rechtzeitig«, sagte sie. »Da kommt schon der neue Zahn durch.«

»Zu wem gehört sie?«, fragte einer der Männer.

Delilah nannte ihm die Namen von Ellas Eltern. Es war komisch, die so vertrauten Wörter, Ann und Gary, aus dem Mund dieser langhaarigen Fremden zu hören.

»Deine Mom ist oben«, sagte Delilah, und ihre Augen wanderten zu einem fernen, verborgenen Raum hinauf. »Ihr war ein bisschen schwindelig. Dein Dad hat ihr gerade einen Spezialtee gebracht. Vielleicht sollten wir sie lieber in Ruhe lassen, hmm?«

Ella schlüpfte unter Delilahs Hand durch und lief in den Flur, wo sie vorhin die Treppe gesehen hatte. Und da war sie auch schon, eine Kurve aus glänzenden Stufen, die nach oben führten, was immer dort war. In einem der Zimmer hörte sie ihre Mutter husten. Ella stellte einen Fuß auf die unterste Stufe und spürte die Blicke der Erwachsenen im Rücken. Niemand hielt sie zurück. Sie wartete noch eine Sekunde, dann stieg sie hinauf.

Oben im Flur waren überall Spielsachen und Kinderschuhe verteilt, und zerknautschte Hosen, Hemden und Kleider lagen auf einem muffig riechenden Haufen. Zwei nackte Barbies räkelten sich in einer Bratpfanne, und gleich daneben stand ein Plattenspieler, dessen leerer Teller sich unaufhörlich drehte. Ella stieg über das Kabel und ging in das erste Zimmer, ein kleines Zimmer mit einer bloßen Matratze als Bett, auf der ein Schlafsack lag. In einem Käfig auf dem Nachttisch kratzte eine weiße Ratte an einer Pappröhre. Über dem Bett hing ein mit Fingerfarben gemaltes Schild, auf dem CLARIES ZIMMER stand. Am anderen Ende des Flurs hörte sie erneut ihre Mutter husten. Sie drehte sich um und lief auf das Geräusch zu.

In einem Raum mit blauen Wänden und blauen Vorhängen, die alles so aussehen ließen wie unter Wasser, lag ihre Mutter, bleich und hustend, auf einem mit Kissen überhäuften Bett. Ihr Vater saß auf der Bettkante und hielt beide Hände – die Daumen ineinander gehakt, die Handteller mit gespreizten Fingern weit nach außen gekehrt – in die Höhe. Zuerst konnte Ella sich überhaupt nicht erklären, was er da tat. Dann sah sie, im Licht einer blauschirmigen Lampe, den Schatten seiner Hände an der Wand. Ein riesengroßer Stein fiel ihr vom Herzen.

»Piep-piep«, sagte sie.

»Genau«, antwortete ihr Vater. »Ein Vögelchen.«

Ellas Mutter schaute sie an und lächelte, wacher und wieder mehr sie selbst als vorher. »Noch eins, Gary.«

Ellas Vater verdrehte die Hände in der Luft, sodass ein neues Schattenbild entstand.

»Ein Hund?«, riet Ella.

»Ein Fisch!«, sagte ihre Mutter.

»Nein.« Er veränderte die Haltung seiner Hände ein wenig. »Es ist ein Pferdchen, seht ihr nicht?«

»Ein Pferdchen?«, sagte Ellas Mutter. »Mit Flossen?«

Da musste Ella ein bisschen lachen.

»He –«, sagte ihre Mutter. »Komm her zu mir. Lächel nochmal.«

Ella gehorchte.

»Dein Zahn ist ja draußen!«

»Er ist weg«, sagte Ella. Sie kletterte auf das Bett, um zu erzählen, was passiert war, doch als sie sich auf die Matratze plumpsen ließ, verzog ihre Mutter vor Schmerz das Gesicht.

»Bitte nicht hüpfen«, sagte sie. Sie berührte die Stelle, wo sie operiert worden war.

Ellas Vater sah sie streng an und hob sie vom Bett. »Mom ist müde. Geh jetzt besser wieder nach unten.«

»Sie ist immer müde«, sagte Ella und schaute auf ihre dreckigen Füße hinab. Sie dachte daran, dass ihr Zahn irgendwo da draußen im Gebüsch lag und dass sie nun gar nichts unters Kopfkissen legen konnte, damit die Zahnfee kam.

Ihre Mutter fing an zu weinen.

Ellas Vater trat ans Fenster und blickte hinunter in den Garten; sein Atem ließ die Scheibe beschlagen. »Na los, Ella«, sagte er. »Wir brauchen nur noch ein paar Minuten.«

»Mein Zahn«, sagte Ella. Sie wusste, dass sie hätte gehen sollen, aber sie konnte es nicht.

»Es wird ein größerer und kräftigerer nachwachsen«, sagte ihr Vater.

Sie sah, dass er nicht verstand, was passiert war. Wenn ihre Mutter nur aufgehört hätte zu weinen, dann hätte sie es ihm erklären können. In dem blauen Licht wirkte ihre Mutter kalt und fern, wie vom Gewicht etlicher Tonnen Wasser niedergedrückt.

»Ich komme gleich«, sagte sie schniefend. »Geh wieder spielen.«

Ella öffnete den Mund, um zu protestieren, aber es kamen keine Wörter heraus.

»Nun geh schon«, sagte ihr Vater.

»Er ist unter einen Busch gefallen!«, heulte sie. Dann drehte sie sich um und rannte die Treppe hinunter.

Die anderen Kinder waren inzwischen hereingekommen und standen vor dem Badezimmer an, um sich die Hände zu waschen. Ihr Bruder und der Junge mit der purpurroten Latzhose verglichen den Dreck unter ihren Fingernägeln. Die Hände tief in den Taschen ihres Samtkleids vergraben, ging Ella durch den hallenden Flur in ein Zimmer, dessen Wände mit Büchern tapeziert schienen. Viele der Buchtitel waren in anderen Sprachen, manche sogar in einer fremden Schrift geschrieben. Sie entdeckte D’Aulaires Griechische Sagen, den Riverside-Shakespeare und Grimms Märchen. Auf mehreren Tischchen und dekorativen Ständern waren kleine, menschenähnliche Skulpturen mit Tierköpfen verteilt: Pferde-Mensch, Giraffen-Mensch, Panther-Mensch. Neben einem Skarabäus-Käfer aus milchig-grünem Stein hockte, glänzend wie Metall, ein lebendiger Käfer, der Ella ins Gesicht flog, als sie seine Flügeldecke berühren wollte. Sie schlug ihn mit dem Handrücken weg.

Genau dort, wo der Käfer hingefallen war, sah Ella ein Bord, in dem sich kein einziges Buch befand. Das Bord war ungefähr auf der Höhe ihrer Knie und die Wand dahinter mit einem blauen, fransigen Tuch bespannt. In der Mitte stand, flankiert von zwei heruntergebrannten Kerzen, ein schwarz lackierter Kasten und auf diesem Kasten ein mit rotem Wasser gefülltes Glas.

Ella streckte die Hand nach dem Glas aus. Hinter ihr schrie jemand auf.

Sie drehte sich um. Clarie stand im Türrahmen, das Kleid an einer Seite aufgeknöpft, das Gesicht dreckverschmiert.

»Fass das nicht an«, sagte sie.

Ella machte einen Schritt rückwärts. »Wollte ich ja auch gar nicht.«

Claries Augen schienen Feuer zu fangen, als sie sich bückte und das Glas in beide Hände nahm. Sie hielt es neben eine Lampe, sodass das Licht hindurch schien und ein zitterndes rotes Oval an die Wand warf.

»Das ist meine Mutter«, sagte sie.

Zum Abendessen gab es eine gebratene Kuppel, die wie Fleisch aussah, aber keins war. Sie war elastisch und dampfte, und als Mister Kaplan sie aufschnitt, konnte Ella sehen, dass sie mit Reis und Süßkartoffeln gefüllt war. Benjamin versuchte, sich unter dem Tisch zu verstecken, doch sein Vater zog ihn an den Armen hoch und setzte ihn wieder an seinen Platz. Er pikste in sein Bratenstück, bis es aufs Tischtuch rutschte. Dann fing er leise an zu weinen.

»Unsere Kinder sind keine Vegetarier«, sagte ihr Vater entschuldigend zu den Männern und Frauen am Tisch. Er nahm das Bratenstück mit den Fingern von der Tischdecke und legte es auf Bens Teller zurück. Die anderen Männer und Frauen saßen, die Gabeln in der Hand, da, ohne sich zu rühren, und sahen Ellas Mutter und Vater teilnahmsvoll an.

»Schau mal, Ben«, sagte Delilah. »Es heißt Seitan. Das ist Weizengluten. Die anderen Kinder mögen es sehr gern.«

Der Junge und das Mädchen mit den mandelförmigen Augen und halb kahlen Köpfen hielten mitten im Kauen inne. Das Mädchen schaute Benjamin an und kniff die Augen zusammen.

»Ich esse kein Gluten«, sagte Benjamin.

»Nun komm schon«, sagte ihr Vater. »Es schmeckt wirklich gut.«

Ellas Mutter presste die Finger gegen die Schläfen. Sie hatte selber noch keinen Bissen von ihrem Essen angerührt. Ella, die neben ihr saß, probierte ein Stück Weizengluten. Es war beinahe wie Fleisch, fest und schmackhaft und die Füllung war mit Kräutern gewürzt, die nach Wald rochen. Als sie in die Runde blickte, musste sie an das Bild denken, das in der Schule am schwarzen Brett hing, ein Bild vom allerersten Thanksgiving: hier die lächelnden Pilgerväter, die Truthahn und Kürbis aßen, dort die amerikanischen Ureinwohner, die so ernst guckten, als wüssten sie, dass das Schlimmste noch bevorstand. Doch wer waren heute Abend die Ureinwohner? Wer die Pilgerväter? Das dunkle, alte Haus jedenfalls, durch dessen Zimmer der Wind seufzte, umgab sie wie eine Wildnis.

»Ich bin auf das Trampolin gesprungen«, sagte der Junge mit dem halb kahlen Kopf und zupfte die Frau neben ihm am Ärmel. »Der Junge da hat einen Salto gemacht.« Er zeigte auf Peter, der mit dem Daumen Reis auf seinem Teller zermatschte. »Er hat seine Schwester an den Baum gefesselt.«

Mister Kaplan legte die Gabel weg. Er schaute Peter von der Seite an; seine Lippen waren zu einem strengen Strich zusammengepresst. »Ich habe dir doch gesagt, dass du das nie wieder tun sollst«, sagte er. Er klang böse, doch seine Stimme war leise, fast ein Flüstern.

»Sie wollte es ja selber!«, sagte Peter und stieß einen Löffel in seinen gebackenen Kürbis.

Mister Kaplans Blick wurde glasig. Abwesend starrte er an die leere Wand über dem Kopf von Ellas Mutter und schien den Lärm und das Geklapper am Tisch gar nicht mehr wahrzunehmen. Delilah, die neben ihm saß, bewegte hektisch ihr ungleiches Augenpaar hin und her.

Ellas Mutter richtete sich ein wenig in ihrem Stuhl auf. »Ed«, sagte sie sanft.

Mister Kaplan blinzelte heftig und schaute sie an.

»Erzählen Sie uns von Ihrem Tai-Chi-Kurs.«

»Was?«, sagte er.

»Ihr Tai-Chi-Kurs.«

»Ehrlich gestanden ist mir jetzt nicht nach Reden zumute.« Er schob seinen Stuhl zurück und ging in die Küche. Man hörte Wasser rauschen und Geschirr in der Spüle klappern. Delilah schüttelte den Kopf, während die anderen Erwachsenen auf ihre Teller blickten. Ellas Mutter tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Möchte jemand noch etwas Reis?«, fragte Ellas Vater.

»Ich glaube, wir denken alle an Lena«, sagte der Mann mit dem kahl rasierten Schädel.

»Ich denke auf jeden Fall an sie«, sagte Delilah.

»Von Ewigkeit zu Ewigkeit«, sagte der Mann. »Staub wird zu Stern.«

Die Männer und Frauen sahen einander an, und in ihren Blicken lag eine Botschaft, die Ella nicht verstand. Sie fassten sich an den Händen und senkten die Köpfe. »Von Ewigkeit zu Ewigkeit«, wiederholten sie. »Staub wird zu Stern.«

»Materie wird zu Energie«, sagte der Mann. »Identität wird zu Einheit.«

»Materie wird zu Energie«, sagten alle. Ella schaute zu ihrem Vater, der die Kiefer fest und reglos aufeinander presste. Ihre Mutter formte mit den Lippen die Worte nach, ohne laut mitzusprechen. Ella dachte an die Thanksgiving-Abende bei Onkel Bon, wo sie sonst immer gewesen waren und wo alle am Tisch durcheinander redeten und lachten und Truthahn und Süßkartoffeln mit geschmolzenen Marshmallows aßen. Sie schloss die Augen, hielt den Atem an und schuf eine Enge in ihrem Brustkorb, die sich wie Zauberkraft anfühlte. Wenn sie sich nur genügend anstrengte, vielleicht würde es ihr dann gelingen, sie alle, ihre Mutter und ihren Vater, Benjamin und sich selber, in jene andere Zeit zurückzuversetzen. Sie hielt den Atem an, bis sie glaubte, gleich explodieren zu müssen; dann ließ sie ihn in einem Schwall wieder heraus. Sie öffnete die Augen. Nichts hatte sich verändert. Peter trat gegen das Tischbein, und der Collie, der neben Claries Stuhl kauerte, bekundete winselnd sein Unbehagen. Ella konnte Claries Hand an seinem Halsband sehen; ihre Knöchel waren blutlos wie Steine.

Mister Kaplan kam mit einer Platte voll Bratäpfel wieder an den Tisch. Er räusperte sich, und alle sahen ihn an. »Ratet mal, was wir vergessen haben«, sagte er. »Dabei habe ich fast eine Stunde gebraucht, um die Dinger zu schälen.« Er hielt die Platte hoch in die Luft und wartete.

»Wer möchte köstliche Bratäpfel?«, fragte er. »Bratäpfel. Von mir selbst geschält.«

Niemand sagte ein Wort.

Nach dem Essen gingen die Erwachsenen in das Zimmer mit den Strohmatten und indischen Göttinnen. Ella war klar, dass Kinder hier nicht erwünscht waren, doch sie wollte sehen, was geschah, und stellte sich in den Türrahmen. Mister Kaplan beugte sich über eine kleine Messingschale und hielt ein Streichholz an einen schwarzen Kegel. Haarfeiner Rauch ringelte sich zur Decke, und einen Augenblick später stieg Ella ein staubiger, blumiger Geruch in die Nase. Ellas Mutter und Vater und die übrigen Erwachsenen setzten sich im Schneidersitz auf den Boden, ohne einander zu berühren. Ein leises Summen erfüllte den Raum, als hätte es Gewicht und Substanz. Ella sah, wie ihr Vater stirnrunzelnd zu ihrer Mutter schaute, als wolle er sie fragen, ob diese Leute noch ganz bei Trost seien. Doch ihre Mutter hatte schon die Schultern vorgebeugt, um zu meditieren, und mit leicht geöffnetem Mund in das Mantra-Gebrumm eingestimmt. Ellas Vater seufzte und ließ den Kopf nach vorne sinken.

Jemand kniff Ella in die Schulter, und sie drehte sich um. Peter stand hinter ihr. Seine Augen waren klein und kalt. »Komm mit«, sagte er. »Du musst beim Abwaschen helfen.«

In der Küche stapelten die Kinder schmutziges Geschirr auf der Arbeitsfläche und ließen Wasser ins Spülbecken laufen. Der Junge und das Mädchen mit den Mandelaugen kletterten auf einen breiten Holztritt und begannen, Teller zu schrubben. Peter schabte die Abfälle in eine Aluminiumschüssel und gab die Schüssel Clarie, die sie neben dem Hundetrinknapf auf den Boden stellte. Der Collie fiel über die Essensreste her und machte dabei Geräusche, von denen Ella speiübel wurde. Clarie stand neben ihm und streichelte ihn am Schwanz.

Dann kam Benjamin in die Küche, das Glas mit rotem Wasser in der Hand. »Das hat jemand unterm Tisch stehen lassen«, sagte er.

Erneut ertönte der Kaninchen-Schrei. Clarie schlug sich mit den Handballen gegen die Schläfen. »Nein!«, kreischte sie. »Stell das weg!«

Benjamins Augen weiteten sich, und er stellte das Glas auf den Küchentisch. »Ich will es ja gar nicht«, sagte er.

Der Junge mit der purpurroten Latzhose musterte das Glas argwöhnisch. »Sieht aus wie Kool-Aid.«

»Gleich dreht sie durch«, sagte Peter. »Passt auf.« Er hielt das Glas hoch in die Luft, und Clarie rannte zu ihm hin. »Du kriegst es nicht«, sagte er.

Clarie hüpfte, außer sich vor Wut, auf der Stelle, und ihre Hände flogen wie zwei weiche Lappen umher. Ihr Mund öffnete sich, doch es kam kein Ton heraus. Dann krümmte sie die Finger und kratzte Peter an Armen und Brust, bis er sich befreien konnte. Die Hand mit dem Glas immer noch hoch in der Luft, lief er durch die Küche hinaus auf die Veranda, Clarie laut schreiend hinter ihm her.

Die Geschwister mit den zottigen Haaren, deren Hände in weißen Seifenblasenhandschuhen steckten, schauten einander an. Im nächsten Augenblick waren sie von dem Holztritt herunter und verspritzten Schaum in der ganzen Küche. »Kommt mit!«, rief der Junge. »Das müssen wir uns angucken!«

Benjamin packte Ella an der Hand und zog sie zur Fliegengittertür. Die Kinder drängten auf die Veranda und rannten zum Baumschloss, wo Clarie und ihr Bruder gerade die erste Strickleiter hinaufkletterten. Es war inzwischen dunkel geworden, und Scheinwerfer auf dem Dach des Hauses beleuchteten das gesamte Schloss; die Zimmer sahen silbergrau und geisterhaft aus, und die Seile und Netze schaukelten im auffrischenden Wind. Die Kinder versammelten sich auf dem Rasen neben dem Trampolin. Während Peter kletterte, schwappte das rote Wasser gegen die Ränder des Glases. »Komm und hol’s dir«, säuselte er. Jetzt hatte er das erste Zimmer erreicht, und sie hörten ein schabendes Geräusch, als er die Sperrholztür aufstieß. Dann krabbelte er den Eichenast entlang, flink wie die Klammeraffen, die Ella im Zoo gesehen hatte; es fehlte nur noch der Schwanz.

Clarie kroch hinter ihm her; ihre Hände scharrten über die Rinde. Als Peter im Geiselraum angekommen war, heulte er den Himmel an.

Benjamin stellte sich dicht neben Ella und presste den Kopf gegen ihren Arm. »Ich will nach Hause«, sagte er.

»Schsch«, sagte Ella. »Das geht jetzt nicht.«

Hoch über ihnen kletterte Peter auf die Plattform, von der sie vorhin heruntergesprungen waren. Das Glas immer noch in der Hand, zog er sich am Baumstamm zum Ausguck hinauf. Dort, auf dem kleinen, mit einem Geländer gesicherten Vorsprung, wo die Zweige dünn und spärlich wurden, blieb er stehen. Unter ihm krabbelte Clarie gerade auf die Sprungplattform. Sie spähte in den Garten; offenbar wusste sie nicht, wo Peter war. »Hier oben«, rief er und hielt das Glas in die Höhe.

Ella konnte Clarie ächzen hören, als sie sich ebenfalls zum Ausguck hochzog. Dann richtete sie sich auf und griff nach dem Glas, ihr Gesicht ein kleiner Mond im Dunkeln. Ein paar Eicheln kullerten von den Brettern.

»Gib es her!«, schrie sie.

Peter stand da und schaute sie im Dunkeln einen Augenblick lang an. »Willst du’s wirklich haben?«

»Peter!«

Er schwang das Glas durch die Luft. Das Wasser beschrieb einen Bogen, rubinfarben im grellen Scheinwerferlicht. Clarie lehnte sich vor, als wolle sie es zwischen ihren Fingern auffangen, und brach mit einem splitternden Knacken durch das Geländer. Ihr Kleid flatterte lautlos, während sie fiel, und ihre weißen Hände griffen ins Leere. Ein Moment der Stille, als das Wasser sacht aufs Gras traf; dann krachte Clarie auf den Boden. Ella konnte die Erschütterung in den Fußsohlen spüren. Das Mädchen mit dem halb kahlen Kopf schrie auf.

Clarie lag reglos, wie schlafend, neben dem Trampolin, den Hals in einem unmöglichen Winkel verdreht. Ella wollte wegschauen, aber sie schaffte es nicht. Die anderen Kinder, sogar Benjamin, gingen zu Clarie und bildeten einen Kreis um sie, einige riefen ihren Namen, andere schauten nur. Peter rutschte die Stange herunter und kam über den Rasen zu seiner Schwester gestolpert. Er drängte Benjamin zur Seite. Mit einem Zeh stupste er Claries Schulter an, dann kniete er sich hin und drehte sie um. An ihrem Handgelenk blitzte ein bloßer Knochen auf. Der Junge mit der purpurroten Latzhose übergab sich.

Ella wandte sich ab und rannte zum Haus. Sie stieß die Fliegengittertür auf und schlitterte über den Küchenfußboden in den Flur. An der Schwelle zum Meditationszimmer blieb sie keuchend stehen. Ihre Eltern saßen noch genauso da wie vorher. Sie hatten die Augen geschlossen und die Münder leicht geöffnet, ihr Stimmengetön war wie ein lebendiges Wesen, und ihre Daumen und Zeigefinger formten vollkommene Os. Ella spürte, wie die gesammelte Körperhitze im Zimmer aufstieg und sich mit dem Weihrauch vermischte. Das Kinn ihres Vaters ruhte auf seiner Brust, als wäre er eingeschlafen. Ihre Mutter, gleich neben ihm, sah geschröpft aus, so weiß im Gesicht, dass sie beinahe heilig wirkte.

»Mom«, flüsterte Ella. »Mom.«

Ellas Mutter wandte sich kaum merklich zu ihr und schlug die Augen auf. Einen Moment lang war ihr Blick verschwommen und abwesend, als schwebe sie zwischen zwei Welten. Dann blinzelte sie und schaute Ella an. Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Bitte«, sagte Ella, doch ihre Mutter hatte die Augen schon wieder geschlossen. Ella stand lange Zeit da und sah sie an, aber ihre Mutter rührte sich nicht mehr und sagte auch nichts. Schließlich drehte Ella sich um und lief wieder nach draußen.

Als sie beim Baumschloss ankam, hatte Peter Clarie inzwischen über den halben Rasen geschleift. Er schaute Ella scharf an, aber sie hielt seinem Blick stand. Das Mantrasummen ging unaufhörlich weiter. Peter fasste Clarie erneut unter den Armen und schleifte sie zum Gebüsch. Ihre nackten Füße holperten über das Gras. Er rollte sie herum, bis sie im Schatten verborgen war. Dann zog er ihr das Kleid herunter, sodass es die Oberschenkel bedeckte, und drehte ihren Kopf zu dem Zaun, der den Hintergarten begrenzte.

»Holt Blätter und so was«, sagte er. »Wir müssen sie zudecken.«

Ella rührte sich nicht von der Stelle. Sie nahm Benjamins Hand, doch er machte sich von ihr los, ging über den Rasen und rupfte büschelweise Gras aus. Sie sah zu, wie die Kinder Zweige vom Boden aufhoben, Moos, Blätter, was immer sie finden konnten. Der Junge mit der purpurroten Latzhose las Zedernrinde aus einem Blumenbeet auf, und Peter zerrte abgebrochene Äste aus dem Unterholz am Zaun. Sie verteilten alles, was sie fanden, über Claries Körper. Binnen fünf Minuten hatten sie sie vollständig zugedeckt.

»Geht wieder rein«, sagte Peter. »Wenn einer heult oder irgendwas sagt, bring ich ihn um.«

Als Ella sich umdrehte, entdeckte sie plötzlich ihren Zahn, einen kleinen weißen Kiesel im Unkraut. Sie hob ihn auf und rieb ihn sauber. Dann hockte sie sich neben Clarie auf den Boden und fegte Moos und Blätter beiseite, bis sie ihre Hand gefunden hatte. Sie ließ den Zahn hineinfallen und schloss Claries Finger darum. Ein Schauer erfüllte ihre Brust, und sie deckte die Hand rasch wieder zu. Dann legte sie den Arm um Benjamin, und sie gingen alle zusammen wieder hinein. Vom Singsang angezogen, steuerten sie auf den Flur zu. Überall um sie herum hingen die gelben Fotografien von all den steinernen Männern und Frauen und Kindern, die mit traurigen, wissenden Blicken auf sie herabschauten. In einem Oval aus schwarzem Samt war ein Mädchen im weißen Kleid zu sehen, das die Schnur einer Holzente in der Hand hielt. Sie hatte die Lippen geöffnet, als wolle sie etwas sagen. Ihre Augen hatten den gleichen wilden Ausdruck wie Claries Augen, und sie war genauso o-beinig wie sie.

Endlich hörte man Geraschel im Meditationszimmer, und die Erwachsenen erschienen im Flur. Sie blinzelten im hellen Licht und rieben sich Ellbogen und Knie. Ellas Mutter und Vater hakten sich ein und kamen zu ihren Kindern. Benjamin hatte Schluckauf. Seine Augen sahen sonderbar aus, er hatte riesengroße Pupillen, und das Weiße war stumpf und trocken. Ihre Mutter bemerkte es sofort. »Wir sollten jetzt besser aufbrechen«, sagte sie zu Ellas Vater. »Ben ist müde.«

Sie ging zur Haustür und zog ihre vier Paar Schuhe aus dem Stapel. Mister Kaplan folgte ihr und schaute sich verstört um, als könne er nicht glauben, dass schon jemand gehen wollte. Er tätschelte Benjamin den Kopf und fragte Ellas Mutter, ob er ihr etwas von den Essensresten einpacken solle. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Vater dankte Mister Kaplan für die Gastfreundschaft. Irgendwo hinter dem Haus fing der Hund an zu bellen. Ella zog Benjamin barfuß durch die Haustür, und ihre Eltern folgten ihnen zum Wagen.

Auf der ganzen Rückfahrt, vorbei an den Reihen immergrüner Eichen, dem Friedhof, dessen kleine Grabsteine im Boden steckten wie gestrandete Boote, und all den verstreut daliegenden, niedrigen Häusern mit den verwitterten Dächern, saß Benjamin stocksteif hinten im Wagen und weinte tonlos. Ella spürte, wie die Schluchzer in Wellen heißer Luft aus seiner Brust stiegen. Sie schloss die Augen und stellte sich den Weg zu ihrem Haus vor, bis sie glaubte, sie wären längst daran vorbeigefahren und steuerten auf einen Ort zu, an dem fremde Betten sie erwarteten, einen Ort, an dem sie mit dem Gedanken an dunkle Wälder einschlafen und im Leben Fremder wieder aufwachen würden.

Wenn sie alt ist und ich
berühmt bin








Wenn sie alt ist und ich
berühmt bin

Sie hat Weinblätter auf dem Kopf wie eine Krone. Trauben hängen in ihrem Haar, und in den Händen hält sie die grünen Reben. Sie tanzt mit beiden Armen in der Luft. Am kleinen Zeh trägt sie einen Ring aus rosa Muschelschalen.

Könnte ihr bitte mal jemand sagen, dass sie nach Hause fahren soll? Dies ist mein Italien und meine Geschichte. Wir sind in einem Weinberg nahe Florenz. Ich bin gerade zwanzig geworden. Sie ist ein Mädchen, ein schlaksiger Teenager, noch dazu ein Model. Und sie ist berühmt, weil sie einmal fast gestorben wäre. Letztes Jahr, als sie fünfzehn war, hat ein Fotograf sie gebeten, auf einem Brückengeländer zu tanzen. Sie hat es getan und ist abgerutscht. Unter Wasser hat sich ihr eine Metallstange in die Brust gebohrt. Dann ist Wasser in die Wunde gekommen, und sie lag drei Wochen im Krankenhaus mit einer so schlimmen Infektion, dass sie anfing, wirres Zeug zu singen. Unterdessen wurde sie immer dünner und blasser, und als sie wieder auf dem Damm war, meinten die Leute, dass aus ihr einmal das beste Model aller Zeiten werden könnte. Ihre Haare sind wellig, lang und kastanienbraun, und ihre blauen Augen haben einen erstaunten, traurigen Ausdruck. Sie ist einszweiundachtzig groß und wiegt fünfundfünfzig Kilo. Das hat sie mir jedenfalls erzählt.

Diese Woche ist sie aus Paris zu Besuch, wo sie mit ihrem Vater, meinem Onkel Claude, lebt. Claude hat als junger Mann sein College-Studium abgebrochen, um das Gspusi eines großen Modeschöpfers zu werden, der ihn in die Flitter-und-Puder-Welt der Pariser Transvestiten einführte. Monsieur M. ließ meinen Onkel in schwarz-weißen Abendkleidern, hochhackigen Pumps und aufgedonnerten Diven-Frisuren durch die Gegend laufen. Ich habe auf dem Dachboden in Fernald, Indiana, Bilder gesehen, auf denen mein Onkel sich in einer Wolke aus rosa Chiffon, mit Seidenrosen an der Taille, über eine Brüstung lehnt. Einmal war er sogar auf einer Mode-Doppelseite in der Vogue abgebildet. So ging es jahrelang, bis ich fünf war. Dann bekamen wir eines Tages eine Postkarte, auf der er uns bat, ihn in Chicago am Flughafen abzuholen. Er stieg aus dem Flugzeug und hielt ein zappelndes Baby im Arm. Weder meine Mutter noch ich hatten gewusst, dass er ein Kind hatte, oder auch nur geahnt, dass es eine Frau in seinem Leben gab. Aber da war sie, meine kleine Cousine, und jetzt ist sie hier, im Weinberg, und führt meinen Freunden und mir ihren Traubenblätter-Tanz vor.

Aïda – so lautet ihr schrecklicher Name. Ah – iih – dhu: zwei Schmerzensschreie, ein Schrei aus Dummheit. Die Reben schnüren sich während des Tanzens enger um ihren Körper, und Joseph macht Fotos. Sie weiß, dass es ihm gefallen wird, wie die Blätter an ihr kleben und die Trauben Flecken auf ihrem weißen Kleid hinterlassen. Der Zutritt zum Weinberg ist verboten, und wenn uns der Winzer dabei erwischt, wie wir den Saft seiner teuren Trauben vergeuden, wird er uns mit Sicherheit erschießen. Was für ein Ende für meine groß gewachsene kleine Cousine – zwischen den purpurnen Flecken auf ihrer Brust breitet sich ein noch dunklerer Fleck aus. Habe ich schon erwähnt, dass ich fett bin?

Ist es nicht ulkig, wie ich das zu sagen gelernt habe? Ich bin fett. Ich bin nicht Haut, nicht Muskeln, nicht Knorpel und nicht Knochen. Was ich bin – der Bestandteil meines Körpers, der ich überwiegend bin –, ist Fett. Großflächig, weiß, leichter als Wasser, eine Energiequelle. Niemand kann mich ganz umfassen. Ist das ein Verbrechen? Dafür habe ich eine gute Körperhaltung. Manchmal komme ich mir beinahe anmutig vor. Doch von überall her dringen die Schlachtrufe der Dünnen an mein Ohr: Weg mit den schwabbeligen Oberschenkeln! Kampf dem Feiertagsspeck! Runter mit den letzten fünf Pfunden! Was bleibt von einer Frau, wenn ihre letzten fünf Pfunde runter sind?

Ich habe Drew und Joseph in meinem Zeichenkurs in Florenz kennen gelernt. Joseph ist ein blonder Bildhauer aus Manhattan und Drew ein sechsunddreißigjähriger Maler aus Wisconsin. Im Zeichenkurs standen unsere Staffeleien nebeneinander, und Drew und ich warfen uns die ganze Zeit genervte Blicke zu, weil Joe den Walkman so laut aufdrehte. Wir fingen schon an, im Techno-Rhythmus zu zeichnen. Als wir schließlich Protest anmeldeten, erklärte uns Joe, er habe den Walkman aufgesetzt, weil Drew und ich zu viel redeten. Ich wünschte, das wäre wahr. Selbst nach drei Monaten in Florenz rede ich mit fast niemandem.

sie vorhabe, die Schule zu beenden oder ihre Karriere weiterzuverfolgen, und Drew musste unbedingt wissen, ob sie an Essstörungen oder angeknackstem Selbstbewusstsein leide. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie gleich sabbernd vor dem Plakat stehen geblieben wären. Dann hätte ich wenigstens einen Vorgeschmack davon gehabt, wie stumpfsinnig sie sie anglotzten, als sie ihr tatsächlich begegneten.