Diese Erzählungen sind 100% Fiktion. Einige projizieren die Namen ›realer‹ Personen des öffentlichen Lebens auf erfundene Figuren in erfundenen Umständen. Namen von Unternehmen, Medien oder Politikern benennen nur Figuren und Bilder – den Stoff der kollektiven Träume; weder benennen sie noch beanspruchen sie die Kenntnis privater Informationen über dreidimensionale Menschen, ob lebend, tot oder sonst wie.
Teile von »Westwärts geht der Lauf des Weltreichs« sind Marginalien zu John Barths »Ambrose im Juxhaus« und Cynthia Ozicks »Usurpation (Other People’s Stories)«; dieser Teil von »Westwärts« zitiert die ersten sieben Zeilen von »Usurpation« aus Cynthia Ozicks Bloodshed and Three Novellas.
Der Autor dankt
den Kuratoren der Arizona Humanities Fellowship,
dem Mr.-und-Mrs.-Wallace-Fonds für ziellose Kinder,
der Mrs. Giles Whiting Foundation
und der Corporation of Yaddo.
Der Übersetzer dankt
Wolfgang Oberleitner für die fachgemäße Textreparatur eines Elektroherds und den Mitgliedern des Zürcher Übersetzertreffens, namentlich Michel Bodmer und Michaela Rebhandl, für Limericks und Wortspiele und der Schweizer Kulturstifung Pro Helvetia, die die Übersetzung mit einem Stipendium gefördert hat.
Ein frisch geschiedener Vertriebsrepräsentant hatte in seinem Büro in der Vertriebsabteilung wieder einmal Überstunden gemacht. Es war weit nach zehn. In einem anderen Büro am gegenüberliegenden Ende eines anderen Stockwerks hatte der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President des Unternehmens, seit fast dreißig Jahren verheiratet und Großvater eines Enkelkindes, ebenfalls Überstunden gemacht. Beide Männer brachen auf.
Zwischen diesen letzten beiden Führungskräften, die das Gebäude verließen, bestanden ähnliche Gemeinsamkeiten wie zwischen parallel verlaufenden Geraden. Beide Männer tarierten beim Gehen ihr Gewicht gegen das eines schwerschlanken Aktenkoffers aus. Monogramme und Firmenlogos flankierten die lederumhüllten Metallgriffe in ihren Händen. Beide Männer gingen in ihren jeweiligen leeren Stockwerken über wispelnde, blass einfarbige Teppiche in hell erleuchteten Korridoren auf Fahrstühle zu, die mit offenen Mündern stumm in ihren Schächten an den zwei zugänglichen Enden des großen Gebäudes warteten. Beide Männer spürten in den Korridoren ihrer jeweiligen Abteilung jene spezielle Infraschallunruhe, die ein leitender Angestellter nach Überstunden spürt, wenn er sich abends in Mantel, unfrischem Anzug und gelockerter Krawatte durch Bereiche bewegt, die tagsüber und als Tag erlebt werden sollten. Beide verspürten nach Maßgabe ihrer jeweiligen Schmerzen eine Ahnung des Verqueren, als in den säuberlich aufeinandergestapelten und ausgeleuchteten Raumscheiben zwischen der jeweiligen Führungskraft und der fernen Staubsaugerklage einer Raumpflegekraft die Totenstille des Gebäudes Ausdruck annahm: Sie spürten fast körperlich das große, langsame Ausatmen, ein Raumseufzen, ein leichtes, listiges Zucken riesiger Lider, rissig geworden in erwachender Verbundenheit mit jener Leere, die schließlich, wie jede vernünftige Führungskraft weiß, die Hälfte des Gesamttags des Gebäudes ausmacht. Wie sie auch weiß, dass ein Gebäude Raum nicht nur einnimmt, sondern auch organisiert, dass es die Führungskraft kontrolliert und nicht umgekehrt. Dass das Gebäude schließlich nicht durch Führungskräfte zusammengehalten wird. Oder Personal.
Als sein Fahrstuhl der Tiefgarage für Führungskräfte entgegensank, bemerkte besonders der geschiedene Vertriebsrepräsentant, schweigend und allein, dass an jedem Firmenabend, an dem er arbeitete, zu einem bestimmten unbemerkten, aber nie unbeachtet bleibenden Augenblick die Zeit zu gehen kam; dass dieser Augenblick seiner Überstundenabende ein Dreh- und Angelpunkt wurde, an dem die Dinge einfach und unsichtbar kippten, ganz wenig – der Knackpunkt unbewusster Stunden –, und dass im Zeitraum zwischen diesem Punkt und der Werktagsdämmerung im frischen Anzug das Problem des Gebäudeeigentums in ihrer Abwesenheit sang- und klanglos ein echtes Problem wurde, das ungeklärt in der Luft hing.
Der Vertriebsrepräsentant hing in der Luft und sank an seinem Fahrstuhlkabel hinab. Der wieder ledige Junior Executive war schlank und wendig, machte den Eindruck extremer Sparsamkeit, war für einen Vertriebsrepräsentanten jung (buchstäblich ein Junior Executive), war locker mit Kunden, denen er auf eine Distanz von mehreren Metern gegenübertreten konnte, und sein professioneller Umgang mit jenen, denen gegenüber er das Unternehmen repräsentierte, ließ sich als ein Kontinuum von gleichmäßig kompetent bis kalt beschreiben. Sein Fahrstuhl sank mit einem kompakten Brummen, das meist kaum zu hören war.
Der schneeweiße Import-Motorroller des Vertriebsrepräsentanten stand angewinkelt auf dem Seitenständer neben einem massiven und ebenfalls blitzsauberen breiten Brougham. Es waren die letzten Fahrzeuge in der sonst leeren Garage für Führungskräfte, die unter der Personalgarage unter den Maschinenkellern des Gebäudes lag. Jetzt, weit nach zehn, schien diese tiefste Gebäudeebene weit entfernt vom Rest der Welt zu liegen. Die leere Tiefgarage für Führungskräfte war riesig, breit, lang, die Decke war klaustrophobe 2,50 Meter hoch, die (wenigen) Deckenleuchten waren von unfreundlichem Gelb und die Betonböden von der matten Farbe vieler Abgase. Das Gongen, Zugleiten und Seufzen, mit dem sich der Fahrstuhl des Vertriebsrepräsentanten schloss, erzeugte an und zwischen den grauen Steinwänden der Garage für Führungskräfte ebenso Echos und Echos von Echos wie das Klacken der formellen Schuhe des Vertriebsrepräsentanten und das Klirren, mit dem er Schlüssel von Kleingeld trennte. Die vollendete, auf Störungen sensibel reagierende Stille des Ortes hielt vom Pfeifen ab. Die Garage für Führungskräfte roch nach Autoabgasen, etwas intensiv Gummiartigem und dem Vertriebsrepräsentanten. Ein feuchter Luftzug strich durch die Garage: Er drang von der gekrümmten Mündung der Ausfahrt herüber, die neben den reservierten – Verwaltungsratsmitgliedern und Geschäftsführern vorbehaltenen – Parkplätzen lag, vielleicht einen halben oberirdischen Häuserblock von dem im Zentrum der Garage geparkten Brougham und dem Motorroller daneben entfernt. Die dunkle Ausfahrt schraubte sich aufwärts außer Sicht, durch die Personalebene der ruhigen, leeren und kommunal beleuchteten Straße entgegen.
Der Vertriebsrepräsentant umrundete den Kiel des schwarz glänzenden Brougham und stand neben seinem Roller, als am anderen Ende der Garage für Führungskräfte seufzend eine Fahrstuhltür aufglitt.
Seinen Sturzhelm hatte er hinten am Gepäckträger angeschlossen, sodass er jetzt der Sturzhelm des Motorrollers war; und dem Vertriebsrepräsentanten, dessen nunmehr rechtskräftig von ihm geschiedene Exfrau auf Sinnestäuschungen und dergleichen gestanden hatte, erschien der behelmte Roller kurz als von Kobolden gerittener Shetland-Zentaur, hohl und doch winzig besessen – wobei die abendliche Erscheinung nur sehr kurz war, denn der Junior Executive sah jetzt praktisch sofort über den Motorroller hinweg durch die Tiefgarage zum nachhallenden Gong des gegenüberliegenden Fahrstuhls. Dieser spuckte den für Überseeproduktion verantwortlichen Vice President aus, der steif und mit rotem Kopf in den offenen, trübgelben Raum der Garage für Führungskräfte trat.
Der Vertriebsrepräsentant und der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President kannten sich nur flüchtig und nur vom Sehen, und der Vertriebsrepräsentant hatte seine Kontaktlinsen in der Herrentoilette der Vertriebsabteilung herausgenommen, bevor er sich an den langen Abend des Aktenstudiums im Neonlicht gemacht hatte. Da der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President aber so ein großer Mann war – hochgewachsen, breitgebaut und untersetzt, tagsüber von hinten ein in den Korridoren der Produktionsabt. langsam sich dahinschiebender Rumpf, außerdem von zerfurchten, hochroten Gesichtszügen, als Manager alt genug, um buchstäblich ein Senior Executive zu sein –, erkannte der Vertriebsrepräsentant praktisch sofort, dass es der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President war, der aus dem gegenüberliegenden Fahrstuhl in die Tiefgarage für Führungskräfte trat und mit steifem Gang ins Blickfeld des Vertriebsrepräsentanten klackte und klimperte, wobei der große angejahrte Mann den Kopf neigte, als horche er einem unhörbaren Ton nach, abgelenkt, der ganze große Körper eigenartig schief schleichend, stockend, schwankend, so gar nicht mit der klaren Disposition zu Forschheit überzeugend und sich nur per Gewichtsverlagerung von der einen auf die andere Seite bewegend, ein humanoider Ballon mit zu viel Luft, der seinen schwerschlanken Aktenkoffer mit Ledergriff zu dem massiven, schwarzen Brougham schleppte, der neben dem »koboldigen« und behelmten Motorroller des Vertriebsrepräsentanten stand, und die ganze Zeit tastete er mit der Hand voller Taschentücher und Schlüssel an etwas vorne am Mantel herum.
Der Vertriebsrepräsentant beugte sich, um seinen festgeklammerten Helm aufzuschließen. Er bereitete sich auf das männliche und spezielle Gefühl vor, das sich mit der Konversationspflicht zweier Männer mit einer gewissen beruflichen Verbindung einstellt, die sich abends in einem ansonsten leeren und stillen, aber zerbrechlich stillen unterirdischen Raum begegnen, weit unter der riesigen und vage pulsierenden Stätte eines Tagwerks, das beiden lang und beschwerlich geworden ist: der Konversationspflicht ohne die Konversationsprämissen von Nähe, gemeinsamen Neigungen oder Nöten. Sie teilten auch Schmerzen, aber das wussten sie natürlich nicht.
Über die Enthauptung seines Motorrollers gebeugt, suchte der Vertriebsrepräsentant nach Worten, die weder abweisend noch einladend waren, weder schroff noch aufdringlich; er setzte eine Miene von sorgfältiger Ungezwungenheit auf und engte das Spektrum potenzieller Grußformeln auf ein landläufiges »Halloo« ein, das Distanz konzedierte und die lockere Bereitschaft transportierte, diese auch beizubehalten. Vorgebeugt ordnete er seine Gesichtsmuskulatur und gestaltete einen kühlen, aber respektvoll kühlen und beim besten Willen nicht als schmerzerfüllt zu deutenden Ausdruck, mit dem er den unumgänglichen Blick des für Überseeproduktion verantwortlichen Vice President erwidern würde. Die Tür des Fahrstuhls gegenüber glitt zu; dahinter stieg klingend etwas empor.
Der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President war noch weit genug entfernt, um Echos hervorzurufen, rückte aus der Peripherie aber langsam näher – ein Ballon, ein Gletscher – auf den Vertriebsrepräsentanten zu, der die frisch geordnete Miene vom (endlich) amputierten Helm hob und sich vom weißen Motorroller dem sich nähernden Senior Executive zuwandte.
Der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President, sah er, war zunächst nähergerückt, die Klimperhand am Mantelaufschlag, und jetzt stehen geblieben; er stand stocksteif da und hob den dicken Hals und den großen Kopf ins Nichts, so wie ein Tier die Witterung eines Warngeruchs aufnimmt.
Der Vertriebsrepräsentant sah dies und beobachtete dann, wie der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President stehen blieb – erstarrt, aufgebläht – und das Gesicht verzog; der Senior Executive grimassierte einen Punkt hinter und anscheinend genau über dem Vertriebsrepräsentanten an, als analysierte er eine Rune, die eine Autoantenne über der lichten Höhe von 2,50 Meter in die Decke der Tiefgarage für Führungskräfte gekratzt hatte.
Der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President stand da mit verzerrtem Gesicht, knapp hinter dem vollkommenen astigmatischen Brennpunkt verwurzelt. Er suchte schwankend sein Gleichgewicht, grimassierte wieder, ließ polternd den schlanken Aktenkoffer fallen und legte beide Hände auf eine schemenhafte Delle, die leicht verschwommen vorne in seinem zweireihigen Mantel aufgetaucht zu sein schien. Er griff sich an die Brust nach der Art von Menschen, die Schmerzen haben; er schien sich zusammenzufalten, sein ganzer großer Körper bog sich um den augenscheinlichen Schmerz in dem kleinen Mantelstück herum. Er gab eine Art Gurgeln von sich, das vom Echo verdreifacht wurde.
Der Vertriebsrepräsentant verfolgte, wie der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President eine Pirouette drehte, einen unsicheren sauberen Streifen in den Ruß einer Betonsäule harkte, in der Pirouette gegen den Beton-Donut trat, der ein DURCHFAHRT VERBOTEN-Schild stabilisierte, und dann in die Luft tatzte, sich krümmte, zusammensackte und fiel. Er schien überrascht aus der Zeit und nur halb so schnell zu fallen, wie durchschnittliche Gegenstände zu fallen pflegen, dachte der zusehende Vertriebsrepräsentant.
Der für Überseeproduktion verantwortliche Vice President gurgelte, hielt sich die Brusthöhle und fiel mit langsamer Anmut auf den Abgasboden der Tiefgarage für Führungskräfte, wo er sich weiter vor Schmerzen wand.
Zum Glück verstand sich der Vertriebsrepräsentant auf HLW. Rechtzeitig, wachsam, ruhig, anmutig, wendig, gepflegt, unabhängig, jetzt ein einsamer Wolf – wiewohl ein effizienter Wolf – im grauen Wald des Lebens, weniger kühl als vielmehr von fließender Effizienz, hatte er mit einem Samaritersatz im Nu die Steinmeter zwischen seinem schlanken Aktenkoffer und dem enthelmten Motorroller einerseits und dem für Überseeproduktion verantwortlichen Vice President andererseits überwunden, grätschte über den sich windenden großen, untersetzten Älteren, der, wie sich für den Vertriebsrepräsentanten jetzt aus dieser nächsten Notfallnähe zeigte, große Poren hatte, ausdruckslos gütige Augen und ein zartes rotes Kapillargeflecht in den Wangen, den Mund fischartig aufgesperrt, die Stirn krötenweiß und krankhaft verzerrt, das Kinn in der Fleischansammlung über der Kehle versunken. Seine Hände schlugen auf dem Brustkorb seiner Kleidung einen arrhythmischen Takt, und sein schwach miautes Gurgeln verlor sich in den vom Echo verdreifachten Hilferufen, die der Vertriebsrepräsentant sofort und wiederholt nach oben schickte. Die Kleidung, Mantel und grauer Wollanzug, breitete sich um den rücklings daliegenden Senior Executive aus – breitete sich aus wie Wasser, dachte der Vertriebsrepräsentant, der an Teichen ein passionierter Fletschersteinwerfer war –, breitete sich aus, wie sich Wasser in Kreisen von seinem aufgestörten Mittelpunkt entfernt.
Seit dem Moment, als die Säule beharkt und das Schild getreten worden waren, hatte der Vertriebsrepräsentant in der leeren Tiefgarage für Führungskräfte um Hilfe gerufen. Seine Rufe, das Gurgeln des auf dem Rücken liegenden, für Überseeproduktion verantwortlichen Vice President und die davon ausgelösten Echos ergaben einen Gesamtgeräuschpegel, dessen hier in der umschlossenen Tiefgarage für Führungskräfte scheinbar unbegrenzte Ausdehnung von einer Art war, dass der Vertriebsrepräsentant – der über dem Drehpunkt seiner Handfläche den großen, zerfurchten, grobporigen Kopf nach hinten neigte und mit einem sauberen, schlanken Finger den zervikalrosa getönten Mundraum des gefällten Managers von Zunge und Fremdstoffen zu befreien suchte – perplex und überrascht bis zum glatten Bestreiten gewesen wäre, wie wenig von den kakophonen und scheinbar allumfassenden Hilferufen den Weg die schmale Ausfahrt hinauf fand oder durch die sporadischen Spalten in der Bunkerdecke der Tiefgarage für Führungskräfte hindurchsickerte und in der leeren Personalgarage zu hören war, geschweige denn die in Gegenrichtung gewendelte Ausfahrt überwand oder durch die verhältnismäßig dicken Betonmauern der Personalgarage auf die ruhige, aber gut beleuchtete Straße des Geschäftsviertels über ihnen entwich, auf der ein Pärchen spazieren ging, würdevoll, puppenblass, Arme verflochten, stumm, den beständigen fernen Nachtgeräuschen zischenden und seufzenden Stadtverkehrs nachlauschend, ohne je echte Unterschiede herauszuhören.
In der echoreichen, verlassenen Tiefgarage für Führungskräfte unter der Personalgarage unter Straßenniveau hatte der Vertriebsrepräsentant derweil den sich ausbreitenden Stoff von der eigenartigen Delle gerissen und machte sich regelrecht über das schadhafte Herz des für Überseeproduktion verantwortlichen Vice President her. Er wendete die Herzdruckmassage an, drückte auf die weiche Delle des Brustbeins und wechselte jeweils nach viermal Pressen zur Atemspende durch die vollen, aber bläulich verfärbten Lippen des gefällten Senior Executive in den eingefallenen, sich hebenden Brustkorb, der sich dann wieder senkte, und in der Pause nach jedem vierten Pressen nahm er sich die erforderliche Zeit und Luft, um in Richtung der ruhigen Straße »Hilfe« zu rufen, erhielt die minimalen Lebensfunktionen des für Überseeproduktion verantwortlichen Vice President mittels HLW aufrecht, bis Hilfe kam, denn dafür hatte er den mit Teilnahmebestätigung abgeschlossenen Kurs bei der zierlichen, ehrenamtlichen Rot-Kreuz-Ausbilderin aus der Neoboheme mit Mandelaugen belegt – von der, wie er sich erinnerte, alle Kursteilnehmer Herzdruckmassage und Atemspende empfangen wollten, der der Vertriebsrepräsentant eines spontanen Abends im Quarzlampenschein eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Neunkorntoast gekauft und die er zum Jahresball der Verkaufstrainees ausgeführt und dann geheiratet hatte –, von ihr bestätigt, man konnte ja nie wissen, wann man mal ein Leben retten musste, und endgültig verführt hatte ihn die Maxime seiner Verlobten, im Zweifelsfall solle man immer auf Nummer Sicherheitsvorkehrung gehen und bereit sein, minimale Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten, bis Hilfe eintraf, seine Arme und Lendenwirbelsäule schmerzten langsam vom gebeugten Pressen beim rücklings daliegenden Senior Executive, wieder rief er innehaltend »Hilfe«, lockerte auch sich den steifen Kragen, der Schweiß lief ihm ölig von der straffen Haut unter den eigenen, neueren gefütterten Mantel und den grauen Wollanzug, und sein eigener Atem kam stoßweise, während er die minimalen Lebensfunktionen des für Überseeproduktion verantwortlichen kachektischen Vice President aufrechterhielt und auf das Eintreffen von Hilfe hoffte, weit nach zehn, in der völligen Leere, ungehört verhallend »Hilfe« rief, und das Leben eines Menschen, des glücklich verheirateten und ausdruckslos gütigen Großvaters, lag buchstäblich auf Lebenszeit in den Händen des Junior Executive in längst vergessenen Abgaswirbeln unter dem gleichmütigen und wachsamen Scheinwerferauge des enthaupteten Motorrollers.
»Hilfe«, rief der Vertriebsrepräsentant immer weiter nach jedem vierten künstlichen Kreislauferhaltungsversuch beim rücklings daliegenden, massierten und beatmeten für Überseeproduktion verantwortlichen Vice President, gefällt inmitten eines flachen Strudels sich noch immer auf dem betonierten Monoxidboden ausbreitender Kleidung.
»Hilfe«, rief der arbeitende Vertriebsrepräsentant, spürte den Hauch eines schwach erinnerten feuchten Luftzugs und sah sich in einer Pause wieder nach der Ausfahrt um, die sich hinter der schwarzen Motorhaube des Brougham und dem achtlos fallen gelassenen Sturzhelm neben dem weißen Motorroller außer Sicht schraubte, zur leeren und hellen Straße empor, die vor dem Gebäude lag, leer und hell, enteignet und autonom. Nur auf die Bedürfnisse zweier Leben ausgerichtet, rief er unter dem allen wieder und wieder um Hilfe.
Für K. Gödel
»Ihre Fotografie schmeckt bitter. Kann sich bitte mal melden, wer mir glaubt, dass ich ihr Foto küsse? Sie wollte es nicht glauben, oder es hat sie traurig gemacht oder eher wütend, und sie hat gesagt, du hast mich nie so geküsst, wie du mein chemisch bitteres Highschoolfoto küsst, die Gründe, warum du mein Foto küsst, haben alle nur mit dir zu tun, nicht mit mir.«
»Er hat mich eigentlich nie gern geküsst.«
»Auf der Rückseite des Fotos stehen unter den Spuren des Doppelklebebands, mit dem ich es sorgfältig an der Wand meines Wohnheimzimmers befestigt hatte, die Worte ›Erhalten 3. Februar 1983; seitdem gehegt und gepflegt‹.«
»Er hat mich nicht gern geküsst. Das hab ich gefühlt.«
»Schuldig im Sinne der Anklage, dass es nicht zu meinen Junge-Mädchen-Lieblingsdingen gehört, ein echtes, lebendes Mädchen zu küssen. Das hat nichts mit Zimperlichkeit zu tun oder damit, wie irgendwer mal gesagt hat, dass man beim Küssen eigentlich an einem langen Schlauch saugt, dessen anderes Ende voller Exkremente ist. Für mich hat das eher mit Dämlichkeit zu tun. Ich komm mir dämlich vor. Das Mädchen und ich sind uns so nah; der Kuss verzerrt unsere Münder; die Nasen sind im Weg und verbiegen sich – als würden wir einander Fratzen schneiden. Damals, also mit ihr, ja, da hab ich mich schon irgendwie woanders gefühlt, als Schutz vor mir selbst. Zugegeben, das hat mit mir zu tun, nicht mit ihr. Aber wissen Sie, wenn ich nicht bei ihr war, hab ich mir ausgemalt, wann ich sie wieder küssen könnte. Ich hab ständig an sie gedacht. Alle Gedanken drehten sich um sie.«
»Und was ist mit meinen Gedanken?«
»Und ich gebe ebenso offen den völligen Mangel an Befangenheit zu, mit dem ich sie anderswo küssen konnte, langsam und, wie ich nur allzu schnell herausfand, auf eine Weise, die sie mochte, und sie gestand auch, dass sie das mochte, sie lügt ja nicht, sie gestand es dem Kissen über ihrem Gesicht, dank dem sie für die Leute in den Nachbarzimmern nicht zu hören war. Ich kannte sie. Ich kannte jede Kurve, Kuhle, Öffnung und Reaktion ihres Körpers, der kühl, hart, straff, schmalhüftig und leicht maskulin, aber dennoch ausgesprochen erregend war, rasch lächelte, rasch nachgab, rasch kuschelte, kraulte und klammerte. Ich konnte sie wie ein Differenzial auflösen, wie einen Motor starten. Erst als ich dann ans College musste, ›veränderten‹ sich die Dinge auf geheimnisvolle Weise.«
»Ich hatte das Gefühl, da fehlte irgendwas.«
»Ich küsse ihr bitteres Foto. Es ist milchig vom Küssen. Ich erkenne den Umriss meiner Lippen auf ihrem Bild. Ich lerne weiterhin von ihr, ohne dass sie das weiß.«
»Meine Gefühle änderten sich. Es dauerte, aber ich hatte das Gefühl, da fehlte irgendwas. Er arbeitet einfach die ganze Zeit an wohlgeformten Formeln und Gedichten und ihren Regeln. Solche Sachen sind ihm wichtig. Er hat immer gesagt, ich fehl ihm, und ist dann weggeblieben. Ich bin nicht sauer, aber ich bin egoistisch, ich brauche viel Zuwendung. Durch die lange Trennung habe ich mir so meine Gedanken gemacht.«
»Während der langen Trennung habe ich ständig an sie gedacht – aber sie sagt: ›Meine Gefühle haben sich geändert, was soll ich machen, mit Bruce kann ich nicht mehr.‹ Als würden ihre Gefühle sie beherrschen und nicht umgekehrt. Als wären ihre Gefühle außerhalb und nicht unter ihrer Kontrolle, wie ein Bus, auf den sie warten muss.«
»Ich habe jemanden kennengelernt, mit dem ich gern zusammen bin. Jemanden von hier, am College. Ich hab ihn in Statistik kennengelernt. Wir sind echt gute Freunde geworden. Es dauerte, aber meine Gefühle änderten sich. Mit Bruce kann ich jetzt nicht mehr. Es hat nicht nur mit ihm zu tun. Auch mit mir. Die Dinge ändern sich.«
»Das Foto ist ein Miniporträt von Sears, zu groß für jede Brieftasche, also hab ich extra eine Hülle gekauft, eine gerahmte Schutzhülle mit Ständer aus dickem lakritzschwarzem Karton. Die Hülle ist jetzt über der Sonnenblende festgeklemmt, neben einem Mautschein, über dem Beifahrersitz im Wagen meiner Mutter. Ich lass die Fenster hochgekurbelt, um jede Möglichkeit zu negieren, dass das Foto herumgeweht und beschädigt wird. Im Juni lasse ich in einem Auto ohne Klimaanlage ihrem Foto zuliebe alle Fenster zu. Sagt das etwa nicht schon alles?«
›Bruce, also, ich sehe mich veranlasst, dich daran zu erinnern, dass sich eine Fiktionstherapie, die Erfolg haben soll, in dem angestrengten, man könnte sogar sagen hart eingeschränkten, definierten und strukturierten Raum verorten muss, in dem sie agiert. Sie muss als Text angenommen werden, das heißt als Fiktion, das heißt als Projekt. Mit seinen Ängsten umgehen, indem man einen Ablenkungsstrang etabliert, der jetzt weder Ursprung noch Ziel zu haben scheint.‹
»Eine solche Fiktion interessiert mich nicht.«
›Schon, aber denk dran, dass wir entschieden haben, einen Fall zu konstruieren, in dem deine Interessen ausnahmsweise denen eines anderen untergeordnet werden.‹
»Sie ist also Leserin und nicht nur Objekt?«
›Siehe obigen Nachweis; sie wird hier dergestalt konstruiert, dass sie ausnahmsweise auch Subjekt ist.‹
»Also Entlastung durch Erfindung? Die therapeutische Lüge gaukelt vor, die Wahrheit sei eine Lüge?«
›Was dir spiegelnden Spielraum bietet, perspektivisches Desinteresse, die Gelegenheit zu emotionaler Großzügigkeit.‹
»Ich finde, er kann machen, was er will, wenn er sich dadurch besser fühlt. Ich hab ihn immer noch sehr gern. Nur nicht mehr auf diese Weise.«
»Ende Mai 1983 ist ihr emotionaler Bus abgefahren. Ich entdecke in mir ein Bedürfnis, weit weg zu fahren. In Geografie zu machen. Ich lenke den geschlossenen Wagen meiner Mutter auf dem heißen Interstate 95 in Süd-Maine Richtung Norden nach Prosopopeia, der Heimatstadt des Bruders meiner Mutter und seiner Frau, fast an der Grenze zu Kanada. Wenn ich den I-95 die ganze Strecke von Worcester, Massachusetts, hochfahre, kann ich Bostons Westen geruhsam umfahren, weit weg von Cambridge, das ich nie wiedersehen möchte. Ich bin Bruce, ein ungeschlachter, über den großen Onkel gehender, blonder, blasser, rotlippiger Junge aus dem Mittleren Westen, zweiundzwanzig, habe am MIT gerade meinen Abschluss in Elektrotechnik gemacht, bin gerade von diversen Uni-Honoratioren zur Förderung empfohlen worden, im Putativtriumph mit meiner Familie nach Bloomington, Indiana, zurückgekehrt, nur um dort von einer gewissen kühlen, straffen, schmalhüftigen und so weiter Studentin an der Indiana University einen Tritt in die psychischen Eier zu kriegen, vom Objekt meiner theoretischen Leidenschaft, fernen Verehrung und drei Jahre lang nahezu totalen Treue sowie seit dem letzten Thanksgiving zukünftigen Verlobten.«
»Dabei hatte ich damals nur gesagt, meinst du, wir schaffen das. Er hatte mich gefragt, ob er mich eines Tages fragen dürfe.«
»Weihnachten war ich wieder zu Hause: Am Abend des 27.12. tranken wir Champagner und lagen auf ihrem Leopardenfellvorleger.«
»Ich hab ihm hundertmal erklärt, dass das kein Leopardenfellvorleger ist: Der Vormieter hatte einfach einen Hund.«
»Wir diskutierten potenzielle Vornamen für potenzielle Kinder. Sie sagte, bei einem Mädchen könnte ihr ›Kate‹ gefallen.«
»Und dann war es plötzlich, als wäre er plötzlich nicht mehr da.«
»An dem Punkt erwähnte sie, ich wäre plötzlich so weit weg. Zur Erklärung erwiderte ich, beim Champagner wäre mir plötzlich die Idee für eine nachgerade entscheidende Arbeit gekommen, wie sich die Zustandsvariablentechnik auf die Analyse differenzieller linearer Kontrollsysteme anwenden ließe. Eine Arbeit, die Dreh- und Angelpunkt meines Projekts im Abschlussjahr hätte werden können, das mich monatelang beschäftigt und definiert hatte.«
»Er ging ins Büro seines Dads an der Universität, und ich bekam ihn zwei Tage lang nicht zu sehen.«
»Sie sagt, da hätte sie angefangen, die Dinge anders zu sehen. Dieser neue Statistiktyp hat sie garantiert getröstet, während ich zwei schlaflose, Cola-und-Pizza-befeuerte Tage über einer Arbeit saß, die sich als leer und impraktikabel erwies. Ich suchte bei ihr Trost und fand sie fast schon feindselig. Ihre Augen waren dunkel, sie war schweigsam und versuchte mit allen Kräften, unglücklich auszusehen. Sie hatte praktisch dauernd den Unterarm vor der Stirn. Ganz das Szenario verfolgte Unschuld / gekränkte Frau.«
»Er tauchte nur noch zum Schlafen in meiner Wohnung auf. Fast die ganzen Weihnachtsferien hat er nur gearbeitet oder geschlafen und fuhr eine Woche früher als nötig nach Cambridge zurück, bloß um mit seiner Arbeit voranzukommen. Seine Abschlussarbeit ist ein Versepos über variable Systeme des Informations- und Energietransfers.«
»Sie betrachtete die Dinge, die mir etwas bedeuteten, als ihre Feinde und verstand nicht, dass sie in Wirklichkeit das ›Ich‹ waren, das sie scheinbar so eifersüchtig begehrte.«
»Er will der erste wahrhaft große Dichter der Technologie werden.«
»Ich sehe das, wie ich ein Unwetter kommen sehe.«
»Er glaubt, Kunst als Literatur würde mit der Zeit immer mathematischer und technischer werden. Er sagt, Worte wie ›korrelative Signifikanten‹ würden verdorren.«
»Worte als Erfüllungsgehilfen der kunstkommunikativen Signifizierungsfunktion werden genauso verdorren wie frühere Formregeln. Bedeutung wird rein sein. Nein, sagt sie? Sofern es sie genug interessiert, um es überhaupt verstehen zu wollen? Gesetzt dann, dass Kunst zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis zu ihren eigenen Standards steht. Dass der schwerfällige und überflüssige Logos aller Vergangenheiten der Frische, Richtigkeit und Befriedigung jeder neuen Zeit weicht. Dass Dichtung so dynamisch ist wie alles, was unter dem Begriff Leben rubriziert und subsumiert wird. Das Überflüssige existiert immer nur, um einen Tritt in den Arsch zu kriegen. Der Norbert Wiener von heute wird in der darwinistischen Arena von morgen triumphieren.«
»Er sagte, das wäre das Wichtigste in seinem Leben. Wie soll ich mich da wohlfühlen?«
»Es liegt im Hier. Im Jetzt. Die nächsten Schönheiten werden und müssen neu sein. Ich habe sie aufgefordert, eine kristalline Renaissance zu erschauen; kühl und chipflach; Glanzfasern, die in ästhetischen Matrizen unter einem sich ausbreitenden Natriumfrühlicht blinken. Was uns anrührt und ergo leitet, ist das, was sich anwenden lässt. Ich spüre die bevorstehenden Umwälzungen einer großen Reinigung, einer nahenden Sauberkeit, die an allen Ecken und Enden der Bedeutung schäumt. Ich wittere Wandel und eine Erleichterung von Kosten wie die modrige Verheißung eines Sommerregens. Eine neue Zeit und eine neue Einsicht in Schönheit als Serialität statt Punktualität. Keine singuläre Telizität mehr, Kontemplationen, warmer Kleeatem, wogende Brüste, Geschichten als Symbol, Kolosse; kein Mensch mehr, Faust an der Stirn oder Hand am Dekolleté, verstanden im Sinn einer stampfenden, dröhnenden, erhitzten Natur, ihrerseits begriffen als gefärbt, geformt, umgeben von Düften, sinnstiftend kraft Qualitäten. Keine Qualitäten mehr. Keine Metaphern mehr. Gödelnummern, kontextfreie Grammatiken, Zustandsautomaten, Korrelationsfunktionen und Spektren. Hier nicht sinnlich, sondern kausal verstanden, hier wirksam. Hier im intimsten Sinne. Plasmaelektronik, Makrosysteme, Operationsverstärkungen. Ich sehe mich zugegebenermaßen als Ästhetiker der Kälte, der Neuheit, der Richtigkeit, des wahren und makellosen Hiers. Verteilt gemäß Poisson, morphisch dicht: Elemente, deren Gestalt, Dimension, Eigenart und Implikationen sich wie Sargassen nach einer einzigen strukturierten Relation und einem Funktionskriterium ausbreiten können. Oden auf und von Green, Bessel, Legendre und Eigen. Ja, es gab in diesem letzten Jahr Momente, in denen ich meine Augen fast vor den Reflexionen des Prozessors abschirmen musste: Ich selbst wurde Axiom, Sprache und Bildungsgesetz und leuchtete glühfadenweiß vor rechtschaffenem Feuer.«
»Er sagte, er wäre bereit, mich mitzunehmen. Und als ich fragte, wohin, wurde er wütend.«
»Ich war überzeugt, ich könne singen wie ein Draht bei Kelvin, hoch und blass, ohne Zündung oder Reibung brennen, kühl wie ein zitroniger Mond glänzen, verbunden mit einem Kristallgitter reiner Bedeutung. Interferenzloser Transfer. Aber ein kleines, leises, höfliches, parfümiertes, geschickt geordnetes System neuer Signale hat mir irgendwie einen Kopfschuss verpasst. Mit Worten und Tränen hat sie mir etwas amputiert. Ich schenkte ihr die intime Bedeutung meiner selbst, und ihr Bus fuhr ab, und etwas für mich Entscheidendes blieb in ihr wie der Stachel einer Biene. Und jetzt will ich nur noch weit weg fahren und bluten.«
›Was hier nichts zu sagen hat.‹
»Dort aber sehr wohl. Maine ist anders, sogar fundamental anders als Boston und auch als Bloomington. Ungewohnte Aussichten sind ein Balsam. Aus dem heißen, geschlossenen Wagen sehe ich mit gläsernen Farben geäderte Felsen, maßlose Granitblöcke, deren rechtwinklige Kanten tangential von den dürren Hügelflächen fortstreben; Böschungen, die sich in sanften Sinuskurven vom Highway entfernen. Der Himmel ist eine Studie in Minzgrün. Rotwild beschreibt braune Parabeln an den Hängen bewaldeter Flächen.«
›Ich spüre, dass du Gefühle abblockst, statt sie an dich heranzulassen, Bruce. Vielleicht könnten wir an dieser Stelle einfach gemeinsam eines anerkennen: Wenn man eine Person nur als Gefäß für die eigenen Organe, Körperflüssigkeiten und Emotionen nutzt, sie nie über die Gefühle und Eigenschaften setzt und unabhängig von ihnen achtet, die man aus der Ferne in sie zu investieren bereit ist, dann ist es falsch, sich für signifikante Portionen des eigenen Wohlbefindens auf ihre Gefühle zu verlassen. Warum stehst du nicht einfach dazu, Bruce, dass es dich beschäftigt, dass sie dir auf bestechende Weise zu verstehen gegeben hat, dass sie ein Gefühlsleben mit Zügen hat, von denen du nichts wusstest, dass sie schlicht und einfach nicht die ist, zu der du sie für dich machen wolltest. Mit einem Wort, eine Person, Bruce.‹
»Sieh mal einer an: Ein großer schwarzer Vogel ist durch den Rand meines Blickfelds gekurvt und hat nahe Smyrna, Maine, einen seltsamen, herrlichen Beerenregenbogen aus Guano mitten auf meine Windschutzscheibe fallen lassen; und unter diesem Spektralbogen aus ferner Höhe ist auf der grauen, ausgekaut aussehenden zweispurigen Straße vor mir eine Erinnerungseinheit farbdruckähnlich ausgelegt und systematisiert worden. Mein Familienausflug im vorletzten Sommer hierher nach Prosopopeia, und wie tapfer sie ihren Eltern trotzte, die ihr Mitfahren mit eisigen Mienen missbilligten, wie meine Schwester und sie entdeckten, dass sie Freundinnen sein konnten, wie sie und ich im Flugzeug die Knie aneinanderdrückten, statt Händchen zu halten, weil meine Mutter neben ihr saß und sie sich genierte. Ich hab noch das Gefühl des unumstößlichen Versprechens einer ganz neuen Art Entfernung im Bauch, die mit der schwindelerregenden neuen Höhe einherging, die wir alle auf dem langen, sturmbedrohten Flug in jenem Flugzeug erreichten, eine Höhe, in der der Himmel erst kalt wurde und sich dann kadettblau verdunkelte, sodass wir das Weltall direkt darüber riechen konnten. Wie die Formen einer ganzen Wolkenbank aus dem Inneren des Himmels heraus eine modale Stabilität der Wirklichkeit annahmen: zottelige Büffelköpfe; morsche Brücken; die Topologie der Staaten; politische Profile; kompliziert geätzte Kothaufen. Wir flogen dahin über die flachen Sommerbrettspiele von Indiana und Ohio. Gewitter über Pennsylvania waren große Ambosse, die sich zu dunklem Regen über einzelnen Landkreisen verengten. Wir hatten einen Stahlmagen. Ich erinnere mich an den wie ein Karbunkel ausladenden Rubinring am Finger einer Inderin auf der anderen Seite des Mittelgangs, einen Farbtupfer auf der Stirn, das Gewand so weit, dass es zu schäumen schien. Ihr dunkler Ehemann im Geschäftsanzug, weiße Augen, weiße Zähne und unmöglich sorgfältig gekämmt.«
›Und dieser Ort, zu dem du das Mädchen eines Tages »mitnehmen« wolltest? Und warum wird sie jetzt, da sie für immer fort ist, zu jenem Ort, dessen Verlust Bilder von Enthauptung und Unheil heraufbeschwört?‹
»Der kleine I-95 führt nördlich nach Houlton, Maine, und verläuft dann in östlicher Richtung weiter bis nach New Brunswick. Ich fahre bei Houlton vom Highway ab, bezahle die Mautgebühr, erreiche über eine Nebenstraße, die zwischen der Hagan Cabinet Company und dem Atrium Supper Club hindurchführt, die County Route 1, halte mich wieder nördlich und fahre durch dichtes Weideland Richtung Mars Hill und dann Prosopopeia. Über blassroten Äckern, die ihre Farbe, wie ich vor zwei Jahren erfahren habe, den dort wachsenden jungen Kartoffelpflanzen verdanken, geht zu meiner Linken langsam die Sonne unter. Eine Bewässerungspumpe jault und scheppert an der Straße ein paar Kilometer außerhalb von Mars Hill, und im abendlichen Purpur errötet ein weitverzweigtes Netz winziger Flüsschen. Ein Stück weiter an der 1 steht ein handgemaltes Schild, das Radkappen zum Verkauf anbietet, die Beute des Krieges gegen die Holperpiste, rechts von mir wird die unmögliche Ware in langen Reihen ausgestellt, glänzt mattrosa an einem Gatter und der Wand einer scheunenroten Scheune wie die Schilde einer Zwergenarmee. Die trägen Uhren ticken flau und lahm, und alles bleibt so alt.«
›Dass die Sonne links untergeht, heißt im Westen, heißt, dass du dich sogar hier an Dinge im Westen erinnerst, Bruce, und das heißt, es wird einem unwohl angesichts dieses neuen Schweigens über ein Subjekt in einem Westen, an den du dich offenkundig erinnerst. Eine Stimme kann eine andere nicht einfach ausschließen, zumal in einem Lügengespinst, wenn etwas aufgeklärt werden soll, wie wir es uns zum Ziel gesetzt haben –‹
»Vielleicht sollte ich erwähnen, dass am Mauthäuschen an der Abfahrt nach Houlton, als ich die Sonnenblende runterklappte und nach dem Mautschein greifen wollte, ihr gerahmtes Foto herabfiel, im Luftzug des runtergekurbelten Fensters zu mir herübersegelte und zwischen Bremspedal und Bodenbelag halb eingeklemmt wurde. Als ich es aufheben wollte, ließ ich das Geld fallen und trat versehentlich aufs Gaspedal. Das Auto machte einen Satz und stieß leicht gegen den Schlagbaum, der sich vor einem Fahrzeug erst hebt, wenn dessen Fahrer seine Schuld beim Staat beglichen hat. Blitzschnell schoss die Frau aus ihrem Mauthäuschen heraus; ein Polizist, der in seinem Streifenwagen am Straßenrand saß, sah hoch und legte etwas Angebissenes weg. Ich musste mein Geld aufsammeln und an der Schranke blechen. Die Fotohülle war verbogen und von Bodendreck und Kekskrümeln beschmutzt. Die Mautangestellte war höflich, aber standhaft. Es wurde gehupt.«
»Während des Ausflugs nach Maine, zu dem Bruce, seine Eltern und seine Schwester mich vorletztes Jahr eingeladen hatten, war zum letzten Mal alles gut zwischen uns, glaube ich. Im Flugzeug zeigte er aus dem Fenster auf alles Mögliche und brachte seine Mutter und mich zum Lachen. Unsere Beine berührten sich, und er berührte mich auch so sacht an der Hand, dass seine Mom nichts merkte. Beim Haus von seiner Tante und seinem Onkel gingen wir zum Schwimmen an einen See und konnten auch Wasserski fahren, wenn uns danach war. Manchmal unternahmen wir ausgedehnte, tagelange Spaziergänge über Feldwege, wurden staubig und verliefen uns, aber wir fanden immer zurück, weil Bruce die Zeit und die Himmelsrichtungen am Sonnenstand ablesen konnte. Wir tranken mit den Händen Wasser aus kleinen Bächen, die echt kalt waren. Einmal sammelte Bruce Blaubeeren für unser Mittagessen, wurde von einer Biene in die Hand gestochen, und ich zog den Stachel heraus, weil ich lange Fingernägel hatte, und legte eine Blaubeere auf den Stich, und er lachte und sagte, er hätte überhaupt keine Sorgen mehr. Es war eine wunderschöne Zeit. Es hat richtig Spaß gemacht. Damals fühlte sich zwischen Bruce und mir alles richtig an. Es fühlte sich richtig an, mit ihm zusammen zu sein. Das war vielleicht das letzte Mal, dass ich das Gefühl hatte, es gäbe ein echtes Mich und einen echten Ihn, wenn wir zusammen waren. Es war bei seinem Onkel, eines Nachts irgendwo im Wald an einem Kartoffelacker auf alten Sweatshirts und anderen Klamotten auf der Erde, dass ich Bruce etwas schenkte, das ich nie zurückbekommen kann. Ich war froh, dass ich das getan hatte. Aber manchmal glaube ich, dass sich Bruce’ Gefühle von da an änderten. Vielleicht irre ich mich ja, aber ich glaube, es könnte ihn ein bisschen verscheucht haben, dass ich das endlich getan hatte. Dass ich es endlich wollte und er das sehen konnte. Als hätte er gewusst, dass er mich dadurch wirklich hatte, und deshalb zog er sich danach in sich selbst zurück, weil er es hatte und nicht mehr nur wollte. Er hat das Wollen richtig gern, glaub ich. Das ist auch okay so. Vielleicht hätten wir die ganze Zeit nur Freunde sein sollen. Wir kannten uns ja schon seit der Highschool. Wir sind in dem Steinbruch schwimmen gegangen, wo sie den Film gedreht haben. Wir waren zusammen in der Fahrschule und haben die Führerscheinprüfung zusammen und im selben Auto gemacht, und so haben wir uns näher kennengelernt. Nur sind wir uns erst lange danach so richtig nahe gekommen, als wir schon an verschiedenen Unis studiert haben und uns nur in den Ferien sehen konnten.«
»Ich erreiche Prosopopeia gerade, als die Sonne richtig untergeht und das ganze dämmerungsaktive Getier von Maine in einem stachligen, alten Waldabschnitt herumzurascheln beginnt, den ich an der Stadtgrenze nur zu gern hinter mir lasse. Ich fahre kurz bei einem IGA vorbei und kaufe kaltes Michelob als Einweihungsgeschenk; das hatte meine Mutter vorgeschlagen und finanziert. Michelob ist ein Bier, das mein Onkel mag und weniger trinkt als inhaliert. Das ist praktisch das Einzige, was er inhalieren kann. Mit fünfundfünfzig hat er jetzt ein fortgeschrittenes Lungenemphysem. Nur die paar Schritte von einem Stuhl zur Küchentür, ein kräftiger Handschlag und das Übernehmen einer meiner leichten Reisetaschen, und schon muss er seine Schnaufübungen machen. Er plumpst wieder auf seinen Stuhl und holt zwischen geschürzten Lippen rhythmisch und konzentriert Luft, während meine Tante mich umarmt, von ›Meine Güte‹ und ›Na, so was‹ durchsetzte Glücksgeräusche von sich gibt und dann mit meinem ganzen Gepäck auf einmal nach oben flitzt. Ich habe nicht viel Gepäck. Die zerknickte Hülle habe ich bei mir. Mein Onkel pfeift sich keuchend etwas Adrenalinspray ein und schnauft dann mit aller Kraft weiter, lächelt dünn und wischt meine Anteilnahme und seine Beschwerden vom Tisch. Er bläst, als wollte er eine Flamme löschen – und so fühlt sich das für ihn vielleicht auch an. Er hat weiter abgenommen, besonders an den Beinen; die sehen unter der Hose wie Stöckchen aus, wenn er so dasitzt und keucht. Aber auch dünn und zerknittert ist er noch eine unheimliche, brustlose Kopie meiner Mutter, mit grauweißen Haaren, einem ovalen Gesicht mit hohen Wangenknochen und blauen Pekannüssen als Augen. Wie bei meiner Mutter können diese Augen so pfiffig aufleuchten wie bei einem Vogel oder traurig und milchig wie die eines Wals schauen; wenn mein Onkel schnauft, sind sie leer, unkoordiniert, fort. Meine Tante ist eine ungerechtfertigt hübsche Sechzigerin, echt, aber nicht übertrieben nett, eine Lady, der man allenfalls den Vorwurf machen könnte, dass sie sich die Haare in einem süßen Bernsteinton färbt, der in der Natur nicht vorkommt. Sie hat mein transportables Leben ins reingeschneit,stolz