Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel «Dit kompetente barn. På vej mod et nyt værdiggrundlag for familien» im Verlag Schønberg, Kopenhagen.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1997 unter dem Titel «Das kompetente Kind» im Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2011
Copyright © 1996 by Jesper Juul
Copyright © der deutschen Ausgabe 1997/2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Lektorat Bernd Gottwald
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ISBN 978-3-644-01571-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-01571-5
Wie so viele meiner Generation wusste ich vor fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, dass an der Art und Weise, wie unsere Eltern (und die Generationen vor ihnen) über Familie und Kindererziehung dachten, etwas grundlegend falsch war. Dass sich unser konkretes Wissen durchaus in Grenzen hielt, tat unseren Überzeugungen keinen Abbruch.
In den folgenden zehn Jahren, in denen ich mich zum Familientherapeuten ausbilden ließ – während ich mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen sowie mit Gruppen alleinerziehender Mütter arbeitete –, wurde mir allmählich klar, dass meine Ansichten weder besser noch schlechter als diejenigen waren, die sie ersetzen sollten. Denn über einen Mangel an ethischer Substanz konnten auch sie nicht hinwegtäuschen. Vielmehr polarisierten sie durch die unbeirrbare Überzeugung, dass manche Menschen sich richtig verhielten, weil sie die richtigen Ansichten vertraten, während andere sich falsch verhielten, weil ihre Ansichten falsch waren.
Das Feedback, das ich von Kollegen und Klienten bekam, spiegelte diese Polarisierung. Einige waren voll des Lobes, andere kritisierten mich, und in meiner Naivität dachte ich lange, ich sei auf der sicheren Seite, solange die Erstgenannten in der Überzahl waren. Erst sehr spät begriff ich, dass ich auf die anderen hätte hören sollen. Erst als ich meine eigene Unzulänglichkeit als Vater erlebte, wurde mein theoretisches Wissen durch praktische Erfahrung ergänzt.
Bis dahin hatte ich geglaubt, dass die Beziehung zwischen Eltern und Kindern vor allem von Verständnis, Toleranz und demokratischen Spielregeln geprägt sein sollte – im Gegensatz zur moralisierenden, intoleranten und bevormundenden Art der Erziehung, die Kindern das Selbstbewusstsein raubt und ihre Vitalität beeinträchtigt. Doch je besser ich meinen Sohn und die Familien kennenlernte, mit denen ich zusammenarbeitete, desto mehr begriff ich die Oberflächlichkeit meiner Überzeugung. Obwohl sich die Situation der Kinder in Familie und Gesellschaft in vieler Hinsicht verbessert hatte, waren es zwei Probleme, die mich umtrieben.
Als Lehrer und Familientherapeut habe ich erlebt, wie schwierig es für Eltern ist, «auf Augenhöhe» mit einem Psychologen zu kommunizieren. Allzu oft scheinen sie durch die Gespräche an Selbstvertrauen zu verlieren und am Ende orientierungsloser zu sein als vorher. Beim Psychologen löst dies verständlicherweise Gefühle der Hilflosigkeit und Inkompetenz aus, und so klammert er sich gern an eine traditionelle Form der Psychologie, die mehr darauf aus ist, Fehler zu finden, als nach Möglichkeiten zu suchen.
Als Familientherapeut habe ich erlebt, dass Kinder und Jugendliche stets den Preis dafür bezahlen. Auch wenn das pädagogische Verständnis der Erwachsenen differenzierter, ihre Erziehung weniger besserwisserisch und die öffentliche Moral weniger restriktiv ist als früher, so wird den Kindern auch weiterhin eine Verantwortung aufgebürdet, die nur wenige Eltern, Politiker, Pädagogen, Lehrer und Therapeuten zu tragen bereit sind. Dies geschieht nicht aus bösem Willen – oft genug stecken nur die besten Absichten dahinter –, ist aber eine logische Konsequenz unser grundlegenden Fehleinschätzung, was das Wesen der Kinder betrifft.
Die schwedische Psychologin Margareta Brodén hat dies in einem schlichten Satz zum Ausdruck gebracht, der mich zum Titel dieses Buches angeregt hat: «Vielleicht haben wir uns geirrt – vielleicht sind Kinder kompetent» (Margareta Brodén, Mor og barn i Ingenmandsland, København 1992, dt. «Mutter und Kind im Niemandsland»).
Brodéns Formulierung ist teils dem wissenschaftlichen Kontext geschuldet, in dem sie sich bewegt, zeigt aber vor allem ihr besonderes Interesse, das sie dem frühen Zusammenspiel zwischen Säuglingen und Eltern entgegenbringt. Da ich kein Wissenschaftler bin, sondern aus der Praxis komme und mein Erfahrungsgebiet die Interaktion zwischen Kindern und Eltern im weiteren Sinn ist, möchte ich die Summe meiner Beobachtungen etwas anders formulieren.
Soweit ich sehe, machen wir einen entscheidenden Fehler, wenn wir davon ausgehen, dass Kinder bei ihrer Geburt noch keine «richtigen» Menschen sind. Lange Zeit wurden Kinder gewissermaßen als asoziale Halbmenschen angesehen, die der massiven Einflussnahme und Manipulation der Erwachsenen bedürfen und zudem ein gewisses Alter erreichen müssen, ehe man sie als vollwertige Menschen betrachtet. Diese Ansicht ist im Laufe der Zeit sowohl wissenschaftlich als auch privat vertreten worden, stets mit denselben Folgen: Die Erwachsenen haben verschiedenste Wege erprobt, den Kindern beizubringen, sich wie richtige, erwachsene Menschen zu benehmen. Wir haben das als «Erziehungsmethoden» bezeichnet, und auch wenn wir die ganze Bandbreite von der althergebrachten autoritären bis zur antiautoritären Erziehung diskutiert haben, wurde der ideelle Ausgangspunkt doch nie grundlegend in Frage gestellt.
Ich möchte mit diesem Buch klarmachen, dass ein Großteil dessen, was wir im traditionellen Sinn unter Erziehung verstehen, nicht nur überflüssig, sondern schädlich ist. Dass nicht nur die Kinder darunter zu leiden haben, sondern auch die Eltern in ihren Entwicklungsmöglichkeiten gehemmt werden, was die Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen gleichermaßen belastet. So wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der unsere Einstellungen in sozialen und pädagogischen Fragen beeinflusst und bis in die Gesellschafts- und Familienpolitik hineinwirkt.
Meine Generation hat dazu beigetragen, eine illusorische Distanz zwischen Subjekt und Gesellschaft zu schaffen, eine Illusion, die vor fünfundzwanzig Jahren logischer Bestandteil unserer Auflehnung gegen Autoritäten war, die aber heutzutage, da Politik sich zunehmend auf Wirtschaftspolitik reduziert, immer gefährlicher wird. Vielleicht stimmt es mehr denn je, dass die Art und Weise, wie wir unsere Kinder behandeln, für die Zukunft der Welt von entscheidender Bedeutung ist. Die Menge an Informationen hat in solchem Maß zugenommen, dass wir nicht davon ausgehen dürfen, unser Doppelspiel im Verhältnis zu Kindern und Jugendlichen noch lange aufrecht erhalten zu können. Ein Doppelspiel, das darin besteht, in politischen Zusammenhängen Ökologie, Mitmenschlichkeit und Gewaltverzicht zu predigen, unseren Kindern aber nach wie vor Gewalt anzutun.
Ich hatte das Privileg, viele Jahre in verschiedenen Kulturen leben und arbeiten zu dürfen. Das hat mich davon überzeugt, dass die Veränderung im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, die in Skandinavien zu beobachten ist, auch anderen Ländern als Modell dienen könnte. Dem Außenstehenden mag dieses Verhältnis zunächst sehr beliebig, unentschieden und ziellos erscheinen, doch trägt es den Keim für eine Entwicklung in sich, die man nur als Quantensprung in der Entwicklung der Menschheit bezeichnen kann. Zum ersten Mal in neuerer Zeit sind wir bereit, das unantastbare Recht des Einzelnen auf die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit weder unter dogmatischen noch autoritären Gesichtspunkten zu betrachten. Allmählich scheint sich die Überzeugung durchzusetzen, dass die existenzielle Freiheit des Individuums keine Gefährdung der Gemeinschaft darstellt, sondern im Gegenteil von vitaler Bedeutung für deren Fortbestand ist.
Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern spielt sich in verschiedenen Tonlagen ab. Denken wir nur an die großen Unterschiede zwischen den USA und Europa und innerhalb Europas zwischen dem Norden, dem Süden und den osteuropäischen Ländern. Ganz zu schweigen von den markanten Unterschieden, die in den Landesteilen ein und desselben Staates bestehen. Natürlich spielen die kulturelle Identität eines Landes, seine politische Geschichte und religiöse Zugehörigkeit eine große Rolle für das Selbstverständnis eines Volkes. Menschen, die ursprünglich aus anderen Ländern kommen, sind sich dieser Tatsache in besonderem Maße bewusst. So ist von Einwanderern mitunter der Satz zu hören, sie wünschten nicht, dass ihre Kinder so werden wie dänische Kinder, während Dänen zuweilen irritiert über den physischen Umgang der Südeuropäer mit ihren Kindern sind. Da sich vor allem die USA und die europäischen Staaten zu multiethnischen und multinationalen Gesellschaften entwickeln – falls sie es nicht schon sind –, wird es umso wichtiger, sich die jeweiligen kulturellen Eigenarten bewusst zu machen. Mag der soziale Stellenwert der Familie von Kultur zu Kultur auch verschieden sein, so ist er meiner Erfahrung nach doch stets von existenzieller Bedeutung. Die Freude über ein konstruktives Zusammenspiel ist stets dieselbe, auch wenn es unterschiedlich zum Ausdruck kommt. Das gilt auch für den Schmerz angesichts destruktiver Beziehungen.
Wenn ich in diesem Buch das «Alte» mit dem «Neuen» konfrontiere, tue ich das weniger, um das Alte zu kritisieren, sondern vielmehr um konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. In meiner täglichen Arbeit mit Familien und ihren Therapeuten begegne ich oft einer großen Aufgeschlossenheit für neue Verhaltensmuster. Die meisten Eltern wissen sehr genau, wenn sie sich unangemessen verhalten, brauchen jedoch konkrete Anleitungen, um ihr Verhalten zu ändern, was auch verdeutlicht, dass es vielen heute an Vorbildern und Rollenmodellen fehlt.
Die traditionelle Psychologie stellt oft unsere Gefühle in Frage. Wird das Kind von seinen Eltern auch wirklich geliebt? Wie groß ist der Hass des Sohnes auf seinen Vater? Wie zornig ist die Tochter auf ihre Mutter? Doch möchte ich betonen, dass ich noch nie Eltern begegnet bin, die ihre Kinder nicht liebten, oder Kindern, denen ihre Eltern nicht am Herzen lagen. Hingegen habe ich eine Reihe von Eltern und Kindern kennengelernt, denen es nicht gelang, ihre liebevollen Gefühle in liebevolles Verhalten umzusetzen.
In der heutigen Zeit sind wir erstmals in der Lage, gleichwürdige Beziehungen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Erwachsenen und Kindern aufzubauen. Nie zuvor ist dies in vergleichbarem Maße geschehen. Die Forderung nach Gleichwürdigkeit impliziert aber auch Offenheit und Toleranz, erfordert eine generelle Akzeptanz von Verschiedenartigkeit, was bedeutet, dass wir einen Großteil unserer Vorstellungen, was richtig und falsch ist, überdenken und gegebenenfalls über Bord werfen müssen. Wir können nicht einfach eine Methode durch eine andere ersetzen, genauer gesagt: Es reicht nicht aus, unsere Irrtümer zu modernisieren. Gemeinsam mit unseren Kindern und Kindeskindern brechen wir buchstäblich zu neuen Ufern auf.
Die Handlungsmöglichkeiten, die in diesem Buch aufgezeigt werden, sollen zum Experimentieren anregen. Sie sind nicht dazu da, stur befolgt zu werden, da es eben nicht ausreicht, einfach ein System durch ein anderes zu ersetzen. Eltern sind nicht nur von unterschiedlichem Geschlecht, sondern bringen auch unterschiedliche Erfahrungen aus ihren Herkunftsfamilien mit. Doch haben wir auch vieles gemeinsam. Wir alle haben als Kinder gelernt, dass es unterschiedliche Wege gibt, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Wege, die sich als mehr oder minder fruchtbar erwiesen haben. Die nächste Familie, an der wir teilhaben, gibt uns die Möglichkeit, Dinge zu lernen, die wir in unserer ersten Familie nicht lernen konnten.
Wenn ich Kinder als kompetent bezeichne, dann meine ich damit, dass wir wichtige Dinge von ihnen lernen können. Dass sie uns durch ihre Reaktionen ermöglichen, unsere verlorene Kompetenz wiederzugewinnen und unsere unfruchtbaren, lieblosen und destruktiven Handlungsmuster loszuwerden. In dieser Weise von den Kindern zu lernen erfordert jedoch mehr, als den Dialog zwischen Erwachsenen und Kindern zu demokratisieren. Wir müssen vielmehr zu einer Form des Dialogs finden, den viele Erwachsene auch untereinander nicht beherrschen, zu einem Dialog, der persönlich ist und auf der gleichen Würde des Einzelnen beruht.
Dass jeder von uns seinen eigenen Weg finden muss – den Weg, der für uns wie für unsere Kinder am fruchtbarsten ist –, bedeutet indes nicht, dass alle Wege gleich gut sind. Ich werde in diesem Buch wiederholt auf einige zentrale Prinzipien zu sprechen kommen, die gewissermaßen den Rahmen abstecken, an dem sich jeder orientieren kann.
In Anbetracht der allgemeinen Tendenz, allzu schnell mit dem Finger auf andere zu zeigen, besteht die Gefahr, dass sich mancher Leser von diesem Buch kritisiert fühlen könnte. Ich habe jedoch keinesfalls die Absicht, irgendjemanden zu kritisieren oder ihm die Schuld für gewisse Missstände in die Schuhe zu schieben. Dass ich des Öfteren auf die historische oder heute gängige Praxis verweise, liegt an meiner Erfahrung, dass die meisten Menschen ihr eigenes Verhalten am besten im Spiegel der Geschichte verstehen.
Die in diesem Buch formulierten Prinzipien und beschriebenen Beispiele gehen in erster Linie auf meine Arbeit am Kempler Institute of Scandinavia zurück. Ich schulde dem amerikanischen Psychiater und Familientherapeuten Dr. Walter Kempler sowie den übrigen Mitgliedern des Instituts großen Dank dafür, dass sie mich stets inspiriert und mir auch in den Jahren vertraut haben, in denen ich mein Selbstvertrauen weitgehend verloren hatte. Dasselbe gilt für die vielen Familien aus der ganzen Welt, die mir Einblicke in ihr Privatleben gewährt haben. Mit peinlicher Deutlichkeit erinnere ich mich an meine Einstellungen und Vorurteile, mit denen ich zum ersten Mal einer japanischen Familie gegenübertrat, und nicht anders erging es mir bei der ersten Begegnung mit einer muslimischen Familie, einer ethnisch gemischten Familie in einem kroatischen Flüchtlingslager oder einer amerikanischen Alkoholikerfamilie.
Mein längst erwachsener Sohn trägt dazu bei, diese Erfahrungen im Lichte seiner Entwicklung zu betrachten, und meine Frau konfrontiert mich hin und wieder mit etwas, von dem ich stets hoffe, es mögen die letzten Reste meiner kindlichen Egozentrik sein.
Das Wertefundament, auf dem die Familie über zweihundert Jahre lang so verlässlich ruhte, ist in weiten Teilen der Welt in Auflösung und Umformung begriffen. In Skandinavien, wo die Frauen diese Entwicklung einleiteten, kam ihnen zweifellos der relative Wohlstand und eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung zur Hilfe. In anderen Ländern waren es Bürgerkriege und soziale Not, die Dinge ins Rollen brachten.
Die Geschwindigkeit, mit der sich dieser Wandel vollzieht, ist unterschiedlich, doch der Grund ist überall derselbe: Die hierarchisch aufgebaute autoritäre Familie patriarchalischer oder matriarchalischer Prägung hat ausgedient. Daher wimmelt die Landkarte nur so von unterschiedlichen Familientypen. Einige versuchen krampfhaft, an der «guten alten Zeit» festzuhalten, während andere neue, konstruktivere Arten des Zusammenlebens erproben.
In Hinblick auf unser aller Gesundheit ist diese Entwicklung nur zu begrüßen. Denn die alte Familienstruktur und ein Teil ihrer Werte waren in vieler Hinsicht destruktiv für Eltern und Kinder, was folgende Beispiele illustrieren sollen:
Vater, Mutter und zwei Söhne von zirka drei und fünf Jahren haben gerade Eis und Kuchen gegessen. Jetzt nimmt die Mutter eine Serviette, spuckt darauf, packt den Jüngsten mit festem Griff am Kinn und beginnt, ihm das Gesicht rund um den Mund abzuwischen. Der Junge wendet protestierend den Kopf ab. Sie greift ihm in die Haare, und während sie mit zusammengebissenen Zähnen zischt, wie böse er ist, zieht sie sein Gesicht wieder zu sich heran.
Der ältere Bruder sitzt kerzengerade auf seinem Stuhl. Ein Anflug von Schmerz huscht über sein Gesicht, doch er lässt sich nichts anmerken. Auch in den Augen des Vaters ist ein Anflug von Schmerz zu erkennen. Aber er wendet diesen Schmerz gegen die Mutter und schaut sie vorwurfsvoll an, als ärgere er sich darüber, dass sie den Kleinen nicht besser im Griff hat.
Der kleine Bruder hat sich rasch von dem Überfall erholt, ist auf der Straße ein Stück vorausgelaufen und deutet jetzt mit Begeisterung auf ein Schaufenster, um seiner Mutter etwas zu zeigen. Ohne den Gegenstand seiner Begeisterung auch nur eines Blickes zu würdigen, packt sie seine Hand und zieht ihn mit sich fort. Der Junge schreit, doch sie will unbedingt die Oberhand behalten und wiederholt: «Mach dein Gesicht sauber!»
Zwei junge Ehepaare und der zirka fünfjährige Sohn des einen Paares setzen sich in einem Straßencafé an einen Tisch, um sich von ihrer Einkaufstour zu erholen. Als die Bedienung erscheint, sagt die Mutter. «Wir trinken Kaffee, was möchtest du?»
Der Junge zögert ein wenig, bevor er antwortet: «Ich weiß nicht, worauf ich Lust habe.»
Die Mutter, irritiert, zur Kellnerin: «Bringen Sie ihm ein Glas Saft.»
Als die Kellnerin mit den Getränken an den Tisch kommt, sagt der Junge leise zu seiner Mutter. «Ich hätte lieber eine Cola mit Zitrone, geht das?»
Die Mutter: «Warum hast du das nicht gleich gesagt? Jetzt musst du eben den Saft trinken.» Fast im selben Atemzug sagt sie zur Bedienung: «Der Junge hat es sich anders überlegt. Bringen Sie ihm eine Cola mit Zitrone, damit Ruhe ist.»
Nach etwa zehn Minuten – die Erwachsenen haben unterdessen alte Urlaubserinnerungen aufgefrischt, während der Junge still auf seinem Stuhl saß – wirft die Mutter einen Blick auf die Uhr und sagt gereizt zu ihrem Sohn. «Trink endlich deine Cola aus!»
Der Junge wird munter. «Gehen wir jetzt?»
Die Mutter: «Ja, wir müssen uns beeilen. Trink aus!»
Der Junge leert sein Glas in einem Zug und entgegnet stolz: «War ich nicht schnell, Mama?»
Die Mutter beachtet ihn nicht und unterhält sich nun wieder mit den anderen Erwachsenen. Der Junge sitzt still auf seinem Stuhl und hört ihnen zu. Nach einer halben Stunde fragt er vorsichtig: «Mama, gehen wir bald nach Hause?»
Jetzt platzt der Mutter der Kragen: «Hör endlich auf zu quengeln, sonst kommst du zu Hause sofort ins Bett! Hast du das verstanden?» Der Junge lässt resigniert die Schultern sinken. Die übrigen Erwachsenen werfen der Mutter einen anerkennenden Blick zu, während der Vater des Jungen ihr bekräftigend die Hand auf den Arm legt.
Eine Großmutter wartet mit ihren zwei Enkeln – einem vierjährigen Jungen und einem sechsjährigen Mädchen – auf den Bus. Der Junge zieht seine Großmutter am Ärmel und sagt: «Oma, ich muss mal.»
Die Großmutter: «Das geht jetzt nicht, der Bus kommt gleich.»
Der Junge: «Aber ich muss wirklich ganz doll!»
Die Großmutter: «Jetzt tu, was deine Großmutter dir sagt, und damit basta! Schau nur, wie vernünftig deine große Schwester ist.»
«Aber ich kann nicht mehr länger warten!»
Die Großmutter: «Wirst du endlich still sein! Du kannst zu Hause auf die Toilette gehen. Wenn du jetzt nicht brav bist, werde ich deiner Mutter was erzählen! Dann darfst du nicht mehr mit Oma in die Stadt gehen!»
Die Erwachsenen in diesen Szenen sind keine schlechten Menschen. Sie lieben ihre Kinder und Enkel und würden sich zu gerne an ihrem Benehmen erfreuen oder über ihre lustigen Bemerkungen amüsieren. Sie verhalten sich nur deshalb nicht liebevoll, weil sie gelernt haben, das Lieblose als konsequent und das Liebevolle als unverantwortlich zu betrachten.
Seit Jahrhunderten hat die Familie als Machtstruktur existiert. Die Männer hatten Macht über die Frauen, und die Erwachsenen hatten Macht über die Kinder. In sozialer wie in politischer und soziologischer Hinsicht war die Macht absolut und ließ keinen Zweifel an der familiären Hierarchie aufkommen: Zuerst der Mann, dann die Frau – sofern es keine männlichen Jugendlichen gab –, danach die Jungen und zuletzt die Mädchen. Eine gelungene Ehe basierte auf der Fähigkeit und dem Willen der Frau, sich dem Mann unterzuordnen, und die Erziehung sollte den Kindern vor allem klarmachen, dass sie sich den Machthabern anzupassen und zu gehorchen hatten.
Wie in allen totalitären Systemen wurde mangelnder Fähigkeit oder fehlendem Willen zur Kooperation mit physischer Gewalt und/oder Einschränkungen der ohnehin beschränkten Freiheit des Einzelnen entgegengetreten. Offene Konflikte sollten unter allen Umständen vermieden werden.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen wir, Kinder als geistig unabhängige, eigenständige Wesen zu betrachten, deren individuelle Existenz von Bedeutung für ihr Wohlergehen und ihre persönliche Entwicklung war. In den 20er-Jahren machten die Frauen dann nachdrücklich auf sich aufmerksam und verlangten – sowohl in menschlicher als auch in sozialer und politischer Hinsicht – ernst genommen zu werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwächte sich der totalitäre Charakter der Familien schrittweise ab, doch an der Machtstruktur als solcher wurde nicht gerüttelt.
Für diejenigen, die sich den Machtverhältnissen anpassten, war die Familie ein sicherer Ort. Wer jedoch seiner Individualität mehr Geltung verschaffen wollte, bekam die destruktiven Folgen dieses Zusammenspiels in der Familie zu spüren. Wer dadurch Schaden nahm und sich «auffällig» verhielt, wurde pädagogischen oder psychiatrischen Zwangsmaßnahmen unterworfen, die nur ein Ziel kannten, nämlich das Subjekt wieder in die bestehenden Machtverhältnisse einzupassen.
Den Machthabern (Ehemännern und Eltern) wurde geraten, den Abweichlern (Frauen und Kindern) bei ihrer «Resozialisierung» liebevolles Verständnis und Konsequenz entgegenzubringen, doch riet ihnen niemand, etwas von ihrer Macht abzugeben. Infolgedessen wurden viele Frauen und Kinder in Institutionen eingewiesen oder gezwungen, Medikamente einzunehmen.
Über die Familie traditioneller Prägung lässt sich einiges sagen, doch dem Wohlergehen des Einzelnen und seiner persönlichen Entwicklung war sie nur selten dienlich. In sozialer Hinsicht mag sie recht erfolgreich gewesen sein, doch unmittelbar unter der sozialen Oberfläche waren die Krankheitssymptome unübersehbar.
Manchen mag diese Beschreibung einseitig und ungerecht erscheinen. Natürlich hatte auch die traditionelle Familie ihre positiven Aspekte. Auch in ihr gab es liebevolle Beziehungen, und die willige Akzeptanz bestehender Machtverhältnisse bringt zweifellos eine besondere Form der Sicherheit mit sich, wie angepasste Bürger totalitärer Systeme sie kennen.
Eines der zentralen Probleme vieler moderner Familien besteht darin, dass wir eine veraltete Sprache benutzen, wenn wir über Kindererziehung reden. Sie stammt aus einer Zeit, in der eine konfliktfreie Familie als gelungene Familie betrachtet wurde und in der das Verständnis von mentaler Gesundheit ein völlig anderes war als heute. Wenn wir die Wörter und Begriffe, auf die ich im Folgenden zu sprechen komme, auch weiterhin benutzen wollen, dann müssen wir ihnen eine neue Bedeutung verleihen.
Bis Mitte der 70er-Jahre diskutierten wir mit größter Selbstverständlichkeit über Erziehungsmethoden. Angesichts der damals weitverbreiteten Ansicht über das Wesen von Kindern war das nur folgerichtig: Wenn man Kindern kreatürliche und asoziale Eigenschaften zuschreibt, dann bedarf es auch gesicherter Methoden, um aus ihnen verantwortungsvolle, soziale Menschen zu machen. Die Methoden unterschieden sich zwar in ihrem Inhalt, doch über die Notwendigkeit bestimmter Methoden wurde nicht diskutiert.
Heute, da wir wissen, dass Kinder von Beginn an vollständige Menschen sind, ist die Diskussion über Methoden absurd. Würden wir uns im Verhältnis zu anderen Erwachsenen auf bestimmte Methoden verlassen, würden wir uns zu Recht lächerlich machen. Stellen Sie sich nur einen Mann vor, der sagt: «Ich habe mich in eine groß gewachsene schwarzhaarige Portugiesin verliebt, aber unsere Beziehung ist nicht einfach. Kann mir nicht jemand eine bestimmte Methode empfehlen, wie ich besser mit ihr klarkomme?» Ein absurdes Anliegen. Doch genau so sprechen Erwachsene seit Beginn des 18. Jahrhunderts über ihr Verhältnis zu Kindern.
Kinder werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren. Um diese weiterzuentwickeln, brauchen sie nichts als die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten. Jede Methode ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv, weil sie die Kinder für ihre Nächsten zu Objekten macht.
Ab dem dritten Lebensjahr beginnen die Kinder allmählich, sich aus der totalen Abhängigkeit von ihren Eltern zu befreien. Sie möchten in der Lage sein, selbständig zu denken, zu fühlen und zu handeln. Der Beginn dieser Phase macht sich unmissverständlich bemerkbar. Eines Morgens, wenn man sie wie üblich anziehen will, wehren sie unsere Hilfe plötzlich mit den Worten ab: «Kann alleine!» oder «Selber machen!»
Manche Eltern reagieren trotzig und entgegnen: «Nein, das kannst du nicht!» Oder: «Hör auf mit dem Quatsch, dazu haben wir jetzt keine Zeit!» Die Kinder werden selbständig, die Eltern starrsinnig.
Diese Monate im Leben eines Kindes sind zugleich der deutliche Beweis für seine Fähigkeit zur Kooperation. Wenn die Erwachsenen auf den Versuch eines Dreijährigen, eigene Kompetenzen zu entwickeln, mit Widerstand und Trotz reagieren, dann wird er entweder selbst trotzig – Trotz erzeugt Trotz – oder antriebslos und abhängig.
Der Begriff Trotzalter ist typisch für Machthaber, die sich über renitente Untertanen ärgern. Die natürliche Entwicklung eines Kindes bringt es mit sich, dass es zunehmend selbständig wird, und nur ein totalitäres System kann ein Interesse daran haben, diese kontinuierliche Entfaltung einer eigenständigen Persönlichkeit zu problematisieren.
Pubertät ist an sich ein neutraler klinischer Begriff, der im Laufe des 20. Jahrhunderts negativ aufgeladen wurde und heute eine ganze Reihe negativer Assoziationen weckt. Die meisten Erwachsenen denken bei dem Wort Pubertät nur an Konflikte, Streitereien und Probleme. Diesem negativen Bild hat man nach dem Zweiten Weltkrieg den Begriff der Präpubertät hinzugefügt, was bedeuten soll, dass der Ärger gleich hinter der Ecke lauert.
Objektiv betrachtet ist die Pubertät eine intrapsychische (individuelle) psychosexuelle Entwicklungsphase, die vielen 12- bis 15-Jährigen heftige Turbulenzen und einen hohen Grad an innerer Unsicherheit beschert. Dass sie jedoch im Kern für die interpersonalen Konflikte (mit Erwachsenen) verantwortlich sein soll, ist blanker Unsinn. Die Anzahl und Heftigkeit der Konflikte hängt unter anderem von der Fähigkeit der Erwachsenen ab, ihrer veränderten Elternrolle gerecht zu werden, sowie von der Art und Weise, mit der sie der Entwicklung der kindlichen Integrität in den ersten drei, vier Lebensjahren Rechnung getragen haben.
Ebenso wie die Pubertät werden die Teenagerjahre oft mit Worten beschrieben, die nahezu politischen oder gar militärischen Charakter haben: Aufruhr, Rebellion, Ablösung, Revolution, Disziplinlosigkeit etc. Das ist nicht verwunderlich.
Innerhalb einer Machtstruktur, in der die Erwachsenen das stabile, konfliktfreie Element verkörpern, muss jede progressive Entwicklung als Anschlag auf das Bestehende definiert werden.
Derselbe Vorgang geschieht, wenn die Frauen in die Wechseljahre kommen. Unter Hinweis auf die «Hormone» wird der Mann von jeglicher Mitverantwortung für entstehende Konflikte freigesprochen. In gleicher Weise werden Teenager für die Begleitumstände der Pubertät verantwortlich gemacht, womit sich die Erwachsenen auf eleganteste Weise aus ihrer Verantwortung für die Qualität des Zusammenspiels zwischen Eltern und Kindern stehlen. Entweder liegt es am Alter oder an den Hormonen oder an beidem zusammen!
Viele Begriffe, die wir traditionell in Zusammenhang mit der Kindererziehung verwenden, spiegeln vor allem die Überzeugung der Mächtigen wider, dass die Aufrechterhaltung der Machtstrukturen im Interesse aller Beteiligten liege.
Innerhalb einer Machtstruktur müssen notwendigerweise Gesetz und Ordnung herrschen; also müssen der körperlichen, geistigen und emotionalen Entfaltung der Kinder Grenzen gesetzt werden. Diese Grenzen – was Kinder müssen und nicht müssen, sollen und nicht sollen, dürfen und nicht dürfen – fungierten wie familiäre Polizeiverordnungen.
Das führte zu der Behauptung, dass man Kindern gewisse Grenzen setzen müsse, damit diese sich gut entwickeln können, wofür es nicht den geringsten Beweis gibt. Es ist schon wahr, dass Kinder sich nur dann gut entwickeln, wenn die Erwachsenen in der Familie gewisse Grenzen nicht überschreiten. Ich werde später noch darauf zurückkommen, wie wichtig es sowohl für Eltern als auch für Kinder ist, sich selbst Grenzen setzen zu können. Anderen Grenzen zu setzen dient in erster Linie dem Machterhalt.
Das Setzen von Grenzen ist in der öffentlichen Diskussion über Kindererziehung allgegenwärtig. Manchmal glauben wir, dass es Eltern früher leichter fiel, Grenzen zu setzen, aber das ist nicht der Fall. Eltern haben stets Experten um Rat gefragt, wie sie die Kinder dazu bringen sollen, zu «gehorchen» oder zu «folgen», wie es damals hieß. Solange es um die Wahrung der Machtverhältnisse ging, bekamen die Eltern meist einen Rat, der aus vier Elementen bestand: Einigkeit, Konsequenz, Konsequenzen und Gerechtigkeit.
«Einigkeit macht stark», sagt ein Sprichwort, und darauf beruht einer der wichtigsten Glaubenssätze traditioneller Kindererziehung. «Es ist wichtig, dass Eltern sich in der Kindererziehung einig sind.» Ich habe unzählige Elternpaare kennengelernt, die fast ihre Ehe geopfert hätten, um diesem Ideal zu entsprechen, und die unter großen Schuldgefühlen litten, weil es ihnen nicht gelang. Sie alle waren überzeugt davon, dass Einigkeit den Kindern Sicherheit gebe und Uneinigkeit ihnen schade. Zwar tolerierten auch sie ein gewisses Maß an Uneinigkeit, doch sollte diese erst zur Sprache kommen, nachdem die Kinder im Bett waren. In ihrer Gegenwart war wieder demonstrative Einigkeit gefragt.
Diese Überzeugung hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn wir die Familie als politische Organisation begreifen. Eltern, die darauf aus sind, Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, tun möglicherweise gut daran, ihren Kindern als geschlossene Front gegenüberzutreten.
Die Forderung nach absoluter Einigkeit wurde auch damit begründet, dass Kinder andernfalls ihre Eltern gegeneinander ausspielen und gewissermaßen einen Keil zwischen sie treiben würden. Doch auch in der traditionellen Familie war man sich selten einig. Wenn der Vater die Kinder diszipliniert hatte, trat oft die Mutter mit ihrer weiblichen Fürsorge auf den Plan. Nicht weil sie illoyal sein wollte, sondern weil sie die Samariterdienste innerhalb der Familie versah, zu denen auch gehörte, sich der Verwundeten anzunehmen. Die Notwendigkeit der Disziplinierung stellte aber auch sie nicht in Frage.
Für die gesunde Entwicklung der Kinder spielt es indes keine Rolle, ob die Eltern sich in der Kindererziehung einig sind. Im Prinzip müssen sie sich nur darin einig sein, dass sie Uneinigkeit tolerieren. Erst wenn sie ihre Verschiedenheit als verkehrt empfinden, verunsichern sie ihre Kinder.
Die Konsequenz ist ein Verwandter der Einigkeit und ebenso wichtig, um Machtverhältnisse zu bewahren. Wer Uneinigkeit als gefährlich ansieht, der muss Meinungsverschiedenheiten in der Familie zwangsläufig als Rebellion gegen die bestehende Ordnung betrachten. Konsequenz bedeutet für die Eltern in diesem Zusammenhang, den rebellischen Kindern ihr gemeinsames «Nein!» entgegenzuhalten.
Die bessere Alternative zu diesem Machtspiel ist der persönliche Dialog, der die Wünsche und Bedürfnisse von Kindern und Eltern gleichermaßen ernst nimmt.
Doch was sollen wir tun, wenn die Kinder immer noch ihren eigenen Kopf durchsetzen wollen, obwohl wir einig und konsequent waren? Muss es dann nicht Konsequenzen geben? Unabhängig von der Art des Konflikts gab es von jeher zwei Spielarten dieser Konsequenzen: Physische Gewalt und/oder Einschränkung der persönlichen Freiheit.
Da jedoch nur die wenigsten Eltern guten Gewissens die Freiheit ihrer Kinder einschränken oder ihnen körperliche Gewalt antun, musste man sich Rechtfertigungen für diese Zwangsmaßnahmen überlegen:
«Es ist nur zu deinem Besten!»
«Du wirst das verstehen, wenn du erwachsen bist!»
«Du musst lernen, dich unterzuordnen!»
«Es tut mir mehr weh als dir!»
«Wer nicht hören will, muss fühlen!»
Und was lernen die Kinder daraus?
Wenn Eltern sagen «Wir treffen hier die Entscheidungen!», dann lernen die Kinder, dass sie keine persönliche Freiheit haben.
Wenn Eltern sagen: «Kinder soll man hören, aber nicht sehen!», dann lernen sie, dass ihre Meinung nichts gilt und sie sich auch noch selbst den Mund verbieten müssen.
Interessanterweise fragen sich viele Eltern nach erfolgter Bestrafung beklommen, ob sie womöglich dem Verhältnis zu ihren Kindern geschadet haben. Ihr schlechtes Gewissen kommt dann in der Aufforderung zum Ausdruck: «Komm, umarm deinen Vater, und wir vergessen die ganze Sache!» Oder indirekt durch eine Frage: «Sind wir wieder Freunde?»
Ihr Unbehagen ist gerechtfertigt. Denn diese Art der als Konsequenz verstandenen Bestrafung zerstört das Verhältnis zu den Kindern Schritt für Schritt. Zum einen, weil die Erwachsenen die Verantwortung für das Geschehene leugnen, zum anderen, weil sie ihren Kindern die Schuld in die Schuhe schieben, was gleichermaßen schädlich für das Vertrauen der Kinder wie für das Selbstwertgefühl der Erwachsenen ist.
Kindererziehung bestand zu einem großen Teil darin, das Verhalten von Kindern zu kritisieren und zu korrigieren, wenn diese sich «falsch» verhalten hatten. Wenn die Kinder ihr Fehlverhalten einräumten oder andere Zeichen aufrichtiger Reue zeigten, galt die Erziehung als geglückt und die Sache als erledigt. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass Kinder sich automatisch «besserten», wenn sie nur vorher richtig zu Kreuze gekrochen waren. Daher die altbekannten Sätze:
«Schäm dich!»
«Dass du dich nicht schämst!»
«Du solltest dich schämen!»
In diesem System, in dem jeder Konflikt zwischen Eltern und Kindern auf mangelnde oder fehlgeschlagene Erziehung zurückgeführt wurde, galt das Prinzip der Gerechtigkeit als Richtschnur für die Machthaber. In der Praxis konnte das bedeuten, dass sich die Eltern gründlich versicherten, dass ihr Kind auch wirklich schuldig war, bevor die Strafe vollstreckt wurde. Nicht die Gewalt an sich, sondern Gewalt gegen einen Unschuldigen wurde als ungerecht angesehen.
Paradoxerweise führte dies oft dazu, dass Kinder sich später nur an die Fälle erinnerten, in denen sie für etwas bestraft worden waren, das sie nicht getan hatten. Das frustrierende Erlebnis, sich «verkehrt» zu fühlen, das den anderen Bestrafungen zugrunde lag, wurde verdrängt, weil es der Normalzustand war.
Der Begriff der Gerechtigkeit spielte auch in jenen Familien eine große Rolle, in denen die Eltern bestrebt waren, zwischen den Kindern «keine Unterschiede zu machen». Sie bekamen die gleichen Weihnachtsgeschenke, die gleiche Belohnung, die gleiche Strafe und die gleiche Ausbildung, wie unterschiedlich sie auch sein mochten. Auf diese Weise war es dem Zufall überlassen, ob ein Kind bekam, was es brauchte, doch die Eltern konnten im Bewusstsein, gerecht zu sein, ruhig schlafen.
Das beschriebene Wertefundament dieser Erziehung besitzt in großen Teilen der Welt nach wie vor Gültigkeit. Man mag davon halten, was man will, doch muss man konstatieren, dass Ziele und Ergebnisse weitgehend übereinstimmen.
Der Ausgangspunkt ist, wie erwähnt, eine veraltete Vorstellung über das Wesen von Kindern. Entscheidender ist jedoch das Ziel dieser Erziehung, das in äußerer Anpassung besteht. Eine Anpassung, die am deutlichsten in einer Ermahnung zum Ausdruck kommt, die meine Freunde und ich im Laufe unsere Kindheit und Jugend unzählige Male zu hören bekamen: «Benimm dich ja anständig, damit die Leute auch sehen, dass du aus einem guten Elternhaus stammst!»
Bei der Kindererziehung ging es nicht zuletzt um den äußeren Eindruck. Deshalb schärfte man den Kindern ständig ein, «brav zu sein», sich «gut zu benehmen», sich «unterzuordnen», «anständig zu sprechen», «schön danke zu sagen» oder sich «ordentlich zu verabschieden». Die Kinder sollten nicht sie selbst sein, sondern gelernte Texte auswendig lernen, wie Schauspieler in einem Theaterstück.
Natürlich ist es ein Leichtes, all diese Dinge im Nachhinein zu kritisieren. Und obwohl ich die Suche nach einem neuen Wertesystem schon für einen großen Fortschritt halte, sei an dieser Stelle daran erinnert, dass viele Eltern an den alten familiären Machtstrukturen festhalten, weil sie überzeugt davon sind, für ihre Kinder so das Beste zu tun, und demzufolge auch nichts Falsches darin erblicken können.
Als meine Generation sich allmählich damit beschäftigte, selbst Kinder in die Welt zu setzen, brüteten wir eine Reihe von Ideen aus, die eine logische Folge dessen waren, was wir in unseren Herkunftsfamilien kennengelernt hatten:
Vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Unterdrückung forderten Frauen die Gleichberechtigung. Bei den nachfolgenden Kämpfen ging es vor allem darum, die Familie zu demokratisieren, indem man die Geschlechterrollen neu definierte und die Verantwortung neu verteilte. Darüber hinaus sollten die Ungerechtigkeiten und Missstände am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt beseitigt werden.
Die Eltern der neuen Generation, die selbst mit vielen Geboten und Verboten aufgewachsen waren, wollten den Kindern die Werte und Normen erklären, die ihrer Erziehung zugrunde lagen.
Als Reaktion auf die totalitären Machtstrukturen unserer Herkunftsfamilien entstand der Wunsch, auch in der Familie demokratische Spielregeln anzuwenden. Schlüsselbegriffe wie Einflussnahme, Mitbestimmung und Rechte der Kinder brachten eine neue Qualität im Verhältnis der Geschlechter sowie zwischen Eltern und Kindern zum Ausdruck.
Man diskutierte weniger über Erziehungsmethoden, sondern sprach stattdessen über die Wichtigkeit, Kinder und Jugendliche zu verstehen.
Die sexuellen Beziehungen zwischen Männern und Frauen wurden durch das Recht der Frauen bereichert, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, und die Pharmaindustrie trug mit neuen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung dazu bei, dieses Recht auszuleben.
Ich bezeichne die damalige Periode, in der auch Rhetorik und Terminologie politisiert wurden, aus folgenden Gründen als «demokratisches Zwischenspiel»: Damals erprobten wir, ob sich die demokratischen Spielregeln auch als neues Wertefundament für die Familie eigneten. Da sich herausstellte, dass sie nur bedingt geeignet waren, blieb diese Periode ein kurzes, wenn auch logisches und notwendiges Zwischenspiel.
Das politische Vokabular reicht letztlich nicht aus, um die Beziehungen in der Familie hinreichend zu beschreiben. Ideologische Standpunkte schwächen das Gemeinschaftsgefühl, statt es zu stärken, zumal wenn es um innerfamiliäre Konflikte geht. Das haben Ideologien mit totalitären Systemen gemein – den Eingeweihten und Privilegierten geben sie ein Gefühl von Wärme und Sicherheit, nicht jedoch denen, die sich am unteren Ende der Hierarchie befinden oder die Realität anders erleben.