Zur falschen Zeit am falschen Ort
von
Richard Birkefeld
Impressum
Copyright 2011, Richard Birkefeld, Hannover
Ebook-Erstellung: Belbook by Satzweiss.com GmbH
ISBN 978-3-8450-0179-1
Alle Rechte vorbehalten.
KURZINHALT
In zehn spannenden und intelligenten Kurzkrimis stellt Richard Birkefeld seine typischen Protagonisten vor: Spieler, Loser, Zuhälter, Schlitzohren, Killer oder an ihrem Schicksal scheiternde Existenzen, die einen Kosmos bevölkern, der nicht nur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert reicht, sondern sich auch von der Küste bis zum Alpenrand erstreckt.
KURZVITA
Richard Birkefeld, 1951 in Hannover geboren, Historiker und Politologe. Er veröffentlichte zahlreiche Texte zur Stadtgeschichte und über kulturelle Phänomene der Moderne. Gleich sein erster Roman Wer übrig bleibt, hat recht, der in den letzten Kriegsmonaten 1944/45 spielt, wurde mit dem Deutschen Krimipreis und dem Friedrich-Glauser-Preis fürs beste Debüt 2003 ausgezeichnet. Es folgten der Roman Deutsche Meisterschaft, der die politischen Probleme der Weimarer Republik thematisiert, und zahlreiche Kurzgeschichten. Als Mitherausgeber ist er für die Krimi-Anthologien Der Ring der Niedersachsen und Bock auf Wild verantwortlich. Birkefeld lebt heute als freier Autor in Hannover.
Die Überraschung war groß! Kein Zweifel! Unter der Lupe lag ein Phalanx distalis V. Das letzte Knochenglied des kleinen Fingers einer menschlichen Hand. Bleich und entfleischt. Kein Wunder nach all den Jahrzehnten in der Erde am Haddebyer Noor.
Seit einigen Monaten wird das Grabungsareal A21g ein zweites Mal ausgehoben, um es nach neuen Kriterien auszuwerten.
A21g war 1978 meine erste Grabungsstelle in Haithabu, sie war gewissermaßen die Grundlage zu meiner Promotion - die Abfallgrube der frühmittelalterlichen Wikingerstadt. Ich hatte sie durchsiebt, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter, Fundhorizont nach Fundhorizont durchsucht. Jeden Knochen, jedes Bruchstück, jeden Splitter, jede Scherbe erfasst, aufgelistet, zugeordnet und inventarisiert. Über zwei Jahre lang.
Die Bewertung der Artefakte und der gefundenen Cerealien übernahmen später Kollegen, aber für die Knochenauswertung war allein ich verantwortlich. Und das ist bis heute so geblieben, weil sich meine Fachkompetenz in Sachen tierischer Skelettbestimmung für die Haithabuforschung als unübertrefflich und unverzichtbar erwiesen hat.
Nachdem A21g damals ausgewertet war, musste die Grabungsstelle aus technischen Gründen wieder verschüttet werden, um das Freigelände für das interessierte Publikum zugänglich machen zu können. Die systematische Grabung wurde dann mit A21j bis A22k fortgesetzt, um den größten Teil der Abfallgrube auswerten zu können. Diese Arbeit hat mich bis heute mehr als dreißig Jahre lang beschäftigt.
Vor einem halben Jahr war aber nun dieser Doktorand aus München hier aufgetaucht, eine Koryphäe auf dem Gebiet der archäologischen Stratigraphie, also der Schichtungsverhältnisse, der die Grubenwandung bzw. den Boden der Haithabu-Mülldeponie auf prähistorische Spuren untersuchen wollte, um bereits jungsteinzeitliche Siedlungsaktivitäten nachweisen zu können. Um nicht mit unserer Arbeit ins Gehege zu kommen, bekam er die Genehmigung von der Museumsleitung, mit A21g zu beginnen und diese bis zu den für ihn relevanten Schichten erneut auszuheben.
Damit hatte ich nicht rechnen können! Noch weniger damit, dass die Grabungshelfer des Doktoranden, nach Freigabe des Fundes durch die obligatorische Begutachtung durch die Staatsanwaltschaft und nach exakter Erfassung und Dokumentation der Skelettlage, mir einen Pappkarton voller Knochen inkl. eines durch Gewalteinwirkung gekennzeichneten Schädels zur weiteren Bestimmung ins Zimmer stellten, ohne zu ahnen, was sie dort ausgegraben hatten und aus welcher Zeit die Relikte tatsächlich stammten. Vor lauter Fundeifer blind, ordneten sie es der Kulturschicht zu, in der sie es augenscheinlich gefunden hatten: In der ersten Stratum unterhalb der ausgewerteten Müllgrube, also aus der Vorgründungszeit Haithabus - so um 500 n.Chr. ihrer Meinung nach.
Aber unser Anthropologe Prof. Dr. Hermann S., der für die hominiden Funde zuständig ist, käme sicherlich bei genauerer Untersuchung zu einem anderen Ergebnis!
Da ich um die Genauigkeit und Sorgfalt von Archäologen weiß, war mir klar, dass sich alle Knochen, und seien sie noch so klein, in dem Karton befinden würden.
Also alle! Es dauerte exakt 12 Minuten, um zwei weitere Phalangen digitalis V zu finden.
Schließlich hatten sie vor sechs Wochen vor mir auf der Arbeitsplatte meines Schreibtisches gelegen: Die letzten Knochenglieder dreier kleiner Finger.
Kollege Winterberg, dem ich winzige Splitter der drei Fingerknochen zur DNA-Analyse gegeben hatte, übergab mir gestern zwei kleine Plastikschachteln mit den Worten, dass zwei der Fragmente denselben genetischen Ursprung hätten, das dritte aber einem anderen Individuum zuzuordnen wäre.
Mir war das von Anfang an klar gewesen - nun weiß ich aber zum Glück, welches dieser winzigen Fingerglieder meines ist.
Das Anordnungsprinzip der vom Boden bis an die Decke reichenden Plastikkästen und -schachteln an den vier Wänden des fensterlosen Raumes ist, wenn man einmal das System verstanden hat, recht einfach.
An der Wand mit der Tür stapeln sich im unteren Bereich die größeren Kästen mit den Knochen der Nutztiere wie Schwein, Schaf, Ziege, Rind und größeres Wild, dann folgen die Schachteln für Kleinsäuger aller Art bis hin zu den kulturfolgenden Nagetieren.
Die rechte Wand beherbergt die Knochenteile von Wildgeflügel, Hühner- und Singvögeln, in den Kästen und Schachteln an der gegenüberliegenden Wand lagern ausschließlich die hominiden Knochenfunde, die dort auf ihre Untersuchungen durch unseren Anthropologen warten.
Direkt an der Wand vor dem großflächigen Arbeitstisch, auf dem der Computer steht, sind allein ca. 1.500 Plastikschachteln angebracht, in denen sich der Hauptbestand der Sammlung befindet: Die Knochen, Flossen und Gräten der gefundenen Ichtyes, unterteilt in Süß- und Salzwasserfische.
Auf dem Tisch liegen mehrere Knochenhäufchen, unzählige der besagten Schachteln und kleine Werkzeuge wie Pinzette, Ahle und Skalpell. Eine an einem Schwenkarm befestigte Leuchtlupe ragt über die Arbeitsfläche.
Vor den Regalen stehen in Reih und Glied, nach Fundhorizonten geordnet, blaue Müllsäcke mit unzähligen Knochenresten, die auf ihre Sortierung und elektronische Erfassung durch mich warten.
Vor dem Tisch befindet sich ein alter hölzerner, noch vierrädriger Drehstuhl, der einmal Herbert Jankuhn gehört hatte. Nun ist das mein Arbeitsplatz. Seit nunmehr über drei Jahrzehnten.
Mein Name ist Dr. Georg Sartorius, Sohn des großen Friedrich-Wilhelm Sartorius, der nicht nur in den zwanziger Jahren die Ausgrabungen der Mastabat al-Fir'aun im ägyptischen Sakkara geleitet hat, sondern auch zehn Jahre später mit Herbert Jankuhn für die ersten archäologischen Arbeiten an der Fundstätte Haithabu verantwortlich zeichnete.
Es war immer mein Wunsch gewesen, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, um ebenfalls Archäologe zu werden und seine Arbeit in Haithabu fortzusetzen. Das habe ich geschafft, aber der Preis dafür war hoch. Verdammt hoch!
Ich bin heute ein promovierter Archäologe, Verfasser preisgekrönter wissenschaftlicher Standardwerke über die frühstädtische Ernährungsbasis der Wikingerzeit zwischen dem siebten und achten Jahrhundert nach Christus; ein von seiner Frau genervter und enttäuschter Ehemann, weil alle Hoffnungen, Gemeinsamkeiten und Liebeserwartungen im Laufe der Jahrzehnte währenden Ehe von unserer Beziehung abblätterten wie der Putz eines renovierungsbedürftigen Hauses; und ich bin ein Mörder aus niederen Beweggründen.
Seit dem Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Archäologischen Landesmuseum Schloss Gottorf in Schleswig, habe ich bis heute im Zuge der Auswertung von Knochenfunden in der Ausgrabungsstätte der ehemaligen Wikingersiedlung Haithabu am Haddebyer Noor über mehr als 120.000 Knochenreste bestimmt, erfasst und den entsprechenden Fundhorizonten zugeordnet. In den Anfangsjahren geschah das zunächst noch mit Hilfe endloser handschriftlicher Tabellen, später dann mit Unterstützung der elektronischen Datenerfassung.
In Wirklichkeit aber ist mein Arbeitsplatz eine Einzelzelle mit Isolationsfolter, und meine Tätigkeit in diesem Raum die Sühne für ein Verbrechen, das ich begangen habe, selbst wenn dieses bis heute noch nicht aufgedeckt ist. Tagsüber arbeite ich meine vom Schicksal verhängte Strafe hier im Landesmuseum ab, nach Feierabend verbüße ich den Rest des Tages gewissermaßen im Hausarrest bei meiner Frau. Fast mein ganzes Erwachsenenleben verbrachte ich abgedunkelt zwischen Knochen und Gräten in monotoner Routine. Ein Fachidiot, gefangen in der Grausamkeit eines unerbittlichen Tretrades – beruflich und privat.
Ende des Jahres werde ich zwar pensioniert, aber man wird mich mit Sicherheit bitten, ehrenamtlich weiter zu arbeiten. Ich werde natürlich zustimmen, allein um mein Pensionärsleben nicht mit meiner zum Gähnen langweiligen Gattin verbringen zu müssen. Aber ich habe sie langsam satt, diese verfluchte lebenslange Knochensortiererei in dieser fensterlosen Bruchbude, den Geruch der Skelettteile, diesen millionenfachen Blick durch die Lupe auf die winzigen Splitter zwischen den Zangenarmen meiner Pinzette.
Längst klemme ich selbst, so mein ungutes Gefühl, zwischen einer Pinzette, kritisch begutachtet von einem höheren Wesen, nur um nach der Prüfung in eine unbedeutende Plastikschachtel abgelegt zu werden: Homo molestus et putidus – der langweilige Mensch – eine aussterbende Art in der Phylogenese der Menschheit. Das personifizierte menschliche Unbehagen sucht nach einem Ausweg in die Freiheit – auch im Alter von über sechzig. Es ist nie zu spät. Aber Mut für ungewöhnliche Schritte sollte man schon besitzen.
Ich meine, die Chance dafür zwischen den Fingern zu halten...
Über Holger Korbjuweits Vergangenheit weiß ich so gut wie gar nichts. Die spärlichen Infos, die ich über ihn besitze, sind mühsam gesammelte Versatzstücke aus seinen Erzählungen.
Holger war, was seine Vita anbelangte, sehr zurückhaltend. Doch so viel schien klar, er kam aus Hannover und aus ganz einfachen Verhältnissen, war Vollwaise und von Pflegeeltern großgezogen worden, die ihm nach ihrem Tod ein wenig Geld vererbt hatten. Holger, der die Mittlere Reife besaß und Buchdrucker gelernt hatte, äußerte häufig den Wunsch, nach Neuseeland auswandern zu wollen, hatte aber nach zweijähriger Gehilfentätigkeit am Hannover-Kolleg als Dreiundzwanzigjähriger sein Abitur nachgeholt und daraufhin zunächst in Göttingen Archäologie studiert.
Dort lernte ich ihn 1973 nach der Zwischenprüfung kennen, als wir im Zuge eines Studienprojektes für Herbert Jankuhns Buchprojekt „Einführung in die Siedlungsarchäologie“ bibliographieren durften.
Holger war unglaublich talentiert, besaß ein nahezu fotografisches Gedächtnis und die geniale Fähigkeit, unkonventionelle und doch absolut logische Schlüsse aus Grabungsfunden zu ziehen. Sein Fachgebiet in jener Zeit waren zwar die Køkkenmøddinger, die Küchenabfallhaufen der jütländischen Ertebølle-Ellerbek-Kultur, doch interessierte er sich immer mehr, wie auch ich, für die Siedlungsgeschichte Haithabus, jenes geheimnisvollen Wikingerortes bei Schleswig an der Schlei.
So konkurrierten wir gewissermaßen um die Gunst Jankuhns, in der ich mich durch Vaters Beziehungen zunächst im Vorteil glaubte, bis Holgers profundes Wissen, sein Scharfsinn und sein einnehmendes Wesen meine auch nicht gerade zu unterschätzenden Bemühungen mit leichter Hand in den Schatten stellten. Er zog an mir vorbei, wurde Jankuhns Lieblingsstudent, wie er auch Wiebke Kaiser zu erobern drohte, unsere attraktive Kommilitonin, die sich der Verifizierung von Theodor Mommsens Thesen verschrieben hatte, dass die bis dato in Kalkriese ausgegrabenen Fundstücke der Armee des Varus zuzuordnen seien.
Wiebke mochte uns, keine Frage, sie schlief mal mit Holger, mal mit mir, verbrachte mal ihre Semesterferien mit mir in Südfrankreich, mal mit Holger in Skandinavien oder wir radelten zu dritt durch die Bretagne und übernachteten gemeinsam in einem winzigen Zelt. Aber intuitiv spürte ich, dass sie sich langfristig für Holger entscheiden würde.
Dann bekamen wir nach unserer Magisterprüfung von Jankuhn das Angebot, im Sommersemester mit ihm nach Haithabu zu gehen, um unseren Förderer bei den dortigen Grabungen zu unterstützen. Es bestünde die Möglichkeit, mit Hilfe eines von ihm bewilligten Stipendiums dort unseren Doktor zu machen und anschließend vom Landesarchäologischen Museum als Wissenschaftlicher Mitarbeiter unbefristet in einer BAT II-Besoldungsgruppe übernommen zu werden.
Das kam einer Verbeamtung gleich und war die Eintrittskarte in eine sorgenfreie berufliche und finanzielle Zukunft.
Von einer solchen Anstellung hatte ich mein ganzes Studium geträumt, das war die Basis für eine Familiengründung, einen Mittelklassewagen und regelmäßigen Urlaub in der Toscana – kurz – diese Stellung war für mich der Garant für ein bescheidenes, aber sorgenfreies Leben mit einem hohen beruflichen Renommee.
Holger und ich wohnten während unseres Doktorandenstipendiums im Ferienhaus meiner Eltern, das in der Nähe von Missunde direkt an der Schlei lag. Eine kleine Motoryacht stand uns zur Verfügung, und wir nutzten fast jedes Wochenende für ausgiebige Bootstouren bis hoch zur Lotseninsel Schleimünde. Vor allem wenn Wiebke von Göttingen anreiste, um uns zu besuchen, war es uns ein Vergnügen, ihr die Schönheit der Fördelandschaft vor Augen zu führen.
Es war eine sorgenfreie Zeit, die wir in jenen Tagen verbrachten, unsere Doktorarbeiten schrieben sich nahezu von selbst, und wir führten das Leben, so kam es uns jedenfalls vor, privilegierter Müßiggänger. Das Einzige aber, was mir ein wenig im Magen lag, war die Erkenntnis beim Gegenlesen unserer Texte, dass Holgers Arbeit substantieller schien als meine, und dass sich Wiebkes Herz wohl endgültig für Holger entschieden hatte, denn wenn sie auf Besuch in Missunde war, übernachtete sie nur noch gemeinsam mit ihm in seinem Zimmer. Ich mutierte langsam aber sicher zum „Guten Freund“ unseres einst so freizügigen Dreiecksverhältnisses.
Aber dann zogen wirklich dunkle Wolken über der Schlei auf. Bereits kurz nach unserem Rigorosum wurde uns von Jankuhn mitgeteilt, dass das Landesmuseum aufgrund finanzieller Kürzungen nur noch einen Wissenschaftlichen Mitarbeiter würde übernehmen können.
Dr. des. Holger Korbjuweit oder mich, Dr. des. Georg Sartorius.
Wenn man sich den Unabänderlichkeiten eines radikalen Planes unterwirft und die Skrupel gegen logisches Handeln eintauscht, verwandelt sich auch das schlimmste Verbrechen zu einer Notwendigkeit, das durch die besonderen Umstände akzeptiert und gerechtfertigt wird und von daher mit leichter Hand ausgeführt werden kann.
Bei mir war das jedenfalls so!
Ich hatte damals alles sorgsam vorbereitet. Als ich nach dem Rigorosum erfuhr, dass nunmehr A21g nach Beendigung und Auswertung meiner Arbeit an einem bestimmten Montag wieder zugeschüttet werden sollte, hob ich an dem vorangehenden Freitag am Boden der Grube ein tiefes Loch aus. Niemand kümmerte sich um mich, niemand fragte, was ich dort tat. Alle Studenten, Ausgrabungshelfer und Archäologen auf dem großen Gelände kümmerten sich um die Bearbeitung ihrer eigenen Areale, und ich bezweifle, dass in dem emsigen Getriebe überhaupt jemand bewusst mein Tun wahrgenommen hatte. Bevor ich die Grube verließ, hatte ich dort noch einen Müllbeutel, eine Schneiderschere und einen schweren Fäustel versteckt.
Am Samstagabend lud ich Holger zum Essen in Schleswig ein. Wir fuhren mit der Yacht von Missunde auf die andere Schleiseite zum Schleswiger Segelverein, vertäuten das Boot am Steg und gingen in unser Lieblingsfischrestaurant direkt an der Uferstraße. Nach dem ausgiebigen Mahl tat ich beim Bezahlen so, als vermisste ich meinen Personalausweis und die Kreditkarte, von der ich vorgab, sie nur an der Grabungsstelle in Haithabu verloren haben zu können.
Wie erwartet, schlug Holger vor, sofort ins Haddebyer Noor zu fahren, an Land zu gehen und gemeinsam nach Ausweis und Karte zu suchen.
Gesagt getan. In völliger Dunkelheit querten wir die Schlei, tuckerten langsam bis nach Haddeby und ankerten in Ufernähe. Die letzten Meter paddelten wir mit dem Schlauchboot an Land und fanden mit unseren Taschenlampen relativ schnell den Weg zu meiner Grabungsstelle. Sofort kletterten wir in die Grube, und Holger leuchtete den Boden ab. Ich griff unterdessen zu dem zuvor dort versteckten Fäustel.
Aufgrund meiner Aufgeregtheit ging der erste Hieb daneben, streifte Holgers Ohr und traf seine linke Schulter. Erstaunt hatte er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht umgedreht und versucht, das Gleichgewicht zu halten, bis er realisierte, dass tatsächlich ich es war, der ihm den nächsten Schlag versetzen wollte. Er schrie kurz auf, wankte hin und her, ließ seine Taschenlampe fallen, die unsere Körper nun von unten beleuchtete, und begann sich zu wehren. Mein Griff an seinen Hals, um ihn zu fixieren, glitt ab, rutschte über sein Kinn und landete mitten in seinem Gesicht, während das letzte Glied meines kleinen Fingers in seinen Mundwinkel geriet. Ich spürte noch seine Zähne, die sich während des folgenden Handgemenges in das Fingerglied gruben, als mein zweiter Schlag mit aller Kraft seine Fontanelle traf, und der Oberkiefer nach unten schlug wie ein Dampfhammer. Ich fühlte zwar keinen Schmerz, wusste aber mit Holgers letzter diesseitiger Bewegung, nämlich dem Heben und Senken seines von unten angestrahlten Adamsapfels, dass er mein abgebissenes Fingerglied in einem finalen Reflex hinuntergeschluckt hatte. Dann war er zusammengebrochen.
Mein kleiner Finger blutete stark, doch gelang es mir mit Hilfe eines Taschentuchs, meinen Zähnen und einem fest zugezogenen Knoten die Wunde provisorisch zu verbinden. Den langsam einsetzenden Schmerz musste ich schließlich umständehalber ignorieren.
Mit der Schneiderschere schnitt ich ihm seine Klamotten vom Leib, packte das Zeug inklusive seiner Schuhe in den Müllbeutel, rollte ihn nackend ins ausgehobene Loch und begrub Holger unter der Erde, bis nichts mehr auf sein Grab hindeutete. Ich nahm das Werkzeug, die Taschenlampen und den Müllbeutel und kehrte auf die Yacht zurück.
Wieder in Missunde angekommen, entsorgte ich Holgers Kleidung und erzählte dem herbeigeeilten Notarzt, nachdem ich ihn angerufen hatte, von einem Unfall beim nächtlichen Anlegemanöver meiner Yacht, und das die dabei abgequetschte Fingerkuppe in die Schlei gefallen sei. Er versorgte die Wunde und brachte mich ins Krankenhaus nach Schleswig, wo die Verletzung für den Heilprozess operativ vorbereitet wurde.
Als ich bereits am Sonntag wieder entlassen wurde, packte ich im Ferienhaus ein paar von Holgers Kleidungsstücken und seinen Kulturbeutel in einen Koffer und versenkte diesen in der Schlei; am Montag fuhr ich nach Haithabu, um mich von der Zuschüttung der Grabungsstelle A21g zu überzeugen. Alles lief glatt und problemlos über die Bühne; nur eines durfte nie passieren: Das Auffinden der Leiche, in deren Magen sich das abgebissene und unverdaute Fingerglied des Mörders befand.
Zwei Wochen später gab ich, nach Rücksprache mit Wiebke, bei der Polizei eine Vermisstenanzeige auf und behauptete, Holger vor vierzehn Tagen zum Bahnhof in Schleswig gebracht zu haben, weil er irgendwelche Freunde in Hannover besuchen wollte und bisher nicht mehr aufgetaucht sei bzw. sich nicht mehr gemeldet habe. Doch weder die Polizei noch Wiebke gingen von einem Verbrechen aus, sondern akzeptierten Holgers Untertauchen als schwer verständliche, aber letztendlich souveräne Entscheidung eines erwachsenen Menschen. Es wurde davon ausgegangen, dass Holger sich seinen langgehegten Wunschtraum erfüllt hatte und wohl stillschweigend, wie es seiner Art entsprochen hätte, nach Neuseeland ausgewandert war.
Ein halbes Jahr später bekam ich meinen Doktortitel und das Archäologische Landesmuseum Schloss Gottorf stellte mich als Wissenschaftlichen Mitarbeiter ein. Mein Finger war inzwischen auch verheilt und niemand fragte mehr nach Holger Korbjuweit. Auch Wiebke nicht. Ein Jahr später wurde sie meine Frau und wir zogen in das Ferienhaus in Missunde, das ich nach dem Tode meiner Eltern erbte. So ging Jahr für Jahr ins Land.
Doch glücklich wurde ich mit Wiebke nicht. Nach zwei Fehlgeburten blieb unsere Ehe kinderlos und unser Zusammenleben entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu dröger Gewohnheit wie auch meine berufliche Karriere zur routinierten Knochenzählerei verkam. Wiebke begnügte sich mit ihrem Hausfrauendasein, wurde kontaktscheu und kultivierte nur noch ihre Schrullen. Reisen waren ihr ohnehin zuwider, und sie verließ nur zum Einkaufen das Haus. Sie konnte entweder stundenlang auf einer Bank sitzen und bewegungslos auf die Schlei stieren oder mich mit endlosen Monologen über ihre tägliche Gartenarbeit anöden.
Meine Abwechslung außerhalb des Institutes bestand und besteht darin, morgens und abends die halbe Stunde mit dem Auto nach Schleswig hin- und herzupendeln. Seit über drei Jahrzehnten!
Es reicht mir langsam!
Im Grunde ist mein Lebenswerk nur ein Kreis mit farblich unterschiedlich gekennzeichneten Sektoren, die den prozentualen Knochenanteil der jeweiligen Tiere angeben, die in der Abfallgrube gefunden wurden, damit man daraus schließen kann, wie hoch der Fisch- und Fleischanteil in der Ernährungsgrundlage eines Wikingers um 800 n. Chr in Haithabu gewesen sein könnte.
Ich drehe den winzigen Knochen, der einst zu meinem Körper gehörte, zwischen den Fingern vor und zurück. Er ist der einzige Beweis nach all den Jahren, der auf mich als Täter verweisen könnte, fände man ihn zwischen Holgers verblichenen Überresten. In ein paar Monaten würde unser Anthropologe mit der Knochendatierung beginnen und schnell feststellen, dass das Skelett nicht länger als 35 Jahre in der Erde gelegen haben dürfte und auf Grund der offensichtlichen Schädelverletzungen die Polizei benachrichtigen.
Aber ich bezweifle, dass überhaupt noch jemand Holgers damaliges Verschwinden mit den Knochen in Verbindung brächte, geschweige denn, seine Identität festzustellen. Natürlich verweist der Fundort auf meine Grabungsstelle, aber wann exakt die Leiche dort verbracht wurde, lässt sich heute eh nicht mehr auf den Tag genau bestimmen, abgesehen davon, dass dieser Umstand auch kein besonderer Verdachtsmoment wäre. Selbst wenn mir im schlimmsten anzunehmenden Fall ein Superkriminalist auf die Schliche käme, wäre mir ein Mord nicht nachzuweisen, höchstens Totschlag, aber der wäre nach 20 Jahren ohnehin verjährt.
Nein – mit dem Verschwinden meines Phalanx distalis V wäre die Angelegenheit ein für allemal vorbei. Niemand würde mich anklagen, und mich ins Gefängnis stecken wollen. Ich würde weiterhin frei sein!
Frei sein?
Ich lache kurz auf, erhebe mich von Jankuhns Drehstuhl, gehe drei Schritte und lege den kleinen Knochen wieder zu Holgers Überresten in den Karton. Dann kehre ich langsam zum Schreibtisch zurück und greife zum Telefonhörer.
Alles, aber auch alles ist abwechslungsreicher und spannender als mein bisheriges Leben!
Aber auch wirklich alles!
Schließlich wähle ich die Nummer der Schleswiger Polizei.
Endlich werde ich frei sein!