Entwurzelte
und
Verblendete
Kriminalsatire
von
Richard Birkefeld
Impressum
Copyright 2011, Richard Birkefeld, Hannover
Ebook-Erstellung: Belbook by Satzweiss.com GmbH
ISBN 978-3-8450-0243-9
Bis August 2017 unter dem Titel "Tod einer Stracke" erschienen.
Alle Rechte vorbehalten.
Für Klaudia
und alle,
die ihren Geburtsort verließen,
ohne diesen Schritt jemals bereut zu haben.
Danksagung:
Mein Dank gilt meiner Frau Klaudia, ohne deren geduldige und selbstlose Unterstützung es mir nicht gelungen wäre, das Buch zu vollenden.
Ferner gilt mein Dank den überaus hilfsbereiten Kolleginnen Karola Hagemann und Susanne Mischke, von deren kriminalistischen und literarischen Sachverstand ich profitieren durfte.
Glückstedt ist ein fiktiver Ort und Alban-Zimny eine fiktive Firma. Ähnlichkeiten oder Zusammenhänge mit bestimmten Begebenheiten, Umständen, Örtlichkeiten oder gar Personen sind unbeabsichtigt und wären rein zufällig.
Ein Schelm, wer dennoch Böses dabei denkt.
Wenn ein kleiner Ort von einer großen Firma abhängig ist, dann bleibt alles auf der Strecke, was sich eine demokratische Gesellschaft erarbeitet hat, vor allem aber Gesetzestreue, soziale Hygiene
und öffentliche Kontrolle.
Dr. phil. Karl-Heinz Bernhard am 23.04.2008 im Plümecke, Hannover
Ich sage ausdrücklich die Schornsteine auf dem Dach, denn wenn man sagt, in Niedersachsen gehen die Leute auch durch die Schornsteine in die Häuser, so ist das eine dumme Lüge, die Leute steigen nicht zu den Schornsteinen hinein, sondern der Rauch geht zur Haustüre heraus.
Georg Christoph Lichtenberg
I dig Bobby Dylan and I dig Johny Cash
And I think Waylon Jennings is a table thumpin‘ smash
Hearin‘ Joni Mitchell feels as good as smokin‘ grass
If you don’t like Hank Williams, honey, you can kiss my ass.
Kris Kristofferson
„Bleib stehen, Ekrem!"
Der Angesprochene ignorierte die Aufforderung und sprang von der Umgrenzungsmauer in den dunklen Schulhof.
„Bleib stehen oder ich schieße!" Lüppertz landete ebenfalls auf dem Boden, stolperte ein paar Schritte nach vorne, verlor das Gleichgewicht und ruderte mit den Armen, bis er unkontrolliert stürzte. Beide Handflächen scheuerten sich blutig und die Knie rutschten schmerzhaft über den asphaltierten Pausenhof.
„Ekrem, bleib stehen!" Er zog seine Knarre aus dem Schulterhalfter. "Ich meine es ernst!" Lüppertz stand wieder auf den Beinen. "Das letzte Mal, jetzt! Oder ich ballere dir in die Knie!"
„Du mich schießen?" Die Stimme des Flüchtenden höhnte über das nächtliche Schulgelände. „Du nicht mal treffen Loch von Frau, wenn sie will ficke mit dich. Du Bulleschwein, verdammte..."
„Jaaaaa, ja, ja! Mein Gott, Ekrem. Ich weiß, ich bin eine blöde Bulleschwein, ein Knüficka, ein Flachwixa, ein Hureson, ein Masserfacker, 'n Pollizist ohne Univorn. Ich weiß das alles, Ekrem, ich bin eine Darmgeburt, und meine Mutter hat gefickt mit alle Männer aus die Stadt und weiß nicht Name von Vata und deswegen heiße ich Wolf, nicht wie normale Mensch, sondern wie Tier, wie Hund oder so´n enliches Schwein. Und deswegen kann ich ganz schlecht schießen, besonders wenn ich so ´n Vollfachmann aus ´m Kosovo vor mir habe, der sich in political correctness geriert, sollte er sich von deutsche Bulleschwein dizkriminalosierte sehn. Auch ich hab Rechte, Mann, und die beweis mich erst mal!"
Die Sache war nicht einfach. Er kannte die Kosovo-Problematik, er wusste, dass die ganze Ethnie nur im Land geduldet wurde. Finanziert von Steuergeldern und zum Nichtstun verdammt, verursachten einige dieser Zeitgenossen völlig humorlos eine Schwierigkeit nach der anderen.
Natürlich – es gab auch gesetzestreue Roma, die Mehrheit wahrscheinlich, aber die kannte er so gut wie gar nicht. Er kam hauptsächlich nur mit denjenigen in Kontakt, die straffällig wurden. Bei Bulleschweinen war das so, Bulleschweine wühlten immer nur im Dreck jeder Gesellschaft, im Bodensatz der einheimischen oder zugewanderten Soziotope herum.
Auch bei einigen der Jungs aus dem Kosovo ließen sich bisher keine Trüffel erschnüffeln. Aus tiefer Dankbarkeit für die Asylvergabe, beklauten manche ihren Gastgeber, vorzugsweise Kaffeekassen, Fahrräder, Handtaschen oder einfach nur Baumwollschlüpfer bei Woolworth oder Takko. Meistens aber dealten sie mit Medikamenten, welche unter anderen Migranten blisterweise verhökert wurden.
Nur Typen wie Ekrem hatten die Kleinkriminalität wie Masern überwunden, klauten nun Autos und verkauften sie an Polen, handelten mit Koks und Äitsch und versuchten, wenn sie Knete gemacht hatten, ins Rotlichtmilieu am Steintor einzusteigen. Doch die dortigen Luden aus Albanien machten das, was sie auch in ihrer Heimat taten. Sie schlugen die Konkurrenz wie Ungeziefer tot und schmissen sie in die Leine, bis ihre aufgeblähten Leichen an der Wasserkunst in Limmer an die Oberfläche trieben und dort harmlose Spaziergänger erschreckten.
Ekrem Rushdi hielt sich allerdings für schlauer. Er hatte sich auf Einbrüche spezialisiert, durchstreifte auf nächtlichen Beutezügen mit dem ein oder anderen Komplizen ganz Niedersachsen und machte mit der Sore nicht nur „dicke Schotter", sondern auch auf dicke Hose. Ekrem streute das Gerücht, er besäße bereits einen Puff in der Nähe von Göttingen und Kunden mit Kreditkarten „aus Gold und Platin - Platin, ey, du nicht kennen Platin, ey? Das dreimal teuer wie Gold". Ekrem hatte schon einmal gesessen, doch ausweisen wollte ihn die zuständige Ausländerbehörde nicht, bestand doch die Gefahr, dass die Albaner in seiner alten Heimat ihn wie 'ne Ratte totschlugen und in die Drin warfen. Außerdem hatte Ekrem eine positive Sozialprognose: Aus „tiefe Dankekeit“, nicht ausgewiesen worden zu sein, wie er vor Gericht bekundete, „und große Respekt vor deutsche Rechtsprech" gelobte er reumütig, „gut zu sein für deutsche Land bis Tod". Außer den Psychologen, den Lehrern, den Evangelisch-Reformierten und den Veganern glaubte ihm niemand, doch unter den Gutmenschen ist der Skeptiker nun einmal der uneheliche Sohn des Misanthropen.
Ekrem jedenfalls schiss nach seiner frühzeitigen Entlassung auf seine Sozialprognose und widmete sich wieder der Finanzierung des Freudenhauses.
Doch vor zwei Monaten hatte ihn die Verkäuferin einer Tchibo-Filiale in Lehrte als den Täter identifiziert, der ihr die Tageskasse geraubt hatte und diese Nacht war er sogar in flagranti beim Versuch erwischt worden, in einer Apotheke am Jahnplatz einzusteigen - und in dieser Nacht war es ihm außerdem noch gelungen, den Streifenkollegen wieder zu entwischen, obwohl sie ihn schon gefasst, identifiziert und das LKA informiert hatten. „Glitschig wie´n Fisch" und „Ölig wie´n Schmiernippel" lauteten die Entschuldigungen der Polizisten, als er eintraf und nach Ekrems Verbleib fragte. „Schwupp – auss´em Streifenwagen raus und wie´n geölter Blitz die Phillipsborn runter - wir wollten gerade hinterher!"
„Na, dann mal los!"
In der Alemannstraße hatte er Ekrem schließlich entdeckt, als dieser bereits die Mauer der dort befindlichen Volksschule erklommen hatte.
Zur Sekunde versuchte der Flüchtende aber, auf der gegenüberliegenden Seite des Schulhofes in Richtung Grabbestraße wieder auf die Mauer zu gelangen.
Für Lüppertz war das zwar nicht ohne weiteres in der mondlosen Nacht zu erkennen, doch er kannte die Lehranstalt, den Pausenhof, die Mauer und die Maschendrahtzäune, die das Gelände zur Grabbe-, Halkett- und Alemannstraße abgrenzten. Er war hier in den Fünfzigern zu Schule gegangen, als bei der alten Brockmann der Liter Buttermilch noch 15 und die echten Salmis aus der Apotheke nur 30 Pfennige kosteten. Das waren noch Zeiten - da liefen Lüppertz und seine Kumpel in kurzen Lederhosen rum, schwärmten für Victor Mature, Fernandel und Fuzzi und verkauften ihre Seelen an der Nebgen-Bude am Jahnplatz für ein Nappo oder für Heinerles Wundertüte.
Das war hier sein Heimspiel, normalerweise, vertrautes Terrain. Deutsche Geschichte - nun gut - Heimatgeschichte, vielleicht, besser Heimatkunde, auf alle Fälle aber sein Stadtteil, seine Schule, seine Straße, sein Block.
Sein Ding war das. Das war das Soziotop eines Vahrenwalder Buttjers und nicht das Jagdgebiet eines Kriminellen aus dem Kosovo.
Doch letzterer scherte diese Erkenntnis einen feuchten Kehricht.
Rushdi hatte es tatsächlich geschafft. Er stand erneut auf der Mauerkrone, hastete, von den Straßenlampen von hinten beleuchtet, wie ein animierter Scherenschnitt über die Begrenzung und hoffte wahrscheinlich Ecke Voltastraße, dort, wo die Schulmauer auf die Straßenbahnhäuser traf, sich mit einem gewagten Sprung in Richtung Vahrenwalder Platz vor dem Zugriff zu retten.
Der Mann bot vor dem Hintergrund der Straßenbeleuchtung eine geradezu ideale Zielscheibe. Er könnte - wenn er wirklich wollte - sogar das verfluchte Knie des Bastards treffen - doch der Humanist in ihm schickte den Rassisten vom Schulhof.
„Bleib stehen, Rushdi, oder ich schieß dir ins Knie!"
„Leck mich!"
„Bleib stehen, verdammt!"
„Vick dich selber!"
„Bleib endlich stehen oder ich knall dich ab, du dämlicher Zigeuner!" Der Rassist war schnell und ziemlich laut zurückgekehrt.
„Faschiiist, du deutsch Hitler!" Die Beleidigung zeigte Wirkung. Rushdi blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Du deutsch Nazischwein, du mich können lecken Schwanz, wenn ich dich gefickt in Arsch..." Ekrem kniete nieder und war im Begriff, auf die andere Seite der Mauer zu springen.
„Rushdi, Schluss jetzt, bleib jetzt stehen oder ich fiefe..."
Der Verfolgte verharrte in seiner Bewegung, setzte sich mit seinem Gesäß provozierend langsam auf die Mauerkrone und ließ seine Beine auf der anderen Seite herunterbaumeln. „Ich richtig verstehen? Du willst fiefen? Mich erfiefen?" Ekrem äffte ihn gekonnt nach und lachte auf. Er legte den Kopf in die Hand des aufgestützten linken Arms, während sein Unterkörper langsam auf der anderen Seite der Mauer herunterglitt. „Dir Gebiss schon klappern? Du alte Frau?"
Verfluchter Mist aber auch!
Lüppertz presste die Hand vor den Mund. Der Lauf der SIG Sauer P 6 bohrte sich dabei in sein linkes Auge.
„Drück ab, Wixa, unter Blinde ist Einäugige Chef!"
Es war zum Verzweifeln! Während seine Zunge vergeblich versuchte, die Prothese am oberen Gaumen zu fixieren, stellte sich jener Brechreiz ein, der all seine Aktivitäten paralysierte. Er beugte sich nun mit tränenden Augen nach vorne und glich einem Uhu, der sein Gewölle herauswürgen wollte. Lüppertz stand auf dem Schulhof, stützte seine Hände, eine davon mit der Knarre bewehrt, auf die Knie und versuchte normal zu atmen, ohne kotzen zu müssen.
„Du hast Problem mit Zähne?" Rushdi schien plötzlich Zeit zu haben.
Lüppertz konnte nur noch den Kopf des Mannes erkennen und dessen verschränkte Oberarme, die dem Flüchtenden auf der Mauer Halt gaben.
„Ey, Mann, guckst du hier!" Rushdi bleckte seine Zähne. "Mich kosten wie Kleinwagen - aber gehört mich für immer - Schmuckgeld, du verstehen?"
Lüppertz konnte trotz der Dunkelheit ebenmäßige Goldzähne im in Rushdis Gesicht aufblitzen sehen, in denen Smaragde und Rubine eingearbeitet waren, die das Licht der Straßenbeleuchtung reflektierten.
Ein Gebiss wie die Illumination eines Laubenpieperfestes.
„Hass du Schpinat zwischen den Fähnen oder Tomatenmark?" Lüppertz nahm die Prothese aus dem Mund und steckte sie in seine Jackentasche. So ließ der Würgereiz wenigstens nach. "Du denkst, du kannst die Sore in Vähnen investieren, denkst, die Staatsanwalftsschatz schaut dir nicht ins Maul, nicht wahr?"
„Leck mich!"
„Die reißen dir den Hintern bis fur Fontanelle auf, nur um an deine teuren Fähne fu kommen."
„Du das glauben allein, Bulleschwein!“ Ekrem verschwand hinter der Mauer.
Lüppertz wusste, dass es ihm nicht gelänge, sich ebenfalls über die Mauer zu schwingen, dennoch strich er auf seiner Seite der Schulhofmauer den Laufgeräuschen des Flüchtenden auf der anderen Seite folgend immer an der Wand lang.
Immer an der Wand lang? War das nicht so ein alberner Schlager aus seiner Jugendzeit? Immer an der Wand lang!
„Du mich immer noch folgen, Bullenwixa?" Etwas kurzatmig quoll die Stimme über die Schulhofmauer. "Ihr nicht nehmen könnt Zähne. Das Infeztion. Das nix Geld verloren. Ich nicht glauben, dass deutsche Richta brechen aus Mund Goldzähne, wie in KZ mit Juden."
Da war was dran! „Ich erwisch dich noch, Ekrem, verlass dich drauf, und wenn es das Lefzte ist, was ich tun werde."
„Ey, Mann", Ekrems Hohn schmerzte in Lüppertz Ohren, "den Zahn ich mir auch noch würde ziehe lasse!"
Den Laufgeräuschen nach zu urteilen, bog seine Zielperson gerade in die Voltastraße ein, um sich über die Fußgängerpassage in Richtung Freizeitheim abzusetzen.
Das war's. Ekrem Rushdi hatte sich verabschiedet und tauchte höchstwahrscheinlich erneut bei einen seiner Verwandten ab, die über die ganze Republik verteilt waren.
Für Lüppertz war der Einsatz beendet. Er kehrte zum Streifenwagen zurück und wartete auf seine uniformierten Kollegen, die wenig später atemlos und frustriert eintrafen, ohne auch nur einen Hemdzipfel des Flüchtigen gesehen zu haben.
Lüppertz verabschiedete ich von den Polizisten und fuhr ins Büro am Welfenplatz, um seinen Vorgesetzten Dannenberg einen Bericht zu erstatten, der ihn nicht zu einem hilflosen Idioten abstempelte.
Es galt nämlich wieder einmal zu verschweigen, warum eine alberne Haftcreme Schuld daran war, dass ihm ein schon gestellter Krimineller wie Ekrem Rushdi trotzdem noch entwischen konnte.
„Warum hast du mich nicht angerufen?"
„Ich bin grade nach Haus gekommen, hab mich ausgezogen, gewaschen, Zähne geputzt und wollt mich justement ins Bett hauen..." Lüppertz stand nackend vor dem Kleiderschrankspiegel und betrachtete seinen Körper. Seitlich, von vorne, dann etwas breitbeinig mit tief eingesogener und angehaltener Luft. Es half aber alles nichts: Irgendwie sah er aus wie ein mit Streichhölzern zusammengestecktes Kastanienmännchen.
„...hättest du mich denn noch angerufen?"
„Ich glaub nicht. Guck doch mal auf die Uhr. Ich bin totmüde und das war heute nicht gerade mein Tag."
„Den ganzen Tag hast du nicht angerufen!"
„Ich bin im Dienst, ich kann nicht immer Privatgespräche führen." Lüppertz legte das Handy auf das Nachtschränkchen und schlüpfte in seine Pyjamahose.
Er hatte sie vor einem dreiviertel Jahr bei Freunden kennengelernt, die ihn unbedingt mit ihr verkuppeln wollten. Die hat was an den Füßen, Wölfi, die ist eine gute Partie, die kommt aus einer wohlhabenden Familie, ist attraktiv, hat keine Kinder und ihr verstorbener Mann war ein betuchter Immobilienmakler. Die hat Geld wie Heu, die müsste nicht in der Jakobistraße wohnen.
Seine Freunde hatten recht. Doro war äußerst attraktiv, gebildet, eloquent und keineswegs blasiert. Er mochte sie auf Anhieb, beflirtete sie ungeniert, erzählte charmant und nicht ohne Selbstironie von seinen tollsten und gefährlichsten Abenteuern im Dienste des LKA Niedersachsens und hatte schließlich bereits am ersten Abend bei ihr Erfolg. Sie verabredeten sich. Doch sie besaß, wie sich dann schnell herausstellte, eine nicht so angenehme Eigenschaft, die immer deutlicher zutage trat.
Dreimal Essengehen bei Boninsegna auf der Lister Meile, zwei Fahrradtouren zum Würmsee und am Kanal entlang bis zur Misburger Schleuse, zwei Spaziergänge in der Eilenriede mit anschließendem Besuch im Biergarten am Lister Turm, und schon vermittelte Doro ihm das Gefühl, ohne sie das Leben einer Monade gefristet zu haben. Nach zweimaligem gemeinsamen Kochen bei ihr, bei dem sie eine hervorragende italienische Spezialität mit vier Gängen zauberte und ihn anschließend zum Blümchensex verführte, verdichtete sich der Eindruck, dass Doro sich mehr als nur bei ihm eingehakt hatte.
Als er ein paar Tage später mit einem Chateaubriand beeindruckte, das auf der Zunge zerging und ihr nach einem gelungenen Dessert zeigte, das ihr zukünftiger Sex auch ein wenig schmutzig sein durfte, da knutschte sie ihn am ganzen Körper so hingebungsvoll ab, dass ihm schwante, für den Rest seines Lebens hinterm Herd stehen zu müssen. Doch wiedererwartend kochten sie nicht mehr, wenn sie sich nun nahezu täglich trafen, sondern fielen ohne große Präliminarien übereinander her, manchmal wortlos, egoistisch und voller Leidenschaft. Während Doro danach schweißnass von gemeinsamen Fernreisen schwärmte, von großzügig geschnittenen Wohnungen in Waldheim oder von günstig zu kaufenden Häusern in der nördlichen Wedemark, verspürte er immer stärker einen unbändigen Brand nach einem kühlen Herrenhäuser bei Plümecke, nach einem philosophischen Arbeitsbesäufnis mit seinem alten Kumpel Kalle Bernhard.
„...deshalb kann von immer auch nicht die Rede sein", er hatte das Handy wieder aufgenommen. "Zeit für ein, zwei Gespräche, um zu signalisieren, dass du an mich denkst, findest du doch wohl immer - es sei denn..."
„Doro, ich ruf dich morgen an, versprochen, aber jetzt lass mich bitte, bitte schlafen, ich bin total erschöpft und hab keinen Nerv mehr für derartige Diskussionen. Also, gute Nacht und schlaf schön!"
Lüppertz drückte die Austaste, legte sich ins Bett, überprüfte den Wecker und löschte die Nachttischlampe.
Eine Sekunde später weckte ihn Kris Kristoffersons "Don't let the Bastards get you down". Er hatte sich den Song vor Monaten als Klingelton aufs Handy geladen, um a priori bei Anrufen immer aufs Schlimmste gefasst zu sein.
„Was gibt es denn noch...?" Er kannte seine Pappenheimerin.
„Weißt du, Wolf, du solltest dich nicht so gönnerhaft geben und versuchen, mich weg zu scheuchen wie eine lästige Fliege."
„Doro, bitte, niemand versucht, dich..."
„Du glaubst, ich will mich an dir festklammern, meinst wohl, ich könnte nicht alleine sein, brauch einen Mann, wie 'ne läufige Hündin einen Rüden..."
„Aber nein, Doro, ich meinte letztes Wochenende nur, dass du vielleicht außer mir noch etwas anderes in den Lebensmittelpunkt rücken solltest..."
„...würde mich nur über dich definieren. Weit gefehlt, mein Freund, so ein großes Los bis Du nun auch wieder nicht."
„Doro, bitte nicht wieder diese Nummer!" Er richtete sich auf und knipste die Nachtischlampe an.
„Guck dich doch mal an - ein Adonis bist du nicht gerade. Gut, mit Ende Fünfzig braucht man das auch nicht mehr zu sein."
„Du siehst mit Ende Vierzig klasse aus, du hast eine tolle..."
„Geschenkt, Wolf! Ich meine ja nur, wenn man eine Figur hat, wie ein Kartoffelmännchen..."
So änderten sich also die Methoden. In seiner Zeit sammelte man in der ersten Schulklasse noch Kastanien und steckte sie zusammen, zehn Jahre später, also mitten im Wirtschaftswunder, hatte man anscheinend Kartoffeln dazu benutzt. In seiner Zeit wäre das als Lebensmittelvergeudung gebrandmarkt worden.
„...dann sollte man keine allzu dicke Lippe riskieren, eher dankbar sein, wenn..."
„....wenn man von einem solch engelsgleichen Wesen wie du es bist erhört und beglückt wird?"
„Du bist ein Arsch, Wolf, Ironie ist hier völlig fehl am Platze, weißt du, ich ertrag schon deinen Bierbauch, halte das schon aus, dein schütteres Haar, das ist doch nicht das Problem... Im übrigem ertrage ich sogar - obwohl ich gestehen muss, dass es zunächst ein Schock für mich war, als ich kürzlich erst bemerkte, dass du ein Vollprothesenträger bist. Ich hatte mich schon gewundert, warum du aus dem Zähneputzen immer so ein Geheimnis gemacht hast, aber als ich zufällig sah, wie du so ein Zeug in die Zähne gedrückt und dir dann die Dinger in den Mund gesteckt hast - das war schon recht befremdlich. Aber dennoch..."
Lüppertz hatte sich mittlerweile auf die Bettkante gesetzt und betrachtete das dickliche Männchen im Schlafzimmerspiegel, das ein Handy ans Ohr hielt, während sich dessen weißer Bierbauch über eine gestreifte Pyjamahose wölbte und ihn blöde anstarrte.
„...mag ich dich doch. Ich will ja nur damit sagen..."
„...dass ein zahnloses, dickbäuchiges und dünnhaariges Arschloch, wie ich, für die Zuneigung eines Hardbodies dankbar sein und ihn jeden Tag zwei- bis dreimal anrufen sollte, nur um ihm zu zeigen, dass er diese Gunst zu schätzen weiß. Ist es in etwa das, was du hören wolltest, Doro?"
Schweigen.
„Doro? Ist es das?"
Keine Antwort.
„Ist es das wirklich?"
„Ja!" Ihre Stimme klang nun ruhig, gelassen, irgendwie resolut. „Ich gebe zu, dass mich deine Jungmännerfotos durchaus beeindruckt haben und ich bin sicher, dass du mir damals auch gefallen hättest, nur so vom rein Äußerlichen, meine ich, aber heute, Wolf, solltest du einfach mal kleinere Brötchen backen, du wirst einfach älter, und das merkt man dir an allen Ecken und Enden an, auch im Bett."
„Es reicht, Doro!" Er blickte in ein altes, faltiges und müdes Gesicht. „Gib der Beziehung eine Chance und lass uns mal pausieren" Er drückte den Ausknopf, hielt das Handy aber weiterhin in der Hand.
Don't let the Bastards get you down!
„Ja?"
„So nicht, Freundchen. Ich bestimme, wann wir Pause machen. Ich lass mich doch nicht weg..."
Handy aus.
Don't let the Bastards get you down!
Nachttischlampe aus.
Don't let the Bastards get you down!
Es war aus. Alles aus und Augen zu.
Prüfend glitt seine Zunge über den Plastikgaumen.
Alles saß superfest. Diese Nacht konnte ihm nicht mehr allzuviel passieren.
Und Kris hielt schließlich auch die Schnauze.
Er kannte ‘mal einen Peter Dannenberg, der hieß nicht nur Dannenberg, der kam auch aus Dannenberg und wohnte sogar in der Dannenbergstraße.
So etwas gibt es tatsächlich!
Joachim Dannenberg hingegen, sein Chef, kam aus Celle, wohnte seit einigen Jahren in Ihme-Roloven an der Dorfstraße und wäre bei der Erwähnung des besagten Namenvetters aus Dannenberg wohl an die Decke gegangen. Denn für alberne Späße schien momentan nicht die richtige Stimmung zu herrschen. Der Kopf seines Chefs war leicht gerötet und ein untrügerisches Zeichen dafür, dass er aufs Äußerste erregt war. Auch die normalerweise sonore Stimme des Alten lag eine Nuance höher als sonst, und schien die Endsilben der Worte mit leichten Vibrationen zu umspielen.
Seit gut einer Viertelstunde saß Lüppertz in einem Freischwinger vor dem Schreibtisch seines Chefs und ließ die Standpauke mit nahezu stoischer Gelassenheit über sich ergehen. Er kannte das Gezeter des Alten, das ging zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus, und zwar so schnell, dass er den Zusammenhang der Sätze kaum registrierte. Lüppertz hing seinen eigenen Gedanken nach und suchte einen Ort, der auch als Berufsbezeichnung taugte.
So etwas wie Fritze Fisch aus Fisch, wohnhaft im Fischweg, Beruf Fischer. Naja, besser schon, Heiner Heide aus Heide, Heidechaussee, Konfession keine – also Heide. Oder der Forstbeamte Volker Forst aus der Forststraße in Forst.
„...das dritte Mal bereits...am Ende mit meiner Geduld...eine sinnvolle...“
Vielleicht ging es mit dem Örtchen Wart oder Zicker. Aber was war ein Zicker? Zacharias Zicker aus Zicker an der Zicker, ein Rumzicker erster Güte? Nein – das war es noch nicht, wonach er suchte...
„...in den Innendienst versetzen...“
„Wie bitte?!“ Unwörter wurden zwischen seinen Ohren ausgesiebt wie in einem Computerprogramm. Früher nannte man das Instinkt, heute geistige Festplatte, aber so oder so, beim Wort Innendienst gingen nun mal alle Alarmglocken an, selbst wenn er gerade den passenden Ort gefunden hatte. „Wieso Innendienst?“
„Haben Sie nicht zugehört, Lüppertz?“ Dannenberg, der die ganze Zeit bewegungslos hinter seinem Schreibtisch gesessen hatte, beugte sich nun nach vorne, ergriff einen Kugelschreiber und fuchtelte damit in der Luft herum. „Das ist ein Handicap, was Sie haben, erst dieser Dealer im letzten Winter, der Zugriff am Steintor verkackt, total verkackt, Kotze statt Knebel und jetzt, bereits zum zweiten Mal, dieser Berufsverbrecher aus dem Kosovo, dieser Edrush Sowieso...“
„Ekrem Rushdi.“
„Sag ich doch! Nach seiner ersten Verhaftung konnte die Staatsanwaltschaft knapp 80.000 Euro ausbuddeln, die der Typ irgendwo in der Wedemark gebunkert hatte. Jetzt ist dieser Hamster schon wieder aktiv, weil gutgläubige Gutachter ihm auf den Leim gegangen sind. Wieviel Einbrüche und Raubüberfälle gehen seit seiner Entlassung auf sein Konto?“
„Sicher sind vier, wahrscheinlich sind es aber weit über ein Dutzend. Die Perseveranz deutet jedenfalls darauf hin.“
„Eben – und Sie lassen den Typen durch die Lappen gehen. Das muss man sich einfach mal vorstellen.“ Dannenberg ließ den Kugelschreiber achtlos auf die Schreibtischplatte fallen. „Nur gut, dass die Presse diese Nullnummer nicht mitgekriegt hat, mannomannomann. Da liegen doch schon wieder irgendwelche Reichtümer in der Wedemark vergraben. Oder?“
„Wohl kaum – Ekrem investiert gerade in Zähnen!“
„Woll‘n Sie mich verarschen, Lüppertz, die ganzer Zeit rede ich von Ihrem Gebiss, jetzt kommen Sie mir mit den Zähnen von diesem Rudi...“
„Ekrem Rushdi!“
„Ja – und?“
„Der investiert die ganze Sore in sein Kauwerkzeug, Goldzähne gespickt mit Rubinen und Smaragden.“
„Wie?“
„Der lässt die Edelsteine implantieren. Der trägt im Mund ein Gebiss im Werte von – schätzungsweise – 25 bis 40.000 Euro. Wenn der sich noch die Molaren vergoldet, wächst der Wert nach jeder zahnärztlichen Behandlung ins Unermessliche – und wir kommen da nicht dran.“
„Diese elende Asylantenmade!“ Der Rassist in Dannenberg kam kurz zum Vorschein, versteckte sich dann aber wieder schnell hinter einem überraschten Gesicht. „Und jetzt?“
„Kreative Staatsanwälte, neue Gesetze oder erweiterte zahnärztliche Bestimmungen sind gefragt. Dann könnten Ekrem’s Zähne qua Gesetz vom Facharzt wieder herausgebrochen werden, wenn nachgewiesen würde, dass er sich das Geld für die Kostenerstattung widerrechtlich angeeignet hat.“
„So was kriegen wir in diesem Lande niemals durch.“ Dannenberg stand auf, ging zum Fenster und blickte auf den Welfenplatz. „Aber das soll Ihre Sorge nicht mehr sein.“
„Wie bitte?“ Lüppertz` Kopfhaut zog sich zusammen.
„Mit den Einsätzen ist es für Sie vorbei, da müssen wir gar nicht lange um den heißen Brei herumreden“, Dannenberg ging zum Schreibtisch zurück, mied dabei aber den Blickkontakt, „Ihr Problem ist Ihr Gebiss, Lüppertz.“
„Moment mal“, seine Stimme schrillte ein wenig, „meine Zähne haben damit nichts...“
„Geschenkt, Lüppertz“, wurde er vom Alten unterbrochen, „das ganze Amt weiß Bescheid. Bevor Sie vollends zum Gespött der Kollegen werden, sollten wir eine humane Lösung finden, die allen Seiten gerecht wird. Außerdem möchte ich nicht, dass über einen bisher so hervorragenden Beamten, wie Sie es nun einmal unstrittig sind, hinter vorgehaltener Hand gelacht wird. Das haben Sie einfach nicht verdient.“ Als sich Dannenberg wieder in seinen Schreibtischsessel fallen ließ, blickte er Lüppertz fest an. „Die Versetzung in den Innendienst ist aber einfach unvermeidlich.“
Lüppertz bäumte sich auf. „Wollen Sie mich umbringen, Chef!“ Er stemmte sich aus seinem Freischwinger. „Ihr wollt mich aufs verdammte Abstellgleis schieben? Dann schickt mich doch gleich in die Frühpension zum Briefmarkensammeln oder zum Rasenmähen oder zum Kreuzworträtsellösen oder noch besser: schickt mich doch gleich in die Klappse zu den Pflegestellen, zu den zahnlosen Schnabeltässlern!“ Jetzt rannte Lüppertz zum Fenster. „Das kann doch wohl alles nicht wahr sein!“
„Ich war noch nicht fertig, Lüppertz“ Dannenbergs Stimme klang verständnisvoll. „Sie haben mich unterbrochen. Ich wollte gerade sagen: Die Versetzung in den Innendienst ist aber unvermeidlich, wenn wir den unhaltbaren Zustand in Ihrem Mund nicht ändern können“.
„Was heißt das?“ Er kehrte langsam zum Stuhl zurück, blieb aber hinter ihm stehen und stützte sich leicht vorgebeugt auf den Armlehnen ab.
„Also – ich habe mit Doktor Soltendieck gesprochen. Der meinte, Sie sollten sich die Zähne fest in den Kieferknochen schrauben lassen. Das ist zwar eine etwas aufwändige Operation, aber danach säßen die Dinger so fest, dass Sie glaubten, es wären Ihre eigenen.“
„Soltendieck!“ Er stöhnte auf. Der Vertrauensarzt Soltendieck war der einzige Zahnklempner, den er kannte, der aus dem Mund roch, wie eine Kuh aus dem Arsch und Betäubungsspritzen so inhaltsvoll setzte, dass man während seiner Behandlung halluzinierte, als wäre man auf einem Trip.
Mit einem Seufzer setzte er sich wieder in den Freischwinger. „Heiß ich Ekrem Rushdi? Heiß ich Dannenberg? Eine solche Behandlung kann ich mir finanziell nicht leisten. Wissen Sie, was das kostet? Da krieg ich eine Kompaktklasse für. Mit Klimaanlage.“
„Ich weiß“, Dannenberg nickte zustimmend, „deswegen habe ich mich gleich nach Alternativen erkundigt. Soltendiek hat bekanntlich gute Beziehungen zur MHH. Nach zwei, drei Anrufen hatten wir die Lösung für Sie gefunden. Nächste Woche fahren Sie nach Glückstedt, das ist ein kleiner Ort in der Nähe des Südharzes, dort gibt es eine Firma, die heißt Alban-Zimny Denture-Art, Weltmarktführer in Zahnprothetik und Zahn-IT, die lösen Ihr Problem, Lüppertz, mit absoluter Sicherheit. Der Slogan der Firma heißt: Forever chewing with high-end-teeth-tech.“
„Schön und gut, aber die kosten mich dann mindestens einen Mittelklassewagen. Die sind doch noch teurer als der Zahnarzt an der Ecke.“
„In Ihrem Falle aber nicht. Soltendieck hat das alles schon geregelt. Alban-Zimny sucht ständig dentale Herausforderungen. Zur Zeit arbeitet die Firma an der Weiterentwicklung einer Vollprothese auf der Basis von Myotechnik und neuralen Impulsen. Eine Prothese, die wie angewachsen sitzt. Fragen Sie mich nicht, wie das funktioniert, ich habe mir nur sagen lassen, das ist wohl zur Zeit das coolste und hippste Modell, das auf dem Markt ist, ein must-have für alternde Society-Ladies und amerikanische Schauspielerinnen, für reiche alte Säcke, Rugbyspieler oder Boxer, für Berufssportler eben, die während der Ausübung ihrer Tätigkeit die Zähne verloren haben – genauso wie bei dem einen oder anderen Polizisten, der in der schweren Last des täglichen Einsatzes gegen das Berufsverbrechertum seine Zähne einbüßen musste. Alban-Zimny wird Ihre Zahnbehandlung unter der Rubrik humanitäre Verpflichtung abschreiben. Die Sache kostet Sie also keinen Cent, Lüppertz. Im Erfolgsfall will die Firma mit Ihrem speziellen Fall nur ein wenig Reklame machen.“
„Im Erfolgsfall?“ Zwischentöne wurden auf der Speicherplatte auch registriert.
„Nun gut“, Dannenberg senkte den Blick und schien wieder nach dem Kugelschreiber zu suchen, „Soltendieck meinte, das Modell sei zwar schon ausgereift und bereits auf dem Markt, aber jeder neue Proband trüge zur Perfektionierung der Technik bei.“
„Proband, also!“ Die Geschichte hatte gut begonnen, der Abgang kratzte aber leicht im Hals. „Ich wäre gewissermaßen ein Versuchskaninchen für dieses Myo-teeth-tech-Teil, oder? Habe ich das richtig verstanden?“
„Irgendwie schon, Lüppertz“, Dannenberg hatte den Kuli wieder in der Hand, „aber nun stellen Sie sich nicht so an wie ein kleines Mädchen, dass den Verlust der Milchzähne beklagt. Was kann Ihnen denn schon groß passieren? Sie haben doch nichts zu verlieren! Entschuldigen Sie, Lüppertz, aber Sie haben doch keinen einzigen Zahn mehr im Mund. Also hätten Sie auch nach einer misslungenen Behandlung keinen weniger.“
Da war was dran! Er besaß zwar noch vier Zähne, die die untere Prothese hielten, aber sein Stolz ließ es nicht zu, mit Dannenberg über die Anzahl der im Mund verbliebenen Relikte zu feilschen.
Seine Zunge benetzte den Plastikgaumen und er drückte die Prothesen aneinander. Kleiner Test. Alles saß noch fest. Für einen kleinen Moment zog er die Unterlippe zwischen seine Zähne. „Gut! Wie lange würde die Behandlung dauern?“
„Soltendick schätzte so auf zwei bis drei Wochen – maximal vier.“
„Meinen Jahresurlaub nehme ich aber nicht dafür!“
„Das brauchen Sie auch nicht. Soltendieck schreibt Sie für den Zeitraum krank, alles andere regele ich dann schon. Nur für die Unterkunft vor Ort müssten Sie selbst aufkommen.“
„Und wenn alles problemlos über die Bühne geht, ich meine, wenn dieser high-tech-Apparillo zwischen meinen Backen steckt und ich wieder kauen kann bis ans Ende meiner Tage, dann ist der Innendienst vom Tisch?“
„So wahr ich Dannenberg heiße!“
„Gut – dann fahre ich nächste Woche nach Glückstedt ins schöne... Wie heißt die Gegend da noch mal?
„Eichsfeld.“
Ach – das Eichsfeld! Glückstedt lag also im Eichsfeld. Ehemaliges Zonenrandgebiet, bekannt für luftgetrocknete Mettwürste und einem naiven Katholizismus. Kamen seine Vorfahren mütterlicherseits nicht auch aus dem Eichsfeld, aus Niederorschel? Na schön – back to the roots. Urlaub im schönen Eichsfeld mit kleinen Inspektionen im Mundraum. Es gab wohl Schlimmeres.
Lüppertz lehnte sich im Freischwinger zurück. Beim Alten hatte er einen Stein im Brett, keine Frage, der Innendienst war abgewehrt, wahrscheinlich auch von Dannenberg nie ernsthaft ins Auge gefasst. Vielleicht glaubte man nur, er habe Angst vor Zahnärzten und man müsse ihn ein wenig nach Glückstedt schubsen. Im Grunde war er ganz froh über diese Lösung, denn seine Prothesen waren eine Katastrophe. Die Aussicht, am Ende kostenlos ein Supergebiss wie ein alter reicher Sack im Mund zu haben, war verlockend und wurde auch nicht von seinen schlechten Erfahrungen mit aus dem Munde riechenden Zahnärzten getrübt. Hauptsache, die Alban-Zimny-Klempner hielten das, was die Slogans der Firma versprachen. Nicht dass aus kleinen Inspektionen langwierige Inspizierungen wurden.
„Dann betrachte ich unser Gespräch als beendet. Wir verfahren wie besprochen. Um aber noch einmal auf Ihre Bemerkung von vorhin zurückzukommen, nein, mein lieber Lüppertz, auch ich könnte mir derartige Zahnimplantationen nicht leisten – nur zur Ihrer Information. Im übrigem besitze ich noch alle Zähne, alle sind im Topzustand. Soltendieck meinte, das läge daran, dass ich seit zig Jahren eine elektrische Zahnbürste benutze, zweimal am Tag und mindestens eine Viertelstunde lang. Auch meinen Kindern habe ich von klein auf...“
Ja, ja und Dr. Best ist dein Schwager. Dannenbergs Worte rauschten schon wieder auf ausgetretenen Pfaden durch seine Gehörgänge. Wie hieß noch mal der Ort, der ihm zu Beginn des Gesprächs eingefallen war, der auch als Berufsbezeichnung taugte.
Winfried Winzer aus der Winzergasse in Winzer ist beruflich als Winzer tätig.
Es war für ihn immer wieder erstaunlich, dass so etwas Komplexes wie das menschliche Gehirn in der Lage war, neben den Mechanismen, Notwendigkeiten und Strategien des täglichen Überlebenskampfes Zeit fand, völlig überflüssigen Mist zu speichern. Aber das war es wohl, was uns Menschen von den Tieren unterschied.
„...alles strahlend weiß – auch bei meiner Frau.“
„Da kann man Sie nur beneiden und aufrichtig gratulieren. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Chef!“
Es gab noch einen Unterschied, der ihm einfiel, als er Dannenbergs Büro verließ: Tiere würden ohne Zähne verhungern - Menschen nicht.
In der Regel jedenfalls nicht.
Das beruhigte Lüppertz einigermaßen, selbst wenn ihm eine Lichtenberg’sche Aphorisme durch die Erinnerung polterte, nach der es in der Ordnung der Natur läge, dass zahnlose Tiere Hörner hätten, und es insofern kein Wunder wäre, diese auch bei alten Männern anzutreffen.
Er ließ die Abfahrt Derneburg/Salzgitter hinter sich.
Lüppertz saß in seinem Golf und hielt sich strikt an die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der A7. Zwischen 8.00 und 20.00 Uhr 120 km/h.
In dem Tempo ließ es sich stressfrei reisen. Die Fahrgeräusche waren erträglich, die Anspannung nicht allzu groß, so dass er auch Musik hören konnte, die mit leiseren Tönen auskam. Good Dog, Happy Man von Bill Frisell zum Beispiel especialy Shenandoah mit dem einfühlsamen Schlagzeug von Jim Keltner und den unverwechselbar lyrischen Gitarrenakzenten von Ry Cooder.
Lüppertz liebte die Alben von Bill Frisell, die gewissermaßen mit ihrer oft ruhigen Kraft und expressiven Gelassenheit den Zuhörer geradezu in der eigenen Kontemplation schmoren ließen. Er freute sich bei jeder neuen CD, bei der sich Frisell weiterhin weigerte, sein vor Jahren abgegebenes Versprechen einzuhalten, endlich einmal ein schnelles, jazzig-akademisches Album herauszubringen. Frisell klebte halt an seinem Country-Style wie Johnny Cash an seinem schwarzen Outfit. Und das war gut so.
Auch Lüppertz hielt an seiner Vorliebe für Country fest, selbst wenn Freunde und gute Bekannte ihn wegen dieser – aus ihrer Sicht - geschmacklichen Irrung bemitleideten. Aber das störte ihn nicht. Die kannten eh nur die Schmachtfetzen der Big Hair Ladies wie Loretta Lynn, Dolly Parton oder Tammy Wynette oder das patriotisch-sentimentale Gesülze der All American Boys mit ihren Texas-Krawatten und den obligatorisch karierten Hemden. Er stand nicht auf John Denver, Clenn Campbell oder Schnulzenfuzzis wie Roy Rogers. Auf keinem Fall! Er liebte die Rebellen des Genres wie Kris, Johnny, Willie und Waylon oder Typen wie Townes van Zandt und Lee Clayton, aber auch die selbstbewussten Frauen der Szene, wie die fabelhaften Singer-Songwriter‘s Lucinda Williams, Mary Gauthier, Jessi Colter oder die großartige Emmylou Harris.
Für Lüppertz war diese Art von Country die einzige Musik, die man beim Autofahren hören konnte, weil Texte, Tempi und Tonalität mit der Rasanz des Fahrens eine Symbiose eingingen, indem sie Herzschlag, Motortakt und Stoßdämpfung mit der Musik bei Tempo 100 synchronisierten.
Sein Kumpel Kalle liebte ihn wegen dieser Beschreibungen, meinte einmal in einem anderen Zusammenhang, solche Interpretationen, besonders aber der hermeneutische Zirkel sei der kürzeste Weg zwischen Schwanz und Schwadronieren oder aus Frauensicht zwischen Intuition und Indifferenz.
Wenn befreundete Frauen zu solchen Sprüchen ihr Veto einlegten und gender mainstreaming zu bedenken gaben, dann konterte er ungeniert, gender sei doch ohnehin nur die Schwierigkeit, aus einer hilflosen Dose eine selbstbewusste Büchse zu machen. So war der Freund nun einmal: schlau und schlagfertig - aber wegen derartiger Aussagen nicht immer beliebt!
Gut! Lüppertz musste zugeben, seinen alten Kumpel Kalle nicht immer zu verstehen. Der erwartete das allerdings auch von niemandem, Kalle war Künstler, Maler, und hielt den größten Teil der Menschheit ohnehin für Ignoranten. Aber er lebte nicht schlecht von seinen Bildern, malte abstrakte Großformate, die sich dem Betrachter zwar schwer erschlossen, aber ihm das Gefühl gaben, vor einem wichtigen und bedeutungsvollen oder wie Kalle es selbst ausdrückte, vor einem gültigen Werk zu stehen.
Die Abfahrt Bockenem rauschte an ihm vorbei.
Zurück zum Country. Auch einige der Frauen, die er nach der Scheidung von Marieluise, genannt Mally, im Laufe der folgenden Jahre kennen lernte, hatten so ihre Schwierigkeiten mit seinen musikalischen Vorlieben.
Angelika, damals 44, schön wie Lisa della Casa in ihrer Glanzzeit, geschieden, eine Psychologin im Dienste des LKA Niedersachsens, spottete nur über die amerikanische Männerscheiße, wie sie es nannte, und bevorzugte selbst nur klassische Musik, vorzugsweise Arien, gesungen von den renommiertesten Sopranistinnen der Welt. Sie konnte nur allein beim Zuhören Renata Tebaldi von Maria Callas unterscheiden, Anna Moffo von Elisabeth Schwarzkopf, Cecilia Bartoli von Anna Netrebko und Sandrine Piau von Mirella Freni. Ein Unterschied zwischen guter und schlechter Country-Musik hingegen, war für sie nicht erkennbar, dem Vergleich fehle es wohl, so ihre damaligen Worte, an qualitativ messbarer Trennschärfe. So hatte er sich geduldig und hingebungsvoll monatelang seine Ohrfeigen bei ihr abgeholt, bis er den Vollidioten in sich entdeckte, als dieser gerade dabei war, eine CD von Montserat Caballé zu kaufen. Da fiel‘s ihm wie Wattebällchen aus den Ohren! Statt der dicken Spanierin nahm er Alison Krauss mit nach Hause, legte die CD ein, drehte den Hahn voll auf, rief Angelika an und erklärte ihr, dass er mittlerweile nicht nur Country von klassischer Musik unterscheiden könne, sondern auch Zukunft von Vergangenheit. Sie verstand und verschwand – nicht nur aus seinem musikalischen Gedächtnis.
Petra, heute 52, geschieden, war da ganz anders. Der Substitutin bei Galleria Kaufhof war Musik scheißegal – Hauptsache, man konnte danach tanzen. Ob Pop, ob Hip-Hop, ob Rock, ob Punk, ob Grunge, ob Techno, House, Ska, Salsa, Sakrament oder Sahnekuchen – Hauptsache man konnte danach tanzen. Neue Deutsche Welle, Deutscher Schlager, selbst Ballermanngegröle – alles kein Sakrileg – Hauptsache man konnte danach tanzen. Aber Countrymusik – um Gottes Willen! Nein Danke! Wölfi – das ist ein absolutes no-go! Ein no-go ever! Ein double-no-go, so to speak! Nach der Musik kann niemand tanzen, niemand, verstehst du? Nobody!
Doch, hatte er darauf geantwortet, man nennt das Square-Dance. Sie hatte ihn nach seiner Bemerkung mit einer solchen Verachtung angeguckt, dass er sich, wenn sie ihn lieb darum gebeten hätte, in der Tanzschule Bothe zu einem Anfängerkurs eingeschrieben hätte. Doch ihre Antwort erübrigte diese Möglichkeit und machte die Trennung von ihr leicht: Squaredance? Natürlich! Den scheiß Namen hast du dir doch gerade ausgedacht, nur um mich zu ärgern!
Die Abfahrt Rhüden (Harz) wurde durch Schilder angekündigt, und er wechselte auf die linke Fahrbahnseite, weil vor ihm abbiegende Lkws die Fahrt verlangsamten.
Das Verhältnis von Eva-Maria, der Versicherungsangestellten aus der Südstadt, zur Musik war ähnlich. Sie war ebenfalls geschieden und musste inzwischen 49 sein. Auch sie hatte im Laufe ihres Lebens keinen speziellen musikalischen Geschmack herausgebildet, sondern folgte kritiklos dem Mainstream wie das gemeine Nagetier dem Hamelner Flötisten, bestand lediglich beim Sex auf Kuschelrock. Später akzeptierte sie dabei auch die Country-Musik, nachdem sie befriedigt feststellen konnte, dass es ihr auch bei Tom Rush kam. Noch später, zu ihrem eigenen Erstaunen, kam es ihr aber auch bei Deep Purple, die zufälligerweise im Radio gespielt wurden, dann testweise auch bei Led Zeppelin, dann bei Aerosmith, dann bei Marylin Manson und schließlich, vor dem Unhappy-End, experimentierte sie sogar bewusst mit Titeln von Rammstein und Slipknock herum, und zwar so laut, dass er sich nach den Zeiten des Kuschelrocks zurücksehnte. Ihr kam es immer stärker, ihm kam es bei dem Lärm überhaupt nicht mehr. Sie meinte damals, das wäre normal, das läge an seinem Alter. Wieder etwas später machte sie ohne große Erklärungen Schluss. Diese Entscheidung brachte wieder Ruhe in sein Bett und es kam ihm auch nach einigen Tagen wieder, wie er in der Stille der Nacht mit prüfender Hand feststellen konnte. Doch ihr Verhalten blieb für ihn unerklärlich, bis er sie zufälligerweise in der CD-Abteilung von Karstadt traf und sie dabei ertappte, wie sie mehrere Flipper-Alben kaufte. Von Stund an war er Eva-Maria dankbar für diese Rücksichtnahme. Hätte sie die Flipper mit ins Bett geholt, wär’s zu einem Blutbad gekommen. Weine nicht, kleine Eva hin oder her.
Über eine gemeinsame Bekannte erfuhr er dann später, dass sie zum zweiten Mal geheiratet hatte. Einen Beamten aus dem Kultusministerium. Auf der Hochzeitsfeier hätte es nur Musik von den Kastelruther Spatzen gegeben, meinte die Bekannte, allerdings wüsste sie das nur vom Hörensagen. Sie selbst sei nicht eingeladen gewesen.
Vögeln mit den Spatzen? Gütiger Himmel! Der Kultusbeamte tat ihm immer noch leid.
Gut – mit Doro gab es musikalisch gesehen keine Differenzen. Sie hörte oft Vocal-Jazz von Dianne Krall, Holly Cole, Cassandra Wilson oder diesen Skandinavierinnen Kari Bremnes und Rebecca Bakken, aber sie kannte sich in dem Genre recht gut aus und schenkte ihm ab und zu tolle CD’s von Jazzern, die Countryelemente in ihrer Musik verwendeten. So hatte er z.B. Joel Harrison oder Norah Jones kennen und lieben gelernt. Und eben Bill Frisell.
Also, in dieser Hinsicht gab es nichts zu meckern, sie war zuverlässig, besaß Humor, konnte zuhören, war am politischen Leben interessiert, belesen, liebevoll und sportlich. Außerdem konnte sie hervorragend kochen, war steinreich und schien nichts dagegen zu haben, wenn er samstags Sportschau guckte. Doch ihr ausgeprägter Hang zur Besitzergreifung machte ihm Angst. Er befürchtete, eines Tages in einem großzügig geschnittenen Haus in der nördlichen Wedemark mit einem Ring an der Hand aufzuwachen, nur um zu sehen, wie Doro all seine Country-CDs zerbrach, während sie ihm triumphierend mitteilte, dass sie seine beschissene Musik nie gemocht habe, jetzt aber, da er unentrinnbar in der goldenen Falle saß, sie endlich den Mut besäße, ihm das auch ins Gesicht zu sagen. Jetzt gehörst du endgültig mir, ich muss dich nicht mehr mit diesen Country-Ischen teilen. Mutti liebt dich über alles und deshalb bringt sie dir ab heute bei, dein verkorkstes Gehör zu verfeinern.
Hinter der Abfahrt Seesen wurde die Autobahn voller. Er musste ein wenig das Tempo drosseln, Abstand zum Vordermann halten. Doch schon nach wenigen Kilometern, etwa in Höhe der Abfahrt Echte, normalisierte sich der Verkehrsfluss wieder.
Na ja, vielleicht tat er Doro aber auch Unrecht. Vielleicht war seine Betrachtung der Dinge doch zu einseitig, zu countrylastig. Vielleicht hatte er sich auch in den achtzehn Jahren nach seiner Scheidung in einen spinnerten Hagestolz verwandelt, der schon um sein Leben fürchtete, wenn er durch ein Rendezvous am Montag nicht zum Spiegel lesen kam. Kalle Bernhard behauptete immer, wenn ein Mann sich wünscht, dass sich die Frau nach dem Geschlechtsakt in einen Kasten Bier verwandelt, ist er selbst zur Flasche geworden. Frauen spüren das. Wenn man dann nicht an sich arbeitet, sein Verhalten korrigiert, dann kriegt man nie wieder ´ne Partnerin. Pack die Steelguitar endlich wieder in die Hose und hol das Cello aus dem Poesiealbum, sonst wirst du ein alter und böser Wichser, der nur noch kleinen Schulmädchen hinterher geifert.
Kalle hatte Philosophie studiert und sogar promoviert. Oberflächlich betrachtet, merkte man das nicht immer. Doch seine scheinbar drastischen Essentials entpuppten sich oft als minimalistische Zusammenfassungen komplizierter ethischer Theoreme
Gut, es war ihm klar, dass Doro ein Glücksfall für ihn war, doch er konnte diese Erkenntnis noch nicht richtig leben. Er befand sich in einem seelischen Zwiespalt, fühlte sich zerrissen vom Für und Wider. Kalles Kommentar dazu lautete lapidar: Scheiß endlich oder steh auf!
Ausfahrt 69, Northeimer Seenplatte. Er verließ die Autobahn und bog auf die Bundestraße 241. Von hier aus waren es noch knapp 60 km bis Glückstedt.
Lüppertz freute sich. Er hatte sich vorgenommen, die aufregende Polizeiarbeit hinter sich zu lassen, um die bevorstehenden Wochen im Eichsfeld auskosten zu können. Er hatte sich mit Reiseführern schlau gemacht und plante, den Harz und die umliegenden Mittelgebirge zu erkunden, abends die hoffentlich zahlreichen Gasthäuser aufzusuchen, auch das ein oder andere geistige Getränk zu sich zu nehmen und die idyllische Ruhe des kleinen Fachwerkstädtchens zu genießen. Auf alle Fälle aber wollte er die Zeit nutzen, mit Doro und sich ins Reine zu kommen. Er war davon überzeugt, dass ein so schön beschriebener Ort wie Glückstedt, der eingebettet in den sanften Hügeln des Vorharzes in der Sommersonne flirrte, es ihm leicht machen würde, sein Verhältnis zu Doro zu klären.
Im Internet warb der Ort mit dem Slogan: Glückstedt – Die Krone des Eichsfeldes. Lüppertz wollte ihn sehen, fühlen, erfahren – den Glanz dieses südniedersächsischen Kleinods, vorausgesetzt natürlich, die dental-medizintechnischen Untersuchungen der diplomierten Alban-Zimny-Zahnklempner ließen ihm Zeit dazu.
Denn für seine Überlegungen brauchte er Zeit, Ruhe und Einsicht.
Und natürlich Selbstkritik.
Und luftgetrocknete Mettwurst. Die aß er nämlich für sein Leben gern. Nur ganz hart durfte sie nicht sein - der Zähne wegen!
Kurz vor den Stadttoren Glückstedts passierte er auf der rechten Fahrtseite einen Friedhof. Ein wenig später kam ihm auf dem Fahrradweg ein endlos scheinender Trauerzug entgegen. Die vielen jungen Leute, die ihm angehörten, hatten sich zumeist eingehakt und ließen ihrem Schmerz freien Lauf. Am Ende des Zuges sah er eine Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille, die einen von Weinkrämpfen geschüttelten alten Mann abstützte.
Lüppertz fuhr langsam an den Trauernden vorbei, drehte die Musik ganz leise und vermutete, dass hier wieder ein junger Mensch bei einem Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er allein seit Northeim an den Bäumen der Landstraße acht mit Blumen geschmückte Holzkreuze entdeckt. Der Sergio-Corbucci-Film mit Klaus Kinski fiel ihm ein: Leichen pflastern seinen Weg! Kein gutes Omen für die Gegend hier. Auch ein Trauerzug war kein geeignetes Empfangskomitee.
Alles keine verheißungsvollen Vorzeichen.
Nur gut, dass er nicht abergläubisch war.