Stefan Roloff
mit Mario Vigl
DIE
KATAKOMBENGESELLSCHAFT
„Die Rote Kapelle“
Die Widerstandsgruppe im Dritten Reich
und die Geschichte Helmut Roloffs
Impressum
Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency
ISBN 978-3-8450-0515-7
© Chichili Agency 2011
Urheberrechtshinweis:
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Prolog: Die Katakombengesellschaft
Die Rote Kapelle in der Vorkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg
Erste Konfrontationen
Hausdurchsuchung
In Gestapo-Gewahrsam
Freundeskreise
Die Ermittlungen der Gestapo
Auf der Suche
London, Moskau, Berlin – der Journalist John Graudenz
Ein Mittelpunkt der Gruppe: Harro Schulze-Boysen
Die Arbeit von Arvid und Mildred Harnack
Die Kontakte zur amerikanischen Botschaft
Der Anfang vom Ende
Meisterspion Leopold Trepper
Entscheidende Entschlüsselung
Helmut Roloff – «Pianist» der Roten Kapelle?
Die Protokolle der Gestapo
Verteidigungsstrategien
Gefängnisalltag
Staatsfeind Heinrich Scheel
Drohung und Verlockung
Luft zum Atmen – Cato und Mietje Bontjes van Beek
Rainer Küchenmeister, ein Jugendlicher in Haft
Cato Bontjes van Beek und Rainer Küchenmeister
Die Prozesse vor dem Reichskriegsgericht
Letzte Grüße
Die Hinrichtungen in Plötzensee
Die Entlassung
Die Rote Kapelle in der Nachkriegszeit
Kriegsende
Polizisten unter sich
Bolschewistische Landes- und Hochverratsorganisation
Neue Angst vor der Roten Kapelle
Wieder aufrecht durchs Leben
Das Ermittlungsverfahren gegen Manfred Roeder
Mythen von der Roten Kapelle
Helmut Roloff – Musik bis zum Schluss
Epilog: Blickrichtungen
Anhang
Bibliographie
Bildnachweis
Dank
Personenregister
Es war ein kalter Tag kurz vor Weihnachten Mitte der sechziger Jahre. Mein Vater hatte ein Taxi bestellt, mit dem wir von unserem Haus in Berlin-Westend Richtung Norden fuhren, bis wir im Stadtteil Plötzensee vor einer langen Backsteinmauer anhielten. Durch ein großes Tor in der Mauer betraten wir einen Hof, auf dem etwa vierzig Männer und Frauen in Wintermänteln in kleinen Gruppen herumstanden. Sie sprachen leise miteinander, wie es sonst Menschen auf einer Beerdigung zu tun pflegen. Ich sah einen Jungen aus meiner Schule, eine Überraschung an diesem Ort voller Erwachsener, und wir tauschten rasch Grüße aus. Er war mit seinen Eltern gekommen, die bei uns in der Schule als Kommunisten galten. Zuvor hatte mir mein Vater erzählt, dass an diesem Ort früher Menschen hingerichtet worden seien, nur weil sie eine eigene Meinung hatten.
Am Ende des Hofes stand ein kleines Backsteingebäude, in dem an einer schweren Eisentrosse unter der Decke fünf schwarze Fleischerhaken befestigt waren, die massiver aussahen als die blanken Haken, an denen in Schlachthäusern Rinder aufgehängt werden. Weniger als fünfundzwanzig Jahre vor unserem Besuch waren sie für Menschen installiert worden. Die Henker hatten an ihnen Schlingen aus Pianosaiten angebracht, die sie ihren Opfern anlegten, bevor sie ihnen vorsichtig den Hocker, auf dem sie standen, unter den Füßen wegzogen, damit sie durch die langsame Gewichtsverlagerung einen möglichst qualvollen Tod starben (Foto: Fleischerhaken in der Hinrichtungsstätte Plötzensee).
Vorne im Raum lehnten Männer einen grünen Kranz an die Wand. Später wurden Reden gehalten, denen ich kaum zuhörte: Es ging um Widerstand gegen die Nazis und Erlebnisse aus einer für mich grauen Vorzeit. Hitler hatte hier am 22. Dezember 1942 die ersten elf Mitglieder der so genannten Roten Kapelle – eine Bezeichnung von Abwehr und Gestapo für westeuropäische und deutsche Widerstandsgruppen, die tatsächliche oder vermeintliche nachrichtendienstliche Kontakte zur Sowjetunion hatten – mit deutscher Gründlichkeit nach einem exakten Zeitplan hinrichten lassen. Die ersten fünf wurden zum Tod durch Erhängen verurteilt:
Rudolf von Scheliha, 19.00 Uhr
Harro Schulze-Boysen, 19.05 Uhr
Arvid Harnack, 19.10 Uhr
Kurt Schumacher, 19.15 Uhr
John Graudenz, 19.20 Uhr
Die nächsten sechs wurden enthauptet:
Horst Heilmann, 20.18 Uhr
Hans Coppi, 20.21 Uhr
Kurt Schulze, 20.24 Uhr
Ilse Stöbe, 20.27 Uhr
Libertas Schulze-Boysen, 20.30 Uhr
Elisabeth Schumacher, 20.33 Uhr
Von der Gruppe in den Wintermänteln ist mir nur Greta Kuckhoff mit ihrem feinen, ovalen Gesicht und melancholischem Blick in Erinnerung geblieben. Ihr Mann Adam war in diesem Raum unter dem Fallbeil gestorben.
Auf dem Nachhauseweg sprach ich mit meinem Vater nicht weiter über unseren Ausflug. Ich hatte keine Fragen, und er forcierte sie nicht. Erst Jahre später erfuhr ich, dass auch er beinahe in dem kahlen Raum der Strafanstalt Plötzensee hingerichtet worden wäre.
Außenansicht der Strafanstalt Plötzensee
Über das Dritte Reich redeten wir zu Hause selten, denn meine Eltern versuchten, uns ihre Werte nicht anhand der Vergangenheit, sondern der Gegenwart zu vermitteln. Mein Vater war Pianist, und wir hatten oft Künstler aus aller Welt zu Besuch, meistens Musiker. Meine Brüder und ich lernten sie als gute Freunde kennen. Durch die unkomplizierte Art, mit der sie bei uns ein und aus gingen, wurden die unterschiedlichsten Kulturen automatisch Teil unseres Lebens. Seinen Grundsatz, alle Menschen mit gleicher Achtung zu behandeln, setzte mein Vater manchmal mit unerschütterlicher Konsequenz durch. Als einmal die Polizei einen Mann, der bei uns eingebrochen hatte, zu einer Gegenüberstellung in unser Haus brachte, forderte er meine Brüder und mich vor den Augen der verblüfften Kriminalbeamten auf, den Einbrecher höflich zu begrüßen – mit Händedruck und Verbeugung.
Im Jahr 1969 meldete sich die Vergangenheit plötzlich zurück, als im Spiegel eine Serie mit dem Titel PTX ruft Moskau – Die Geschichte des Spionagerings Rote Kapelle erschien. Ein Foto zeigte Gräber deutscher Soldaten an der Ostfront, die Bildunterschrift warf die Frage auf: «Hunderttausend Soldaten von der Roten Kapelle verraten?» Betont wurden die «engen Verflechtungen» der Gruppe mit der Sowjetunion, ihre Angehörigen wurden vor allem als bezahlte Agenten der Russen dargestellt. Schon 1951 hatte der Stern eine groß angelegte Serie über die Rote Kapelle veröffentlicht, deren erste Zeilen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen: «Der Landesverräter, der mit dem Feind konspiriert, ist in allen Ländern der Welt, in allen Armeen und unter allen politischen Systemen noch immer als ein Lump angesehen (…) worden.» Damit war die Rote Kapelle gemeint, der es nicht um den Sturz des Hitler-Regimes, sondern um «die Bolschewisierung Deutschlands und der Welt» gegangen sei. Der Spiegel gab sich nun, zwei Jahrzehnte später, zwar differenzierter, wiederholte jedoch weitgehend die Vorwürfe.
Im Nachkriegsdeutschland war das eine schwere Anklage. Meinen Eltern war die Serie unangenehm, und meine Mutter erklärte mir zum ersten Mal ausführlicher, welche Rolle mein Vater damals in der Roten Kapelle gespielt hatte: Er hatte Flugblätter gegen Hitler vervielfältigt und verbreitet und war ein halbes Jahr lang in Gestapo-Haft gewesen.
Mich interessierte die Geschichte nicht weiter. Meinen Vater hielt ich wegen seiner konservativen Einstellung inzwischen für einen Faschisten – es gab damals kaum Väter, die nicht als solche angesehen wurden. Dass dies im Widerspruch dazu stand, dass er in der Roten Kapelle mitgearbeitet hatte, ignorierte ich. Er war ein Deutscher aus der ersten Jahrhunderthälfte und in meinen Augen ein Spießer. Allein sein disziplinierter Tagesablauf stellte das unter Beweis: Er übte täglich ab 9 Uhr Klavier, um 12 Uhr nahm er das Mittagessen ein, um halb eins hielt er seinen Mittagsschlaf, danach übte er wieder. Jeden Donnerstag zog er den Regulator auf, die Pendeluhr im Treppenhaus.
1973 war meine Schulzeit zu Ende; ich studierte Kunst, zog nach Mexiko und dann nach New York, wo ich fast zwanzig Jahre lebte, als meine Berlin-Besuche begannen, eine neue Form anzunehmen. Mein Vater war alt und gebrechlich geworden, und mich überkam das Gefühl, dass sich die Zeit, wichtige Gespräche mit ihm zu führen, ihrem Ende näherte. Sein Hauptinteresse, die klassische Musik, gehörte nicht zu meinen Lieblingsthemen. Mich interessierte etwas anderes, über das ich nie mit ihm geredet hatte, und als ich es ansprach, begann sich ein Kreis zu schließen. Ohne dass ich es gemerkt hatte, war ich mit ihm in den lange vergessenen Raum in Berlin-Plötzensee zurückgekehrt.
Mein Entschluss, einen Film über ihn zu drehen, war zunächst spontan – als Maler wollte ich das Medium eigentlich nur benutzen, um meinen Vaters zu porträtieren. Die Technik erlaubte es, konkrete Details seines Lebens in das Bild mit einzubauen, zum Beispiel wie es ihm in der Gestapo-Haft ergangen war, wie er überlebt hatte und welche Erlebnisse ihn dazu gebracht hatten, in den Widerstand zu gehen.
Mein früheres Desinteresse hatte bewirkt, dass ich außer dem Namen kaum etwas über die Rote Kapelle wusste. Um mir ein paar Grundkenntnisse anzueignen, rief ich Dr. Johannes Tuchel an, den Direktor der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Er sagte, dass man erst in den letzten Jahren begonnen habe, die Geschichte der Widerstandsgruppe zu erforschen, und lud mich zu einem Besuch ein. Die etwa zehn Bücher, die er mir nach unserem ersten Gespräch mitgab, und sein freundliches Angebot, weiterhin zur Verfügung zu stehen, war für mich ein Zeichen, meine ursprüngliche Idee zu erweitern. Dazu musste ich zunächst verstehen, was die Rote Kapelle überhaupt war. Bald darauf befand ich mich auf einem Weg, von dem ich ein paar Jahre lang nicht mehr loskam.
Obwohl die Rote Kapelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatte, war ihre Tätigkeit seit 1945 aus den unterschiedlichsten Gründen in Verruf geraten und falsch ausgelegt worden: Anfang der fünfziger Jahre galt sie im Westen als eine «kommunistische Spionage- und Agentengruppe», die mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus nichts zu tun hatte, während sie in der DDR als eine von der KPD geführte Widerstandsorganisation bezeichnet und wegen ihrer Verbindungen zur Sowjetunion als «Kundschaftergruppe» gefeiert und damit auf einen Bruchteil ihrer Aktivitäten reduziert wurde. Erst nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Öffnung bislang unzugänglicher Archive wurde eine Neubewertung der Gruppe und ihrer Stellung im Gesamtbild des deutschen Widerstands gegen die NS-Herrschaft möglich.
Der lockere Zusammenhalt der Gruppe kam zustande, als Berliner Freundeskreise unterschiedlichster Schattierungen ab 1939 zueinander Verbindung aufnahmen und ab 1940 so eng kooperierten, dass man nach dem Krieg zunächst von einer gemeinsamen Widerstandsorganisation um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen sprach. Als Teil eines von der Kommunistischen Partei geführten «Widerstandskampfs» begriffen sie sich auch dann nicht, als sie in Kontakt mit der sowjetischen Botschaft traten. Ihr Hauptanliegen war die Aufklärung einer breitestmöglichen Öffentlichkeit über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – vor allem solche, die sich noch im Planungsstadium befanden.
Widerstand in der NS-Diktatur umfasste sehr unterschiedliche Formen, beispielsweise das Unterlaufen von NS-Befehlen, den Schutz Verfolgter, das Verbreiten freiheitlicher Informationen und Versuche, das verbrecherische Regime auch durch Kontaktaufnahme zu den Mächten der Anti-Hitler-Koalition zu stürzen. Ob aus politischer Gesinnung oder nur aus Achtung vor jedem Menschenleben – viele leisteten in ihrem ganz persönlichen Lebensumfeld Widerstand gegen den NS-Terror und zahlten dafür nicht selten mit ihrem Leben.
Meine Suche nach dem Wesen und Anliegen der Roten Kapelle führte mich in die Häuser der Verwandten hingerichteter Angehöriger der Gruppe. Obwohl ihre Einstellung, Herkunft und Lebenswege sich stark voneinander unterschieden, war bei all diesen Besuchen ein gemeinsamer, über den Bezug zur Roten Kapelle hinausgehender Faktor spürbar: Keiner von ihnen war religiös oder ideologisch festgelegt, sondern ich stieß auf vertrautes Terrain. Den Schwerpunkt meiner Erziehung hatten meine Eltern darauf gelegt, meine Individualität zu fördern, ohne anderen blind zu folgen und mich von der Allgemeinheit beeinflussen zu lassen. Diese Einstellung war auch einer der Schlüssel zum Widerstand der unterschiedlichen kleinen Kreise, aus denen die Rote Kapelle im Laufe des Dritten Reichs zusammenwuchs.
Zwischen 1998 und 2002 interviewte ich über zwanzig Personen. Die Kinder oder Geschwister hingerichteter Angehöriger der Gruppe – Hans Coppi, Tim und Mietje Bontjes van Beek, Johannes Haas Heye, Rainer Küchenmeister, Karin Reetz (Graudenz) und Hartmut Schulze-Boysen – führten mir ihre Verwandten plastisch vor Augen. Zeitzeugen wie der Holocaust-Überlebende Paul Kuttner, Ingeborg Malek, die in der Zusammenführung wesentlicher Gruppenangehöriger eine Rolle spielte, ohne direkt beteiligt zu sein, oder Donald Heath, der Sohn des ehemaligen ersten Sekretärs der amerikanischen Botschaft in Berlin, schilderten aus ihrer Erinnerung, unter welchen Gefahren die Widerstandskämpfer in Berlin ihren unterschiedlichen Tätigkeiten nachgegangen waren. Historiker wie Shareen Brysac und der Sowjetexperte Colonel David Glantz oder Autoren wie Gilles Perrault waren mir eine große Hilfe beim Erschließen der Zusammenhänge und bei der Auffindung der Quellen. Johannes Tuchel, der Direktor der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, und Hans Coppi, die sich in dem Buch Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus selbst mit der Geschichte dieser Gruppe auseinander gesetzt haben, waren wesentlich an der Auswertung der erst seit Anfang der neunziger Jahre – nach der Wiedervereinigung – möglichen Forschungsergebnisse beteiligt und standen mir im Laufe der letzten Jahre mit Rat und Tat zur Seite. Sie machten mich auch auf bisher unveröffentlichte Gestapo-Verhörprotokolle aus den Prager Militärarchiven und auf Geheimdienstdokumente der Alliierten aufmerksam, die zunehmend in den Nationalarchiven in Washington DC freigegeben werden und in diesem Buch zum ersten Mal ausführlich wiedergegeben und kommentiert werden.
Mein Vater starb im Herbst 2001 als einer der letzten Überlebenden der Verhafteten, die in einem «Gestapo-Abschlussbericht» als Mitglieder der Roten Kapelle bezeichnet wurden. Der Name hielt sich, zum Teil vielleicht, weil er einfacher auszusprechen war, als die umständlichere Bezeichnung «Harnack-Schulze-Boysen-Gruppe». Ein Angehöriger der Gruppe, der Romanist Werner Krauss, hat ihr in einem heimlich während der Haft geschriebenen Buch zwei sehr treffende Namen verliehen. Er taufte sie die «Katakombengesellschaft» und mit einem stark an die Sprache der vierziger Jahre erinnernden zweiten Namen den «Bund der unentwegten Lebensfreude».
Sich selbst konnten die Widerständler keinen Namen geben, denn die meisten kannten sich nicht einmal untereinander. Ihre unterschiedliche Arbeit entzog sich einheitlichen Definitionen; ihnen allen gemeinsam war nur die entschiedene Ablehnung der Hitler-Diktatur. Nicht alle Beteiligten wurden von der Gestapo erfasst, weil es keinen festen Gruppenverband gab. Die Rote Kapelle kann nicht als rein politisches Phänomen angesehen werden, man kann sie genauso gut unter psychologischem, philosophischem oder biologischem Aspekt betrachten, in letzterem Fall so, als hätten sich Immunzellen zusammengeschlossen, um ein erkranktes System zu bekämpfen.
Da eine erschöpfende Gesamtdarstellung mehrere Bände in Anspruch nehmen würde, habe ich es vorgezogen, mich auf Ausschnitte des Wirkens der Roten Kapelle und auf eine kleine Gruppe von Menschen zu konzentrieren, die in diesem Sinne tätig waren. Die meisten von ihnen wurden hingerichtet, einige haben überlebt, indem sie nach der Inhaftierung in Lagern und Konzentrationslagern in der von den Nazis so genannten Frontbewährung in Kriegsgefangenschaft gerieten. Unter Mitarbeit von Mario Vigl habe ich ihre Geschichte stellvertretend für die Rote Kapelle in diesem Buch nachgezeichnet.
New York, im Juni 2002
Stefan Roloff
Mein Großvater, Gustav Roloff, war als erster in der Familie in Konflikt mit den Nazis geraten. Er wurde 1866 geboren und wuchs auf dem Landgut seines Vaters im Mansfelder Seekreis auf. Nach dem Abitur in Berlin studierte er Geschichte und Alte Sprachen, erst in Tübingen und dann an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, die damals das Zentrum der Wissenschaften in Deutschland war. 1909 bekam er den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Ludwigs-Universität in Gießen.
In der Kleinstadt kannten sich –anders als in der Großstadt –die meisten Menschen untereinander und grüßten sich auf der Straße. Gustav Roloff wirkte dort zwar distanziert, war aber ein humorvoller Gastgeber, in dessen Haus oft improvisierte Theaterspiele aufgeführt wurden, in denen auch er gerne eine Rolle übernahm.
Hochzeit der Großeltern Gustav und Elisabeth Roloff
Nach Hitlers Machtübernahme änderten sich die Umgangsformen in der Stadt. Bürger, die noch wenige Tage zuvor den Hut zum Gruß gelüftet hatten, ließen plötzlich mit großer Selbstverständlichkeit den Arm zum Hitler-Gruß hochschnellen. Die Aufbruchstimmung, die seine kleine Stadt befallen hatte, ließ Gustav Roloff kühl. Er empfand den Nationalsozialismus als lärmend und unkultiviert und lehnte die neue Geste ab.
Seine Frau Elisabeth hatte den neuen Machthabern in den ersten Wochen noch eine Chance eingeräumt. Gustav Roloff lag es fern, ihre politische Auffassung zu beeinflussen, übernommene Meinungen widerstrebten ihm. Seine Einstellung war ihr bekannt, und er zweifelte nicht daran, dass sich die Nazis unaufhaltsam entlarven würden. Bereits ein halbes Jahr später offenbarte Elisabeth Roloff in einem vom 1. Juli 1933 datierten Brief an ihre Tochter Eva ihre veränderte Einstellung:
(...) Außerdem bin ich zu betrübt über die Tatsache, dass gestern aus heiterm Himmel alle vier jüdischen Dozenten aus dem Staatsdienst entlassen sind: Mombert, Levy, Jaffé, Bieber. Nun sollen die ‹Liberalen› drankommen; unter diesen ist einer der am stärksten Abgestempelten unser Guter (Vater), wie Du weißt. Also sei bereit. Es wäre für Euch ja sehr schwer, da dann natürlich keine Mittel zum Weiterstudium da sein würden; das ist auch das Einzige, was mir dabei Sorge macht. Schreibe aber über diese Dinge nicht, es führt zu weit, man muss es mündlich besprechen... Fritz Lenz ist in alle Ehren wieder eingesetzt; hat 100 Hörer und ist sogar der einzige Nationalökonom jetzt, da auch Günter unvorsichtiger Äußerung wegen nicht lesen darf.
Professor Lenz sollte unwillkürlich eine Rolle bei der Entstehung der Roten Kapelle spielen. Er war ursprünglich konservativ genug um auch die aus dem Versailler Vertrag resultierende deutsche Kriegsschuld in ihr Gegenteil zu verkehren und zu fordern, dass andere Länder Deutschland Reparationen zahlen sollten, statt umgekehrt. Für ihn hatte der Staat Priorität gegenüber der Wirtschaft; deshalb lehnte er den Kommunismus als zu international und den Nationalsozialismus als zu kompromissbereit im Hinblick auf den Kapitalismus ab. Sein daraus resultierendes Interesse an der sowjetischen Planwirtschaft führte 1932 zur Gründung der ARPLAN (Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft), in der Arvid Harnack, der gemeinsam mit seiner Frau bei Lenz studiert hatte, erster Sekretär wurde. Das war auch der Anlass seiner ersten Reise in die Sowjetunion. Harnacks gehörten in Gießen auch zu den gern gesehenen Gästen im Hause Gustav Roloffs, aber ihre spätere Verbindung mit seinem Sohn Helmut in der Roten Kapelle sollte ihnen unbekannt bleiben.
Die Gießener SS hielt Friedrich Lenz für einen mit Moskau kooperierenden Kommunisten und forderte, dass er seiner Professur enthoben werde. Lenz protestierte gegen in seiner Abwesenheit durchgeführte Hausdurchsuchungen und behielt seinen mehrfach angefeindeten Lehrstuhl bis zum 12. September, als er wegen «politischer Unzuverlässigkeit» entlassen wurde. Nach seiner Zwangspensionierung am Ende des Jahres zog er nach Berlin, wo er als Privatgelehrter tätig war.
Am 10. Oktober 1934 beantragte Gustav Roloff seine Emeritierung zum 1. April 1935. Mit 69 Jahren hatte er das Pensionsalter erreicht und weigerte sich, vom Nazi-System zur Verbreitung neuer Ideologien angehalten zu werden.
Dennoch hielt er weiterhin Vorlesungen und grüßte die Studenten mit einem kurzen Lüften des Hutes. An der Mainzer Verwaltungsakademie kam es daraufhin zu einem Zusammenstoß mit nationalsozialistischen Studenten. Sie beschwerten sich über den von ihm vermittelten Lehrstoff und darüber, dass er nicht, wie erfordert, den Arm zum Gruß ausstreckte. Gustav Roloffs einzige Erwiderung war, dass er kein Interesse daran habe, sich mit Hörern auseinander zu setzen, die mit den akademischen Formen wenig vertraut seien.
Der Rektor der Gießener Universität, Gerhard Pfahler, nahm ihn in Schutz, obwohl er dem neuen Regime positiv gegenüberstand. Er sagte, dass sein alter Kollege von den Mainzer Studenten missverstanden worden sei, der «neue Lebensstil» und der Nationalsozialismus seien ihm in vielem wesensfremd. Dafür habe der Kritisierte ein Leben «strengsten und treuesten Dienstes für Deutschland» hinter sich.
Als mein Großvater dann in einer Vorlesung äußerte, das Dritte Reich sei nur eine «vorübergehende Erscheinung», konnte seine Einstellung nicht länger als interne Angelegenheit behandelt werden. «Sonderbare Meinung des Professors Roloff», lautete die Schlagzeile einer Zeitung. Für ihn war es Zeit, die Kleinstadt zu verlassen, in der er fast drei Jahrzehnte gelebt hatte.
1936 zog er mit seiner Familie zurück nach Berlin. Die Anonymität der ihm bekannten Großstadt machte es ihm leichter, sich frei zu bewegen, ohne von Parteigängern auf nationalsozialistische Verpflichtungen hingewiesen zu werden. Er widmete sich seinen Studien, vor allem der Geschichte des europäischen Staatensystems seit 1493.
Mein Vater Helmut war 1912 als einziger Sohn Gustav Roloffs in Gießen geboren worden. Seine Mutter und drei Schwestern – Eva, Barbara und Heilwig – verwöhnten ihn ( Foto: Gustav und Elisabeth nach dem Umzug nach Berlin 1936 ).
Helmut Roloff im Jahre 1917
Seinen Vater beschrieb er zwar als schwerhörig und unmusikalisch, zugleich aber auch als kultivierten Menschen, der das Musizieren seiner Kinder akzeptierte. Meine Großmutter legte großen Wert darauf, dass alle vier Kinder, besonders mein Vater, musikalisch erzogen wurden. Nur über die Wahl des Instruments herrschte Uneinigkeit. Sobald seine Mutter aus dem Zimmer verschwand, legte er die Geige, auf der er üben sollte, auf die Seite – einmal warf er sie auch an die Wand, wobei sie aber zu seiner Enttäuschung nicht zerbrach. Er zog das Klavierspielen vor und konnte bald seine Neigung durchsetzen.
Helmut Roloff mit seinen Schwestern Eva, Barbara und Heilwig
1919 kam Helmut Roloff in die Schule, wo er durch Ungehorsam auffiel. In seinem Herbstzeugnis von 1924 stand:
Wegen grober Nachlässigkeit bestraft und wiederholt wegen ungehörigen Benehmens während des Unterrichts vor die Tür gewiesen.
Im darauf folgenden Weihnachtszeugnis war seine «Versetzung gefährdet.»
( Foto: Helmut Roloff 1920 ) 1925 blieb er sitzen, und seine Eltern schickten ihn für ein Jahr zu einem befreundeten Psychiater nach Wuppertal. Er führte einen regen Briefwechsel mit seiner Mutter, die ihm unter anderem schrieb, dass es im Leben nicht nur auf die Befriedigung und Erfüllung des eigenen Wünschens ankäme, sondern vor allem auf die «Entfaltung und Entwicklung der Anlagen, die uns mitgegeben sind, sodass wir als dienendes Glied uns der Reihe der Lebwesen anschließen, die das Große und Ganze der Welt und des Seins ausmachen». Nur so könne er zu einer inneren Harmonie finden. Gegen das Unbehagen, das mit dieser Geduldsübung von «so heftig begehrenden» Menschen wie ihm empfunden würde, helfe, «da religiöse Vorstellungen heute kraftlos geworden sind, nur philosophisches Denken». Sie schrieb, dass alle diese «uns so wichtig dünkenden» Dinge vorübergehend und alle äußeren Verhältnisse nichtig seien. Zu den unvergänglichen Werten gehöre auch, sich «als soziales Wesen mit Pflichten gegen die anderen zu erkennen», zu lernen, andere gelten zu lassen und lieben zu lernen. Und dann fügte sie hinzu: «Ich hoffe, es ist dir nicht lästig oder langweilig, dies zu lesen.»
Helmut Roloff am Klavier, 1925
Die Briefe zeitigten gute Erfolge, weil sie ihm ihre wesentlichsten Gedanken mitteilte, ohne ihn von ihrer eigenen Weltanschauung – in diesem Fall von der Religion – überzeugen zu wollen. (Mit Ausnahme von Helmut Roloff gehörte die ganze Familie zur Bekennenden Kirche, worin sich später auch ihr eigener Widerstand zu den Geschehnissen der Nazi Zeit ausdrückte.) Helmut Roloff lebte zeit seines Lebens nach den in diesem Brief umrissenen Grundsätzen und blieb trotz seines Charismas ein bescheidener Mensch, dem das Wohl anderer ein vorrangiges Anliegen war. Zunächst aber sollte er «fröhlicher und harmonischer werden. Du bist zwar beides oft stimmungsmäßig, aber das tiefere Fundament, das Dauer verspricht, musst du dir erst in ernster Gedankenarbeit erwerben».
Das schien ihm in dem Haus, in dem er untergebracht war, nicht möglich zu sein. In einem acht Seiten langen Brief legte er seinen Eltern dar, dass sie sicher «in jeder Hinsicht das Beste» meinten, sie es aber trotzdem «noch lange nicht» täten. Vor allem mit der Frau des Psychiaters konnte er sich nicht arrangieren. «Ich kann nicht sagen, dass ich direkt mit ihr befremdet wäre, aber es herrscht eine gewisse Spannung, immer. Vielleicht fühlt sie sie gar nicht. Und wenn sie sie fühlte, so könnte sie sich leichter darüber hinwegsetzen, da ich doch von ihr abhängig bin.» Das sei nicht mit einer «offenen Feindschaft» zu verwechseln, im Gegenteil. Meistens sei sie « sehr herzlich, wenigstens äußerlich, solange sie in Stimmung ist. Hat sie aber ihre Launen, dann ist ihr nichts recht». Er beschrieb verschiedene Situationen, auch ihr Unverständnis seinem Klavierspiel gegenüber, bis er ihr «nach langen Mühen begreiflich machen konnte, dass ich das nicht als Luxus brauchte, sondern unbedingt nötig hätte». Danach folgten lange Passagen, die das Leben im Haus des Psychiaters als von der kühlen, häufig beleidigten Frau beherrscht beschrieben, die «oft Kopfschmerzen kriegte» und ihn auch für kleinere, von ihrem Hund verursachte Schäden finanziell zur Verantwortung zog, « immer Sachen, die sie mit der kühlsten Miene der Welt abmacht, bei denen sie nie auch nur ein Wort des Bedauerns sagte, sondern sogar noch zum Schreiner sagte, das müsse er besonders gut machen, das ginge auf meine Rechnung. Vielleicht hielt sie das für einen Spaß, ich für eine Gemeinheit.» Aber all das sei nicht das, was ihn hier drücke. «Irgendwie fehlt etwas.» Nach einer langen Erklärung darüber, warum es auch finanziell wesentlich günstiger sei, ihn wieder nach Hause zu holen, schloss er mit den Worten: «Wie soll ich denn bei einer ständigen unfreien Stimmung Lust am Üben haben können?»
Danach antwortete er nicht mehr auf die Briefe seiner Eltern –und bekam seinen Willen.
Zurück in Gießen verweigerte sich Helmut Roloff der Schule in einer unerwartet neuen Art: Er beschloss, sie so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Er nahm Nachhilfeunterricht, meldete sich schließlich ein Jahr früher als vorgesehen zum Abitur an, bestand es und begann, Jura zu studieren.
Helmut Roloff mit einer Freundin beim Schlittschuhlaufen, 1929
Das Studentenleben an der Universität Gießen war ohne schlagende Verbindungen nicht denkbar. In deren streng festgelegten Strukturen taten sich die Korps als die exklusivsten hervor, danach folgten die Burschenschaften und darunter die Landsmannschaften. Alle drei unterteilten sich in weitere Gruppen, die sich mit altertümlichen Namen wie Alemannen, Teutonen oder Wingolf schmückten. Sie trugen die Farben ihrer Gruppe, sodass sie auf den ersten Blick erkennbar waren. Gewöhnlich schlossen sich Studenten einer Verbindung an, der auch schon ihre Väter angehört hatten.
Helmut Roloff sagte das Korpsleben mit seinen ausgiebigen Kneipenbesuchen nicht zu. Es widersprach seinem Wesen und hätte ihn nur von seiner Lieblingsbeschäftigung abgehalten: dem Klavierspielen. In «Keilgesprächen» versuchten mehrere Verbindungen, ihn als Mitglied zu gewinnen, aber keine konnte ihn überzeugen.
Ab 1933 studierte er in Leipzig weiter. «Leipzig hatte eine sehr große Universität», sagte er später. «Dort war es etwas leichter, gegen den Strom zu schwimmen als in Gießen.» Trotzdem wurde der Einfluss der Nazis immer spürbarer. Ein jüdischer Freund seines Vaters, Leo Rosenberg, lud ihn regelmäßig zum Mittagessen ein. Rosenberg war Professor für Zivilrecht und gerade noch rechtzeitig vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten von der Gießener an die Leipziger Universität berufen worden.
Bei Rosenbergs war seit vielen Jahren eine etwa fünfzigjährige Haushälterin angestellt. «Dann kamen diese ersten Schikaniergesetze der Nazis», erinnerte sich Roloff, «und es war Juden plötzlich verboten, arische Hausmädchen zu beschäftigen.» Die Frau musste aufgrund einer offiziellen Verleumdung ihren Posten aufgeben: «Es wurde nämlich unterstellt, Juden würden ein Verhältnis mit dem Hausmädchen anfangen, und das war verboten.»
An der Universität hatten sich die meisten Studenten bereits mit dem Nationalsozialismus identifiziert. Den Opportunisten unter ihnen war mit der Rassenpolitik zusätzlich ein Mittel an die Hand gegeben, mit dem sie sich hervortun und ihre Karriere fördern konnten. Darum wurde auch bald über Rosenberg getuschelt. Sein Name klang ein paar eifrigen Studenten verdächtig, und sie erkundigten sich bei Roloff, ob er Jude sei. Der verneinte das und setzte anschließend seinen Gastgeber darüber in Kenntnis. Beide stimmten darin überein, dass es klüger sei, ihn weiterhin aus der Schusslinie zu halten.
Nach zwei Semestern kehrte Helmut Roloff zu seinen Eltern nach Gießen zurück, wo die «Luft inzwischen dicker geworden war». In der Universität hingen Plakate mit der unmissverständlichen Aufforderung, dass sich jeder Student der SA, der Sturmabteilung der NSDAP, anschließen solle. Das Regime hatte das Potenzial der schlagenden Verbindungen erkannt. Sie konnten durchaus bestehen bleiben, solange sie ihre alten Farben durch ein einheitliches Braun ersetzten. «Ich habe versucht, mich davor zu drücken», sagte Roloff. «Warum sollte ich damit einverstanden sein, etwas, das ich schon freiwillig nicht wollte, nun plötzlich gezwungenermaßen zu tun?» Hitlers Ziel war es, die gesamtdeutsche Studentenschaft unter seine Kontrolle zu bekommen.
Wer sich in Gießen der SA verweigerte, verlor die Zugehörigkeit zu seiner Burschenschaft, wodurch viele Studenten vor einem Problem standen. Kaum einer wollte seine Familientraditionen brechen, und die meisten fügten sich, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Es dauerte nicht lange, bis alle Freunde und Bekannte von Helmut Roloff Mitglieder der braunen Studentenverbindungen waren. Außer ihm hatte sich nur ein Theologiestudent verweigert. Auch ein Professor, der selbst Gegner der Nazis war, wollte ihn zur Mitgliedschaft überreden: «Treten Sie ein», riet er ihm, «es bleibt Ihnen doch nichts anderes übrig übrig!»
Ganz unerwartet ergab sich dennoch eine andere Möglichkeit. Da sich so viele Studenten bereitwillig gemeldet hatten, wurde eine Aufnahmesperre verhängt. Der offizielle Grund lautete, es müssten zu viele Anträge bearbeitet werden. In Wirklichkeit aber wollte man dadurch eher die Studenten, die sich noch keiner Verbindung angeschlossen hatten, indirekt warnen und Unentschlossenen vermitteln, dass es irgendwann zu spät sein könnte. Helmut Roloff bot sich damit eine Gelegenheit, von der er nur hätte träumen können: «Ich tat so, als sei ich bereit zur Mitgliedschaft, aber leider konnte ich ja nicht. So kam ich da herum.»
Mit etwas Glück und Entschlossenheit gab es oft auch in ausweglos scheinenden Situationen Möglichkeiten, sich den Nazis zu entziehen. Tim Bontjes van Beek, dessen Schwester Cato als Angehörige der Roten Kapelle in Plötzensee hingerichtet wurde, schaffte es, sich auf einem kleinen Dorf der Hitlerjugend zu entziehen. «Hier kennt jeder jeden», sagte er, «und da war es eine Selbstverständlichkeit, dass ich im Deutschen Jungvolk oder der HJ mitmachen sollte.» Zusammen mit seiner Mutter kam er auf einen Trick: Er ging in Bremen zur Schule, von der er später als die anderen Schüler nach Hause kam, weil er anschließend noch Klavier- und Orgelunterricht nahm. In Bremen erzählte er, er absolviere seinen Dienst in Fischerhude, und in Fischerhude gab er vor, in Bremen zur HJ zu gehen. «Das hat man mir irgendwie abgenommen», sagte Tim, «und so bin ich nie in diesen Verein gekommen.»
Helmut Roloff absolvierte 1934 seine Referendarzeit in Gießen ( Foto: Helmut Roloff beim Studium 1933). Die Prüfungskommission musterte ihn und fragte: «In der SA sind Sie nicht?» Das habe zwar sehr neutral geklungen, erzählte er später, aber es sei durchaus nicht so gewesen. Er entgegnete, dass er sich ihr sehr gern angeschlossen hätte, ihm das aber nach seiner Rückkehr aus Leipzig aus verwaltungstechnischen Gründen nicht möglich gewesen sei. Dem konnte die Kommission nichts entgegensetzen, und 1935 bekam er eine Stelle als Gerichtsreferendar am Amtsgericht im hessischen Butzbach.
Allmählich musste er sich Gedanken machen, wohin ihn sein Berufsweg in der enger werdenden Welt führen sollte. Ihm war klar, dass er sich als Rechtsanwalt, Staatsanwalt oder Richter der zunehmenden staatlichen Kontrolle kaum entziehen konnte. Dazu kam, dass seine wahre Leidenschaft weiterhin dem Klavierspiel galt. Er wollte Musik studieren und hatte Glück, dass er bei seinen Eltern mit diesem Plan nicht auf taube Ohren stieß. Seine Schwester Eva lebte bereits in Berlin, und am 24. Januar 1935 schrieb ihre Mutter an sie:
(...) Helmut fährt seit Montag täglich nach Butzbach, wo er im Amtsgericht in die Funktionen eines Referendars eingewiesen wird. Er bekam neulich seine Urkunde: Im Namen des Reiches. Darin wird er mit Beamteneigenschaft bekleidet, bekommt aber die Versicherung, dass der Gerichtsreferendar nicht lebenslänglicher Beamter ist! Gottlob ist er zu Mittag immer wieder da, so dass die Sache nicht so teuer wird. In ihm gären übrigens die Dinge sehr. Er möchte so sehr gerne von Ostern ab 1 Jahr Urlaub nehmen und es noch ernstlich mit der Musik versuchen, am besten natürlich auf der Hochschule. Schreib doch mal die Aufnahmebedingungen (für Klavier und Dirigieren) und Daten und auch die Kosten. (...)
Sprich aber höchstens mit den Cousinen davon, nicht mit den Tanten, um keine vorzeitige Beunruhigung zu veranlassen.
Eva war es ein Leichtes, den Bitten ihrer Mutter zu entsprechen. Sie war selbst bereits an der Hochschule eingeschrieben, wo sie bei Professor Gustav Havemann studierte, einem begnadeten Geiger und fanatischen Anhänger Hitlers, der Vorsitzender des «Reichskartells der deutschen Musikerschaft» und Führer des nationalsozialistischen Kampfbundorchesters war. Jüdische Musiklehrer wurden aus der Hochschule gedrängt; nur wer Mitglied des staatlichen Verbands der Musiker war, durfte noch öffentlich auftreten, und Juden wurden in diesen Verband grundsätzlich nicht aufgenommen. «Mit dieser Maßnahme treffen wir alle Elemente, Ausländer und Schwarzarbeiter», schrieb Havemann damals stolz an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels. Trotzdem standen ihm, genau wie seiner Studentin, unerwartete familiäre Verbindungen zur Roten Kapelle bevor: Sein Schwager hieß Arvid Harnack, und auch sein Sohn Wolfgang wurde später als Angehöriger der Gruppe verhaftet.
Nachdem seine Schwester die notwendigen Anmeldedaten eingeholt hatte, konnte Helmut Roloff sich in Butzbach mit der Begründung beurlauben lassen, dass seine Eltern nach Berlin ziehen würden. Dem wurde entsprochen, und als er in Berlin ankam, stand sein Entschluss fest. Zu seiner Schwester sagte er: «Ich mache den Quatsch nicht länger mit, ich muss Musiker werden!»
Etwa sechs Jahre waren vergangen, seit der Rückkehr der Familie Roloff nach Berlin. Es war Donnerstag, der 17. September 1942.
Helmut Roloffs Mutter, eine Tante und seine Schwester Eva saßen in der Wohnung in Berlin-Wilmersdorf, Traunenaustraße 10 und tranken Tee; für den Abend war ein Opernbesuch geplant. Als es klingelte, wunderten sie sich, denn sie erwarteten keinen Besuch. Eva öffnete die Tür, und drei unbekannte Männer in Zivil traten aus dem Hausflur auf sie zu. Einer überragte die anderen um einen ganzen Kopf, später konnte sie sich nur an eine Warze auf seiner Stirn und an den scharfen Ton seiner Stimme erinnern, mit der er sich als «Kriminalpolizei» zu erkennen gab. «Ja was wollen Sie denn bei uns?» fragte sie, während die Männer sie beiseite schoben und in die Wohnung eindrangen. Zunächst schauten sie in alle Räume, die direkt vom Flur abgingen, dann in den langen Korridor, an dessen Ende sich der Hinterausgang befand.
Ihre Mutter und Tante waren aus dem Salon getreten und betrachteten die Eindringlinge mit Besorgnis. Die Polizisten hatten nach Helmut Roloff gefragt, und obwohl sie ihnen gesagt hatten, dass er nicht im Hause sei, vergewisserten sie sich, ob er sich irgendwo versteckt hielt. Sie wiesen die Frauen an, wieder im Salon Platz zu nehmen, sich still zu verhalten und das Telefon nicht zu benutzen. Dann fingen sie an, sein Zimmer zu durchsuchen.
Nach einer Weile drehte sich der Schlüssel im Schloss, und der Gesuchte betrat die Wohnung. Die Polizisten zerrten ihn sofort in sein Zimmer und schlossen die Tür. Wiederum war es der Größere, der das Wort führte: «Wo ist der Koffer?» – «Welcher Koffer?» – «Lügen Sie nicht», sagte er, «Herr Himpel hat uns schon alles gesagt!»
Gemeinsam mit dem Zahnarzt Helmut Himpel, seiner Freundin Maria Terwiel und deren Bruder Gerd hatte Helmut Roloff Flugblattaktionen durchgeführt. Er hatte sie immer sehr geschätzt wegen ihres souveränen Verhaltens und ihrer menschlichen Wärme, und die Gegenwart der Polizisten war für ihn kein hinreichender Hinweis darauf, dass sie ihn verraten haben könnten.
Geistig verwandt fühlte er sich ihnen auch, weil ihr Entschluss, gegen die Nazis zu arbeiten, dem einfachen Bedürfnis entsprang, ihre bedrückende Umgebung durch ein wenig Menschlichkeit auszugleichen, ohne dass dabei politische Ideologien eine Rolle spielten. Sie waren Christen, aber über Religion und dadurch bedingtes Verhalten hatte er sich nie Gedanken gemacht. Es genügte ihm zu wissen, dass seine Freunde freidenkende Menschen waren. Aus dieser Überzeugung heraus konnte er fest davon ausgehen, dass sie sich auch unter Druck nicht von den Nazis vereinnahmen ließen oder von sich aus jemanden verraten würden.
Die Polizisten hatten ihm gerade unfreiwillig zwei wichtige Informationen gegeben: Himpel war verhaftet worden, und sie wussten von dem Koffer. Marie Terwiel hatte Helmut Roloff eine Woche zuvor am Telefon gebeten, in die Zahnarztpraxis zu gehen und ihn abzuholen. Jetzt stand er hinter einem Notenschränkchen unter seinem Flügel, und sicherlich hatten die Polizisten ihn bereits entdeckt. Da Leugnen sinnlos war, sagte er: «Ach, diesen Koffer suchen Sie», und zog ihn hinter dem Schränkchen hervor.
Sie fragten nach seinem Inhalt, aber Roloff konnte nichts darüber aussagen. Der Koffer war mit Draht umwickelt und mit zwei Schlössern versehen, und nach seinem Inhalt hatte er Himpel beim Abholen wohlweislich nicht gefragt.
Die Polizisten fragten nach dem Schlüssel. Roloff hatte ihn nicht. Mit den Zangen, die sie vorsorglich mitgebracht hatten, brachen sie den Koffer auf. Innen war eines von zwei Funkgeräten, die ein Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft noch Mitte Juni 1941, wenige Tage vor dem Einfall deutscher Truppen in die Sowjetunion, in Berlin übergeben hatte. Empfänger waren die Berliner Widerstandsgruppen um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, mit denen auch Himpel, Terwiel und Roloff verbunden waren. Der Besitz eines solchen Funkgeräts war Landesverrat, auf den die Todesstrafe stand.
Ein damals üblicher Senderkoffer
Obwohl Helmut Roloff sich in den vergangenen Tagen ein wenig Sorgen gemacht hatte, nichts mehr von Himpel und Terwiel gehört zu haben, hatte er es für klüger gehalten, nicht bei ihnen vorbeizuschauen. In seiner Wohnung hatte er keine Veränderungen vorgenommen, und auf seinem Schreibtisch lagen verschiedene Briefe, darunter zwei, in denen befreundete Juden ihm für ihnen erwiesene Gefälligkeiten dankten – in einem für Zigaretten, im anderen dafür, dass er ein paar Lenbach-Bilder in Sicherheit gebracht hatte. In letzterem stand zusätzlich, dass demnächst weitere Werke vorbeigebracht würden und dass man unter den politischen Umständen nur den Kopf in den Sand stecken und auf bessere Zeiten warten müsse – ein harmloser Satz, auf den bei den Nazis allerdings auch bereits die Todesstrafe stehen konnte. Sicher wäre es besser gewesen, dieses belastende Material zur Seite zu schaffen.
Die Polizisten steckten alle Briefe ein, die auf dem Schreibtisch lagen. Sie fragten Helmut Roloff immer wieder nach dem Funkgerät und ob er weitere Gegenstände versteckt hätte. Er beteuerte, nichts zu wissen. Als er, von den zwei Beamten flankiert, aus dem Zimmer trat, war sein Gesicht röter als sonst, aber er versuchte, den Frauen gegenüber einen Eindruck von Normalität zu vermitteln. «Ich muss mit diesen Herren kurz weg», sagte er, «geht heute Abend ruhig in die Oper.»
Unten wartete ein unauffälliger VW-Käfer mit einem Fahrer. Obwohl hinten kaum Platz für drei war, nahmen zwei Polizisten ihn auf der Rückbank in ihre Mitte, der dritte setzte sich mit dem Koffer nach vorne. Während der Fahrt stellten sie ihm immer wieder Fragen über den Inhalt des Koffers, dessen Inhalt ihm, wie er wiederholte, nicht bekannt war. Den Worten der Polizisten konnte er entnehmen, dass Helmut Himpel und Marie Terwiel bereits verhaftet waren, aber ihren Bruder erwähnten sie nicht, er schien noch in Freiheit zu sein. Sie fuhren in die Prinz-Albrecht-Straße 8, wo das Hauptquartier der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei, untergebracht war. Seit 1939 hieß es Amt IV des Reichssicherheitshauptamtes, und der Zusatz «Gegner-Erforschung und Bekämpfung» verwies auf seine Funktion.
Im Innenhof zerrten sie ihn aus dem Wagen und stiegen in einen Fahrstuhl. Kaum oben angekommen, verschwanden zwei von ihnen mit dem Koffer in einem Zimmer. Dann geschah etwas Ungewöhnliches. Der neben Roloff zur Bewachung zurückgelassene Polizist sagte leise: «Das haben Sie gerade alles sehr gut geschildert. Nun bleiben Sie mal bei Ihrer Geschichte.» Ohne eine Regung zu verraten, blickte ihm Helmut Roloff in die Augen.
Er wurde anderen Polizisten übergeben, die seine Taschen leerten und ihn in einen länglichen Raum führten. Am entgegengesetzten Ende stand ein Stuhl, dessen gelblich-hellbraune Farbe bei ihm auf den ersten Blick Assoziationen mit Schulmobiliar hervorrief. Er wurde aufgefordert, sich hinzusetzen, sein Hinterkopf wurde an eine Metallstange gedrückt und rechts wurde auf Schulterhöhe ein Schild mit Datum und Nummer eingeklinkt: «Gestapa [Geheimes Staatspolizeiamt] 42 Sept. 211». Hinten an der Wand standen zwei Kinder von Gestapo-Beamten und schauten interessiert zu, dazwischen war die Kamera platziert. Dann wurde der Raum verdunkelt, ein Beamter drückte auf den Auslöser, und der Blitz blendete ihn. Links von Roloff stand ein weiterer Beamter, der einen mit dem Stuhl verbundenen, etwas über einen Meter langen Hebel betätigte. Mit einem knarrenden Geräusch schwang er den Stuhl mit einem plötzlichen, groben Ruck nach rechts. Ein zweiter Blitz beleuchtete Roloffs Profil, bevor der Stuhl mit einer weiteren harten Bewegung in der Halbprofilposition einrastete.
Erkennungsdienstliche Fotos von Helmut Roloff
Dann durfte er wieder aufstehen, die Gestapo hatte gerade erkennungsdienstliche Fotos von ihm gemacht, und dann wurde er in den Keller gebracht, wo SS-Männer ihm Handschellen anlegten und ihn in eine kleine Isolierzelle führten. Einer der Uniformierten sah ihn an und sagte mit Blick auf die Handfesseln: «Na, Kleener, hast wohl gelogen.» Dann wurde die Tür hinter Helmut Roloff zugeschlagen.
( Foto: Zelle in der Prinz-Albrecht-Straße )
Der erste erhaltene Brief von seiner Familie nach seiner Festnahme spiegelt die gedrückte Stimmung wider. Seine Schwester Heilwig zog zur seelischen Unterstützung ihrer Eltern nach Berlin, wohl auch in der Hoffnung, dass ihr kleiner Sohn sie ein wenig ablenken würde. Am 24.September 1942 schrieb sie aus Darmstadt ihrem Mann, der im Krieg war:
(...) Von Eva kam eine Karte mit keinen neuen Nachrichten (von Helmut). Ich
soll so bald wie möglich nach Berlin kommen. (...)
Leicht wird es nicht sein, auch bei der allerbesten Haltung. Denn je weiter die Zeit geht, desto schwerer wird es, und so viel Kräfte sind doch gar nicht vorhanden. Das Beste wird schon arbeiten sein. Und zwar ganz simples, körperliches. Das habe ich auch heute Morgen schon gemerkt, während ich mit mehr Fleiß als bisher unser Zimmer gereinigt habe, und mich mit der Wäsche beschäftigte.