Cadeggianini Georg
Aus Liebe zum Wahnsinn
Mit sechs Kindern in die Welt
Fischer e-books
Georg Cadeggianini, 1977 geboren, ist Brigitte-Kolumnist und Redakteur im Ressort Zeitgeschehen. Er schreibt unter anderem für »Stern«, »Süddeutsche Zeitung«, »Nido«, »Zeit Campus«, »Chrismon«. Er arbeitet in Hamburg und lebt in München.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildungen : © STEPHANIE FUESSENICH
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400787-8
wo die Salami überm Ehebett hängt, Eltern zu Toreros werden und Entenform-Eiswürfel im Gin schwimmen. Und warum wir bei alledem nur mit einer Strategie weiterkommen: Complicate Your Life
Zu CYL kam ich wie der heilige Joseph zum Kind: weitgehend unbeteiligt, en passant – durch Reden. Sagen wir: Ich kannte die richtigen Leute. CYL ist Sinn und Speed in einem. CYL ist das Wichtigste, was ein Mensch lernen kann: Complicate Your Life. Wer sich für den CYL-Weg entscheidet, ist schon fast da: im Glück.
Es könnte alles so einfach sein, dachte ich früher. Entschleunigen, Runterfahren, ein Leben in Basics. Was braucht man denn schon wirklich? Simplifying, den Alltag entschlacken, immer mal wieder ein paar Schlucke Yogi-Tee, nicht zu heiß. Einfach mal richtig entspannen.
Ein Irrweg.
Es war jener Abend mit Simon, an dem ich die Kraft von CYL in meinem Leben erkannte.
Wer die Idee mit der selbstgemachten Pasta hatte, ist im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbar. Wahrscheinlich ich. Sicher sind nur zwei Dinge. Erstens: Die Idee passte ganz wunderbar zu diesem Abend. Zweitens: Sie war Mist.
Da waren:
6 bettreif-unwirsche Kinder,
1 Frau im Mantel,
1 Mann ohne Nerven,
3 Dutzend Murmeln,
1 Glas Waldhonig (750 Gramm), das aus Brusthöhe der Schwerkraft überlassen wurde,
35,8 Kilo Lego und
1 Überraschungsgast.
Ja, und hinzukamen dann noch 5 Eier, Salz, 500 Gramm Mehl, um ebenjene vermaledeite, geknetete, gewalzte, geschnittene Hausmacherpasta zu machen.
Aber vielleicht beginnt man so einen Abend am besten unten. Beginnen wir also mit dem Kleinsten. Beginnen wir mit Jim.
Jim, 1, stapft in die Küche, die Windel hängt tief, in der Hand eine Blechdose mit Murmeln.
»Ech. Mörmeln.« Jim sagt »Ech« statt »Ich«, »Mörmeln« statt »Murmeln«, und wenn es etwas zu verteilen gibt, dann meldet er sich stets beidhändig.
Camilla, 7, jagt Lorenzo, 6, durch den Raum, rempelt Jim an. Er wankt, fliegt ein wenig gegen den Kühlschrank. Die Murmeln scheppern in der Blechdose. Das ist laut. Jim lacht.
Er ist Sechstgeborener – mit allem was dazugehört. Das sind neben fünf größeren Geschwistern vor allem zwei Eigenschaften: Standfestigkeit und eine Art Lückenintuition.
Ein Sechstgeborener probiert nicht einfach mal eben so das große Ding mit dem Laufen aus. Wenn Jim sich hinstellt, dann breitbeinig, so als ob er normalerweise auf einem Pferd durchs Leben reiten würde, das ihm aber aus unerklärlichen Gründen abhandengekommen ist, was er jedoch – wie man aus seiner Beinstellung schließen muss – noch gar nicht bemerkt hat. Und falls Jim trotzdem mal hinknallt, dann auch nicht einfach so – mit Karacho auf den Hinterkopf, lang, langes Luftholen, Platzwunde, Krankenhaus –, nein, sondern tapfer und falltechnisch ausgebufft. Jim findet immer noch irgendeinen Halt, einen Kühlschrankgriff, ein Telefonkabel, ein Geschwister, irgendwas, um die Wucht abzubremsen. Ihm genügen Millisekunden, um den Arm noch zur Seite zu nehmen, sich im Fallen einzudrehen und dann abzurollen. Das tut natürlich trotzdem weh. Man sieht das. Und wenn es sehr weh tut, dann schreit Jim auch. Aber dann eben verdichtet: also kürzer und dafür lauter. Als er sich neulich seinen linken Ringfingernagel bis kurz vors Nagelbett eingeschnitten hat, haben wir das weder mitbekommen, noch uns im Nachhinein erklären können. Den Blutspuren folgend haben wir den kleinen Mann gefunden: aufrecht, tonlos, staunend.
Neben der Standfestigkeit ist es zweitens eben auch die Lückenintuition, die unseren Jüngsten auszeichnet. Jim ist Nischenmeister.
Als er auf die Welt kam, waren Leben und Wohnung der Eltern bereits voll. Drei Zimmer, acht Leute – das wird eng, dachte er sich wohl und schulte von Anfang an jenen Instinkt zur Lücke, mit dem er sich bis heute, etwa beim Buchvorlesen, so lang aalt, bis er auf einem Premiumplatz sitzt.
Ein normaler Würfel hat sechs Seiten, ein normaler Vorleser drei: links, rechts und Schoß. Nur wer einen dieser drei Plätze ergattert, dem ist der freie Blick ins Bilderbuch gewiss. Nischenmeister Jim hat nun – sehr zu meinem Leidwesen – einen vierten Platz aufgetan: auf dem Kopf des Vorlesers. Jim ist der, der sich bei der Polonaise einfach vorne randrückt, während andere noch auf das Schlangenende warten. Und beim abendlichen Akkordzähneputzen ist er es, der es immer schafft, sich bereits vor Ablauf der Minimalzeit wieder aus dem Bad zu winden. Sollen doch die anderen Zähne putzen.
Die anderen: Da gibt es die ehrgeizig-sportlich Pflichtbewusste (Gianna, die Älteste) und die kreativ-konfliktscheu Intuitive (Elena, die Zweite), die ruppig-laut Herzensnahbare (Camilla, die Dritte), den launisch-leidenschaftlich Cholerischen (Lorenzo, der Vierte) und den bedächtig Überlegten, ewig verschnupft (Gionatan, der Fünfte). Alle Rollen, die irgendwie das rare Gut elterlicher Aufmerksamkeit generieren können, schienen bei Jims Geburt also bereits vergeben. Unsere fünf Kinder hatten sich – wie Fahrgäste im Zugabteil – gleichmäßig verteilt, in Charakterecken zurückgezogen, Raum für sich gefunden. Alles voll. Es gab nur eine Sache, mit der Jim, der Letztgeborene, wirklich punkten konnte: mit chronisch guter Laune.
Und da lehnt Jim nun am Kühlschrank, lacht und schüttelt die Dose: »Mörmeln.« Aufmerksamkeit, für ein paar Momente zumindest, bevor wieder das familiäre Hintergrundrauschen Oberhand gewinnt.
Gianna, 11, will, dass ich ihren Zauberwürfel verdrehe. Ich, 33, stecke mit den Händen im Teig.
»Gianna, schütt’ mir mal noch etwas Mehl rein, bitte.« Gionatan, 3, will wissen, wer das Schneeräumgerät erfunden hat, mit dem er mir gerade gegen die Füße fährt. Meine Frau Viola, 34, kommt in die Küche. Im Mantel. – Im Mantel?
Jetzt hat Camilla Lorenzo erwischt. Handgemenge. Ich brülle ein wenig. Viel Mehl landet auf dem Boden, vor dem Schneeräumgerät. Elena, 9, geht dazwischen. Halbherzig. – Warum hat Viola eigentlich diesen verdammten Mantel an? – Sie brauche höchstens vier Minuten, sagt Gianna. In vier Minuten bekomme sie den Würfel aus jeder Position wieder in die Ausgangslage. – Natürlich habe sie das in unseren Onlinekalender eingetragen, meint Viola. Kino mit Freundin, Donnerstagabend.
Der Nudelteig muss jetzt ruhen, mindestens eine halbe Stunde – eigentlich.
Dann löst sich der Blechdosendeckel. Etwa drei Dutzend Murmeln klacken, springen, lärmen über die Fliesen, ziehen Spuren im Mehl. Jim reißt beide Arme hoch und lacht.
»Mörmeln«, sagt er.
»Ich verwürg dich!«, schreit Lorenzo und rennt hinter Camilla her.
»Da. Jetzt verdreh halt endlich!«, fordert Gianna.
»Also, tschüs dann«, sagt Viola und geht.
Wer Nudeln selber macht, braucht Kraft, Geduld und Platz. Kraft, weil der Teig trocken, fast spröde sein muss. Geduld, weil er x-mal durch die Walzen muss. Platz, weil aus einem faustgroßen Klumpen ein eineinhalb Meter langes Band wird, das man erst mal zwischenlagern muss. Und ja, ich verstehe, warum es Fertignudeln gibt. Ich kenne auch Geschäfte, in denen man Fertignudeln kaufen kann. Mache ich auch. Habe ich auch. Nudeln sind im Schrank. Kiloweise. Aber diesmal, da soll es eben was Besonderes sein.
Lorenzo und Camilla, soeben frisch versöhnt, kommen in die Küche, als ich gerade die »Imperia« vom Schrank wuchte, die tonnenschwere Nudelmaschine, so alt wie meine Frau, eine Dauer-Leihgabe meiner italienischen Schwiegereltern.
»Wir helfen dir«, sagen Lorenzo und Camilla.
Mit Kinderhilfe ist das so eine Sache. Wenn es sich nicht gerade um Cocktail-Mixen oder Horrorvideos-Sortieren geht, ist es absolut verpönt, sie auszuschlagen. Ich sehe Kinderhilfe als extrem harte Schule der Teamfähigkeit. Kinderhilfe bedeutet: Du befindest dich in einem Team, in dem dein Partner ständig das genaue Gegenteil von dem macht, was du willst, du ihn dafür auch noch loben sollst und am Ende du derjenige bist, der alles aufräumen muss. Und zwar allein. Dabei erhöht jedes mithelfende Kind das Endchaos exponentiell. Das bleibt so, bis die Kinder aus dem Besteckkastenalter raus sind. Bis dahin können Kinder nicht sinnvoll im Haushalt mithelfen. Außer bei zwei Dingen: Daumen auf den Geschenkbandknoten drücken und eben Ausräumen des Spülmaschinenbesteckkastens.
Ist ja auch nicht schlimm.
Müssen sie ja auch nicht.
Wollen sie aber.
»Ich darf kurbeln«, bestimmt Camilla, schiebt schnell einen Stuhl an die Arbeitsfläche und greift sich die Nudelkurbel. Damit hat sie alle Produktionsmittel in der Hand. Lorenzo, 18 Monate jünger, beginnt umgehend mit lauten »Unfair!«-Rufen. Aus Erfahrung weiß ich, dass »unfair« nur die erste Stufe ist. Die zweite lautet: »Dann zerreiß ich dir die Pasta/gebe dir nie mehr was von meinen Süßigkeiten/bin ich nie wieder dein Freund/verhaue dich.« Und die dritte Stufe ist dann – und zwar unabhängig davon, wie die zweite lautete: Hauen.
Ich befriede ein wenig, da ich keine Zeit für Streit habe: »Du darfst auch kurbeln.« Natürlich werde abgewechselt, aber einer müsse sich auch der schwierigen und delikaten Aufgabe des Pasta-Entgegennehmens widmen.
»Lorenzo, ich glaube, dafür bist du zu klein.« Große Egos muss man bei ihrem Ego packen.
Camilla kurbelt und kurbelt, treibt Teigbrocken durch zwei Stahlwalzen, legt sie dann einmal zusammen, und wieder von vorne. Und noch mal. Und noch mal. Das Ganze in sechs verschiedenen Stufen, immer feiner.
Sie schnauft. Beim Abnehmen passieren Ungenauigkeiten, die sich Lorenzo und Camilla gegenseitig vorwerfen. Manchmal verwechselt Camilla die Kurbelrichtung, dann saugt es den Teig zurück und er bekommt Löcher.
»Soll ich mal?«, frage ich. Camilla schüttelt den Kopf: »Ich bin der Kurbler«, zischt sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Camilla hat eine heisere Stimme, eigentlich immer. So wie Gianna Nannini, nur mit weniger Publikum. Unsere Kinderärztin meinte, das seien »Schreiknötchen«, Folgen einer Überbeanspruchung der Stimme. Camilla sollte eine Zeitlang ruhig sein, die Stimme schonen, nur ein paar Tage lang. Ich schwieg und starrte. Mitten ins Gesicht der Ärztin. Wahrscheinlich gibt es wenig, was diesen ungläubigen Blick beschreiben könnte. Ungläubig, das war er auf jeden Fall. Wie Josef, als er im Stall zu Bethlehem vor gut 2000 Jahren – die Hirten waren endlich gegangen, sogar die Engel waren still – jäh aus dem Schlaf gerissen wurde.
»Guten Abend, israelisches Jugendamt. Entschuldigen Sie bitte die Störung.« Man hört Strohrascheln, Josef erhebt sich.
Jugendamt: »Ist das Ihr Kind?«
Maria: »Ja«
Josef: »Äh …«
»Sie brauchen nichts zu sagen, wir sind gut informiert – der israelische Geheimdienst. Sie wissen schon …« Jugendamt räuspert sich. »Nur eine Frage, Herr Josef: Fechten Sie die Vaterschaft an?«
Es war dieser ungläubige Gesichtsausdruck des Josef, der mal eben die Unterhaltszahlungen für Gottes Sohn im Kopf durchrechnete, der nun meine Mimik im Behandlungszimmer der Kinderärztin beherrschte.
Eine Zeitlang ruhig sein? Die Stimme schonen? Nur ein paar Tage lang? Camilla? Ganz große, ungläubige Josefverwirrung. Dann meinte die Ärztin: »Wir können auch auf den Stimmbruch warten, dann gibt sich das normalerweise.«
Als Camilla noch Zöpfe trug, im Kindergarten, wollte sie eine Zeitlang immer exakt ein und dasselbe Kleid anhaben, nur dieses eine, roter Samt, rosa Tüll mit silbernen Punkten, Riesenschleife. Das Kleid musste nachts gewaschen und trockengeföhnt werden. Sie ist unsere dritte Tochter, die beiden älteren waren sehr pflegeleicht. Wir hatten Zeit, wir machten den Quatsch mit.
Camilla änderte sich radikal, als Haudegen Lorenzo in den Kindergarten kam. Plötzlich ging sie in den Fußballverein, wollte nur noch Hosen anziehen, und als ihr Violas italienische Tante, Inhaberin eines Friseursalons, zum sechsten Geburtstag einen kompletten Salonbesuch schenkte – »Hier, schau mal in die Magazine. Ich mach dir jede Frisur, was immer du willst. Paintings, Foliensträhnchen, Extensions?« – , da überlegte Camilla kurz und sagte dann mit ihrer Gianna-Nannini-Stimme: »Ich will die Haare so wie Lorenzo.«
Bis heute hat Camilla zwar keine Lieblingsfarbe, aber eine Hassfarbe: Rosa. Jetzt ist sie sieben, sie geht klettern statt Fußballspielen, trägt weiterhin Hosen, die Schreiknötchen sind geblieben, sie krempelt gern ihr T-Shirt hoch: »Schau mal, meine Muscoli.«
In der Küche steht sie immer noch auf dem Stuhl, verklebt mit Nudelteigresten, der Kurbelchef, und weist fachmännisch Lorenzo ein: »Immer so rum.« – »Immer gleich schnell.« – »Das braucht richtig viel Kraft.« Noch ist kein einziger Klumpen durch Stufe sechs gegangen, kein einziger Klumpen auf Nudeldicke gewalzt.
»Mehr muscoli!«, stachelt Camilla.
Ich drücke mich dazu, drängle, drehe, bringe das erste Nudelband schließlich zum Abschluss. Wie das Goldene Vlies wird es von Lorenzo und Camilla ins Wohnzimmer getragen.
»Wohin?«, brüllt Camilla. Ich schiebe schnell zwei Tripp Trapps, die bunten Mitwachsstühle, auf gleiche Höhe. Das Pastaband baumelt über den Lehnen, quer durchs Wohnzimmer.
Ich rechne hoch, wie lang wir in diesem Tempo wohl brauchen, mache mir erste Sorgen über den Ablauf des Abends, pfusche bei der zweiten Teigportion immer wieder dazwischen – mit Erfolg: Lorenzo verliert die Lust am Nudelnmachen. Das ist unfair, denke ich mir, aber auch verdammt praktisch. Vor mir noch sieben weitere Teigklumpen.
Wir wohnen in München, auf 93 Quadratmetern. Noch sind die Kinder klein, die Betten zweistöckig, ihre Pullis kann man auf DIN A 5 falten, das Bad wird nicht abgesperrt, ihre Schuhe passen ins ausrangierte CD-Regal. Aber lang wird das nicht mehr gutgehen. So wie es jetzt schon manchmal nicht mehr gutgeht. Anzeichen sind Lorenzos geschleuderte Salamibrote, Sätze wie »Ich will aus der Welt springen« oder »Ich wandere aus«. Dann Wohnungstürschlagen. Und einmal ist Lorenzo dabei sogar durch eine bodentiefe Duplex-Thermofensterscheibe gekracht, im dritten Stock, mit dem Po voraus. Zum Glück haben wir einen Balkon.
Unsere Strategie bei der Mangelverwaltung: Wir bündeln Wohnabsichten. Also kein Gießkannenprinzip (gleichmäßige Verteilung der Kinder: immer zwei Betten in ein Zimmer, schaut, wer sich am besten miteinander verträgt; pro Raum einen Arbeitsplatz für jedes Schulkind; Spielecken nach Alter und Interessen). Lieber in Themen wohnen: Lieber nur zwei Schlafzimmer à drei Kinder und dafür noch ein extra Spielzimmer. Lieber enge Schreibtischplätze wie auf der Hühnerstange, als im großzügigen Wohnzimmer noch eine Arbeitsecke aufmachen. Wir, die Eltern, schlafen ohnehin schon seit Jahren in der Küche.
Bei all dem Bündeln und Themengewohne fällt natürlich immer wieder was hinten runter. So ist zum Beispiel die Liegesituation für den Erziehungsberechtigten, der im Krisenfall (Albtraum, Backenzähne, Unwille) bei den Kindern schlafen muss, sehr, sehr lausig. Früher stand da, wo jetzt kein Platz mehr ist, noch eine Schlafcouch, aber die haben die Kinder ohnehin durchgehüpft. Der Schreibtischplatz von Camilla hat wenig, eigentlich gar kein natürliches Licht. Und nein, für acht teenagerlange Pastabänder haben wir weder einen Extraraum noch einen Hängeturm. Aber Tripp Tapps – davon haben wir genug.
Themenwohnungen haben sich in ihrer Radikalität noch nicht durchgesetzt. In München zum Beispiel bekommt man geförderte Familienwohnungen nur, wenn man nicht mehr als zwei Kinder für ein Zimmer einplant. Und selbst diese Kleinbündelung ist nur erlaubt, wenn die Kinder gleichgeschlechtlich sind. Der Hausmeister versteht unser Winterkonzept nicht: Natürlich passen Schlitten, Doppelkinderwagen, acht Paar Winterstiefel vor die Wohnungstür. Und als Viola bei einem Einrichtungshaus nach dreistöckigen Kinderbetten fragt (»aber nicht höher als 2,50«, schließlich wohnen wir nicht im schicken Altbau), wird sie ins Materiallager der Bundeswehr geschickt.
Oder beim letzten Kindergeburtstag, ganz zum Schluss: Die Eltern standen schon in unserer Schlafküche, hielten immer mal wieder toreroartig kleine Anoraks in die Luft, bereit, ihre aufgeheizt überzuckerten Kinder einzufangen. Ich berechnete währenddessen die Ausmaße der Hölle: Bis alle meine Kinder 13 Jahre alt sind, werde ich 78 eigene Kindergeburtstage ausgerichtet haben (13 x 6). Wird zusätzlich jedes Kind pro Jahr zu – sagen wir mal – fünf Geburtstagsfeiern eingeladen, macht das noch mal 390 Fremdgeburtstage on top (13 x 6 x 5): 390 Kindergeschenke besorgen, 390-mal hinbringen und abholen, 390-mal Eltern, die den ganz besonderen Tag aus dem Hut zaubern wollen, 390-mal das ganze Mittelpunktgestehe eines kleinen, überforderten Menschen. 390-mal werde ich mich über Süßigkeitentüten ärgern, die zu Hause wieder nur für Streit sorgen. Der ganze Mist eben.
»Am besten angekommen ist die Teebeutelrakete«, prahlte ich ein wenig in Richtung Torero-Eltern: Zündschnur, Schwarzpulver, Raketenkorpus – in jedem kleinen Teebeutel schlummert eine große Raketengeschichte.
»Und sie ist bis zur Decke hochgestiegen«, erzählte ich weiter und stellte meinen Fuß auf einen der Tripp Trapps, dort wo jetzt Pastabänder liegen. Es wurde höflich nachgefragt. Ich antwortete.
»Dann Löffelgrapschen und vergiftete Smarties.« Anschließend wurde über die mal dicker, mal dünner werdende Kindergärtnerin gesprochen und über die ewige Baustelle im Außenbereich. Im nächsten Gesprächsloch folgte ich dem irritierten Blick eines Vaters an die Decke unserer Küche: Die Salami. Sie war eben einfach noch etwas zu weich, sollte aushärten – nur zwei, drei Tage lang –, und dieser Haken dort oben, an dem früher einmal eine Lampe für den Küchentisch gehangen hatte, war der einzige Ort, der vor Jim sicher war und an den trotzdem genug Luft kam. Und nun hing sie da eben – zentral über unserem Ehebett und ausgerechnet zum Kindergeburtstag – eine armdicke Salami.
»Also,. … das …, das mit der Salami …«, stotterte ich drauflos, »das ist so eine Tradition aus einem kleinen Dorf in Süditalien. Dort, wo der Vater meines Schwiegervaters geboren wurde. Wie das alles angefangen hat, weiß heute niemand mehr. Aber die machen das da alle so, sagt zumindest mein Schwiegervater.«
»Wie – die machen das da alle so?«, fragte ein Torero-Vater. »Warum?«
»In dem Dorf gibt es dafür eine eigene Redewendung«, antwortete ich: »Sdraiarsi sotto il salame.« – »Sich unter der Salami räkeln.« Ich machte eine kurze Pause. Alle schauten zur Decke. »Sdraiarsi sotto il salame« sei dort zur Chiffre für ein erfülltes Liebesleben geworden, erklärte ich. »Normalerweise besorgt der Trauzeuge die Salami. Und die wird dann mit großem Gestus und Augenzwinkern dem Paar übergeben.« Ich starrte Richtung Salami, nickte ihr zu. »Ich wusste das ja auch alles nicht: Aber mein Schwiegervater war neulich wieder dort. Als er zurückkam, legte er eine Hand um meine Schulter, die andere auf die mitgebrachte Wurst. ›Sie muss vom Esel sein‹, begann er und erklärte mir die ganze Geschichte.«
Dass ich mit dieser kleinen, wild zusammenfabulierten Anekdote die Torero-Eltern falsch angefasst hatte, merkte ich daran, dass sie nach einer kurzen Anstandspause gleichermaßen hilf- wie nahtlos erst auf die dicke Kindergärtnerin zurückschwenkten und sich dann abrupt verabschiedeten. Kollateralschaden einer Schlafküche eben.
Als das Telefon klingelt, drapiere ich gerade den letzten Nudellappen über einen Tripp Trapp. Bis dahin war eigentlich alles ganz gut gelaufen. Lorenzo und Camilla waren im Spielzimmer verschwunden, alles ruhig. Das Wohnzimmer hat jetzt etwas von einem Meditationsraum. Wie Stoffbahnen oder Gebetstücher hängen und liegen überall Pastabänder. Es sieht friedlich aus.
Es täuscht.
Natürlich kann immer alles passieren: Die Kaffeetasse kann einem aus der Hand fallen oder eines der Kinder aus dem Stockbett. Eine Spülmaschine hält nicht ewig, eine Ehe wahrscheinlich auch nicht. Und wer sagt mir, dass ich morgen noch weiß, wo ich den Hauptwasserhahn abdrehen kann? Just in case.
Unser Leben ist fragil, unter Beschuss, voller Fallhöhen. Recht so. Ich finde das nicht nur okay, eigentlich mag ich das. Wenn man was groß haben will, geht es halt auch ordentlich runter. Ein bisschen Höhenangst gehört da einfach dazu.
Ach so, Telefon.
»Simon, du? Mensch. Natürlich erinnere ich mich. Und?«
Grundschulbanknachbar, heute Industriedesigner, CEO, Single, eigentlich in Tokio daheim, seit 15 Jahren no meet no greet, nur heute in der Stadt, Nummer über Facebook.
Ob wir einen trinken gehen?
»Ich kann hier ganz schlecht weg.«
»Dann bei dir. In zwanzig Minuten? Vielleicht kochen wir irgendwas?«
So. Ich schaue auf die Uhr: Viertel vor sieben.
Ich schaue ins Mädchenzimmer: überall Papierschnipsel, Kartonagen, dazu ein Hörbuch, Eoin Colfer: »Tim und der schrecklichste Bruder der Welt«, laut.
»Tür zu! Wir basteln eine Mörmelbahn für Jim zum Geburtstag.«
Ich schaue ins Spielzimmer: Das gesamte Lego ist zu einem Berg zusammengeschüttet. Lorenzo und Camilla tanzen.
Ich schaue ins Bad: Gionatan und Jim spielen. Mit einer Tube Zahnpasta, einer Lego-Duplo-Platte und viel Wasser.
Ich atme einmal tief aus, brülle ein wenig vor mich hin, resümiere. Selbst wenn es mir gelänge, dem Chaos hier mit Hilfe von Strenge und Industriestaubsauger ein paar Inseln der Ordnung abzutrotzen, selbst dann – wer zur Hölle könnte diese halten, jetzt, in der Hauptverkehrszeit der Familie?
Ich trommle die Kinder zusammen, Krisenstab. Ich versuche es mit Appellen an die Menschlichkeit. Bitte um Anstand, Aufräumen. Ohne Erfolg.
Strategiewechsel.
»Simon kommt gleich«, sage ich. »Mit dem habe ich früher ganz viel Blödsinn gemacht. Wir haben Hagebutten aufgeschnitten, daraus Juckpulver gemacht und blöden Mitschülern in den Kragen gestopft. Einmal hat sich Simon dabei sogar den Arm gebrochen und bekam einen Gips. Und wir hatten eine befreundete Spinne, einen Weberknecht, den wir im Schulwald festgebunden haben.«
Und auf einmal leuchten Augen, Nachfragen kommen.
»Wie ist der Arm kaputtgegangen?«
»Was ist ein Leberknecht?«
»Wo gibt’s hier Hagebutten?«
Und jeder bekommt eine Aufgabe, besteckkastenklein. Dann ist zumindest der Esstisch abgeräumt und das Bad benutzbar. Als ich Jim gerade in seinen Pyjama bugsiere, läutet es an der Tür.
»Mensch. Simon.« Umarmen. Schulterklopfen.
»Georg! Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du barfuß mit rotgefärbten Haaren durch die Straßen gelaufen. Und du hattest Schlafanzughosen an.«
Camilla hat unterdessen Teigreste aus der Imperia gefriemelt, sie zu Kugeln geformt, und wirft sie nun in Richtung Lorenzo, der tänzelnd wie ein Boxer ausweicht.
»Wolltest du später nicht mal eine linke Terrorgruppe gründen? Wie wolltet ihr sie nennen? ›Bürguerilla‹, richtig?«
Ich grinse, nicke. Jim liest einzelne Teigkugeln auf, steckt sie sich in den Mund, Camilla scheucht ihn weg. Von hinten brüllt irgendwer. Terrorgruppe, denke ich, zumindest daran habe ich festgehalten.
»Und?«
»Doch. Mir geht’s gut.« Camilla sammelt weitere Kugeln, Lorenzo sucht schon mal Deckung. »Alle Kinder gesund. Und du?«
Er nickt. Im Hintergrund wird es jetzt sehr laut. Als wir ins Wohnzimmer kommen, rupft sich Jim gerade einzelne Stücke aus einer Pastabahn und packt Murmeln hinein: Tortelloni alla biglia, Mörmeltortelloni. Gionatan zerrt einen anderen Streifen vom Tripp Trapp. »Mein Stuhl«, sagt er. Am Ende werden es fast zu wenig Nudeln sein, so viele landen daneben, auf dem Teppich, in der Murmelbox.
Es wäre falsch zu behaupten, dass Gionatan öfter als andere hinfällt, sich öfter den Kopf stößt oder ihm öfter etwas aus der Hand rutscht.
Ihm passiert das dauernd. Obendrein ist er jemand, der sich dabei richtig weh tut. Jedes Kind fällt mal vom Stuhl, brüllt vielleicht ein bisschen, setzt sich wieder hin und isst weiter. Wenn Gionatan fällt, dann blutet er. Und zwar so, dass wir uns fragen, ob das genäht werden muss.
Die letzte Platzwunde mussten wir dreimal kleben lassen. Das erste Mal ist er die Treppe heruntergefallen (19 Stufen, aus Stein, Loch im Kopf, Krankenwagen, Haut-Sekundenkleber Cyanacrylat.) Drei Tage später rannte er mit der Stirn gegen einen Pfahl (dieselbe Wunde, wieder Krankenhaus). Und dann – der Sekundenkleber war gerade trocken – rumpelte er mit Camilla zusammen (wieder Blut, wieder dieselbe Wunde, wieder Krankenhaus).
Deswegen bin ich fast erleichtert, als Gionatan das Vorratsglas Waldhonig runterschmeißt und dabei unverletzt bleibt. Sicher, er tritt dann noch in das Glassplitter-Honig-Gemisch. Und sicher: Die Filzpantoffeln waren fast neu, hätten nächstes Jahr Jim gepasst. Aber die Hauptnachricht lautet schließlich: Gionatan blutet nicht!
Die Kinder beschlagnahmen Simon. Jim kommt mit seiner Parkgarage und einer Handvoll Murmeln. Gianna fragt: »Fanden die anderen das nicht gemein mit dem Juckpulver?« – Lorenzo: »Wo ist der Leberknecht jetzt?« Die Kinder reden alle gleichzeitig. Zusammenhangslos, durcheinander. Streiten ein wenig. Hüpfen auf dem Sofa rum. Dazwischen Simon: Angekommen auf dem Planet der Affen. Belustigt? Angestrengt? Überfahren? Simon schaut noch einmal zu mir.
»Die Nudeln …«, sage ich und verschwinde in der Küche. Später sagt Simon, er habe eigentlich gar nichts verstanden. »Die ganze Zeit nicht. Das war ein Getöse. Ich konnte nichts mehr unterscheiden.« Nicht, was Geschichte, was Beschwerde war. Nicht, was harmlos, was gefährlich war – oder wann es Zeit gewesen wäre, irgendwo einzugreifen. »Es war wie ein Platzregen.«
Und dann kommt Lorenzo auch noch mit seiner Schatztruhe, ein Geburtstagsgeschenk seiner Taufpatin. Eine braune Holztruhe, innen rot, mit Vorhängeschloss. Ein Viertel Kubikmeter Lorenzo-Exklusiv-Reich. Er holt seinen Schlüssel, zeigt die Schätze: ein Lego-Polizeiauto, unvermischt, original. Ein fernsteuerbarer Helikopter. Ein Zungentattoo. Sein Lieblingstrikot. Vor allem aber: halb aufgegessene Süßigkeitentütchen von Geburtstagsfesten. Alles unter Verschluss, gesichert vor den anderen.
Und dann gibt es da ja auch noch die Sachen, die er für seine Geschwister in Gewahrsam genommen hat. Die Taschenlampe und einen abgerissenen Reißverschluss-Zip für Camilla. Den Arztkoffer für Gionatan. Und für mich hat er Jims Holzhammer in Obhut genommen.
Er habe noch nie so gute Nudeln gegessen, sagt Simon nach dem ersten Bissen.
»Die habe ich gemacht«, sagt Camilla. »Ich bin der Kurbelchef.«
Mehr Parmesan wird verlangt. Es kommt zu ein paar Momenten gefräßiger Stille.
»Ich war eine der drei Besten beim Englischtest«, erzählt Gianna. Ich brumme.
Giannas Ehrgeiz nimmt manchmal absurde Züge an. Zum Beispiel morgens, wenn sie ihre Zahnspange möglichst lang drin behält oder mittags, wenn sie mit kloßiger Stimme erzählt, wie sie bei der Schulfahrradprüfung auf den zweiten Rang abgedrängt wurde, obwohl sie doch … Oder abends, wenn sie unbedingt wieder ihren Zauberwürfel in Ausgangsposition drehen muss. Und natürlich die der Geschwister auch noch.
Gianna ließ nicht locker und sah sich Nachmittage lang verwackelte Youtube-Filmchen an, in denen irgendwelche Nerds auf Englisch Drehregeln erklären, bis sie den Würfel aus jeder Position wieder farbenrein bekam. In weniger als vier Minuten.
Ich habe mir vorgenommen, Superlative zu ignorieren, sie unkommentiert zu lassen. Ehrgeiz ist zwar toll, weil er unsere Talente ernst nimmt, weil er Ziele setzt, überhaupt irgendwas will. Ehrgeiz kann aber gerade für Kinderseelen tragisch sein, die Steilvorlage für Enttäuschungen.
Etwa beim Judo. Gianna, Elena, Camilla und Lorenzo sind alle im Judoverein. Das liegt weniger daran, dass Judo der neue Trendsport und die vier vom Fieber gepackt wären oder missionarische Schwarzgürtel-Eltern hätten, sondern einfach daran, dass eines der Kinder damit mal angefangen hatte, keine ampellose Straße zwischen unserem Zuhause und der Judohalle liegt und es sich ganz gut in den Stundenplan integrieren ließ. Als Camilla mit Fechten anfangen wollte, sagte ich: »Geh doch mal zum Judo mit.« Lorenzo meinte, er wolle Boxen lernen, aber so richtig. Ich sagte: »Judo.« Und als Elena mit Yoga kam, da meinte ich: »Yoga, warte, Yoga, das hört sich so ein bisschen an wie …«
Individualismus ist doch immer begrenzt, bei uns vielleicht noch ein bisschen mehr als bei anderen. Es ist dasselbe Prinzip wie bei der Themenwohnung, nur übertragen auf das Nachmittagsprogramm.
Aber zurück zum Ehrgeiz.
Beim letzten Judo-Nikolaus-Turnier kämpften Gianna und Elena in derselben Gewichtsklasse. Als einzige Mädchen. Gianna gewann jeden Kampf, nicht mit links, sondern mit Hartnäckigkeit. Elena keinen einzigen, dafür jedes Mal knapp und elegant.
Dann kam es zum Schwesternduell.
Es war spannend, sie schoben sich über die Matten, keine bekam die andere richtig zu fassen. Auf einmal flüsterte Viola: »Ich habe Gianna gesagt, sie soll Elena gewinnen lassen. Aber unauffällig.« Ich schaute entrüstet: »Das geht doch nicht. Das macht sie kaputt.« Aber Gianna lag bereits über Elenas Schulter: Ein Ippon-Seoi-Nage. Es machte Wumms, und Gianna knallte auf die Matte.
Am Ende stand Gianna auf dem Treppchen: Silbermedaille. Sie schaute tapfer, kämpfte mit dem Frust. Sie, die bisher jeden Kampf gewonnen hatte. Natürlich hätte sie auch Elena besiegt. Und klar: Das ist unfair.
Dann wurden Sonderpreise verteilt, keine Medaillen mehr, sondern riesige Pokale. Für den jüngsten Judoka etwa oder den kürzesten Kampf. Und dann gab es noch einen für die beste Technik. Für einen mutigen und hervorragenden Ippon-Seoi-Nage wurde ausgerufen: Elena Cadeggianini. Das war der Moment, als Gianna die Gesichtszüge entglitten.
Selbst wenn Elena aufgefallen wäre, dass Gianna sie absichtlich hatte gewinnen lassen und sie also nur wegen Giannas Großmut den Ippon-Seoi-Nage gepackt und den Pokal bekommen hatte: Elena vergisst so was umgehend wieder. Nicht aus bösem Willen, sondern aus einer Art automatischem Selbstschutz. Sie scheint eine besonders dicke Haut gegen jegliche Unbill des Lebens zu haben: Was sie angreift, geht sie nichts an. Elena steuert ihre Wahrnehmung mit großer Intuition im Dienste des eigenen Seelenheils. Das hat was von Realitätsverweigerung, könnte man pathologisieren. Neidhammelei, sage ich. Denn natürlich lebt jeder von uns in seiner eigenen Truman-Show, ob wir dabei glücklich sind oder nicht, ist dem Produzenten herzlich egal.
Simon dreht seine Gabel in den Nudeln. Die Kinder fordern Nachschub, vor allem mehr Parmesan. Es ist laut. Gionatan isst wie immer: mit dem größten Eifer und der geringsten Trefferquote. Immer mal wieder fällt ein Glas um. Immerhin gibt es heute keinen Frischkäse, den Jim an die Fensterscheibe schmieren könnte. Es wird gelacht, geringfügig gebrüllt. Es gibt Geschrei, als ich die Nachspeisenforderung verneine. Es gibt Geschrei, als ich Lorenzo an seinen Abräumdienst erinnere. Zur Ruhe kommen wir erst später wieder. Erst, nachdem drei Geschichten vorgelesen, alle Zähne geputzt (derzeit 131), die Tagesschau (20 Uhr) mal wieder verpasst war.
Erst beim Gin.
»Hast Du Eis?« Simon zieht zwei grüne Flaschen aus seinem Rollköfferchen.
»Müsste ich schon haben.«
Mein alter Schulfreund scannt das Küchenbord. Er sieht halbzufrieden aus, nimmt schließlich zwei Kristallgläser aus dem Regal, bauchig.
»Vielleicht einen Gimlet, der Herr? Tanqueray No. Ten?« Ich nicke, nicht etwa, weil ich verstehe, wovon der Typ da spricht, oder dem zustimme, sondern weil mir zu nicken die einfachste Antwort zu sein scheint. »Ja, gern.« Aus dem vollgestopften Tiefkühlfach zerre ich Silikon-Eiswürfelformen: Eine gelbe mit Enten, eine rote mit Früchten. »Andere gibt’s nicht.«
Das Eis knackt, als Simon es in die Drinks schubst. Er rührt, nippt, nickt zufrieden: »Der Hemingway-Drink.« Wir lassen uns in die Sessel fallen.
»Und?«, frage ich. »Wie ist das so, in deinem Leben?«
Tokio, Takt seines Lebens, Chefallüren, Frauengeschichten. Er führt ein schnelles, aufregendes Leben. Mit Geld und Spielraum, mit Abenteuer und Sicherheit und jeder Menge guter Anekdoten. Mittendrin, beim dritten Gimlet, unterbricht er sich. Mitten in einer Geschichte, mitten im Satz sogar. Er schaut auf, schwenkt seinen Drink in meine Richtung, die Birnen- und Erdbeer-Eiswürfelformen in seinem Glas klickern gegeneinander.
»Und du? Warum hast du …« Er macht eine Pause, nimmt noch einen kleinen Schluck. Es ist ein rhetorischer Schluck, nur dazu da, den nächsten Satz noch ein wenig hinauszuzögern. Warum druckst er so rum? Schämt er sich? Oder braucht er einfach noch mehr Anlauf für den nächsten Satz? Mehr Karacho.
»Ich meine …« Er schluckt noch mal. Dann: »Warum hast du dir dein Leben so kompliziert gemacht?«
Kompliziert. Es ist wie der Moment bei einer guten Privatparty, wenn die Polizei das dritte Mal auftaucht und die Sicherung rausdreht. Sound und Stimmung ersterben, Menschen machen sich Gedanken über den Heimweg. Und dann bin ausgerechnet ich der Pechvogel, von dem die Polizisten – nachdem sie die Musikanlage in Gewahrsam genommen haben – die Personalien aufnehmen.
»Kompliziert«, hämmert es in meinem Kopf, und ich vergrabe ihn erst mal im Wacholder-Lime-Juice-Enteneis-Gesöff. Ja, denke ich, wahrscheinlich ist es so. Kompliziert.
Das macht die Masse, sagt mein Kopf.
Als ich selbst noch im Kindergartenalter war, gab es den Ausdruck »Milchzahl«. Das bedeutete deutlich mehr als unendlich und konnte zum Beispiel wie folgt eingesetzt werden:
»Du bist voll blöd.«
»Und du unendlich.«
»Und du … du bist milchzahlblöd!« Das war dann das Ende der Fahnenstange. Danach wurde geprügelt.
Das macht die Masse, sagt mein Kopf jetzt, ein gutes Vierteljahrhundert später noch mal: sechs Kinder. Das ist milchzahlviel.
Um mit dem Rad im Gänsemarsch über die Kreuzung zu kommen, brauchen wir inzwischen zwei Ampelgrünphasen. Unsere Obstschale ist größer als eine Satellitenschüssel. In unserem Flur steht ein Laubsack: für Dreckwäsche, 270 Liter. Bei Festen werden wir schon mal vorab, bevor überhaupt die Einladungen verschickt werden, gefragt, ob wir an dem oder dem Tag Zeit haben. Denn dann, so die Gastgeber, müssten sie anders disponieren, dann könnten sie nicht so viele andere einladen. Wir besitzen mehr Pausenbrotboxen als Fernsehprogramme. Wir belegen die Hälfte des Fahrradkellers in einem 32-Parteien-Mietshaus. Und mit der Digiknipse bekomme ich mit ausgestrecktem Arm nicht mehr alle aufs Familienfoto-Selbstporträt.
Wann also wird Menge zur Unmenge? Wann wird eine Anzahl zur Unzahl, zur Milchzahl? Wann erreicht der Alltag die kritische Masse?
Simon hat recht. Es ist kompliziert. Satellitenobstschüssel? Wäschelaubsack? Tupperarmada? Masse macht wahnsinnig. Vielleicht musste dieser Mann, der da jetzt vor mir sitzt, mein alter Schulfreund, 20 Jahre lang getrennt von mir in einem Paralleluniversum leben, musste dann extra aus Tokio anreisen, das Pastachaos durchleben, alles nur, um jetzt zu vollstrecken, um diese kleine, feine Schuldzuweisung in ein Wort zu gießen: »Kompliziert.« Dieser Mann hat recht.
Streptokokken, Fahrdienst, Mathefünfer. Tagein, tagaus. Zur Erholung gibt’s dann Urlaub, der keiner ist. Und nachts liegen ein, zwei, drei Kinder im Doppelbett mit rum. Was heißt hier Doppelbett? Einssechzig, nicht mehr. Könnt ihr das lesen, Kinder? E-I-N-S-S-E-C-H-Z-I-G. Wenn wir da alle zusammen drinliegen, hat jeder gerade mal so viel Platz wie eine Buchseite hier breit ist. Viel Spaß.
»Kompliziert.« Ich nicke Simon zu. »You nailed it.«
»Erhöht man den Gin-Anteil«, hat Simon anfangs mit Bartender-Mimik gemeint, »schmeckt der Drink sauberer.« Sauberer, mir gefällt dieses Wort. Und es ist auch noch Enteneis übrig.
»Früher war es doch so«, sage ich und merke, dass der Gin mein »r« weich gemacht hat, meine Seele wehleidig. »Eine Frau finden, die einen mag, einen Beruf haben, irgendeinen, ein Dach überm Kopf, keinen Krieg vor der Tür und ein paar gesunde Kinder, die man durchbringt.«
»Früher?«, fragt Simon. »Früher, da gab es auch noch einen Kaiser.«
»Auch wenn du das nicht hören willst: Gibt es nicht genug Grund im Gestern rumzuschmachten?«
Simon schürzt die Lippen, wiegt den Kopf hin und her. »Finde ich nicht. Und überhaupt: Was hat das alles mit meiner Frage zu tun?«
»Also früher«, beginne ich trotzig mit dem Larmoyanz-Wörtchen, »da reichte das doch: Frau und Bleibe, ein bisschen Beruf, ein bisschen Familie. Dann hatte man Glück. Dann war man doch zufrieden, Punkt.«
Ich merke, dass ich mich in Fahrt geredet habe, dass ein kleiner waghalsiger Gedanke sich mit jedem Schluck, mit jedem Wort weiter zur Welterklärung hochjazzt: »Dann durfte man grinsen, vielleicht ein wenig häufiger als andere, dankbar sein. Dann hatte man ein gutes Leben, ja. Gratulation, toll. Der Nächste, bitte! Oder?«
Simon winkt ab: »Das ist doch ewig her.«
»Sage ich doch. Klar ist das heute anders. Genau das ist ja das Problem.«
»Heute ist alles anders. Heute sind wir frei.«
Ich gönne mir einen tüchtigen Schluck. »Da hast du verdammt recht. Frei. Nicht mehr den Umständen ausgeliefert. Frei. Wir haben unser Glück selbst in der Hand, es steht uns ja alles offen.«
»Ja. Und ist das nicht wunderbar so?« Er prostet mir zu. »Tokio oder Travemünde.«
»Genau. Sich hier Partys um die Ohren hauen oder sich dort um die siechenden Eltern kümmern? Wir sind frei.«
»Was soll das heißen? Was meinst du?«
»Es geht nicht mehr darum, einfach nur Glück zu haben, sondern glücklich zu sein, ständig neu zu werden.«
»Ja und? Warum denn auch nicht? Nutze doch die Freiheit, statt sie madig zu reden.«
Ich schaue ins Glas, schweige. Dieser Gimlet – plötzlich denke ich an Klostein. Komisch, wenn die Kopie plötzlich das Original frisst. Ursprünglich wurden Reinigungsmittel mit Limettenduft versetzt, um das Frische von der Limette zu kopieren. Und jetzt nippe ich hier am Limettendrink und denke an Klostein.
»Die Freiheit kippt«, sage ich. »Sie hat Schlagseite bekommen. Wir leben schon längst in einer Glücksdiktatur. Beruf, Kinder, Freizeit, Partnerschaft, selbst das Alter – alles muss glücklich sein und machen.«
»Und? Ist das so unmenschlich? Jeder will nun mal das Beste. Und jeder hat genau einen Schuss: Das eigene Leben.«
Mittlerweile perlen Simons Sätze einfach an mir ab. Ich benutze sie nur noch als Verschnaufpausen, um mich zu sammeln, um noch mehr zu trinken. Und dann setze ich wieder an.
»Alles muss glücklich machen. Zeitgleich haben wir den Preis nach oben getrieben: Wer nicht glücklich ist, hat nicht einfach nur einen nicht ganz so tollen Job, ist nicht einfach nur ein bisschen unglücklich verheiratet, hat nicht einfach nur ein paar Probleme mit den Kindern. Wer nicht glücklich ist, hat versagt. Er hat sein Leben versaut, die Talente verspielt. Er enttäuscht.«
Simon schaut mich scharf an, ein Gesicht, das sich zu fragen scheint, an welchen Fachmann er das Gegenüber wohl überweisen könnte. Ob man da medikamentös was machen sollte? Müsste?
Ich lasse mich nicht abbringen. »Willkommen im Komparativ!«, brülle ich ihn an. »Wer zufrieden ist, weiß bloß nicht, was es alles gibt, was er alles verpasst. Wir alle stehen in der Pflicht zum Glücklichsein.«
Simon schaut gar nicht glücklich. Ich japse, suche in seinem Gesicht nach irgendeiner Form von Bestätigung. »Es gibt kein Satt, kein Fertig mehr. Da ist kein …«
»Stopp.« Auch Simon ist jetzt laut. »Mit was kannst du denn aufwarten? Willst du mir erzählen, dass du etwa nicht glücklich sein willst? Hast du irgendwas anderes anzubieten, als dieses selbstmitleidige Gejammer?«
Ich sehe ihn an. Meine Lidschläge sind schwer und lang. Auf einmal ist es still. Ja, was zur Hölle kann ich eigentlich anbieten? Mein Kopf ist leer und voll zugleich. Die Klosteine klackern im Glas.
Ich könnte jetzt Kräcker holen. Ob es in Japan überhaupt so herrliche Kräcker gibt wie in meinem Schrank, könnte ich fragen, die Kräcker in eine Schale schütten. Dann würden wir Kräcker essen, über Kräcker reden.
Plötzlich merke ich, wie ein Gedanke mein Gehirn kapert, mir ein Grinsen in die Mimik malt. Nix Kräcker, Klartext also, denke ich. So klar das eben gerade geht mit dem ganzen Klostein im Hirn, und fange auch schon an, stolpere schon los in den Gedanken.
»Zum Glück«, flüstere ich, »haben wir eine Alternative. Wir haben eine echte Chance. Und zwar genau eine.« Ich richte mich im Sessel auf, schiebe Oberkörper und Kopf nach vorn, in Richtung meines alten Mitschülers. »Es ist genau das«, raune ich, »was du vorhin gesagt hast. Du hast es bereits gesagt, Simon.«
Als er seinen Namen hört, zuckt Simon zurück, wie ein Kleinkind, das einen Frosch beobachtet – die immer feuchte Haut, die menschengleichen Augenlider, die pulsierende Bauchdecke – und das dann bis auf die Knochen erschrickt, wenn das Tier plötzlich einen Satz macht.
Simon reibt seinen Rücken im Sessel, zieht die Schultern hoch, als ob gerade das letzte Fünkchen Vertrauen auf dem Prüfstand stünde. Ich schiebe meinen Kopf noch weiter vor: »CYL.«
»Hä?«
»Die Chance heißt CYL: Complicate your life.«
Simon lässt seine Augen von links nach rechts und wieder zurückwandern. »Und was bitte soll das heißen?«
»Wenn es kompliziert wird, mach es komplizierter.«
»Komplizierter? Zurück in die Fremdbestimmung? Die Freiheit wieder abgeben? Entschuldigung, das Teil zwickt in der Hüfte, die Farbe sieht im Tageslicht irgendwie ganz anders aus. Nein, nein, ich will nichts Neues. Danke. Einfach das Geld zurück. Ist das dein Ernst?«
»Wenn es kompliziert wird, mach es komplizierter!«, doziere ich ungerührt weiter. »Und wenn es mal wirklich zu kompliziert werden sollte, dann musst du nichts weiter tun, als es einfach noch ein wenig komplizierter zu machen. Das ist alles.«
»Du hast Angst«, quittiert Simon und steht auf. Sein Kopfschütteln sieht aus, als ob er friere.
»Gin«, sagt er jetzt, er brauche mehr Gin. Als er in die Küche trottet, sehe ich einen Streifen Pasta, so breit wie ein Feuerwehrschlauch, der auf dem Hinterteil seiner Balmain-Jeans klebt.
Complicate your life? Was das eigentlich heißen soll? Ich brauchte vier Länder, über 100 Monate, fünf Wohnungen, sechs Kinder, um das zu verstehen.
wo ich dank eines Schwiegermuttertricks, Rehschlegel und der Tochter vom Polizeikommandanten zum Italiener werde: Man hat immer mehr, als man glaubt