Christiane Rösinger
Liebe wird oft überbewertet
Ein Sachbuch
Fischer e-books
Christiane Rösinger war Mitgründerin, Sängerin und Texterin der Berliner Bands »Lassie Singers« und »Britta«. In den 90er Jahren war sie eine der Betreiberinnen der legendären Flittchenbar am Berliner Ostbahnhof. Neben ihrer Arbeit als Musikerin schreibt sie für verschiedene Zeitungen und Magazine. Im Jahr 2008 veröffentlichte sie ihr erstes Buch »Das schöne Leben«, 2010 erschien ihr hochgelobtes Soloalbum »Songs Of L. And Hate«.
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Covergestaltung: Eschlbeck
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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ISBN 978-3-10-400851-6
»Glück? Bitt’ sie, Fräulein, Glück gibts nicht. Überhaupt gerade die Sachen, von denen am meisten g’redt wird, gibt’s nicht … zum Beispiel die Liebe.«
Arthur Schnitzler, Der Reigen
Es wird kälter, der Dezember kommt. Ein langer kalter Winter soll es werden, keine heiteren Aussichten. Und doch ist alles so viel leichter als in den letzten Jahren, als doch regelmäßig Mitte Oktober schon die erste zarte Novemberdepression aufkam.
Der November ist aber auch eine schwierige Zeit: die Aussicht auf einen Berliner Winter, die echten und eingebildeten Leiden, die Phantomeinsamkeit. Gerade in den trüben Monaten kommt sie, die schwarze Krähe und krächzt ihr dummes Mantra: einsam, einsam, einsam!
Wenn alle Welt davon redet, der Sinn des Lebens wäre, sich zu verpaaren und fortan zu zweit durchs Leben zu gehen, was soll man da dagegenhalten? Es ist nicht einfach, einer so starken Ideologie zu entsagen.
»Liebe ist alles!«, kräht es einem von überall entgegen. »Love is in the Air!«, »Love is like Oxygen!«, »Das Größte aber ist die Liebe«, »Love is Everything«, »Liebe ist eine Himmelsmacht!«, »Love! Love! Love!«. Stellt man sich aber vor, wie es wäre, immer zu zweit zu sein – auf dem Sofa, im Bett, im Supermarkt, im Urlaub –, will man doch – wie früher bei der berühmten Werbung: Wäre Fernsehen zu zweit nicht viel schöner? – ein herzliches »Nein, Pfui Teufel!« ausrufen.
Warum also die saisonal auftretenden schlechten Gefühle? Es ist der Druck der heteronormativen und paarnormativen Gesellschaft, die uns sagt: Die alleinlebende Frau ist entweder jung, Single wider Willen und auf der Suche nach einem Mann und amourösen Abenteuern oder höchstens noch Krimischriftstellerin und lebt mit Pferden und Hunden auf einem schlossähnlichen Anwesen in England – aber nicht mit einem niereninsuffizienten Kater in einer zugigen Altbauwohnung.
Heute hat Knut Geburtstag. Bei der RBB-Liveübertragung aus dem Berliner Zoo servierte man ihm das obligatorische Eisbärengeburtstagsgeschenk, die Eistorte gespickt mit Fisch, Gemüse, Weintrauben und Croissants. Der Fanclub »Knut forever« sang ein Geburtstagslied, und Reporter aus aller Welt waren da. Als die Eisbärendame Giovanna ins Gehege gelassen wurde, stürzte sie sich gleich auf die Eistorte und biss den armen Knut weg. »Typisch Gianna!«, schimpften zwei ältere Zoobesucherinnen in die Kameras. Schon seit Tagen wird ja in der Knutpresse mit den Schlagzeilen »Knut hat’s nicht mehr gut« und »Knut fehlt der Mut« vom armen Prügelknaben Knut berichtet, der in seinem neuen Gehege von den drei gewaltbereiten Bärinnen drangsaliert wird. Gleichzeitig wird beklagt, wie sehr Jungs an den Schulen von zu mädchenfreundlichen Lehrerinnen benachteiligt werden. Der arme Knut muss wieder für alles herhalten!
Heute haben wir ja die traurige Gewissheit, dass Knut nicht mehr unter uns weilt. Eine Hirnerkrankung raffte den Justin Bieber der Tierwelt, das arme Tier, grade mal vier Jahre alt, dahin. Allerdings war es ja auch vor dem plötzlichen Tod schon ein wenig still um ihn geworden, nachdem die Berliner Tagespresse vergeblich versucht hatte, Knut in eine romantische Zweierbeziehung (RZB) zu drängen.
Der heilige Knut: am 5. Dezember 2006 von Eisbärin Tosca geboren und verstoßen, von Pfleger Thomas Dörflein hingebungsvoll aufgezogen, zum Publikumsliebling des Berliner Zoos avanciert und erneut verwaist durch den Tod des Ziehvaters. Es folgte eine Dianisierung der Trauer um den sympathischen Pfleger. Danach stieg höchstens noch mal eine verwirrte Zoobesucherin zu Knut ins Gehege, der inzwischen mit seinem unschön gelb verfärbten Fell auch schon ein wenig räudig aussah. Die großen, emotionalen Knutnachrichten lagen da schon Monate zurück: »Knut hofft auf eine Spätsommerliebe! Die aufgeweckte Eisbärin Giovanna, eine mollige Italienerin, soll aus dem Münchner Zoo Hellabrunn nach Berlin kommen.«
Die Knuthysterie und ihre Themen waren stets ein Gradmesser für gesellschaftliche Entwicklungen gewesen. Lange bevor Knut geschlechtsreif war, hatte die Boulevardpresse die Polygamie-Wunschträume des kleinen Mannes auf den Eisbären übertragen: »Knut hat zwei Frauen! Knut soll Papas Frauen erben!«
Selbst seriöse Berliner Tageszeitungen unterstellten nun dem Eisbären den Wunsch nach einer RZB. Da konnte man bereits aufhorchen und die fortschreitende Verblödung der Welt erkennen, wenn schon Eisbären paarnormativem Druck ausgesetzt werden. Wenn den Einzelgängern unter den Raubtieren zarte Gefühle angedichtet werden, sich aber große Empörung regt, wenn der Unmensch ungerührt sechs lebende Karpfen verschlingt. Und das auch noch während Kinder zusehen!
»Knut ist wieder Single!«, hieß es, als Giovanna abreiste, ohne dass die beiden Bären das romantische Pärchenglück im Eisbärgehege vorgespielt hatten. Wenn man sich schon auf das Glatteis der tierischen Liebessemantik begibt – was hätte die mollige Italienerin Giovanna von einer Beziehung mit Knut gehabt? Knut war erwiesenermaßen ein schwer gestörter Egozentriker, die Ablehnung durch die Mutter und der frühe Verlust des Pflegevaters hatten zu Traumata und Bindungsunfähigkeit geführt, der Erfolg als Publikumsliebling hatte jede weitere sittlich-seelische Reifung verhindert. Was hätte Giovanna an Knuts Seite erwartet außer der Aussicht, schwierige Beziehungsarbeit verrichten zu müssen und als soziales Regulativ zu dienen? Nichts, nichts und wiederum nichts!
Berlin ist tief verschneit und winterlich, und alles sieht viel schöner aus als sonst. Es graut einem jetzt schon vor der Zeit, wenn mit dem Tauwetter die alte Hässlichkeit wieder zum Vorschein kommt. Aber erst mal zieht ein Schneetief nach dem anderen über die Stadt, und es wird einem zunehmend weihnachtlich zumute, was ja kein Wunder ist, bei den rund fünfzig Weihnachtsmärkten. Die Zeitungen sind voll von Markttests und Erfahrungsberichten, und der größte Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz, eigentlich ein riesiger Rummelplatz, bekommt schlechte Noten. Die Weihnachtsmarktpuristen bemängeln, bei dem argen Halligalli bliebe die Besinnlichkeit von Zimtduft und Lebkuchen auf der Strecke.
Dabei gibt es keinen schöneren, besinnlicheren Anblick, als wenn es auf dem Weg von Kreuzberg nach Mitte aus weiter Ferne schon glitzert und blinkt, wenn die etwa 300000 bunten Glühlämpchen des weltweit höchsten mobilen Riesenrads und des Kettenkarussells so heimelig ihr gleißendes Licht verstreuen. Zum Glück verabscheuen die Weihnachtsromantiker den Markt und bleiben ihm fern, dafür wird er von den jugendlichen Berlinern und Brandenburgern aus dem Umland sehr gut angenommen.
Neu ist dieses Jahr nicht nur die Doppellooping-Achterbahn »Teststrecke«, sondern auch ein 32 Meter hoher Erlebnistower.
L. hatte dazu im Internet recherchiert und ließ sich gestern trotz seiner Weihnachtsverachtung zu einer Begehung überreden. Aber ach! Hinter der bunten Glitzerfassade wartete dann, wie so oft, nur ein einmaliges Trasherlebnis: LCD-Leuchten auf Pappmaché, Dalís zerflossene Uhren, eine Rocker-Oma, die zur Melodie von »Highway to Hell« auf einem Motorrad herumjockelte, dazu eine autoritäre Stimme aus dem Off: »Setzen Sie jetzt Ihre Spektralbrille auf!« Aber auch mit Brille sah man nur verschwommene Lichter und stieß an Plastikstäbe, die von der Decke baumelten. Fremde seltsame Welt der Schaustellerei!
Als wir dann aber wieder so draußen im Schnee standen und die Hälse reckten, ganz nach oben schauten und uns die Schneeflocken ins Gesicht fallen ließen und zusahen, wie das Kettenkarussell »Star Flyer« auf 55 Meter hochgezogen wurde und dazu die mannigfaltigen Jauchzer und Schreie der vielen jugendlichen Scream Queens aus den anderen Fahrgeschäften hörten und einige ADS-Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund belauschten, die überlegten, ob sie zuerst Achterbahn und dann mit dem »Kotzrad« fahren wollten oder umgekehrt, da wurde uns doch ganz poetisch zumute und warm und weihnachtlich ums Herz.
Das Geknalle draußen ist dieses Jahr gar nicht so schlimm wie sonst – ob das an der Krise liegt? Wo die Berliner, so klagt der Fachhandel, doch schon so an der Weihnachtsbeleuchtung gespart haben!
Es hat wieder ziemlich geschneit, die Leute stapfen durch den Schnee, wischen ihn in festen Lagen vom Auto, in manchen Straßen liegt er knöchelhoch, die Autos schleichen ganz bescheiden über die weiße Decke – der Schnee macht schon alles ein bisschen weniger sinnlos an diesem letzten Tag des Jahres. Wie viele Jahresenden meines Lebens wurden von dieser allgemeinen Silvesterverzweiflung geprägt, von sinnlosen Versuchen der Bewältigung bis zu dem dummen Vorsatz, allem zu entsagen und mit der Katze zu Hause zu bleiben! Und dann die darauf folgenden Mitleidsangebote. Was stand in den letzten Jahren nicht alles Verlockendes zur Wahl: Mit einem befreundeten Paar zu einem Schriftstellersilvestertreffen nach Brandenburg fahren, dort zwei weitere Paare treffen (von denen sich eines allerdings in Trennung befand, wie gleich beschwichtigend ergänzt wurde).
Oder von J. und J. zu einem anderen befreundeten Pärchen nach Schöneberg zum Raclette-Essen mitgenommen werden, wo noch ein anderes mir unbekanntes, aber angeblich sehr nettes und gar nicht so pärchenhaftes Pärchen dazukommen sollte. Eigentlich ist Silvester immer am besten, wenn man etwas zu tun hat und auf einer Bühne steht.
Warum bildet man sich denn immer ausgerechnet an Silvester ein, das Alleinleben sei so schwierig, obwohl den Rest des Jahres über eigentlich gar nichts fehlt? Man sich mit Katze, Kind, Familie, mit jüngeren und gleichaltrigen Freunden, Band, Schnitzelgruppe, Ausgehgruppe, monatlichen Gala-Abenden und kollektiven Fernsehabenden gar nicht einsam fühlen kann?
Weil man sich die Außenansicht zu eigen macht. Weil etwas zu fehlen scheint, obwohl definitiv nichts fehlt. Weil die ganze zwangsverpaarte Außenwelt uns suggeriert, wir wären nicht normal, sondern eine traurige Ausnahme.
Oder vermissen wir vielleicht nur ab und an die Aufregung, die Sensation des Gefühls des Sich-Verliebens? Aber das haben die Pärchen um uns herum ja auch nicht.
Wie sagte T. (23) letztens: Am lustigsten war’s eigentlich immer, als wir alle Singles waren.
Das Pärchen an sich ist eigentlich eine ganz niedrige Lebensform und steht in der Artentabelle nur knapp über dem Einzeller oder dem Pantoffeltierchen.
Aber diese biologische Tatsache darf man nicht laut aussprechen, sonst gilt man als verbittert, neidisch und zu kurz gekommen. Denn jedes Pärchen, ist es auch noch so unglücklich, kann noch mitleidig auf die Alleinlebenden schauen, und auch wenn autonom lebende Menschen manchmal insgeheim von den wandelnden Pärchenhöllen beneidet werden, sie verstecken den Neid gut und machen ihre Ambivalenzen mit sich alleine aus.
Während doch allgemein bekannt ist, dass Menschen in der Masse verblöden und die Masse immer nur so klug wie ihr dümmstes Mitglied ist, wird die ergebnisoffene Paarforschung in unserer pärchenzentrierten Gesellschaft behindert. Eines steht aber ohne Zweifel fest: Das Pärchentum bringt immer die schlechtesten Eigenschaften des Einzelnen nach oben und produziert deshalb am laufenden Band unglückliche Paare, die wie geprügelte Hunde nebeneinander durchs Leben schleichen. Trauerumflorte Gestalten, die man nur in wenigen Augenblicken, wenn der Partner nicht da ist, kurz und heimlich aufatmen sieht. Menschen, die wie Steine nebeneinander sitzen, die in Pizzerien verzweifelt das Besteck streicheln, um sich nicht anschauen und miteinander sprechen zu müssen. Es ist absurd: Autonome Menschen tun sich freiwillig zusammen und werden zu mobilen Paargefängnissen, sind dabei aber verzweifelt bemüht, die Illusion einer glücklichen Beziehung aufrechtzuerhalten. Die unangenehmsten Vertreter dieser Spezies greifen zum aggressiven Selbstmarketing, ihnen sollte man lieber aus dem Weg gehen. Allgemein gilt: Dort, wo die größte Einigkeit vorgeführt werden muss, kriselt es am heftigsten im Pärchenhimmel.
Ihr denkt, ihr seid im Märchen und seid nur blöde Pärchen.
Die ganz Verzweifelten haben dann sogar noch Angst, dass man ihnen den zutiefst unattraktiven Partner ausspannen will, und brechen vorsichtshalber nach erfolgter Paarbildung den Kontakt zur Außenwelt ab. Weil aber selbst die fleischgewordene Pärchenlüge ab und an etwas mit anderen Menschen unternehmen will, bietet sich die Pärchen/Pärchen-Variante – die Potenzierung des Schreckens – als gegenseitiger Nichtangriffspakt an.
Als professionelle Paarkritikerin wird man natürlich oft angefeindet. Klar, denn stellt man das Paar an sich in Frage, stürzen ganze Lebenslügen wie Kartenhäuser zusammen. Am Pärchenwesen und der heiligen Ehe, da hängen Lebensprojekte, Firmen, Bausparverträge, Doppelhaushälften, Finanzierungsmodelle dran. Und natürlich die Kinder! Die Kinder, die Kinder, die Kinder, die Kinder, die Kinder!!!
Das Erste, was fanatische Pärchen der Kritikerin entgegenschleudern, ist deshalb: »Du bist ja nur neidisch, weil du Pech gehabt hast, weil du selbst nicht fähig bist, eine Beziehung zu führen!«
Dieses Argument ist leicht zu entkräften. Man beschreibt nur, was man sich bei anderen Pärchen ansehen muss, berichtet aus dem eigenen autonomen Leben, und selbst die festzementierten Ansichten der Paarfundamentalisten kommen ins Wanken. Seltsamerweise lassen Frauen beim Thema Pärchenlüge grundsätzlich eher Kritik zu als Männer. Manche bekommen sogar einen träumerischen Gesichtsausdruck, wenn man über die Vorteile des Alleinseins spricht.
Die zweite Entgegnung der Paarapologeten lautet gerne: Du bist verbittert! Vielleicht bist du gar nicht liebesfähig!
Oder: Du hast ein zu hohes Ideal! Du hast nicht verstanden, dass nach der kurzen Zeit der romantischen Liebe erst die echte Liebe kommt, die man sich verdienen muss.
Ja, Liebe ist Arbeit, dieser Punkt wird in der heterosexuellen Zwangsmatrix immer wieder angeführt. Aber erwarten wir nicht auch von der Arbeit, dass sie uns halbwegs ausfüllt und wenigstens ab und an ein wenig glücklich macht?
Auf dem Arbeitsfeld Liebe und Partnerschaft gibt es zahlreiche Spezialisten, die mit der Arbeit am Mythos Beziehung ihren Lebensunterhalt verdienen. Der größte Einfluss auf Partnerschaftsbilder geht heute nicht mehr von kirchlicher und staatlicher, sondern von psychologischer, therapeutischer und medialer Seite aus.
Zur Liebe haben eben alle etwas zu sagen, da gibt es Experten aller Berufszweige: Therapeuten, Biologen, Psychologen, Psychoanalytiker, Hirnforscher, Chemiker, Soziologen, Wissenschaftsjournalisten, Geistliche, Ratgeberautoren, Anthropologen, Liebesforscher, Sexualwissenschaftler, Feng-Shui-Berater, Flirt-Coaches, Single-Trainer, Tantra-Lehrer.
Die Anthropologen zum Beispiel beweisen, je nach Forschungsziel und paarideologischer Ausrichtung, dass der Mensch monogam geboren ist, bringen Beispiele von den südamerikanischen Yanomami-Indianern, den Babyloniern und Hebräern, die angeblich schon in Einehe gelebt haben. Erwiesene Tatsachen wie die, dass zum Beispiel in Sparta, in Rom und bei den Germanen Menschen mehrere Geschlechtsbeziehungen nebeneinander hatten, auch wenn Kinder zusammen aufgezogen wurden, werden geflissentlich außen vor gelassen.
Um in Zukunft den Lügen und Halbwahrheiten der Pärchenlobby etwas entgegensetzen zu können, ist es daher wichtig, sich der allgegenwärtigen Pärchenlüge bewusst zu werden.
Die Pärchenlüge umfasst eigentlich einen ganzen Lügenkomplex, sie ist das Haus der Lüge, unter dessen Dach sich mehrere andere Lügen eingenistet haben: Fassen wir also an dieser Stelle einmal die größten Pärchenlügen zusammen.
Die Paarlüge
Das Paar an sich ist die beste Lebensform, der Mensch kann sich nur als Teil eines Paars voll entfalten.
Die Realität:
Das Pärchentum ist eine sehr anfällige, instabile, auf wackeligen Kompromissen beruhende Organisationsform, die in den meisten Fällen nur aufrechterhalten werden kann, wenn einer der Partner seine Bedürfnisse unterdrückt und sich dem anderen unterordnet.
Die Partnerschaftslüge
Das Paar, wie es sein soll, bleibt ein Leben lang zusammen, ist sich gegenseitig Stütze und bester Freund und genießt auch nach zwanzig Jahren Beziehung immer noch mehrmals wöchentlich leidenschaftlichen Sex miteinander.
Die Realität:
Dieses Ideal wird natürlich so gut wie nie erreicht, denn die Idee dauerhaft leidenschaftlicher Partnerliebe ist ja a priori ein unauflöslicher Gegensatz.
Die Kinderlüge
Auch wenn die Beziehung keinen Spaß mehr macht und mühsam ist – wegen der Kinder muss man zusammenbleiben, sie bekommen sonst einen Schaden.
Die Realität:
Das Unglücksdreigestirn Vater-Mutter-Kind ist oft der Quell einer traurigen Kindheit. Viele Eltern verstehen sich nach der Trennung besser und begegnen einander mit größerem Respekt, das freut auch das Kind.
Die Neidlüge
Paarkritikerinnen und Singles sind ja nur neidisch, weil sie Pech gehabt haben, weil sie nicht fähig sind, eine Beziehung zu führen. In Wirklichkeit wünscht sich jeder Mensch nichts sehnlicher als Teil eines Paares zu sein.
Die Realität:
Wie kann man oder frau neidisch auf eine unterentwickelte Lebensform sein, bei deren Anblick man nur immer wieder ein tiefempfundenes »Aber so leben – nein, danke!« ausrufen will?
Die Naturlüge
Das Pärchentum – die Einehe – ist die natürliche Lebensform des Menschen. Das war schon immer so.
Die Realität:
Man weiß doch längst: Sexualität und Partnerschaft gehören nicht unauflöslich zusammen, sondern richten sich nach ökonomischen Notwendigkeiten, die Idee der romantischen Liebe entstand erst im 18. Jahrhundert.
Die Tierlüge
Selbst Tiere leben als Paar zusammen und bleiben sich manchmal ein Leben lang treu!
Die Realität:
Während tatsächlich 90% aller Vogelarten monogam leben, ist die Einehe unter Säugetieren, zu denen bekanntlich auch der Mensch gehört, eher die Ausnahme. Lediglich 3% aller Säugetiere leben in einer festen Paarbeziehung. Und bei unseren engsten Verwandten, bei den wie wir zu den Primaten gehörenden Menschenaffen, leben fast alle Arten polygyn – das Männchen paart sich mit mehreren Weibchen.
Die Techniklüge
Durch Praktiken und Übungen kann jedes Paar zu einer erfüllten Sexualität kommen. Sex kann mit gutem Willen und Anstrengung unter der Aufsicht von Sexualwissenschaftlern, Psychotherapeuten und Esoterikern erarbeitet werden.
Die Realität:
Wenn das Begehren fehlt, hilft auch die beste Technik nix. In der Geschichte der Liebe wird von jeher die eheliche von der leidenschaftlichen Liebe getrennt. Auch die Einehe funktioniert nur mit angeschlossenem Konkubinat.
Die Erlösungslüge
Die gemeinste aller Pärchenlügen: Man muss nur den richtigen Partner, die richtige Partnerin finden, dann sind alle Bedürfnisse – ganz gleich ob geistiger, emotionaler oder erotischer Natur – dauerhaft erfüllt, ist der Sinn des Lebens gefunden. Endlich im Pärchenhimmel angekommen, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.
Die Realität:
Dem Tod kann niemand entrinnen. Die Betriebsamkeit der Welt dient nur dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass wir alleine geboren sind und alleine sterben müssen. Man kann sich in Liebesabenteuer oder Pseudofreundschaften flüchten, um der Einsamkeit abzuhelfen – es wird nicht gelingen.
Die Arbeitslüge
Liebe ist Arbeit. Nach der kurzen Zeit der Verliebtheit muss man sich die wahre Liebe erarbeiten.
Die Realität:
Ganze Berufszweige leben von der Arbeitslüge. Tatsache ist aber, wenn Liebe zur Arbeit wird, macht sie unglücklich.
Die Sexlüge
Liebe und Sexualität sind untrennbar miteinander verbunden. Wer den anderen nicht begehrt, liebt ihn nicht wirklich.
Die Realität:
Sex wird wie Liebe oft überbewertet. Das Thema »Kein Sex« ist so tabuisiert, dass kaum jemand offen über die tatsächliche Sexfrequenz spricht. Fest steht: Gerade in längeren Beziehungen spielt Sex so gut wie keine Rolle mehr.
Berlin ist Westsibirien. Es liegt immer noch so viel Schnee, seit Wochen stapft man jetzt schon durch die Straßen, sogar der ganze Silvesterdreck wurde unter der Schneedecke begraben, und die Besucher aus den ordentlicheren Weltgegenden wundern sich: »Bei euch wird ja gar nicht geräumt!« Tatsächlich fühlt sich in Berlin keiner so richtig für Schnee und Eis verantwortlich, man ist sich uneinig, wer räumen müsste – die Hausbesitzer oder die Stadt? Der gute alte Hausmeister heißt jetzt Facility Manager, betreut Hunderte von Mietshäusern und hat in den meisten Fällen den Schneeräumdienst an eine Billigfirma outgesourct. Deren Preise und Personal sind für milde Winter kalkuliert, sie kommen nicht nach. So ist es zum Eisnotstand gekommen, und mit Sondersendungen, Beschwerdetelefonen und Expertenrunden versucht man der Lage Herr zu werden.
Was am Anfang ein schöner Ausnahmezustand war und ein bisschen Abwechslung in den Berliner Trott brachte, wird mit der Zeit aber doch recht lästig.
Mitte Dezember entstand eine Schicht aus mehrfach überfrorenem und festgestampftem Schnee, die Gletscher auf den Gehwegen kalbten immer wieder aufs Neue. Tausende von Fußabdrücken wurden in Schnee und Matsch getreten, dann aber froren die Abdrücke zu extrem hartem Eis, eine tückische und effektive Falle für Knöchel und Gelenke! Seit Wochen verlassen ältere und gehbehinderte Menschen ihre Wohnung nicht mehr, und in den Notaufnahmen der Krankenhäuser werden täglich über hundert komplizierte Knochenbrüche eingeliefert. Inzwischen hacken einzelne Geschäftsleute das Eis vor ihren Geschäften mit Pickeln auf, am Potsdamer Platz wurden zu Ehren der Berlinale Schlagbohrer eingesetzt.
Es hat getaut, es ist grau, fad, matschig und kalt, und das Ausgehen ist schwierig. Vor allem, wenn man in dieser trüben Zeit des Jahres an einem leichten Welt- und Eventekel leidet und in den Straßen gerade mal wieder die unglückselige Fashion Week tobt.