Philipp Johner
Freundschaft
Was es für ein erfülltes Leben braucht
Fischer e-books
Philipp Johner ist Psychologe, Philosoph, diplomierter Psychotherapeut und Coach. Der frühere Schweizer Spitzensportler gründete 1990 die Manres AG, die heute erfolgreich Firmen in Deutschland und der Schweiz berät. Im Zentrum der Beratungstätigkeit stehen die Führungskompetenz und Persönlichkeitsentwicklung von Leistungsträgern. Daneben übt Johner eine vielseitige Vortragstätigkeit mit Auftritten in Funk und Fernsehen und Lehrtätigkeiten an Hochschulen aus. Im Leistungssport erzielte er als Kampfsportler nationale und internationale Titel. Philipp Johner ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in der Nähe von Zürich.
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Covergestaltung: bürosüd°, München
Das Werk erschien erstmals in einer limitierten Kunstausgabe in der Verlagsgemeinschaft Südostschweiz im Jahr 2009 und ist für diese Ausgabe komplett überarbeitet, ergänzt und aktualisiert worden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401416-6
Meinem Vater Frédéric Johner gewidmet
Ein bisschen Freundschaft ist mir mehr wert als die Bewunderung der ganzen Welt.
Otto von Bismarck
Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde.
Jean Paul
Freundschaft ist ein Lebenselixier und ein Lebenssinn, nicht bloß eine angenehme Begleiterscheinung des Lebens, auf die wir ohne größeren Verlust verzichten könnten. Die Qualität eines Menschenlebens, die Erfüllung, die eine Person in ihrem Leben erfährt, ist in hohem Maße von der Erfahrung von Freundschaft abhängig.
Heute ist viel von sozialen und emotionalen Kompetenzen wie Leadership, Empathie, Authentizität, Wertschätzung, Motivation oder Konfliktlösungsfähigkeit die Rede. Das Wort »Freundschaft« kommt in diesem Vokabular eher selten vor. Dabei ist Freundschaft genau betrachtet das Herzstück und die Grundlage aller sozialen Kompetenzen. Freundschaft stärkt den Glauben an sich, an Andere und an die Gesellschaft. Sie eröffnet Entwicklungsmöglichkeiten auf allen diesen Ebenen.
In meiner Arbeit als Coach und Unternehmer spüre ich täglich das Bedürfnis der Menschen nach vertrauensvollen, stabilen und intellektuell wie emotional bereichernden Beziehungen, kurz gesagt nach Freundschaft. Als Coach, der Menschen sowohl in schwierigen Situationen wie auch im Erfolg begleitet, habe ich einen erschreckenden »Analphabetismus« bezüglich Freundschaft festgestellt. Wie man Freundschaft macht bzw. erhält, ist vielen Menschen schleierhaft. Oft geäußerte Phrasen wie »die Chemie stimmt nicht« oder »letztlich bist Du immer allein« drücken Passivität, ja Resignation aus. Dahinter bleibt jedoch die Sehnsucht nach einem der wunderbarsten Gefühle und Geschenke des Lebens spürbar, nämlich nach Freundschaft.
Besonders in wirtschaftlichen Zusammenhängen wird häufig angenommen, der Mensch sei primär auf Konkurrenzkampf und Egoismus programmiert. Demgegenüber kommt die aktuelle neurobiologische Forschung zunehmend zur Erkenntnis, dass der Mensch auf Kooperation und Resonanz ausgerichtet ist. Aus biologischer Sicht ist es das social brain, das den Menschen vom Tier unterscheidet und den vielleicht wichtigsten Erfolgsfaktor seiner Evolution darstellt: Wir Menschen wollen sozialen Kontakt und Bindung, wir wollen Freundschaft, weil unser Gehirn ein harmonisches und konstruktives Miteinander mit der Freisetzung von Botenstoffen im Körper belohnt, die uns ein gutes Gefühl und Gesundheit verschaffen, also das Immunsystem stärken. Destruktive Aggressivität entsteht demnach immer erst dann, wenn die primären Bedürfnisse nach Kooperation frustriert wurden.
Mobilität, technischer Fortschritt und eine individualistische Lebenshaltung setzen in der Gesellschaft ungeheure Zentrifugalkräfte frei, welche die Menschen zunehmend voneinander entfernen anstatt sie näher zusammenzubringen. Wir haben ein Handy und sind immer erreichbar, aber wann hatten wir zuletzt ein wirklich gutes Gespräch mit einem Freund? (Die Bezeichnung »Freund« wird in diesem Buch inlusiv verwendet, umfasst also Frauen und Männer.) Wie oft habe ich es mit Menschen zu tun, die viele Orte bereisen und dabei doch das Gefühl haben, nie wirklich anzukommen. Anzukommen bei sich selbst und in den Beziehungen mit den Menschen, die sie umgeben. Diese zwischenmenschlichen Fliehkräfte wirken sich letztlich auf den Zusammenhalt und die Entwicklung oder anders gesagt auf die Gesundheit unserer Gesellschaft aus. Deshalb brauchen wir praktizierte Freundschaft mehr denn je. Mit ihr fördern wir den Zusammenhalt in Familie, Schule und Beruf, verbessern die Perspektiven und Chancen von jungen Menschen und tragen zu positiven individuellen wie gesellschaftlichen Transformationen bei. Eine Kernthese dieses Buches lautet daher: Freundschaft ist das Immunsystem der Gesellschaft.
Im Dezember 1946 kam in den USA ein Film in die Kinos, der heute als Klassiker der Filmgeschichte und in Amerika als der ultimative Weihnachtsfilm gilt. Die Rede ist von »It’s a Wonderful Life« von Frank Capra. Das Happy End dieser turbulenten Weihnachtsgeschichte ist nur dank des Einsatzes vieler Freunde möglich, die die wahre Identität des Protagonisten erkennen und schützen – und dadurch sich selbst wieder eine positive Zukunft eröffnen. Der Schlusssatz des Hauptdarstellers James Stewart in der Rolle des George Bailey lautet denn auch: »Wer Freunde hat, kann nicht gescheitert sein.«
Das vorliegende Buch wurde geschrieben, um das Thema Freundschaft wieder dorthin zu führen, wo es hingehört: Heraus aus der Theorie und mitten hinein ins praktische Leben, befreit von der Nice to have-Mentalität unserer effizienzorientierten Gesellschaft, die sogar Freundschaft konsumiert, relativiert, taxiert und auf einen »Zusatznutzen« reduziert.
Der Gewinn dieses Buches besteht einerseits in knappen, auf den Punkt gebrachten soziologischen, philosophischen, psychologischen und ökonomischen Analysen über die Notwendigkeit und das Wesen von Freundschaft. Zugleich soll es aufrütteln und als praktisches Arbeitsbuch konkrete Impulse zum Handeln geben. Denn Freundschaft, wie ich sie verstehe, als essentielles Fundament des Lebens, enthält viel mehr als die ihr verwandten und gemeinhin bekannten Themen wie Vertrauen, Offenheit, Austausch usw. Diese können zwar helfen, Freundschaft zu beschreiben, erfassen ihr Wesen aber nicht im Innersten. Doch genau dem Wesen von Freundschaft möchte dieses Buch auf den Grund gehen und es einfach und dennoch umfassend beschreiben.
Es geht hierbei um die »Wiederbelebung einer verlorenen Kunst«, indem ich den wahren Wert und die tatsächlichen Möglichkeiten von Freundschaft für unser Leben aufzeige und Methoden anbiete, die sie auch wirklich erlebbar machen. Deshalb finden sich in diesem Buch Anweisungen, wie sich jeder selber zu einem tollen Freund entwickeln kann – die Voraussetzung, um im Leben wunderbare Freundschaften erfahren und genießen zu können.
Freundschaft verleiht unserem Leben Gestalt und Inhalt. Dieser In-Halt gibt uns dauerhaften Halt.
Das Studium der Kunst der Freundschaft, wie sie in diesem Buch dargestellt ist, wird Ihr Leben verändern:
Sie werden in Ihrem Leben einen wesentlich höheren Grad an Erfüllung erfahren.
Sie werden Ihre soziale und emotionale Kompetenz verbessern.
Höhere Ziele werden für Sie erreichbar und Sie werden Ihrer Bestimmung näherkommen.
Sie werden mehr Mut haben, Menschen zu lieben und dabei ihnen und sich selbst treu zu sein.
Ihre Lust und Ihre Fähigkeit zu (kreativer) Eigenverantwortung werden gesteigert.
Die Kunst der Freundschaft wird Ihnen helfen, zu sich selbst zu finden.
Freundschaft ist eine Kunst, der ein solides Handwerk zugrunde liegt. Es gibt in Bezug auf Freundschaft tatsächlich ein »Handwerk«, das unsere Gesellschaft weitestgehend verloren hat und das hier erläutert werden soll. Dieses Handwerk bildet die Voraussetzung dafür, dass Kunst entstehen kann. Es muss geübt werden, damit wir es dereinst transzendieren und in den Bereich der Kunst vordringen können, für welchen die Freundschaft Raum bietet.
Das Buch nähert sich dem Thema auf vielfältige Weise. Zunächst soll es die Lesenden an ihre Möglichkeiten erinnern, Freundschaften selbst aktiv zu gestalten. Ein falsches Vorurteil bezüglich Freundschaft lautet, dass beide Beteiligten dafür zu arbeiten haben. Dies ist nur bedingt richtig. Eine Freundschaft in voller Blüte hängt zwar tatsächlich von der engagierten Beteiligung beider ab. Das hier vorliegende Werk soll aber zeigen, dass die Entscheidung, ein Freund zu sein, eigenverantwortlich gefällt werden kann und soll.
In der Gesamtschau aller Anwendungsbereiche der Freundschaft erkennen wir, dass durch sie die Gesellschaft erstarkt und gleichsam auf einer interzellularen Ebene gesundes Gewebe und gesunde Organe bilden, die dem Körper erst ein optimales Funktionieren ermöglichen.
Den Beginn des Buches bildet das Kapitel über die Psychologie von Freundschaft und berücksichtigt dabei auch die »positive Psychologie mit Tiefgang«, die wir im Institut Manres in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt haben und die zum grundlegenden Rüstzeug unseres Institutes wurde. Mit der Psychologie des Positiven verhelfen wir Menschen und Organisationen zu mehr und nachhaltigem Erfolg und dienen damit sowohl den Beteiligten persönlich als auch den größeren Kontexten, in denen diese Beteiligten leben, ihren Firmen, ihren Familien und Freundeskreisen.
Um von diesem Buch profitieren zu können, müssen die einzelnen Kapitel nicht diszipliniert in der dargebotenen Reihenfolge gelesen und »abgearbeitet« werden. In einer Kunstausstellung springen wir auch gerne zwischen einzelnen Räumen und Bildern hin und her oder lassen uns, von den betrachteten Bildern inspiriert, spontan in eine bestimmte Richtung lenken. Durch eine Ausstellung zu hetzen ist, wie wenn man ein Musikstück zu schnell abspielt: Der Genuss geht verloren. Eine Kunst, besonders die der Freundschaft, erträgt kein Zeitdiktat. Nur zweierlei sollte für die Lektüre Voraussetzung sein: Ein offener Blick und der Wille zur Umsetzung.
Im Rückblick auf meine persönliche Entwicklung habe ich mit Dankbarkeit entdeckt, dass ich in Bezug auf das Gestalten von Freundschaft gewisse Freiheiten und Möglichkeiten genieße, und erst mit der Zeit festgestellt, dass ich darin das Erbe meines Vaters weiterführe. Bei dessen Beerdigung – er starb 82-jährig – waren etwa 300 Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und aus mehr als einem Dutzend Nationen zugegen. Bei einem derart reichen und langen Leben wie dem seinigen liegt es auf der Hand, dass ihm viele Freunde schon in den Tod vorausgegangen waren. Trotzdem war die Kirche gefüllt – im quantitativen wie im qualitativen Sinne. Bei kurzen, tiefen Begegnungen mit meiner Familie und mir kondolierenden Personen spürte ich, wie die Begegnung mit mir manchem Wegbegleiter und Freund meines Vaters eine Art Frieden zu schenken schien, weil sie – so interpretierte ich es – spürten, dass sich sein Lebenswerk der Freundschaft »automatisch« in meinem Leben, gemäß meiner Art und meinen Lebensaufgaben, fortsetzt. Durch das Leben meines Vaters habe ich Freundschaft im Vollzug erlebt. Auch über den Tod hinaus. In seine Fußstapfen zu treten ist mir eine Ehre.
Die Schweiz war für die Theologie im 20. Jahrhundert ein fruchtbarer Boden. Die Theologen Karl Barth und Hans Küng haben Weltruf erlangt, und auch Emil Brunner, bei dem mein Vater in den 1940er Jahren Theologie studierte, hat viele Menschen erreicht. Eine Geschichte von Brunner hat bei mir besonderen Eindruck hinterlassen. Kurz vor Abschluss des intensiven Studiums der Heiligen Schrift und ihrer Auslegungen, sagte Professor Brunner zu den angehenden Pastoren: »Merken Sie sich Eines! Wenn dann der Mensch kommt, legen wir die Bücher beiseite.«
Ich danke Ihnen, sehr verehrte Leserinnen und Leser, für Ihr Interesse und wünsche Ihnen in der Begegnung mit diesem Buch viele bewegende, inspirierende und erfüllende Momente, die Ihrem Leben neue Reichtümer erschließen werden. Dieses Buch habe ich in der tiefen Überzeugung geschrieben, Ihnen einen Zugang zu den Ihnen innewohnenden Möglichkeiten zu eröffnen. Ich hoffe, dass Sie dadurch nicht nur ein erfüllteres Leben führen, sondern vor allem mehr Respekt vor sich und vor der guten Kraft, die Sie selbst als Kunstwerk erdacht und in die Welt gesetzt hat, entwickeln werden. In der Umsetzung der hier beschriebenen handwerklichen Schritte können Sie sich als eigentlichen Künstler und Ihr Leben als Ihr Meisterwerk entdecken.
Obersaxen, Jahresausklang 2011
Philipp Johner
Die Würde des Menschen liegt in seiner Wahl.
Max Frisch
Es ist sicher kein Zufall, dass sich im Verlauf meiner Karriere der Beruf des Coach mit zunehmender Deutlichkeit herauskristallisiert hat. Freundschaften waren stets ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens; in ihnen trat meine eigentliche Bestimmung immer wieder neu hervor. Zugleich erfuhr ich durch meine Arbeit wiederholt, wie sehr ganz unterschiedliche Menschen in ihrem Leben Freundschaft(en) vermissten bzw. wie wenig sie vom »Handwerk« des Pflegens von Freundschaften verstanden und es ihnen dadurch ebenso an innerer Festigkeit wie an Erfüllung und Lebenssinn mangelte. Deshalb habe ich dieses Thema in Buchform gepackt.
Zunächst ahnte ich nichts davon, dass Freundschaft und Coaching so nahe miteinander verwandt sind. Ich bemerkte nur immer wieder, dass eine Trennung zwischen dem, was ich beruflich tue, und dem, wie ich privat lebe, eigentlich nur formaler Natur ist: Im einen Fall schreibe ich eine Rechnung, im anderen natürlich nicht. Dem Wesen nach sind die Parallelen überwältigend: Coach wie Freund gehen von einer positiven Zukunft des Klienten bzw. Freundes aus, wenn sie seine Gegenwart mit all ihren Herausforderungen, Verstrickungen und Optionen beleuchten. Beide gehen auch davon aus, dass ihr Gegenüber etwas Einmaliges bewegen und verändern kann, sowohl in seinen Lebensbezügen wie auch bei sich selbst; deshalb weisen sie den Klienten bzw. Freund auch immer wieder auf seine Wahlmöglichkeiten, also auf seine Freiheit, hin.
Dieser Gleichklang von Freundschaft und Coaching ist die Basis, auf welcher dieses Buch entstanden ist. Dieses Kapitel öffnet nun gleichsam die »Schatzkiste des Coach« und zeigt wesentliche Puzzleteile der Psychologie des Positiven, die wir bei Manres über die Jahre entwickelt haben.
Während der Coach seine Funktion als Freund häufig unterschätzt, merkt der Freund nicht selten, dass ihm Coaching-Kompetenzen nützlich wären, um seinem Freund besser helfen zu können. Mit der Offenlegung dieser »professionellen Schatztruhe« sollen also zum einen dem Freund Instrumente angeboten werden, wie er seinem Freund noch besser dienen kann. Dem Coach mag das Buch zum anderen zur Erweiterung seiner Möglichkeiten verhelfen und gleichzeitig das Auge für die Parallelen seines wunderbaren Berufes mit der Berufung zum Freund, zum Anwalt der Zukunft seiner Klienten, schärfen und ihm dadurch noch mehr Würde verleihen.
Mit diesem Kapitel hoffe ich überdies, allen Lesern den Reichtum der Möglichkeiten, die das Thema Freundschaft im Leben und Verstehen von uns Menschen bietet, näher zu bringen.
Wir klammern uns gerne an die Idee, dass Menschen grundsätzlich frei sind. Dabei leben wir im Alltag meist das Gegenteil. Allzu häufig arrangieren wir uns mit dem Unfrei-Sein und sehen uns als Opfer vergangener oder aktueller Umstände. Deshalb ist es – ausgehend vom Zitat von Max Frisch – eine zentrale Frage der menschlichen Existenz, wo genau die Freiheit der Wahl für uns greifbar ist und wie wir sie einsetzen können. Wählen ist ein noch präziseres Synonym für Wollen: Statt »ich will …« sollten wir präziser formulieren »ich wähle …«. Ich habe beim Coaching erlebt, wie Menschen sich durch diesen anderen sprachlichen Ausdruck selbst mehr als Autoren, als stärker »in ihrer Existenz zu Hause« erfahren. Diese Erkenntnis ist zentral und führt zur nächsten Frage, nämlich in welchem Bereich der Mensch tatsächlich selbstbestimmend auftreten kann. Bestimmend – im Unterschied zu mitgestaltend oder gar nur ausführend. Die Antwort erhalten wir, wenn wir auf den Dreiklang von Wahrnehmen, Deuten und Handeln hören. Diese drei bieten im Alltag nämlich die direkten Zugänge zur Ausübung unseres freien Willens.
Wahrnehmung ist immer eine Auswahl. Neurologischen Forschungen zufolge treffen uns bis zu vier Millionen Reize pro Moment, so dass unser bewusstes Wahrnehmen vor allem in der Kunst des Weglassens und des Fokussierens besteht. Das, worauf wir den Fokus legen, ist eine Auswahl. Alles andere lassen wir weg. Das Ausgewählte erhält besonders viel Energie und wird dadurch stärker. Es bildet dann quasi automatisch unsere innere Realität ab, die unser Denken und Fühlen steuert.
Dabei sind wir uns dieses inneren Selektionsprozesses kaum bewusst. »Das, was wir wahrnehmen, nehmen wir für wahr. Es gibt kein Falschnehmen«, schreibt Heinz von Foerster und umschreibt damit unser Wahrnehmungsproblem: Es ist ein Mangel an Selbstwahrnehmung, es ist eine Betriebsblindheit gegenüber dem Mechanismus der Wahrnehmung. Täglich sind wir damit beschäftigt, eine Vielzahl von äußeren Eindrücken und Reizen zu verarbeiten, so dass die Bilder, die wir von uns, unserem Leben und unserer Umwelt machen, nicht einfach direkt von außen in den Kopf importiert werden, sondern eben verarbeitet, das heißt unbewusst gesteuert und geformt werden. Das Gehirn ist kein primitiver Kopierapparat, der nur unveränderbare Abziehbilder einer äußeren, »objektiven« Realität produziert und in denen wir uns bestenfalls als passive, von den Umständen herumgeschubste Figur wiederfinden. Viele Menschen sind weniger Opfer der Welt, die sie wahrnehmen, als vielmehr Opfer ihrer Wahrnehmung, wie sie die Welt sehen.
Wahrnehmung ist ein höchst individueller und konstruktiver, ja man könnte sagen kreativer Prozess. Die Wahrheit, die dabei entsteht, ist immer von uns erschaffen, immer exklusiv unsere und sie könnte immer auch anders aussehen. Denn die Logik unserer Welt ist die Logik der Beschreibung unserer Welt. Dies gilt für die Wahrnehmung und (Selbst-)Beschreibung in der Gegenwart wie in der Zukunft, ja selbst in Bezug auf die Vergangenheit. Wir wissen nicht, wie unsere Vergangenheit damals »wirklich« war; alles was wir wissen, ist, woran wir uns erinnern. Erinnern findet aber immer in der Gegenwart statt, jetzt und hier. Der Blick zurück ist von einer heutigen Perspektive geprägt. Damit gelangen wir bereits zur Deutung. Unsere Vergangenheit ist unsere Deutung der Vergangenheit und diese ist wiederum entscheidend für unseren heutigen Zustand. Marc Aurel schrieb dazu: »Das Vergangene ist das, was unsere Gedanken daraus machen.«
In Bezug auf die Zukunft wird der Gestaltungsspielraum noch größer. Nicht nur können wir hier wie bei der Vergangenheit in unserem Verhältnis zu Gegebenheiten unsere Freiheit ausüben, sondern es steht uns frei, diese so zu phantasieren, wie wir wollen, da die Zukunft noch gar nicht ist. Es gilt, sich in jeder Situation verschiedene Wahrnehmungsoptionen und Handlungsoptionen zu erschließen. Sollte also ein Klient eine zukünftige Lebenssituation so schildern, als gäbe es nur diese eine Wahrnehmungsoption, weiß ich als Coach sofort zwei Dinge. Erstens: Er ist im Stress, denn Adrenalin verengt die Wahrnehmung markant. Und zweitens: Im Coaching-Prozess werden wir so schnell wie möglich neue Wahlmöglichkeiten erarbeiten.
Die Deutung ist der Brückenschlag zwischen dem äußeren Ereignis, das auf uns wirkt, und der inneren Befindlichkeit, dem Wahrnehmen, das die Ausgangslage für unser Handeln bildet. Die Lebensumstände mögen nur zu einem kleinen Teil in unserem Einflussbereich liegen. Ebenso sind die Fakten des Vergangenen, die uns betreffen, unabänderbar. Wie wir allerdings diese Fakten und auf uns wirkenden Reize deuten, ist uns völlig freigestellt. Das ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil wir durch die Deutung, die wir diesen Ereignissen meist unbewusst zuordnen, ihre Be-Deutung bestimmen. Unsere Stimmung hängt also von der Be-Stimmung des Ereignisses ab!
Ob uns ein Ereignis traurig, böse, dankbar oder nachdenklich stimmt, hängt nur von der Bedeutung desselben ab. Und dies läuft in der Regel unbewusst ab. Wir sollten uns also einen bewussten Reflex antrainieren, der es uns erlaubt, unsere Wahlmöglichkeiten – und somit unsere Freiheit – zu erkennen und bewusst zu nutzen. Dank der Ausübung dieser Freiheit wächst in uns die Gewohnheit der Selbstbestimmung.
Auch wenn wir in unseren Lebensumständen gefangen sind, bleiben wir frei bezüglich ihrer Deutung. Dieser Interpretationsvorgang bestimmt alle für uns relevanten Konsequenzen, vom Fühlen über das Denken und Handeln bis zum daraus resultierenden Lebensentwurf.
Bei einer Coaching-Ausbildung in Kalifornien hörte ich die Schilderungen zweier älterer Herren, die als junge Männer in Vietnam in derselben Einheit Kriegsdienst geleistet hatten. Beide hatten das, was man »die grüne Hölle« nennt, durchgemacht. Auf die Frage des Coach hin, was sie aus den erlebten Schrecken des Krieges für sich für Schlüsse gezogen hatten, meinte der eine Mann, für ihn sei seither klar, dass man den Menschen nicht wirklich trauen kann. Egal, wie freundlich, schön, kultiviert, etc. die Menschen an der Oberfläche erscheinen, so führte er aus, wenn man sie in entsprechende Umstände versetzt und unter Druck setzt, können sie sich in Ungeheuer verwandeln. Für den anderen Mann hingegen war die übergeordnete Lehre aus diesen furchtbaren Erlebnissen, dass er fortan das Leben als ungeheuer wertvoll und schützenswert anschaut, weil eben nichts selbstverständlich sei. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass diese beiden Personen, die der identischen Situation ausgesetzt waren, durch die verschiedenen Deutungen, die sie in ihrem Inneren erschaffen haben, seither total verschiedene Lebensentwürfe gelebt haben.
Die Freiheit der Deutung kann eingeübt und erfahren werden. Auch das Aussprechen dieser Freiheit ist immer ein Deutungsvorgang: Schon mit der Betonung »Ich wähle …« deuten wir unseren Einfluss dank einer veränderten Formulierung anders. So sind es nicht die Umstände selbst, die gerade jetzt auf uns wirken und eine innere Reaktion bewirken, sondern es ist die Bedeutung, die wir Ereignissen und Fakten zuschreiben. Wir sind es, die den Ereignissen diese oder jene Bedeutung zuschreiben. Wir können nicht in die Vergangenheit zurückgehen, um die Fakten und Ereignisse zu ändern. Aber der Umgang mit den Erinnerungen liegt in unseren Händen: »Wir sehen etwas mit anderen Augen und es schmerzt nicht mehr.«
Ein (Um)Deutungsvorgang führt zu einer veränderten Wahrnehmung.
Denken ist ein Vorgang, der in mir stattfindet und in welchem ich Ereignissen Bedeutungen zuschreibe. Der Ort dieser Deutung ist der Vorstellungsraum, meine Phantasie. Sie bestimmt meine Stimmung. Wir Menschen sind phantasiegetriebene Wesen. Deshalb sind unsere Emotionen und unser Denken unserer Phantasie nachgelagert.
Das dritte derjenigen Dinge, die wir selbst bestimmen, ist unser Handeln, das heißt den unmittelbar nächsten Schritt, den wir gehen. Zwar ist uns bewusst, dass wir hier mit der Macht des Unbewussten als des eigentlichen Akteurs unseres Lebens argumentieren könnten, um uns für unser Handeln zu entschuldigen oder die Verantwortung für unseren nächsten Schritt von uns zu weisen. Genau betrachtet wird dies jedoch zu einem schwierigen Unterfangen: Die Äußerung eines Rauchers beispielsweise, der glaubhaft versichert, »ich will eigentlich nicht rauchen«, ist, obgleich wir uns an solche und ähnliche Aussagen gewöhnt haben, nur auf der Basis eines äußerst abenteuerlichen Ich-Bildes haltbar. Man müsste dann zurückfragen: Welches Ich spricht denn jetzt gerade? Welches Ich raucht und welches Ich behauptet, nicht rauchen zu wollen? Erkennen und Wissen ohne daraus folgendes Handeln machen uns krank. Wenn wir etwas wissen und erkennen und nicht dementsprechend handeln, verlieren wir nicht nur die möglichen Vorteile, die aus diesen Handlungen, deren Konsequenzen und gegebenenfalls aus den neu entstandenen Gewohnheiten entstehen, sondern vor allem den Respekt vor uns selbst. Wir verlieren die Selbstachtung, weil unser Tun bzw. Nicht-Tun nicht im Einklang mit unserem Wissen und unseren Überzeugungen steht. Umgekehrt gilt: Unser Tun ist das »Benzin«, der Kraftstoff unseren Glaubens und Wissens. Tun wir nicht, was wir glauben, schwächt das uns bzw. unseren Glauben und letztlich »glauben wir uns selber nicht mehr«.
Wenn wir nämlich etwas erkannt haben und uns daraufhin etwas Bestimmtes vornehmen, enttäuschen wir uns selbst, wenn wir nicht zumindest einen konkreten Handlungsversuch unternehmen, uns in diese Richtung zu bewegen. Ohne Handeln glauben wir uns allmählich selbst nicht mehr und – wie bei jeder Person, die ihr Wort nicht hält – nimmt unser Respekt vor uns selbst ab. Oft wächst gleichzeitig die Neigung, sich für dieses Versagen sich selbst gegenüber zu entschuldigen, indem man alle möglichen Ausreden sucht und darauf verweist, dass Andere auch nicht besser sind und man schließlich nicht alles so ernst nehmen sollte.
Weil all das – vom Selbstwertverlust bis hin zum Verdrängen desselben und Überdecken mit Ausflüchten – auf einer unbewussten Ebene blitzschnell abläuft, kann jede Erinnerung an unsere Möglichkeiten und die Verantwortung zur Lebensgestaltung unangenehm wirken und uns zum Widerstand animieren. Es wäre viel einfacher, nichts zu wissen. In der Tat ist Ignoranz auch ein Zustand der Unschuld und Gefahrlosigkeit, weil wir keinen Handlungsbedarf, der enttäuscht werden könnte, daraus ableiten müssen. Erkenntnis hat also tatsächlich etwas mit Vertreibung aus dem Paradies zu tun, ganz unabhängig davon, wie wir uns diesen Vorgang vorstellen.
Auf Grund meiner Erfahrung als Coach habe ich eine »Hitliste« von immer wiederkehrenden Ausreden aufgestellt. Sie sind in unserem Kulturkreis allesamt akzeptiert und entheben uns in der Regel zuverlässig von äußerem Druck. Ich rufe sie mir und meinen Klienten darum gerne in Erinnerung, weil die Äußerung dieser Ausreden stets auf eine Entwicklungsmöglichkeit hinweist, die im Moment verschüttet ist.
Genau betrachtet eine unsinnige Aussage! Wir alle haben natürlich Zeit, genau 24 Stunden pro Tag.
Höchst interessant, weil damit impliziert wird, dass allein das Wissen uns von der Pflicht, das Erkannte zu tun, vermeintlich enthebt. Psychologisch ist aber genau das Gegenteil der Fall. Diese Annahme verweist in der Entwicklungsgeschichte der sie verwendenden Menschen häufig auf deren Schulzeit, in der das Wissen allein bereits das (relevante, weil mit Autorität ausgestattete) Gegenüber befriedigte.
Der nächste Schritt ist in der Regel ganz einfach und liegt häufig auf der Hand.
Manchmal brauchen wir für Veränderungen nur extrem wenig Zeit. Beispiele: Schwangerwerden, Heiraten, Umziehen usw.
Meist eine Ausrede, die von selbsternannten Praktikern verwendet wird, denen ich entgegenhalte, dass die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis reichlich theoretisch konstruiert wird.
Mit welchem konkreten Handlungsziel?
Lernen kommt nicht vor dem Tun, sondern vom Tun.
Schmeichelt dem Coach und insinuiert Reue – ein gutes Zeichen, falls es zu einer Umkehr führt, die sich in entsprechenden Handlungen ausdrückt. Ansonsten gehört dies zum Verhaltensmuster »Selbstanklage mit gleichzeitiger – sozialer – Entlastung« und ist trotz letztlich kontraproduktiver Konsequenzen in vielen Kreisen akzeptiert.
Viele Therapieformen, aber auch Alltagsratschläge laufen darauf hinaus, seine Gefühle frei zu äußern, egal ob das für das jeweilige Gegenüber und die Gesamtsituation von Nutzen ist oder nicht. Nach dem Sinn solcher Äußerungen gefragt, berufen wir uns in der Regel darauf, dass wir ja »nur ehrlich gewesen sind« (etwa wenn wir uns geärgert haben) und entziehen uns der Frage, inwiefern denn unser Handeln Mehrwert geschaffen hat. Dagegen gilt der Grundsatz: Heilung und Lösung, also Konstruktives geschieht nur im Hinblick, in der Hinwendung auf eine Lösung, auf einen Fortschritt. Dies impliziert Handeln, Risiko, also Lebendig-Sein. Zu einer Reflexion unseres Zustandes, die Veränderungen anstrebt, gehört also immer auch der (Versuch des) Vollzug(s).
Der Person, die sich geärgert hat, gönnen wir den Ausbruch von Wut. Das Entscheidende ist aber, was daraus an konkretem Tun erfolgt. Eine grundlegende Regel des Coaching besagt deshalb: Am Ende jeder Sitzung sollen Schritte zur Umsetzung stehen bzw. sollte jeder Einsicht eine entsprechende Handlung auf dem Fuß folgen, damit diese Einsicht den Moment nachhaltig überdauert. An Deinem Handeln erkennt man Dein Wollen, nicht an Deinem Reden!
In den Bereichen Wahrnehmen, Deuten und Handeln können wir also individuelle Freiheit erleben und üben. Das Resultat sind Handlungsoptionen, in denen wir uns selbst als den Entscheidenden und Gestaltenden erleben. Das Wiederholen gleicher Entscheidungs- und Handlungsmuster führt zu Gewohnheiten, die eine ganz besondere, meist unreflektierte Macht ausüben.
Zusammenfassend und den Anfangsgedanken von der Würde des Menschen wieder aufnehmend wage ich es, den berühmten Grund-Satz von René Descartes durch eine psychologisch treffendere Formulierung zu ersetzen. An die Stelle seines »Cogito, ergo sum« (Ich denke, also bin ich) setze ich: »Volo, ergo sum« (Ich will, also bin ich).
Der Mensch ist wie jede Spezies aus Gründen des Überlebens darauf programmiert, zu wiederholen, was sich bewährt hat. Wir wiederholen Verhaltensweisen, die uns zum Erfolg verholfen haben (was auch immer Erfolg für den Einzelnen bedeutet). Dadurch entstehen Muster, auf die ich als Coach besonders achte. Sie sind meist unabsichtlich der eigentliche, weil operativ wirksame Ausdruck dessen, wie ein Mensch denkt, zu Erfolg zu gelangen. Der Nachteil solcher Muster liegt auf der Hand: Aus dem besten Freund (aus guten Gewohnheiten) kann ein schlimmer Feind werden, wenn der Erfolg lernresistent macht. Obwohl jedes Verhaltensmuster zur Zeit seiner Entstehung eine Berechtigung hatte, kann es heute ein Hindernis für unser Weiterkommen darstellen. Statt uns die nächste Stufe unserer Entwicklung zu ermöglichen, verführt uns unsere Gewohnheit zur Wiederholung und führt so zu Stagnation und Langeweile.
Wie viele Paare empfinden ihre Partnerschaft als langweilig, weil sie selber nichts Neues machen und dies der Partnerschaft oder schlimmer noch, dem Partner vorwerfen? Bei der individuellen Lebensgestaltung kann das jedermann für sich selber testen: Ein Jahr, in dem Sie bewusst jedes Wochenende etwas anderes machen, wird aufregend sein, spannend, vielleicht sogar etwas anstrengend, im Gedächtnis wird es aber als langes und reiches Jahr gespeichert. Wenn Sie hingegen ein Jahr jedes Wochenende exakt gleich gestalten, dann werden Sie sich höchstens noch an Störungen ihres Ablaufes erinnern, vielleicht nicht einmal im positiven Sinne, und sich im Nachhinein fragen, wo denn dieses Jahr geblieben sei.
Dass die Macht von Gewohnheiten uns unheimlich erscheint, bringen viele bekannte Aphorismen zum Ausdruck, wie »Gewohnheiten sind zuerst Spinnweben, später Stahlbänder«. Wenngleich Gewohnheiten zu unserem ärgsten Feind zählen, können wir sie zu unserem besten Freund machen. Einerseits haben schon die Griechen das Prinzip der Familiarität und die daraus entspringende Lernresistenz erkannt und in dem bekannten Satz zum Ausdruck gebracht: »Wen die Götter vernichten wollen, dem schicken sie dreißig Jahre Erfolg.« Andererseits ist es aber gerade die Vielzahl guter Gewohnheiten, die uns das Überleben, also auch den Erfolg in der Zukunft, ermöglicht.
Der Charakter ihrer »unheimlichen« Macht rührt daher, dass Gewohnheiten unserem Bewusstsein per definitionem nicht auffallen, weil sie eben buchstäblich gewöhnlich sind und »heimlich« wirken. Andererseits bestimmen sie zu 99 Prozent unseren Lebensstil, der in seiner Summe wiederum unseren Lebensentwurf gestaltet. Der Lebensstil verweist auf das Lebensziel: »Sag mir wie Du lebst, und ich sage Dir, wohin Du gelangen wirst.« Genauso gilt umgekehrt: Lebensziel bestimmt Lebensstil.
Gewohnheiten bestimmen den größten Teil unseres Lebens. In Bezug auf Beziehungen bedeutet dies, dass die Summe der guten Gewohnheiten in einem Beziehungsleben die Summe der schlechten Gewohnheiten überragt. Ein physisch gesunder Mensch hat bezüglich Ernährung, Bewegung und Lebensstil mehr positive, gesundheitsfördernde Gewohnheiten als negative. Genauso verhält es sich in der Wirtschaft. Wir sprechen dann von einer »gesunden Unternehmenskultur«, wenn in einer Firma die positiven – also konstruktiven – Umgangsgewohnheiten die negativen überwiegen.
In diesem Zusammenhang überschätzen wir oft die Wichtigkeit von Ausnahmen: Einmal Sport zu treiben macht niemanden fit, so wie einmal »über die Stränge zu schlagen« niemanden »unfit« macht. Wir machen uns darüber Sorgen, wie viel wir zwischen Weihnachten und Neujahr essen werden (»das wird sicher streng …«), dabei ist doch klar, dass unsere Figur viel mehr von dem abhängt, wie viel wir zwischen Neujahr und Weihnachten essen! Wir werden im Alltag von Gewohnheiten beherrscht, die uns nicht immer bewusst sind. Davon gibt es nur ganz wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel Heiraten, Vater oder Mutter werden usw.
Immer wieder erlebe ich in meiner Arbeit als Coach, wie die Menschen dazu neigen, einerseits die Bedeutung von einmaligen Ereignissen zu überschätzen und andererseits die Wirkung von Prozessen und Gewohnheiten zu unterschätzen. Zum Beispiel überschätzen Kunden das Veränderungspotential eines einmaligen Seminars und unterschätzen gleichzeitig, was das disziplinierte Anwenden von Verstandenem im Laufe von sechs Monaten verändert, weil so erst neue Gewohnheiten und erste Erfolge entstehen.
Wenden wir nun das, was über die Gewohnheiten gesagt wurde, auf den Dreiklang dessen an, was wir selbst bestimmen können, also auf das, was unsere Würde und unsere Gestaltungsmöglichkeiten im Leben ausmacht. Wir erkennen, dass unsere Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsgewohnheiten uns den Hebel bieten, den es anzusetzen gilt, wenn wir an unseren Gewohnheiten nachhaltig etwas verändern wollen. Genau dies beabsichtigt dieses Buch. Es geht darum, dass wir Freundschaften aufbauen und pflegen können, indem wir unsere Wahrnehmung (was wir sehen), unsere Deutung (was es für uns bedeutet) und unsere Handlung (unsere nächsten Schritte) im Lichte des zu Gestaltenden als völlig freien Handlungsspielraum nutzen. Dass wir unsere Identität als Freunde und unsere Beziehungen als Freundschaften erkennen und gestalten. Das gibt uns neue Möglichkeiten und öffnet die Tore zu einem anderen Lebensstil und zu einer anderen Gesellschaft.