Evas Entscheidung
Psychothriller
© 2012 by GRAFIT Verlag GmbH
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Umschlagfoto: ›Schattenspiel 08‹ © Gestaltbar / photocase.com
eBook-Produktion: CPI – Clausen & Bosse, Leck
eISBN 978-3-89425-862-7
Der Autor
Frank Bresching, 1970 in Lahnstein geboren, ist Prokurist eines großen Unternehmens mit Verbandssitz in Neuss. Als Autor trat er in den Neunzigerjahren erstmals in Erscheinung. Bei Grafit legte er mit Das verlorene Leben und Der Teufel von Grimaud bisher zwei außergewöhnliche Psychothriller vor.
Frank Bresching lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern bei Koblenz.
Es gibt nur etwas, das schlimmer ist als Ungerechtigkeit,
und das ist Gerechtigkeit ohne Schwert in der Hand.
Wenn Recht nicht Macht ist, ist es Übel.
Julias Geschichte
Julia war nackt und wehrlos, als es geschah.
Und sie fühlte sich genauso nackt und wehrlos, als vierzehn Wochen nach der Tat das Foto an ihrem Lehrerpult klebte. Ein zynischer Schnappschuss, der ihr verdeutlichte, dass sie immer noch Gefangene des Albtraums war, den sie mir gegenüber mehrfach als ihre ganz persönliche Vorstufe zur Hölle bezeichnet hat.
»Das Bild hat mir auf qualvolle Weise die Augen geöffnet«, sagt sie leise, jedes einzelne Wort wie unter Schmerzen über ihre Lippen bringend. Ihre belegte Stimme wird auch jetzt noch von dem Schrecken geprägt, der sie beim Anblick des Fotos erfasst hat.
Wenn man bedenkt, mit welcher Art der Gewalt sie konfrontiert worden war, welche Demütigung sie hatte erdulden müssen, durchlebt man als Zuhörer ebenfalls die unterschiedlichen Emotionen, die Julia im Laufe unseres Treffens immer wieder offenbart: Kummer, Verbitterung, Angst und Wut.
Inzwischen spricht sie derart leise, als befürchte sie, jemand würde uns belauschen. Ich beuge mich dichter an sie heran, um sie besser verstehen zu können. Dabei werde ich mir einer weiteren Tatsache bewusst: Wäre mir ihre Geschichte nur von dritter Seite erzählt worden oder hätte ich lediglich in der Zeitung von ihr erfahren, hätte mich Julias Schicksal sicherlich nicht mit dieser Intensität berührt, wie es ihre eigene, unverblümte Schilderung tat.
Könnte ein Mann genauso nachvollziehen, welche Tiefen sie durchleben musste? Wäre ein Mann ebenfalls so bestürzt, wie ich es bin?
Julia rückt ihre Sonnenbrille zurecht und fischt eine Zigarette aus der Packung, die neben einer geleerten Kaffeetasse vor ihr auf dem Tisch liegt. Ich habe nicht mitgezählt, aber es ist gewiss schon der sechste oder siebte Glimmstängel, den sie sich ansteckt, seitdem wir auf der Terrasse des Alsterpavillons am Hamburger Jungfernstieg sitzen. Ein neutraler und anonymer Ort, der bei trockenem Wetter immer gut besucht ist. So auch heute, an diesem schönen Spätsommertag. Die Sonne taucht das Wasser der Binnenalster in ein goldenes Licht und die Ausflugsschiffe sind bis auf den letzten Platz gefüllt.
Julia hat den Treffpunkt ausgewählt. Sie ist es auch gewesen, die mich am Morgen angerufen und um das Gespräch gebeten hat.
Clara, meine Tochter, war schon längst in der Schule. Johannes hatte sie wie jeden Morgen nach unserem gemeinsamen Frühstück mitgenommen.
Den Zeitraum zwischen acht und halb zehn fülle ich mit dem Lesen der Hanseatischen Morgenpost, dem Abräumen des Frühstückstischs, einer ausgiebigen Dusche und einer weiteren Tasse Kaffee.
Je nachdem, welche Arbeit ich zu erledigen habe, fahre ich anschließend in die Redaktion oder begebe mich in mein Arbeitszimmer im ausgebauten Dachgeschoss unseres Einfamilienhauses in Harvestehude, wie ich es an diesem Morgen tat.
Ich wollte endlich mit dem Artikel über die jüngste Rotlichtrazzia der Hamburger Polizei beginnen. Ein mobiles Einsatzkommando hatte vergangenen Montag mit enormer Härte über fünfzehn Häuser im Osten Hamburgs gestürmt, nachdem die seit geraumer Zeit anhaltenden, blutigen Auseinandersetzungen in der Zuhälterszene zu eskalieren drohten. Nach einem kurzen Gefecht erschossen die Beamten einen auf der Fahndungsliste ganz oben stehenden Mädchenhändler und nahmen drei weitere bekannte Kiezgrößen fest. Damit hatte sich die Unruhe im Milieu gesteigert und darüber wollte ich ausführlich berichten. Ich saß bereits auf meinem Bürostuhl, den Laptop vor mir aufgeklappt, daneben eine Mappe mit den Rechercheergebnissen, die ich in den vergangenen Tagen eifrig zusammengetragen hatte, als mein Telefon klingelte.
Das konnte nur unser stets unter Dauerstress leidender Chefredakteur Maximilian Peters sein. Ich hatte ihm versprochen, den Bericht bis Freitagmittag fertig zu haben. Nun war es schon Donnerstagmorgen und ich hatte mich in den letzten zweiundsiebzig Stunden weder telefonisch noch per E-Mail bei ihm gemeldet. Deswegen war ich mir sicher, dass er sich nun erkundigen wollte, wie ich mit meiner Arbeit vorankam. Und das, obwohl ich noch nie mit einem Artikel in Verzug geraten bin. Verlässlichkeit halte ich in meinem Beruf für unabdingbar. Verlässlichkeit schafft Vertrauen, und das wiederum garantiert mir den Freiraum, den ich für meine Arbeit benötige.
Verlässlichkeit schafft Vertrauen – eine simple Formel, die ich mitunter auch meiner vor Eigensinn strotzenden Tochter einzuimpfen versuche. Mit durchwachsenem Erfolg, wie sich zumeist herausstellt.
Aber der Anrufer war nicht Maximilian, sondern eine mir fremde Frau. Irgendwie seltsam, Julia nun als fremde Frau zu bezeichnen. Sie ist mir in den letzten Stunden so vertraut geworden, beinahe wie eine Freundin aus Schulzeiten.
»Spreche ich mit der Journalistin Eva de Boer?«, fragte sie, ohne ihren eigenen Namen zu nennen. Ich registrierte ihren schweren Atem und Verkehrsgeräusche im Hintergrund.
»Das tun Sie«, entgegnete ich energisch. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Keine Antwort. Die Anruferin schwieg, als suchte sie nach den richtigen Worten. Ich wartete ab und trommelte ungeduldig mit den Fingern meiner freien Hand auf der Schreibtischplatte herum. Ich erzeugte keinen bestimmten Takt, nur ein nervöses Klopfen.
»Mein Name ist Julia Kehrmüller«, sagte sie schließlich. Wieder bemerkte ich ihre Kurzatmigkeit. »Ich würde mich gern mit Ihnen treffen.«
»Und worum geht es?« In meiner Stimme schwang ein gereizter Unterton mit, den ich nicht unterdrücken konnte. Ich dachte an die Arbeit, die noch vor mir lag. An das Zeitfenster, das sich allmählich zu schließen begann.
»Es ist etwas Schlimmes geschehen«, antwortete die Anruferin knapp.
Die Worte verfehlten ihre gewünschte Wirkung nicht. Mit einem Mal breitete sich ein flaues Gefühl in meiner Magengegend aus. Instinktiv fragte ich mich, ob dieses schlimme Ereignis etwa mich betraf. Meine Tochter. Oder Johannes.
»Was ist denn geschehen?«, presste ich hervor.
»Ein Verbrechen.«
Ich lehnte mich zurück, spürte, wie die Stuhllehne in meinem Rücken nachgab. »Was für ein Verbrechen?«
»Eins der schrecklichsten, das man einer Frau antun kann«, raunte die Anruferin plötzlich ungestüm und mit einer Stimme voller Schmerz.
»Drücken Sie sich bitte genauer aus, Frau Kehrmüller!«
»Das werde ich noch. Zu gegebener Zeit.«
»Entweder kommen Sie sofort zur Sache oder ich werde das Gespräch beenden.«
»Das sollten Sie nicht tun.« Die Frau schluckte, bevor sie fortfuhr. »Haben Sie sich schon einmal mit dem Gedanken auseinandergesetzt, dass Sie, Eva de Boer, die Journalistin, Ehefrau und Mutter einer sechzehnjährigen Tochter, jemals Opfer einer entsetzlichen Gewalttat werden könnten? Und damit meine ich eine ernsthafte Auseinandersetzung, kein kurzes Unwohlsein, weil Sie über ein Verbrechen schreiben oder darüber lesen.«
Sie wusste, dass ich eine Tochter hatte und verheiratet war. Demnach hatte sie mich bewusst ausgewählt. Ich war irritiert. »Eigentlich nicht, nein. Wieso?«
»Das ging mir genauso.«
»Worauf wollen Sie hinaus? Was wollen Sie von mir?«
»Reden.«
»Reden? Hören Sie, ich …«
Der Damm, der Julia bisher vor dem Ausbruch ihrer Gefühle bewahrt hatte, schien gebrochen. »Ich hätte nie geglaubt, dass mir so etwas einmal passieren könnte. Tatsächlich war ich immer davon überzeugt, dass es nur andere Frauen betrifft. Frauen, die zu aufreizend gekleidet sind oder sich nachts an Orten aufhalten, die man besser meidet. Ich kleide mich weder provokant noch treibe ich mich in zwielichtigen Gegenden oder Lokalen herum. Aber dennoch ist es mir passiert! Mir, einer Lehrerin!«
Ich drückte den Hörer fester an mein Ohr. Einerseits war ich erleichtert, dass ich wohl doch nicht persönlich betroffen war. Andererseits weckte die Anruferin Instinkte in mir, die eine gute Journalistin schlichtweg besitzen muss. Und ich bilde mir ein, eine verflucht gute Journalistin zu sein. Eine Annahme, die mein Chefredakteur nur allzu gerne bestätigt, indem er niemals müde wird zu behaupten, ich sei einer der besten und scharfsinnigsten Schreiber, die ihm in seiner Laufbahn jemals untergekommen seien.
»Ein fähiger Berichterstatter zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er schreibt, was er hört und sieht, sondern dass er aufgrund seiner Auffassungsgabe auch versteht, was er hört und sieht. Ein Journalist, der schreibt, ohne die genauen Zusammenhänge einer komplexen Story wirklich erkennen zu können, wird früher oder später scheitern. Du, Eva, schreibst gut, weil du begreifst, was du wahrnimmst. Und über deinen Spürsinn brauchen wir uns auch keine Gedanken zu machen, richtig?«, sagt er zuweilen und bekräftigt im selben Atemzug, dass er wirklich nicht nur deshalb diese Meinung vertrete, weil mein Vater Gesellschafter des Verlages sei. Maximilian ist nicht nur ein kluger, sondern auch ein ehrlicher Mensch. Zugegeben, vielleicht glaube ich ihm auch ein bisschen, weil es sich gut anfühlt, wenn er es sagt. Mein Spürsinn schlug bei Julias Worten jedenfalls an.
»Sie wurden vergewaltigt?«, vergewisserte ich mich.
»Betäubt und dann vergewaltigt, ja.«
»Betäubt?«
»Gefügig gemacht und benutzt wie ein x-beliebiger Gegenstand. Und ich weiß nicht einmal, was das Schwein mir alles angetan hat. Es ist während einer Klassenfahrt geschehen, vor vier Monaten.«
Ich atmete tief durch. »Das ist sicherlich entsetzlich, aber ich verstehe immer noch nicht ganz, weshalb Sie mich angerufen haben. Was erwarten Sie von mir? Dass ich Ihr Erlebnis öffentlich mache?«
»Ich möchte, dass Sie mir zuhören, Frau de Boer. Wie Sie danach mit meiner Geschichte umgehen, können Sie selbst entscheiden.«
»Warum rufen Sie ausgerechnet mich an? Es gibt eine Menge Journalisten in der Stadt.« Ich tippte mit dem Zeigefinger gegen meine Lippen und wartete gespannt auf die Antwort.
»Ich sehne mich nach Gerechtigkeit. In den letzten Tagen ist mir klar geworden, dass ich keinen Frieden ohne Gerechtigkeit finden werde«, sagte die Frau, meine Frage ignorierend. »Und ich glaube, Sie können mir zu dieser Gerechtigkeit verhelfen.«
»Durch einen Zeitungsartikel?«
Sie machte eine kurze Pause. »Ich weiß, dass Sie die richtige Person sind.«
»Wofür?«
»Hören Sie mir einfach zu. Bitte!«
Ich presste die Lippen zusammen und horchte in mich hinein. Sortierte meine Gedanken. Fragte meinen Spürsinn. Eine Lehrerin, die auf einer Klassenfahrt vergewaltigt worden war und einem Journalisten ihr Herz ausschütten wollte, konnte mir und dem Hanseatischen Sonntagsblatt durchaus eine interessante Story liefern. Julia Kehrmüller hatte den Köder ausgeworfen und nach kurzem Überlegen entschied ich mich dafür, ihn zu schlucken. »Gut. Treffen wir uns. Können Sie am Samstag?«, fragte ich.
»Nein, wir müssen uns heute sehen!«
»Heute? Das passt mir gar nicht …«
»Glauben Sie mir doch, es ist sehr wichtig, Frau de Boer.«
»Ich muss noch einen Artikel schreiben und …«
»Bitte!«
Für einige Sekunden wurde es erneut still zwischen uns. Ich betrachtete meinen Laptop, meine Notizen und sah auf die Uhr. Ich dachte an Maximilian und mein Versprechen, den Artikel bis morgen geschrieben zu haben. Andererseits war ich inzwischen wirklich neugierig, warum sich Julia Kehrmüller ausgerechnet mir mitteilen wollte und warum sie es so dringend machte. Was steckte dahinter?
»Wo treffen wir uns?«, fragte ich schließlich. Ich konnte keinen Rückzieher mehr machen. Nötigenfalls würde ich den Artikel über den polizeilichen Großeinsatz am Abend und in der Nacht schreiben, was nun wahrhaftig nicht das erste Mal vorkäme.
Fünfzig Minuten später winkte mir Julia Kehrmüller verhalten zu. Sie saß am äußersten Terrassenrand des Pavillons: eine Frau Mitte zwanzig, mit langen, kupferroten Haaren, die sich um ihr hellhäutiges Gesicht kräuselten. Ihre Augen wurden von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt.
Durchaus eine attraktive Erscheinung, dachte ich, während ich mich der schlanken, mit einer hellen Leinenhose und einer kakibraunen Sommerjacke eher unauffällig gekleideten Gestalt näherte. Sie hatte ihre Beine übereinandergeschlagen. Zwischen ihrem Zeige- und Mittelfinger hielt sie auf krampfhafte Weise eine Zigarette fest. Als ich vor ihr stehen blieb, formten ihre Lippen ein zaghaftes Lächeln in ihr Gesicht.
Sie würde mich erkennen, das hatte sie noch am Telefon gesagt. Sie kannte also nicht nur meine Artikel, sie war nicht nur darüber informiert, dass ich verheiratet war und eine Tochter hatte, nein, sie wusste auch, wie ich aussah. Wieder beschlich mich ein äußerst befremdliches Gefühl.
Nachdem Julia die Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt hatte, stand sie auf und reichte mir höflich die Hand. Ein zarter, fast kraftloser Händedruck.
»Ich bin Julia«, sagte sie gedämpft und taxierte mich ein wenig ungläubig, als könnte sie es noch gar nicht recht glauben, dass ich tatsächlich hergekommen war. »Setzen Sie sich doch bitte.«
Ich nahm ihr gegenüber Platz. Unwillkürlich kramte ich mein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus meiner Handtasche hervor und legte beides auf den Tisch.
»Kaffee?«, fragte Julia.
»Lieber ein Glas Wasser. Ich habe meine Ration an Koffein bereits intus«, antwortete ich.
Julia winkte einen Kellner heran und bestellte einen Kaffee und ein Wasser. Dann deutete sie mit einer Kopfbewegung auf meine Kladde. »Sie machen sich Notizen?«
»Ja, klar. Was dachten Sie denn?«
Sie strich sich verlegen eine Falte aus der Hose, während sie zu Boden starrte. Ihre Fingermuskeln spannten sich unter der Haut an, die Knöchel traten hell hervor. Sie war ohne Zweifel ziemlich nervös.
»Womit soll ich beginnen?«, überlegte sie laut.
Ich versuchte, ein entspanntes Gesicht aufzusetzen, um ihr ein Stück ihrer Aufgeregtheit zu nehmen. »Erzählen Sie mir doch zunächst etwas von sich. Woher Sie kommen. Wie Ihr Alltag aussieht. Was Sie gern tun«, schlug ich vor.
Sie antwortete nicht. Stattdessen nahm sie die Sonnenbrille ab. Es fiel mir nicht sonderlich schwer, ihrem unsicheren Blick standzuhalten. Auf seltsame Weise beeindruckte mich ihr zartes Gesicht, in dem mich lediglich die schattigen Ringe unter ihren blassgrünen Augen irritierten.
Schließlich wandte sie sich von mir ab. Ihr Mund verzog sich zu einer merkwürdigen Grimasse, in der sich ein gewisses Unbehagen widerspiegelte. Ihr Blick strich über die Köpfe unserer Tischnachbarn hinweg, verlor sich irgendwo auf dem Wasser.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder zu reden begann. Und schon bald spürte ich, dass meine Entscheidung hierherzukommen, richtig gewesen war. Fasziniert lauschte ich ihrer Geschichte, der ich bis zu dem Tag folgte, an dem Julia das besagte Foto entdeckte.
Im Alter von fünfzehn Jahren verspürte Julia Kehrmüller, Halbwaise und Tochter eines einfachen Chemiearbeiters, erstmals den Wunsch, Lehrerin zu werden. Den Grundstein für diese positive Betrachtung des Lehrerberufes löste ihre Deutschlehrerin aus, eine mit fachlicher und sozialer Kompetenz ausgestattete Mittvierzigerin namens Annemarie Strauß, der es mithilfe ihrer geduldigen und teils auch humoristischen Art gelang, sogar diejenigen Schüler in Julias Klasse zu motivieren, die Schule eigentlich nur als notwendiges Übel empfanden. Immer wieder ließ Frau Strauß außergewöhnliche, aber auch anspruchsvolle Aufgaben, wie die Entwicklung eigenwilliger Interpretationen zu zivilisationskritischen Parabeln oder das fantasievolle Fortführen neuzeitlicher Romane, in ihren Unterricht einfließen. Auf diese Weise schaffte sie es stets, ihre Schüler für das geschriebene Wort zu interessieren.
Julia war ihre beste Schülerin. Sie genoss jede einzelne Deutschstunde mit Frau Strauß, die mit den Jahren zu einer Art Vorbild für sie wurde. Die katholische Privatschule, die Julia besuchte, war eine Einrichtung mit einem guten Ruf über die Grenzen ihrer Heimatstadt Mainz hinaus. Julia hatte die Aufnahmekriterien durch ihre außerordentlichen Noten in der Grundschule sowie ein aufgeschlossenes Vorstellungsgespräch mit dem Schuldirektor erfüllt und damit all die Gerüchte widerlegt, dass die Schule nur der Oberklasse offenstand.
Julias Vater war außer sich vor Freude, als ihn der Brief mit der Zusage erreichte. Seine ehrgeizige Tochter würde eine Bildung erhalten, die ihm selbst verwehrt geblieben war. Bevor sie zur Feier des Tages in ihrer Lieblingspizzeria in der Innenstadt zu Abend aßen, fuhren sie noch zum Friedhof nach Gonsenheim hinaus und legten einen frischen Blumenstrauß auf Mamas gepflegtes Grab.
»Als Dankeschön dafür, dass du deiner Tochter nicht nur deine Schönheit, sondern auch deinen Verstand vererbt hast«, sagte Vater andächtig. Dabei umspielte ein sanftes Lächeln seine Lippen.
Ihre Mutter hatte nie einen bedeutenden Platz in Julias Leben eingenommen, denn Julia hatte sie nie kennengelernt. Elisabeth Kehrmüller war unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter an einer Fruchtwasserembolie gestorben. Julias Vater, ein Baum von einem Mann – bärenstark, zäh und mit einem Herzen am rechten Platz –, klärte Julia erst über die Einzelheiten des Unglücks auf, als diese bereits die achte Klasse besuchte.
»Deine Geburt hat ziemlich genau zwölf Stunden gedauert, Prinzessin. Für deine Mama waren es zwölf schmerzvolle Stunden. Aber sie war ungemein tapfer. Presste und arbeitete, während ich ihr den Schweiß von der Stirn tupfte, ihre Hand hielt, ihr zu trinken gab. Und dann, als du endlich da warst und die alte Hebamme dich vorsichtig in ihre Arme legte, schienen die Schmerzen und Anstrengungen der vergangenen Stunden wie ausgelöscht. Die Augen deiner Mutter leuchteten vor Glück …« Seine Hände ballten sich zu Fäusten, bevor er fortfuhr. »Die Katastrophe begann erst, als die Hebamme an Mamas Nabelschnur zog, um das Ablösen der Nachgeburt einzuleiten. Eine übliche Vorgehensweise, nichts Besonderes, wie mir der Arzt später versicherte. Für deine Mama und für mich endete sie fürchterlich. Sie begann plötzlich zu bluten, immer mehr. Der Arzt schickte mich sofort aus dem Kreißsaal. Andere Mediziner eilten hinzu, alle waren entsetzlich hektisch. Du wurdest von den Krankenschwestern versorgt und ich blieb bei dir. Ich fühlte mich so schrecklich hilflos. Nach einer halben Ewigkeit kamen die Ärzte zu mir. Sie brauchten es mir nicht zu sagen, ich konnte es von ihren Gesichtern ablesen. Deine Mama war gestorben. Und du, Prinzessin? Du lagst in meinen Armen und hast mich die ganze Zeit über nur angesehen. Ohne zu schreien, als wolltest du es mir nicht noch schwerer machen …«
Julia legte ihre Arme um Vaters Schultern und tröstete ihn. Auch wenn sie sich nie direkt danach erkundigte, erfuhr sie von ihm, dass die Geburt eines unehelichen Kindes weder für ihn noch für ihre Mutter infrage gekommen war. Insofern handelten die beiden konsequent und heirateten überstürzt und blind vor Liebe, wie Vater irgendwann einmal beiläufig erwähnte.
Was ihr Vater als Liebesbeweis bezeichnete, stellte für Oma Hildegard einen unvermeidbaren Zwangsakt dar: Ihrer Meinung nach hätte ihre Tochter, die hübsche Jurastudentin, etwas Besseres als diesen einfachen Arbeiter verdient gehabt. Nach dem Tod ihrer Tochter kümmerte sie sich um die übrig gebliebene, winzige Familie, zumindest tagsüber.
Oma Hildegard war klein, hatte einen hageren Körper und ein verhärmtes, von tiefen Falten durchzogenes Gesicht. Julia lernte sie von Kindesbeinen an als eine Frau kennen, der jegliche Güte, wenn sie denn jemals ein Stück davon besessen haben sollte, abhanden gekommen war.
Darum war Julia auch froh darüber, dass ihre Oma nicht bei ihnen übernachtete und jeden Abend wieder in ihr Haus am Stadtrand fuhr. Ihr Mann Heinrich war ein Beamter gewesen, der die Familie vor einigen Jahren verlassen hatte. Mit dem Haus hatte er sich schlicht und ergreifend freigekauft. Er habe es wohl nicht mehr mit der ständig übel gelaunten und von Rheuma geplagten Frau ausgehalten, das Weite gesucht und offenbar die Freiheit gefunden, hatte Julias Vater einmal mit einem feisten Grinsen bemerkt.
Aber weder Ekkardt Kehrmüller noch seine Tochter kamen umhin, die Unterstützung der despotischen Frau anzunehmen, eine Unterstützung, die sich im Laufe der Zeit nur noch darauf beschränkte, Julia das Kochen, Waschen, Bügeln und die übrigen Haushaltspflichten beizubringen. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, verlor das Mädchen schon viel zu früh große Teile ihrer Kindheit und wurde mit einer ungewöhnlichen Verantwortung beladen. Aber für Julia war es immer selbstverständlich, dass sie nach der Schule die spartanisch eingerichtete Wohnung sauber hielt und gegen Abend, bevor Vater nach Hause kam, das Essen zubereitete. Sie kannte es nicht anders.
»Du musst deine Mutter ersetzen, Julia! Du hast keine Wahl. Das ist dein Schicksal, deine Pflicht! Schließlich wäre sie ohne dich noch da«, schimpfte ihre herrische Oma immer wieder in barschem Ton und sah Julia mit ihren kalten Augen an. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Verachtung, die sie ihrem einzigen Enkelkind entgegenbrachte. Manchmal fragte sich Julia, warum Oma ihnen überhaupt half. Gerne tat sie es wohl kaum. Vielleicht benötigte sie das Gefühl, gebraucht zu werden und konnte sich nicht von Julia und ihrem Vater lösen, weil sie sonst nichts und niemanden mehr auf der Welt hatte.
Julias Vater schmerzte es, dass seine Tochter unter der Fuchtel seiner unerbittlichen Schwiegermutter aufwuchs. Doch er sah keinen anderen Ausweg. Es lag allein an ihm, seine kleine Familie durchzubekommen. Finanziell konnte er weder etwas von seinen Eltern erwarten, die nur eine winzige Rente bezogen und ein zurückgezogenes Dasein in einem Nest irgendwo in der Pfalz fristeten, noch von dem geizigen, Gift und Geifer speienden Drachen, wie er Oma Hildegard häufig nannte. Demnach war er gezwungen, jede Sonderschicht anzunehmen, die er in der Chemiefabrik verrichtete, die sich auf die Produktion von Schuh- und Ledermitteln spezialisiert hatte. In seiner knappen Freizeit kümmerte sich Ekkardt Kehrmüller liebevoll um seine Tochter, allein daran lag es, dass Julia eine warme Erinnerung an ihre Kindheit behielt, ein Andenken, das ihr niemand wegnehmen konnte, auch Oma Hildegard nicht. Nie würde sie die zahlreichen Leseabende mit ihrem Vater vergessen, bei denen er ihr, auf der Bettkante sitzend, vorlas, während sie ihre Kuscheldecke bis an ihr Kinn zog und ihn aus den Augenwinkeln heraus beobachtete. Auf seinem kantigen Gesicht schimmerte das durch die nur halb heruntergelassenen Rollläden fallende Mondlicht. Er trug eine Lesebrille mit kleinen, ovalen Gläsern, die ihm einen gelehrten Anstrich verlieh. Ein Eindruck, der noch von seinen buschigen Koteletten verstärkt wurde. Aber Ekkardt Kehrmüller war natürlich kein Gelehrter, sondern ein schlichter Mann. Im Laufe der Zeit entwickelte er sich zu einem erstaunlich guten Vorleser, begriff, wie er seine tiefe Stimme einsetzen musste, um den verschiedenen Charakteren in den Kinderbüchern Leben zu verleihen und ein richtiges Maß an Spannung aufzubauen. Julia liebte den Klang seiner Stimme, die raue Melodie darin, die Freude über den gemeinsamen Augenblick.
Ihre erste Lieblingsgeschichte war Peterchens Mondfahrt; ein wundervolles Märchen, das von den Menschenkindern Peter und Anneliese handelt, die mit dem Maikäfer Herr Sumsemann zum Mond fliegen, um dort sein verlorenes, sechstes Bein zu suchen. Julia liebte jede einzelne Episode: das erste Aufeinandertreffen der Kinder mit dem Maikäfer in ihrer Stube, die Fahrt im Mondschlitten auf der Milchstraße, ihre Ankunft im Schloss der Nachtfee mit dem anschließenden Ritt auf dem großen Bären, und nicht zuletzt ihren siegreichen Kampf gegen den von Hunger und Gier erfüllten Mondmann.
Auch wenn in späteren Jahren andere Helden den Platz von Peter und Anneliese einnahmen, blieb ein Teil des Zaubers, den Julia mit der Erzählung von Gerdt von Bassewitz verband, immer in ihr haften.
Und dafür war sie ihrem Vater unendlich dankbar.
Acht Wochen nach Julias erfolgreich bestandenem zweitem Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Katholische Religion starb Oma Hildegard an den Folgen ihres zweiten Schlaganfalls. Der erste hatte sie zu einem Pflegefall gemacht, der ihr gesamtes Hab und Gut verschlungen hatte. Der zweite hatte sie von einer jahrelang anhaltenden Sprachlosigkeit, einer halbseitigen Lähmung und dem entwürdigenden Zustand, nicht mehr allein zur Toilette gehen zu können, erlöst.
Wie nicht anders zu erwarten war, kamen nur wenige Trauergäste zu ihrer Beerdigung. Ein paar Angestellte aus dem Heim, in dem sie zuletzt untergebracht war, ein halbes Dutzend ehemaliger Nachbarn sowie Julia und ihr Vater, der dafür gesorgt hatte, dass Hildegard neben ihrer Tochter beigesetzt wurde.
Viele Stunden nach der Trauerfeier saßen Julia und ihr Vater auf dem schmalen Balkon ihrer Dreizimmerwohnung zusammen. Es war eine lauwarme Frühjahrsnacht. Ein süßer Duft nach Kirschen, die an einem großen Baum im angrenzenden Nachbargrundstück wuchsen, erfüllte die Luft. Eigentlich war es eine Nacht zum Genießen, aber danach war weder Julia noch ihrem Vater zumute, was nicht nur daran lag, dass sie gerade erst Oma Hildegard unter die Erde gebracht hatten.
Julia kostete es eine ungeheure Überwindung, ihren Vater anzusehen. Sie drückte ihre Zigarette in einem gläsernen Aschenbecher aus, nahm das Weinglas vom Tisch und lehnte sich in ihrem klapprigen Campingstuhl zurück. Mit zugeschnürter Kehle nippte sie an ihrem Glas.
Ihr Vater rührte sein Bier nicht an. Schweigend saß er da, starrte konsterniert ins Leere, während sich sein Brustkorb in gleichmäßigem Rhythmus hob und wieder senkte.
Jetzt sah sie ihn an. Was mochte er in diesem Moment nur denken? Dass es zwar völlig normal, aber dennoch nur schwer zu akzeptieren war, dass das Leben einem die Tochter Stück für Stück stahl? Angefangen von ihrer ersten längeren Beziehung mit einem ihrer Studienkollegen bis hin zu ihrem Job als Kellnerin in einem Restaurant nahe dem Dom, der es ihr in Kombination mit der monatlichen BAföG-Auszahlung sogar ermöglicht hatte, mit ihrem Freund zusammenzuziehen?
Jeder Vater, jede Mutter musste lernen loszulassen, darüber war sich auch Ekkardt Kehrmüller im Klaren. Andererseits hatte er sich schon immer davor gefürchtet, genau genommen von dem Tag an, als er mit seinem Baby im Arm im Nebenraum des Kreißsaales wartete, während seine Frau nur wenige Meter von ihm entfernt starb.
Aber seine Tochter loszulassen, musste doch wahrlich nicht bedeuten, dass künftig eine Distanz von über fünfhundert Kilometern zwischen ihnen liegen und ihre Beziehung nur noch aus Telefonaten und gelegentlichen Besuchen bestehen sollte!
»Hamburg«, flüsterte er und strich sich eine Strähne seines noch vollen, aber bereits ergrauten Haares aus der Stirn. Unter seinen Augen hatten sich rote Flecken gebildet. »Warum muss es denn Hamburg sein? Warum willst du nur so weit weg?«
Julia verfluchte sich. Es war ein Fehler gewesen, die Bombe ausgerechnet heute Nacht platzen zu lassen. Nur weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte! Weil sie es endlich loswerden wollte! Dabei hatte sie etliche, günstigere Gelegenheiten mit dem Argument verstreichen lassen, dass sie auf einen noch besseren Augenblick warte.
Am liebsten hätte sie Vaters Hände in ihre genommen und ihm erklärt, wie dankbar sie ihm für alles war, was er für sie getan hatte. Aber nun stand sie eben an einem Scheideweg, denn sie wollte sich nicht mehr mit dem begnügen, was sie erreicht hatte. Sie war erst sechsundzwanzig, ausgebildete Lehrerin, und verflucht noch mal – sie war neugierig auf das Leben! Sie war in Mainz geboren, groß geworden und zur Schule gegangen. Sie hatte sogar in Mainz studiert und ihre Referendarzeit verbracht, aus Bequemlichkeit und um die Nähe zu ihrem Vater nicht aufzugeben. Doch jetzt spürte sie den Drang, aus diesem heimeligen Kokon auszubrechen. Hinzu kam, dass ihre langjährige Beziehung zu Simon Zadow in den vergangenen Monaten zu einer Farce verkommen war. Mit der Trennung hatte Julia den fälligen Schlussstrich gezogen und war wieder bei ihrem Vater eingezogen.
Warum ausgerechnet Hamburg?
Weil einer ihrer früheren Studienfreunde eine Stelle in der Hafenstadt angenommen und ihr von dem Leben dort vorgeschwärmt hatte. Lehrer würden in Hamburg händeringend gesucht und entsprechend bezahlt. Deshalb war ihre Wahl auf die Stadt im Norden gefallen. Ohne ihrem Vater davon zu erzählen, hatte sie sich auf mehrere von den Schulen direkt ausgeschriebene Stellen beworben und bereits nach drei Wochen eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch an einem der städtischen Gymnasien erhalten. Ihrem Vater begründete sie die Reise nach Hamburg mit einem Besuch ihres Studienfreundes. Zehn Tage nach dem Vorstellungsgespräch erreichte sie ein Angebot mit einem attraktiven Gehaltsentwurf und der Aussicht auf eine rasche Verbeamtung.
»Ich werde dich doch regelmäßig besuchen, Papa«, sagte sie nun, ohne seine Frage zu beantworten. Ihre Stimme klang stumpf und verzagt.
Er wandte sich ihr zu und sah sie an. Sein Gesicht war fahl. Julia schmerzte es, ihn leiden zu sehen. Sie empfand wie so oft nichts als Liebe für ihren Vater, diesen gutherzigen Mann. Und genau das hätte sie ihm auch gerne jetzt gesagt, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, bereits beim ersten Wort in Tränen auszubrechen.
»Wann?«, fragte er knapp und griff nun doch nach seinem Bier. Er setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen gewaltigen Schluck. Seine Hände zitterten leicht.
»Sie wollen, dass ich im nächsten Schuljahr beginne. Also nach den Sommerferien.«
»Nach den Sommerferien, natürlich.«
»Ja.«
»Es tut weh.«
»Ich weiß.«
»Ich bin natürlich auch stolz auf dich, Julia. Stolz, weil du etwas aus deinem Leben machst, aber ich fürchte mich auch vor der Stille. Sie hat mich schon einmal beschlichen, nachdem du mit Simon zusammengezogen bist.«
Er stellte die Bierflasche wieder auf den Tisch zurück und seufzte leise auf. »Aber ich konnte sie ertragen. Ich wusste ja, dass du in der Nähe warst und wir uns jederzeit treffen konnten, wenn einem von uns danach war.«
Julia legte zart ihre Hand auf seinen Unterarm. »Du redest, als wäre ich nach meinem Umzug aus der Welt, aber das bin ich nicht, Papa. Wir werden uns nicht aus den Augen verlieren.«
Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Das dürfen wir auch nicht. Nie und nimmer!«
»Ich verspreche es dir.«
Ekkardt Kehrmüller schaute seine Tochter verunsichert an. Keiner von beiden brachte einen Ton heraus. Doch bevor sie gemeinsam anfingen zu weinen, legte er einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Es war lange her, seit Julia ihn derart traurig erlebt hatte, und das Schlimmste daran war, dass sie der Auslöser war. Sie schmiegte sich fest an ihn und legte ihren Kopf an seine mächtige Brust, wie sie es als Kind getan hatte, wenn sie aus schlechten Träumen erwacht und zu ihm ins Bett gekrochen war. Sie atmete seinen vertrauten Duft ein, einen schwachen Wohlgeruch nach einem vor vielen Stunden aufgetragenen Deo, der sich mit dem herben Duft seines warmen Körpers vermischte.
Julia schloss die Augen und schwor sich, dass ihr Vater niemals wieder auch nur eine einzige Träne wegen ihr vergießen würde.
An dem Tag, an dem Julia in Hamburg ankam, verscheuchte ein stürmischer Platzregen die schwüle Luft, die schon mehrere Tage lang in den Straßenschluchten der Metropole gestanden und die Stadt in einen Backofen verwandelt hatte. Über dem Stadtzentrum türmte sich ein Gespinst dunkler Wolken zu einem immensen Gebirge auf. Erste Blitze kündigten ein gewaltiges Sommergewitter an.
Julia schaute durch die Windschutzscheibe, beobachtete, wie die Wischerblätter gegen die Wassermassen ankämpften, und fröstelte ein wenig. Sie hatte sich ihre Ankunft in Hamburg freundlicher vorgestellt.
»Verdammter Mist. So ein Scheißwetter«, fluchte Vater neben ihr, der den gemieteten Sprinter behutsam und den Anweisungen des Navigationssystems folgend durch die regennassen Straßen manövrierte, bis sie ihr Ziel erreichten. Ein um die Jahrhundertwende erbautes Mehrfamilienhaus, das aufwendig saniert und dessen helle Fassade im Stil seiner Entstehungszeit mit schmiedeeisernen Schmuckbalkonen und Halbbogenfenstern ausgestattet worden war. Der Schuldirektor hatte sich höchstpersönlich um eine angemessene Bleibe für seine neue Kraft gekümmert. Ein guter Freund von ihm leitete eine Hausverwaltung, die Julia mehrere Mietobjekte präsentiert hatte. Sie verliebte sich auf Anhieb in die gut gelegene und erst kürzlich renovierte Altbauwohnung im Ortskern von Bergedorf, dem südöstlichsten Bezirk von Hamburg. Insbesondere die hohen, mit Stuck versehenen Decken hatten es ihr angetan. Und trotz des für Hamburger Verhältnisse moderaten Mietpreises besaß die Wohnung auch noch eine Einbauküche. Julias Entscheidung war schnell gefällt. Nun war sie gespannt, was ihr Vater zu ihrem neuen Domizil sagen würde.
»Das ist es also?«, fragte er, beugte sich vor und betrachtete das Haus mit prüfenden Blicken.
»Ja, das ist es«, antwortete sie.
Er zögerte. Seine Augen schienen sich förmlich durch den Regenvorhang zu bohren, um jeden Zentimeter der Fassade abzutasten. Er rückte noch weiter nach vorn, bis seine Nasenspitze beinahe die Windschutzscheibe berührte.
»Deine Wohnung befindet sich im dritten Stock, sagst du?« Seine Stimme verriet noch nicht, wie ihm das Haus gefiel.
»Ja.« Julia schenkte ihm ein erwartungsvolles Lächeln. Sie hatte es ihm nicht erst einmal, sondern mindestens schon ein halbes Dutzend Mal gesagt.
»Es macht einen guten Eindruck«, sagte er schließlich.
Sie küsste ihn auf die Wange. »Danke.« Julia entspannte sich.