James F. Twyman
Mein Tanz mit dem Jenseits
Eine magische Geschichte von der Unsterblichkeit der Liebe
Aus dem Amerikanischen von Judith Elze
James F. Twyman
Mein Tanz mit dem Jenseits
Eine magische Geschichte von der Unsterblichkeit der Liebe
Aus dem Amerikanischen von Judith Elze
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »The Barn Dance« bei Hay House Inc., USA.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe April 2012
© 2012 der deutschsprachigen Ausgabe
Wilhelm Goldmann Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
© 2010 by James F. Twyman
Published in 2010 by Hay House Inc. USA
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Christian Lamontagne, plainpicture/alt6
Redaktion: Johannes Bucej
SB · Herstellung: cb
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN: 978-3-641-06120-3
www.goldmann-verlag.de
Buch
James F. Twymans Frau Linda wird unter tragischen Umständen ermordet. Auf der Fahrt zu ihrer Beerdigung erleidet James Twyman einen schweren Autounfall. Dreieinhalb Jahre später zieht es ihn – ausgelöst durch eine Serie von Träumen und Visionen – an jenen Ort zurück. Dort, in einer Scheune irgendwo in Nevada, begegnet er seiner verstorbenen Frau wieder … »Mein Tanz mit dem Jenseits« ist ein Tatsachenroman, emotionsgeladen und fesselnd vom Anfang bis zum Schluss. Seine Botschaft: Wahre Liebe stirbt nie.
Autor
James F. Twyman ist in Deutschland durch seinen Bestseller Der Moses-Code und den gleichnamigen Dokumentarfilm bekannt geworden. Er ist als Autor zahlreicher spiritueller Bücher sowie als Filmproduzent und Musiker sehr erfolgreich.
Einleitung
Gibt es überhaupt so etwas wie eine wahre Geschichte? Wenn man einen Detektiv fragte, würde er sagen, dass Augenzeugenaussagen oft sehr unzuverlässig sind. Zehn verschiedene Leute, die von ein und demselben Verbrechen oder Unfall berichten, liefern ohne weiteres zehn leicht unterschiedliche Versionen. Was wir sehen, ist nicht immer das, was wirklich da ist, und umgekehrt übersehen wir oft, was sich direkt vor unseren Augen abspielt. Seit jeher haben sich die großen Philosophen die Frage gestellt: »Was ist die Wahrheit?« Es scheint, als wäre sie nicht so klar und nüchtern, wie wir sie gern hätten.
Dieses Buch erscheint als Erzählung, obwohl sein Inhalt für mich die absolute Wahrheit bedeutet. Die Ereignisse und Gespräche, die physisch nachweisbar sind, habe ich so genau wiedergegeben wie möglich. In anderen Worten: Es hat sie tatsächlich gegeben, sie sind leicht überprüfbar. Als das Abenteuer dann seinen Lauf nahm, ließ sich die Grenze zwischen dem, was ich erfahren habe, und dem, was ich tatsächlich nachweisen kann, schwerer ausmachen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es sich dabei um pure Fantasien oder Träume gehandelt hätte, oder dass diese nicht irgendeine reale Grundlage hätten. Mitunter wirkt das, was wir in Träumen erfahren, länger nach als etwas, was geschieht, nachdem wir uns im Bett aufgesetzt, uns gedehnt und gereckt und unseren Tag begonnen haben. Mystiker aus nahezu allen Traditionen behaupten im Übrigen, dass das, was wir die reale Welt nennen, nichts weiter ist als ein »Wachtraum«, und dass es jenseits dieser Welt eine andere gibt, die noch realer ist. Ich meine, dass ich in dieser anderen Welt gewesen bin, und davon handelt die folgende Geschichte. Was Sie davon glauben wollen, können Sie selbst entscheiden, ich glaube jedenfalls alles. Und tatsächlich bin ich der Wahrheit noch nie so nah gekommen wie hier.
James F. Twyman
Kapitel 1
Nichts sah vertraut aus, als ich im August 2009 in Lakeview eintraf. Dreieinhalb Jahre war es her, seit ich zum ersten Mal mit meiner Tochter Angela und ihrer besten Freundin Heather, die auf dem Rücksitz schlief, durch dieses kleine Städtchen in Oregon gefahren war. Damals waren wir froh, dass wir am Leben waren. Dichter Dezemberschnee hatte seine Decke über Lakeview gebreitet, und wir trafen mit vor Kälte steifen Fingern erschöpft hier ein, nachdem wir gerade auf dem State Highway 140 fast in einen 100 Meter tiefen Abgrund gestürzt wären. Die Tatsache, dass ich unter so besonderen Umständen Jahre später nun wieder herkam, rief ein traumähnliches Gefühl in mir hervor, das mir langsam die Wirbelsäule hochkroch wie ein Insekt, das ich weder zu greifen bekam, noch sonst irgendwie beseitigen konnte. Meine Arme waren einfach nicht lang genug und meine Muskeln zu steif, um es überhaupt zu versuchen.
Obwohl sich jetzt nur mein Koffer und meine Gitarre auf dem Rücksitz befanden, ertappte ich mich dabei, wie ich nach den Mädchen schaute, als wäre seit dieser schicksalshaften Nacht keinerlei Zeit vergangen. Nach dem Tod meiner Frau waren wir in Chicago gewesen und nun fast am Ende einer über 3000 Kilometer langen Reise zurück nach Oregon. Wir hatten alles getan, um uns eine gemütliche und entspannte Atmosphäre zu schaffen. Lindas Asche hatte ich zusammen mit dem Gepäck und verschiedenen Sachen, die Angela nicht zurücklassen wollte, im Kofferraum verstaut. Meine Tochter würde wahrscheinlich nie mehr nach Chicago zurückkehren, dort wartete keiner mehr auf sie, und das Bewusstsein, dass ihre Mutter ermordet worden war, begann langsam bei ihr durchzusickern.
Ein riesiges Cowboy-Standbild aus Sperrholz proklamierte Lakeview als die »höchste Stadt in Oregon«, was sich wohl eher auf seine geografische Lage als auf die Höhe der Gebäude bezog. Wäre nicht der merkwürdige übernatürliche Sog gewesen, den die Gegend auf mich ausübte, dann hätte ich überhaupt nicht in Erwägung gezogen, je wieder herzukommen. Es war, als hätte ich in jener schrecklichen Nacht einen Teil von mir zurückgelassen, und ich spürte, dass ich mich nie gänzlich von Lindas Tod erholen würde, bevor ich mir diesen Teil nicht wieder zurückholte. Eine Erinnerung verfolgte mich, die ich nicht loswurde, und ich hatte gar keine andere Wahl als Hunderte von Kilometern zurückzulegen, um die Dämonen der Vergangenheit zu vertreiben. Eigentlich wollte ich diese Reise gar nicht unternehmen, aber mir wurde schließlich klar, dass ich keine Wahl hatte.
Ich hatte noch nie nach einem verlorenen Teil meiner Seele gesucht und war mir daher nicht sicher, wie ich es überhaupt anfangen sollte. Ganz sicher war ich mir nur darüber, wo das fehlende Artefakt zu finden war: an diesem Abgrund. Er wartete auf mich, als wäre ich genauso Gegenstand seiner Vorstellung wie umgekehrt, so viel war sicher. Ich hatte versucht, alles hinter mir zu lassen, aber da fehlte etwas, das ich noch bergen musste. Nur der Abgrund wusste, wo es zu finden war, und ich war fest entschlossen, ihm die Information auf die eine oder andere Weise zu entlocken.
Am Tag davor hatte ich Portland verlassen und war bis Ashland gekommen, um am nächsten Nachmittag meine Reise nach Lakeview fortzusetzen. Als ich ankam, war es schon fast dunkel, und ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, vor dem nächsten Morgen zu der Unglücksstelle zu fahren. Obwohl ich von diesem Ort, an dem ich fast die Kontrolle über den Wagen verloren hätte, ein Bild in mein Gedächtnis eingebrannt trug, würde ich doch ohne Tageslicht nie in der Lage sein, ihn wiederzufinden. Ich war schon fast am Stadtrand angelangt, als ich den Budget Inn entdeckte, dasselbe Hotel, in dem wir schon vor dreieinhalb Jahren untergekommen waren. Ohne zu überlegen hielt ich auf dem Hotelparkplatz. Es wunderte mich nicht weiter, als in mir wieder das alte Gefühl der Erleichterung darüber auftauchte, den Sturm heil überstanden zu haben. Hinzu kam nun auch das Bewusstsein, dass das Abenteuer noch nicht zu Ende war. Ich öffnete die Autotür und nahm einen tiefen Atemzug, bevor ich mich auf den Weg zur Rezeption machte. Es gab überhaupt keinen Grund, die Sache auf die lange Bank zu schieben, dachte ich. Es war Zeit, diese bizarre Geschichte abzuschließen und endlich weiterzuleben.
Die Eingangstür gab einen markanten Ton von sich, als ich eintrat, und signalisierte dem Mann, der im Büro hinter der Rezeption saß, dass ein Kunde gekommen war. Von dort, wo ich stand, konnte ich seinen breiten Rücken und das lange, dunkle Haar sehen, und als er sich umdrehte, erstaunte es mich nicht, dass er Indianer war. Ohne mich anzuschauen, trat er heran und schob mir mit seinen großen, kräftigen Händen das Anmeldeformular entgegen.
»Sie suchen ein Zimmer?«, fragte er gedehnt und etwas monoton.
»Ja, für eine Nacht«, antwortete ich. »Ein Einzelzimmer bitte, ich bin allein.«
»Für 69 Dollar bekommen Sie ein französisches Bett. Wenn Sie Mitglied im Autoclub sind, ist es ein bisschen billiger. Sind Sie das?«
Als er mich jetzt zum ersten Mal anschaute, gefror mir das Blut in den Adern. Meine Reaktion war nicht logisch begründbar, aber sein Blick hatte eine so unerwartete Intensität und Kraft, dass er mich schier überwältigte. »Ja«, flüsterte ich schließlich stotternd. »Wie viel macht das dann?«
»Dann sind es nur 59 Dollar. Ist das o.k.?«
»Ja, geht in Ordnung. Ich war vor etwa drei Jahren schon mal hier, da kam es mir hier sehr wohnlich vor.«
Ich merkte, dass ich eher mit mir selbst redete als mit ihm. Die Energie, die ich spürte, wenn er mich ansah, lastete so schwer auf mir wie Blei, und durch das Sprechen versuchte ich mein Unbehagen zu überspielen. Als er schließlich wegschaute, verschwand mein Gefühl, als wäre es nie da gewesen. Ich nahm den Stift in die Hand und füllte das Formular aus in der Hoffnung, dass er nichts mitbekommen hätte. Er hatte sich bereits umgedreht und sortierte irgendwelche Papiere in einen Aktenschrank. Erst da stellte ich fest, wie groß und schwer er eigentlich war. Seine Schultern waren unglaublich breit, und sein Rücken schien nur aus Sehnen und Muskeln zu bestehen. Als er sich mir wieder zuwandte, sprang mein Blick hastig zum Formular zurück, damit er nicht merkte, dass ich ihn angestarrt hatte. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihm das nicht gefallen hätte.
»Sie sind in der 23«, sagte er und legte den Zimmerschlüssel vor mir hin. »Wir stellen am Morgen ein Frühstück bereit, falls man das so nennen kann. Wenn es nichts für Sie sein sollte, gibt es in der Umgebung jede Menge Lokale, wo Sie auch etwas Frisches bekommen können.«
»Ich werde bestimmt etwas finden«, sagte ich. »Können Sie mir ein Lokal empfehlen?«
Er sah mich ein paar Sekunden lang an, bevor er antwortete, und wieder spürte ich dieses Unbehagen. »Nein«, sagte er, drehte sich um und ging zurück zu seinem Büro. Erleichtert und nervös zugleich griff ich nach meiner Tasche und machte mich auf zur Tür.
»Wohin sind Sie eigentlich unterwegs?«, fragte er und holte mich damit in den Raum zurück. Als ich mich ihm zuwandte, war ich verblüfft über seinen Anblick. Er lächelte entspannt und wirkte gegenüber dem eben noch finster dreinblickenden Kerl wie ein völlig anderer Mensch. Obwohl er mich direkt ansah, fühlte ich mich jetzt gar nicht mehr unwohl.
»Ich will zum Highway 140«, sagte ich und kehrte zurück zum Tresen.
»Was meinen Sie damit?«, fragte er wieder genauso freundlich. »Sie wollen doch nicht einfach nur zum Highway… da muss doch noch etwas anderes sein.«
»Nein, ich will tatsächlich nur zum Highway. Vor ungefähr dreieinhalb Jahren bin ich dort in einen schrecklichen Schneesturm geraten. Ich würde sagen, der Ort hat ganz schön Eindruck auf mich gemacht. Vielleicht klingt das komisch, aber obwohl ich nicht genau weiß, warum, habe ich den überwältigenden Wunsch, noch einmal dorthin zu fahren. Das werde ich morgen tun, sehen, was ich sehen muss, und dann wieder abreisen.«
»Ich heiße Victor«, sagte er und hielt mir seine Riesenpranke hin. »Ich nehme an, Sie waren noch nie vorher hier in der Gegend?«
Ich drückte seine Hand, entspannte mich und sagte: »Nein, das war das erste Mal, und ich bezweifle, dass ich noch mal herkommen werde. Als ich damals hier durchfuhr, wusste ich nicht, wie gefährlich das war. Ein Großteil der Straße schien direkt seitlich in einen steilen Abhang eingeschnitten zu sein.«
»Es war… und ist keine Straße, bei der man sich Fehler erlauben darf. Die Einheimischen nennen sie die Selbstmordallee, weil schon so viele Menschen abgestürzt sind. Aber meine Leute haben eine andere Meinung dazu. Über einen wirklich langen Zeitraum haben unsere Vorfahren gesagt, dass der Schleier zwischen den Welten da unten nur sehr dünn ist, und dass dort ein Haufen Geister herumstreift. In den alten Tagen durften nur die heiligen Männer oder Häuptlinge bestimmte Täler oder Wälder aufsuchen, wo sie mit den Toten sprachen und von wo sie Weisheit mitbrachten. Heutzutage hört keiner mehr darauf, aber die alten Leute reden noch davon.«
Ich war verblüfft über das, was er sagte. Mir war, als würde ein Puzzleteil endlich seinen Platz finden. Wochenlang hatte mich die Vorstellung davon, wieder dorthin zu kommen, so sehr beschäftigt, dass ich glaubte, ich würde verrückt werden, wenn ich meinem Gefühl nicht folgte. Obwohl ich mir keinen Reim darauf machen konnte, fühlte es sich für mich so an, als wäre ein Teil von mir hier geblieben, den ich unbedingt finden und nach Hause mitnehmen musste.
»Was raten Sie mir?«, fragte ich ihn plötzlich verunsichert.
»Mein erster Rat wäre, dass Sie dem Ort fernbleiben und wieder abfahren«, antwortete er wieder mit diesem intensiven Blick. »Kehren Sie zurück, von wo auch immer Sie gekommen sein mögen.« Dann machte er eine Pause und sah mir tief in die Augen, bevor er fortfuhr. »Wenn nicht, dann tun Sie, was Sie zu tun haben, und kehren Sie nach Hause zurück, sobald Sie es hinter sich gebracht haben. Ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber es gibt Gründe dafür, warum meine Leute an diese Dinge glauben. Ich weiß nicht, wie viel davon wahr ist, aber diese Geschichten sind über mehr Generationen erzählt worden, als wir uns vorstellen können. Ich meine damit Tausende von Jahren. Darüber hinaus weiß ich nichts. Erledigen Sie, was Sie bedrängt, und vergessen Sie dann schleunigst alles wieder.«
Ich verließ die Rezeption im Zweifel darüber, ob ich recht daran getan hatte, überhaupt herzukommen. Kaum hatte ich die schreckliche Trauer, die mein Leben über mehr als drei Jahre beherrscht hatte, überwunden, da war ich auf der Jagd nach etwas, das ich nicht verstand. Ein Teil von mir wollte nur schlafen gehen, am nächsten Morgen wieder ins Auto steigen und auf direktem Weg nach Portland zurückfahren. Und doch wusste ich, dass ich das nicht tun würde. Welches Gefühl auch immer mich hierher gelotst hatte, es würde nicht so schnell klein beigeben. Auf die eine oder andere Weise musste ich diese Reise zu Ende und die ganze Angelegenheit zum Ruhen bringen. Erst dann würde ich Bescheid wissen. Erst dann würde ich wirklich verstehen.
Eine Stunde später lag ich schlaflos im Bett. Immer wenn ich gerade dabei war wegzudämmern, sah ich Lindas Gesicht vor mir. Mal jung und strahlend wie 1984, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, dann wieder tot in ihrer Wohnung in Evanston, Chicago. Ich versuchte, die Gedanken zu verscheuchen, aber es gelang mir nicht. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war, dass mich diese entsetzliche Nacht heimsuchte, in der sich für die Menschen, die sie liebten, alles geändert hatte. An der Zimmerdecke reflektierte sich funkelnd wie lauter winzige Diamanten das Licht. Ich versuchte, mich auf sie zu konzentrieren, um mich ein wenig länger wach zu halten. Ich wollte nicht an Linda denken, nicht jetzt jedenfalls, da ich meine Gedanken offensichtlich nicht kontrollieren konnte. Denk bloß nicht an diese eine Nacht damals, dachte ich. An alle Nächte, aber nicht an diese eine.
Kapitel 2
27. November 2005
Dreieinhalb Jahre davor
Die Luft war kalt, und die Glühbirne über der Tür warf lange Schatten den zementierten Weg hinunter. Es war neun Uhr abends, und Linda stand neben dem niedrigen Holzzaun, der ihr zweistöckiges Mehrfamilienhaus in Evanston, Illinois, vom Nachbarhaus trennte. Sie bereute es schon jetzt, dass sie eine Zigarette rauchte, und wünschte, sie wäre stärker. Seit der letzten waren zwanzig Tage, vier Stunden und neunzehn Minuten vergangen, das war mehr, als sie bislang in über fünfundzwanzig Jahren geschafft hatte. Von Anfang an hatte ihr Asthma unter der Belastung zugenommen, eine Schwäche, die sie ihrer neunzehn Jahre alten Tochter Angela vererbt hatte. Linda hatte vorgehabt, ein für alle Mal mit dem Rauchen aufzuhören, und verfluchte ihre Labilität.
Sie schaute durchs Fenster in ihre Wohnung mit der leeren Couch und dem leeren Sessel und wünschte, Angela wäre nicht bei ihrem Vater in Minneapolis, wo sie mit seiner Familie Thanksgiving feiern wollte. Zu dumm, dass sie Ja gesagt hatte, dachte Linda bei sich. Sie hatten immer eine Abmachung gehabt, und er hatte sie dazu gebracht, sie zu brechen. Seit Angela vier Jahre alt war, hatten sie nicht mehr zusammengelebt und sich immer an das gehalten, was sie das »Ferien-Rotationsprinzip« nannten. Wenn er Angela über Thanksgiving bei sich hatte, verbrachte sie Weihnachten bei Linda oder andersherum. Das Prinzip hatte fünfzehn Jahre lang funktioniert, aber jetzt war alles anders.
Sie war selbst schuld, denn sie hatte sich durchaus vorstellen können, die freien Tage allein oder mit ein paar Freunden zu verbringen. Außerdem musste sie zugeben, dass sie ihn sogar auch ein bisschen vermisste. Obwohl sie sich über die Jahre immer nahegestanden hatten, war ihr jetzt, als sie ihn wiedergetroffen hatte, das Herz aufgegangen, und das hatte er sofort ausgenutzt. Aber vielleicht war es ungerecht, so zu denken, denn schon seit der Trennung hatte er versucht, sie wieder zurückzugewinnen. Obwohl sie die Tür zugeschlagen und eine Wiederannäherung nie in Betracht gezogen hatte, war er standhaft geblieben. Linda fand das entwaffnend, so dass der Eisberg nun langsam zu schmelzen begann. Er hatte über die Jahre ein paar Beziehungen gehabt, von denen aber keine länger als ein Jahr gehalten hatte. Ein Teil von ihm wollte einfach nicht aufgeben, als meinte er es wirklich ernst, wenn er sagte, dass er sie immer lieben werde. Jetzt dachte sie zum ersten Mal in all den Jahren, dass sie ihn vielleicht doch auch liebte. Das Rad der Zeit hatte begonnen, seinen Zauber auszuüben, und Linda erwischte sich bei dem Gedanken, dass es mit ihnen beiden womöglich doch noch klappen konnte.
Angela war nach ihrem Schulabschluss vor zwei Jahren nach Oregon zu ihrem Vater gezogen. Der Wechsel hatte ihr ganz gutgetan, und sie war ein anderer Mensch, als sie dann an das Aveda Institute nach Chicago zurückkehrte, um hier eine Ausbildung zu machen. Die Jahre, die sie mit allen Schikanen gegen die Mutter rebelliert hatte, lagen hinter ihr, nun schien ihr eher daran gelegen, nett zu Linda zu sein. Inzwischen ging sie sogar ein- bis zweimal die Woche mit ihrer Mutter essen. Sie war erwachsener geworden in Oregon, und es war jetzt an der Zeit, wieder miteinander befreundet zu sein. Linda begrüßte diese Veränderung, eine kostbare neue Zeit schien angebrochen, eine Zeit, die sie sich immer gewünscht, aber nicht mehr gehofft hatte zu erleben.
Warum also war Linda auf seine Bitte eingegangen, ob er die Tochter mit nach Minneapolis nehmen dürfe? Die Ausbildung war zu Ende, und Angela mochte das kleine Ashland lieber als Chicago und würde eine Woche danach auch wieder nach Oregon ziehen. Ihr Vater war gekommen, um sie abzuholen und ein paar Tage in der Stadt zu verbringen. Dann waren sie beide nach Minneapolis geflogen, obwohl Linda wusste, dass Angela auch das Weihnachtsfest in Oregon feiern würde. Das waren zwei Ferien hintereinander. Einfach unfair.
Wie sie nun so mit ihrer ersten Zigarette in zwanzig Tagen hier draußen stand, wünschte Linda, sie hätte Nein gesagt. Warum hatte sie nicht darauf gedrängt, dass beide blieben, und sich selbst die Chance gegönnt, sich an ihrer Tochter und der neuen Beziehung zu ihr, sowie zu dem Mann zu freuen, den sie vor so vielen Jahren abgeschrieben hatte? Was hätte passender sein können zum Feiern als Thanksgiving, eine Zeit, zu der man dankbar sein soll für alle überraschenden Geschenke, wenn man schon längst aufgehört hat, Ausschau nach Überraschungen zu halten? Plötzlich wurde ihr klar, dass sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, genau das getan hatte: Sie hatte einer alten Wunde erlaubt, endlich zu heilen und sich in etwas Neues, Brauchbares zu verwandeln. Trotz des Schmerzes darüber, dass sie nicht hier waren, durchströmte Linda eine unerwartete Süße. Und selbst wenn das nicht ihr Bedürfnis ersetzen konnte, die beiden zu spüren und zu berühren, war das doch sehr kostbar.
Sie waren dreiundzwanzig gewesen, als sie geheiratet hatten, eine – wegen der bevorstehenden Geburt ihres ersten und einzigen Kindes – überstürzte Entscheidung. Keiner wunderte sich, als die Ehe einige Jahre später grandios scheiterte, im Wesentlichen, weil er ein verzweifeltes Bedürfnis verspürte, die Welt zu verändern. Er war fortgegangen, um als Musiker Karriere zu machen, während sie sich mit ihren Verlassenheitsgefühlen auseinandersetzen musste, einem Erbe, das ihr schon andere, die sie geliebt hatte, hinterlassen hatten. Er hatte sozusagen den einen wunden Punkt getroffen, der mehr wehtat als alles andere. Obwohl er bereits nach drei Monaten begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte, gab es für Linda kein Zurück mehr. Er hatte die eine, absolut unverzeihliche Sünde begangen, und nun sollte er dafür bezahlen. Er war ein bekannter, erfolgreicher Musiker und Autor geworden, der ein Gutteil seiner Karriere sogar ihr gewidmet hatte, aber das war ihr egal. Die furchtbare Tat war geschehen, und ihre Wirkung ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Trotz seiner Reue blieb ihr Herz verschlossen, und sie hatte sich nicht vorstellen können, dass sich das jemals wieder ändern würde.
Und dann hatte sich zu ihrer großen Überraschung doch alles geändert. Lag das nur daran, dass sie jetzt älter waren und die Hoffnungen der Jugend sich endlich gelegt hatten? Die damals noch unreife Liebe war nun plötzlich neu erblüht und versprach eine Ernte, die in jenen jungen Jahren unmöglich gewesen wäre. Linda begriff, dass sie diese Liebe so sehr wollte wie noch nie etwas auf der Welt. Jetzt konnte sie endlich ihre Arme ausbreiten und hoffte, dass sie sie nicht in letzter Sekunde aus Angst wieder zurückziehen würde. Angst war ohnehin Lindas ständiger Begleiter. Der Mann, den sie seit über zwanzig Jahren kannte, stand vor ihr wie jemand, dem sie noch nie begegnet war, was ihren Gerechtigkeitssinn ungemein aktivierte. Er hatte zwar etwas schrecklich Verkehrtes getan, aber seine Ergebenheit war stärker gewesen als ihr Selbstgerechtigkeitsgefühl. Konnte sie ihr Schwert einfach niederlegen und ihn ohne Entschädigung wieder in ihr Leben hineinlassen? Oder hatte er seine Schuld nicht ohnehin längst bezahlt und über alle Maßen bewiesen, dass seine Liebe auch Kampf und Verzweiflung standhalten konnte?
Während sie darüber nachdachte, war die Zigarette zu zwei Dritteln abgebrannt, und Linda warf sie in die leere Blechbüchse neben der Tür. Seit Wochen hatte sie diese Blechbüchse keines Blickes mehr gewürdigt, was ihren Missmut nur noch verstärkte. Warum erlag sie den Belastungen in ihrem Leben so leicht, ganz besonders jetzt, wo sie an der Schwelle zu einem so vielversprechenden Neuanfang stand? Ihre Tochter liebte sie, und der Mann, dem sie sich vor zwanzig Jahren fürs ganze Leben versprochen hatte, war plötzlich wieder am Horizont aufgetaucht. Auch wenn sie im Moment allein war, waren diese Entwicklungen nicht zu übersehen, und es kam ihr seltsam vor, dass sie auf solche alten Gewohnheiten zurückgriff, umso mehr, da sie sich damit so leer fühlte. Es war an der Zeit, das Leben auf eine Weise willkommen zu heißen, wie es ihrem neuen Standort entsprach. Dabei kam es gar nicht darauf an, wie die Sache schließlich ausgehen würde. Wichtig war, dass sie zu einem tiefen Wandel bereit war, der die Macht hatte, ihr Leben grundlegend zu verändern.
Als sie sich ihrer Wohnung zuwandte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine ungewohnte Bewegung wahr, dachte jedoch nicht weiter darüber nach, bis sie Sekunden später das Geräusch hörte. Es war ein unterdrückter Laut, wie eine leise Männerstimme, die nicht entdeckt werden wollte. Für alle Fälle griff sie schnell nach der Türklinke, um die Wohnung von innen abzusperren.
Aber da hatten sie sie schon erreicht und stießen sie hart gegen die Wand, so dass sie mit dem Gesicht gegen die raue Holztür krachte. Unversehens glitt sie ins Sichtfenster, während die zwei Männer sie in die Wohnung hineindrängten. Obwohl sie ihre Gesichter nicht sehen konnte, die unter dunklen Kapuzen versteckt waren, begriff sie sofort, dass sie jung und gefährlich waren. Der Größere der beiden erdrückte sie so mit seinem Gewicht, dass sie gar keine andere Möglichkeit hatte, als in die Küche zurückzuweichen.
Eine harte Hand presste sich auf ihren Mund, so dass sie nicht schreien konnte. Die womöglich noch sehr jungen Männer waren schnell und wendig. Sie wollten sich offenbar nicht zu lange in der Nähe der Fenster oder der Tür aufhalten, falls ein Nachbar hinausschauen oder etwas von dem Handgemenge hören sollte. Als sie Sekunden später im Wohnzimmer mit der leeren Couch und dem leeren Sessel angelangt waren, ließ der eine gleich die Rollläden herunter, während der andere sie festhielt. Linda versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff um Nacken und Oberkörper zu befreien. Als er jedoch sein Gewicht verlagerte und zur anderen Tür hin gestikulierte, damit sein Kumpel prüfte, ob sie verschlossen war, ergriff sie ihre Chance und wand sich aus seinem Griff heraus.
Sofort begann sie so laut zu schreien, wie sie nur konnte. Sie rannte zum Fenster in der Hoffnung, sie könnte mit ihrem Geschrei das Glas zerschmettern. Dann griff sie nach dem großen gebundenen Buch, in dem sie gerade gelesen hatte, bevor sie zum Rauchen vor die Tür gegangen war. Es war zwar keine Waffe, aber besser als nichts. Sie fuchtelte damit herum, während sie weiter schrie und hoffte, dass jemand kommen würde.
Dann sah sie das Messer in der Hand des anderen Mannes. Er lief auf sie zu und stach nach ihr. Obwohl er sie traf, konnte sie das Schlimmste mit ihrem Arm abwenden. Sie schrie weiter um Hilfe. Wieder traf sie das Messer, diesmal in der Brust, zwar nicht tief, aber so, dass sie nach Luft schnappte. Dann ließ der schreckliche Mann seinen Arm mit dem Messer auf ihren Kopf sausen, und Linda fühlte, wie die Messerschneide sich tief in ihren Nacken einschnitt. Sie sank auf die Knie und spürte, wie ihr das warme Blut den Körper herunterlief. Der Mann hielt inne, und beide schauten auf sie herab, ratlos, was sie jetzt tun sollten. Linda versuchte, sich aufzurichten, um sich von ihnen zu entfernen, aber sie konnte sich nur noch auf allen vieren fortbewegen. Instinktiv kroch sie auf Angelas Zimmer zu, als wollte sie ihre Tochter beschützen, die sich sechshundertundfünfzig Kilometer weit weg in Minneapolis befand. Die Männer flüchteten, sie wollten das Ende nicht abwarten. Die Wunde war zu tief, das Blut floss zu schnell. Während Linda auf Angelas Bett fiel, rannten sie zur Tür hinaus auf die Allee.