DIE ÖKONOMIE VON GUT UND BÖSE
Aus dem Amerikanischen von Ingrid Proß-Gill
Titel der Originalausgabe:
Ekonomie dobra a zla. Po stopách lidského tázání od Gilgameše po finanční krizi.
Prag, 65.pole 2009
Titel der amerikanischen Ausgabe:
Economics of Good and Evil. The Quest for Economic Meaning from Gilgamesh to Wall Street.
New York, Oxford University Press 2011
Die Übersetzung folgt der amerikanischen Ausgabe.
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© Tomáš Sedláček, 2009
© 65.pole, 2009
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© 2012 Carl Hanser Verlag München
Internet:
Lektorat: Martin Janik
Herstellung: Stefanie König
Umschlaggestaltung: Brecherspitz Kommunikation GmbH, München,
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-446-43113-3
ISBN (Druck): 978-3-446-42823-2
Für meinen Sohn Chris, der mehr versteht, als ich je verstehen werde – wie ich vor langer Zeit vielleicht auch. Ich wünsche ihm, dass er eines Tages ein besseres Buch schreiben wird.
Erkenn Dich selbst, erforsch nicht Gottes Kraft!
Der Mensch ist erstes Ziel der Wissenschaft.
Er steht am Isthmus, ist ein Mittelding –
an Größe grob, an Weisheit Däumeling.
Für einen Skeptiker ist er zu klug,
für einen Stoiker nicht stolz genug.
Er hängt dazwischen, ist des Zweifels voll,
ob er nun handeln oder nichts tun soll,
ob er mehr Geist, mehr Leib, mehr Tier, mehr Gott.
Im Denken irrt er, lebt nur für den Tod;
bleibt ohne Wissen, bringt er auch ins Spiel
Vernunft zu wenig oder gar zu viel.
In ihm Gefühl und Geist als Chaos gärt,
durch sich wird er getäuscht und aufgeklärt.
Geschaffen für den Aufstieg und den Fall,
Herr aller Dinge, Beute auch für all’.
Der Wahrheitshüter, der dem Trug verfällt,
der Stolz und Witz, das Rätsel dieser Welt!
Alexander Pope (Vom Menschen, 39)
VON VÁCLAV HAVEL
Ich hatte die Gelegenheit, Tomáš Sedláčeks Buch zu lesen, bevor es 2009 in der Tschechischen Republik erschien. Es bot eine unkonventionelle Sicht einer wissenschaftlichen Disziplin, die der landläufigen Auffassung nach todlangweilig ist. Natürlich war ich gleich fasziniert und neugierig darauf, wie viel Interesse andere Leser ihm entgegenbringen würden. Zur Überraschung des Autors wie des Verlags erregte es in der Tschechischen Republik sofort so große Aufmerksamkeit, dass es bereits innerhalb weniger Wochen ein Bestseller wurde und sowohl die Fachleute als auch die breite Öffentlichkeit darüber sprachen. Sedláček war damals auch Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrates, der sich bei seinem Verhalten und bei seinen Ansichten über die langfristigen Ziele erfreulich stark von dem streitsüchtigen politischen Umfeld abhob, das gewöhnlich nicht über die nächste Wahl hinausdenkt.
Statt selbstzufriedene, ichzentrierte Antworten zu geben, stellt der Autor bescheiden fundamentale Fragen: Was ist die Ökonomie? Welchen Zweck hat sie? Woher kommt diese »neue Religion«, wie sie manchmal genannt wird? Welche Möglichkeiten hat sie, welche Grenzen und Beschränkungen (sofern es überhaupt welche gibt)? Weshalb sind wir so stark von einem ständigen Wachstum des Wachstums und des Wachstums des Wachstums abhängig? Woher stammt die Idee des Fortschritts und wohin führt sie uns? Weshalb werden so viele ökonomische Debatten von Besessenheit und Fanatismus geprägt? Das sind alles Fragen, die nachdenkliche Menschen sich stellen müssen, doch die Antworten kommen nur selten von den Ökonomen.
Die Mehrheit unserer politischen Parteien handelt aus einem engen materialistischen Blickwinkel heraus. In ihren Programmen präsentieren sie zuerst die Ökonomie und das Finanzwesen; die Kultur finden wir irgendwo am Schluss, als Anhängsel, als Trankopfer für ein paar Verrückte. Ob sie nun rechts oder links stehen – die meisten von ihnen akzeptieren und verbreiten bewusst oder unbewusst die marxistische These von der ökonomischen Basis und dem spirituellen Oberbau.
Vielleicht hängt all das damit zusammen, dass die Ökonomie als wissenschaftliche Disziplin oft irrtümlicherweise als bloße Buchführung betrachtet wird. Aber was nützt die Buchführung, wenn sich doch vieles von dem, was unser Leben beeinflusst, schwer oder gar nicht berechnen lässt? Ich frage mich, was Ökonomen dieses Schlags tun würden, wenn man ihnen die Aufgabe übertragen würde, die Arbeit eines Sinfonieorchesters zu optimieren. Wahrscheinlich würden sie alle Pausen in Beethovens Konzerten streichen – sie sind ja schließlich zu nichts gut, sie halten nur den Lauf der Dinge auf, und die Mitglieder des Orchesters können doch nicht dafür bezahlt werden, dass sie nicht spielen …
Der Autor reißt durch seine Fragen Stereotype nieder. Er versucht, aus der engen Spezialisierung auszubrechen und die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen zu überspannen. Expeditionen über die Grenzen der Ökonomie hinaus, die Erforschung ihrer Verbindungen zur Geschichte, Philosophie, Psychologie und zu alten Mythen, sind nicht nur erfrischend, sondern auch notwendig, wenn wir die Welt des 21. Jahrhunderts verstehen wollen. Das Buch ist zudem gut lesbar, auch für Laien; die Ökonomie wird hier zum Weg zu großen Abenteuern. Wir finden zwar nicht immer eine exakte Antwort auf die Frage nach ihrem Zweck, aber zumindest weitere gute Gründe dafür, noch eingehender über die Welt und die Rolle des Menschen in ihr nachzudenken.
Während meiner Präsidentschaft gehörte Tomáš Sedláček zur Generation der jungen Kollegen, die eine neue Sichtweise der Probleme unserer heutigen Welt versprach, eine Sichtweise, die nicht durch die vier Jahrzehnte des totalitären kommunistischen Regimes belastet war. Ich habe das Gefühl, dass meine Erwartungen erfüllt wurden, und bin überzeugt, dass auch die deutschen Leser sein Buch ausgesprochen interessant finden werden.
DIE GESCHICHTE DER ÖKONOMIE: VON DER DICHTKUNST ZUR WISSENSCHAFT
Die Wirklichkeit wird aus Geschichten gesponnen, nicht aus einem materiellen Stoff.
Zdeněk Neubauer
Kein Gedanke ist so alt oder absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte. Anything goes …
Paul Feyerabend
Der Mensch hat schon immer danach gestrebt, die Welt zu verstehen. Dabei halfen ihm Geschichten, die seiner Realität einen Sinn verliehen. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen wirken solche Geschichten oft seltsam – unsere eigenen Geschichten werden den folgenden Generationen auch seltsam vorkommen. In ihnen verbirgt sich jedoch große Kraft.
Eine dieser Geschichten ist die der Ökonomie, die schon vor langer Zeit begann. Xenophon schrieb etwa 400 v. Chr., selbst wenn jemand über keinen Reichtum verfüge, gebe es etwas wie eine Wissenschaft der Ökonomie. Einst war die Ökonomie also die Wissenschaft der Haushaltführung, später dann eine Teilmenge der religiösen, theologischen, ethischen und philosophischen Disziplinen. Im Laufe der Zeit scheint sie sich allerdings zu etwas völlig anderem entwickelt zu haben. Manchmal könnten wir das Gefühl haben, dass die Ökonomie allmählich all ihre Schattierungen und Färbungen an eine technokratische Welt verloren hat, in der Schwarz und Weiß herrschen. Die Geschichte der Ökonomie ist aber sehr viel bunter.
So, wie wir sie heute kennen, ist die Ökonomie eine kulturelle Erscheinung, ein Produkt unserer Zivilisation – allerdings kein Produkt in dem Sinne, dass wir sie bewusst produziert oder erfunden hätten, wie einen Flugzeugmotor oder eine Uhr. Der Unterschied liegt darin, dass wir Flugzeugmotoren und Uhren verstehen, dass wir wissen, woher sie kommen. Wir können sie (beinahe) in ihre Einzelteile zerlegen und dann wieder zusammensetzen, wir wissen, wie sie loslaufen und wie sie stehen bleiben.Bei der Ökonomie ist das anders. Dort ist sehr, sehr vieles unbewusst entstanden, spontan, unkontrolliert, ungeplant, nicht unter dem Taktstock eines Dirigenten. Bevor sie ein eigenständiges Gebiet wurde, lebte die Ökonomie ganz zufrieden im Schoße der Philosophie (beispielsweise der Ethik); damals war sie himmelweit vom heutigen Konzept einer mathematisch-allokativen Wissenschaft entfernt, die auf die »weichen«, nicht exakten Wissenschaften mit einer Verachtung hinunterblickt, die auf positivistischer Arroganz beruht. Unsere tausendjährige »Bildung« steht jedoch auf einem tieferen, breiteren und oft auch festeren Fundament. Es lohnt sich, zu wissen, wie dieses Fundament aussieht.
Es wäre töricht, anzunehmen, dass die ökonomischen Untersuchungen erst mit dem Zeitalter der Wissenschaft begannen. Zuerst erklärten Mythen und Religionen den Menschen die Welt, die im Grunde die gleichen Fragen stellten wie wir heute; inzwischen hat die Wissenschaft diese Rolle übernommen. Um diese Verbindung sehen zu können, müssen wir uns also mit den Mythen und der Philosophie lange zurückliegender Zeiten beschäftigen. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben: um in alten Mythen nach ökonomischen Gedanken zu suchen und auch umgekehrt nach Mythen in der heutigen Ökonomie.
Als Geburtsstunde der modernen Ökonomie gilt die Veröffentlichung von Adam Smiths Wohlstand der Nationen im Jahre 1776. Unser postmodernes Zeitalter (das erheblich bescheidener zu sein scheint als sein Vorgänger, das Zeitalter der modernen Wissenschaft) blickt aber weiter zurück und ist sich der Kraft der Geschichte (Pfadabhängigkeit), Mythologie, Religion und der Sagen und Märchen bewusst. »Die Trennung zwischen der Geschichte einer Wissenschaft, ihrer Philosophie und der Wissenschaft selber löst sich in nichts auf, desgleichen der Unterschied zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft.« Deshalb werden wir am frühesten Zeitpunkt beginnen, der angesichts des schriftlichen Erbes unserer Zivilisation möglich ist. Wir werden im Epos über den Sumererkönig Gilgamesch nach den ersten Spuren ökonomischer Untersuchungen forschen und uns damit befassen, wie die jüdischen, christlichen, klassischen und mittelalterlichen Denker ökonomische Fragen betrachteten, außerdem mit den Theorien, die die Grundlagen unserer heutigen Ökonomie gelegt haben.
Die Untersuchung der Geschichte eines bestimmten Gebiets ist nicht, wie allgemein angenommen, ein nutzloses Aufzeigen seiner Sackgassen oder eine Ansammlung seiner Trials and Errors (die erst wir richtiggestellt haben) – sie bietet uns vielmehr den tiefstmöglichen Einblick in das betreffende Gebiet. Außerhalb unserer Geschichte gibt es sonst nichts. Die Ideengeschichte hilft uns dabei, uns von der intellektuellen Gehirnwäsche unseres eigenen Zeitalters zu befreien, durch die geistige Mode des Tages zu blicken und ein paar Schritte zurückzutreten.
Wir befassen uns nicht nur mit alten Geschichten, damit die Historiker beschäftigt sind – wir wollen auch verstehen, wie unsere Vorfahren dachten. Diese Geschichten haben eine ganz eigene Kraft, selbst wenn neue Geschichten auftauchen und sie verdrängen oder ihnen widersprechen. Ein gutes Beispiel ist der berühmteste Disput der Historie, zwischen der Geschichte des Geozentrismus und der des Heliozentrismus. Wie jeder weiß, gewann bei diesem Kampf die heliozentrische Geschichte, doch wir sagen bis heute geozentrisch, dass die Sonne auf- und untergeht. Das tut sie aber keineswegs – wenn überhaupt, geht unsere Erde auf (über der Sonne), nicht die Sonne (über der Erde). Die Sonne dreht sich nicht um die Erde, sondern es ist umgekehrt – sagt man uns.
Die alten Geschichten, Bilder und Archetypen, die uns im ersten Teil des Buchs beschäftigen werden, begleiten uns zudem noch heute und haben unsere Weltsicht und unsere Wahrnehmung von uns selbst miterschaffen. C. G. Jung hat das so ausgedrückt: »Die wahre Geschichte des Geistes ist nicht in gelehrten Büchern aufbewahrt, sondern in dem lebenden seelischen Organismus jedes Einzelnen.«
Die Ökonomen sollten an die Kraft der Geschichten glauben. Adam Smith tat das. In Theorie der ethischen Gefühle schreibt er: »Der Wunsch, daß man uns Glauben schenken möge, der Wunsch, andere Leute zu überzeugen, zu führen und zu leiten, scheint eine der stärksten von allen natürlichen Begierden zu sein.« Dieser Satz stammt von dem vermeintlichen Vater des Konzepts, dass das Eigeninteresse die stärkste natürliche Begierde ist! Zwei andere große Ökonomen, Robert J. Shiller und George A. Akerlof, bemerkten vor Kurzem: »Menschliches Denken spielt sich in Form von Geschichten ab … Menschliche Motivation wiederum basiert zum großen Teil auf der Erfahrung der eigenen Lebensgeschichte, einer Geschichte, die wir durchleben und die wir uns selbst erzählen. Sie ist es, die den Rahmen für das schafft, was uns antreibt. Das Leben wäre womöglich nichts weiter als ›eine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten‹, gäbe es da nicht diese Geschichten. Dasselbe gilt für die geistige Verfassung einer Nation, eines Unternehmens oder einer sonstigen Institution. Große Führungsfiguren sind zuallererst Erzähler von Geschichten.«
Ursprünglich lautet das Zitat: »Das Leben ist keine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten. Es ist eine einzige, ständig wiederkehrende Belanglosigkeit.« Das ist gut ausgedrückt; unsere Mythen (unsere großen Geschichten und Erzählungen) sind »hier und jetzt Offenbarungen dessen, was immer und ewig besteht«. Mit Sallusts Worten: Mythen sind das, »was nie geschah, aber immer ist«. Unsere modernen, auf strikten Modellen basierenden ökonomischen Theorien sind nichts anderes als Nacherzählungen dieser Metageschichten in einer anderen (mathematischen?) Sprache. Daher müssen wir die Geschichte von Anfang an kennen – wer nur Ökonom ist, wird nämlich nie ein guter Ökonom sein.
Wenn wir Ökonomen wirklich alles verstehen wollen, müssen wir uns aus unserem Gebiet herauswagen. Sollte es auch nur zum Teil stimmen, dass »das Heil jetzt in der Beendigung des materiellen Mangels liegt, dass die Menschheit in ein neues Zeitalter des wirtschaftlichen Überflusses geführt werden musste und dass daraus logisch folgte, dass die neuen Hohen Priester die Ökonomen sein mussten«, müssen wir uns dieser entscheidenden Rolle bewusst sein und eine umfassendere gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.
Letztlich geht es bei der gesamten Ökonomie um das Gute und das Böse oder Schlechte – Menschen erzählen anderen Menschen Geschichten über Menschen. Selbst die ausgefeiltesten mathematischen Modelle sind in Wirklichkeit Geschichten, Gleichnisse, ein Bemühen, die Welt um uns herum (rational) zu begreifen. Ich möchte zeigen, dass es bei der über ökonomische Mechanismen erzählten Geschichte bis heute im Wesentlichen um ein »gutes Leben« geht und dass sie aus den Traditionen der alten Griechen und der Hebräer stammt. Dass die Mathematik, die Modelle, Gleichungen und Statistiken nur die Spitze des ökonomischen Eisbergs sind, der zum größten Teil aus allem anderen besteht. Und dass die Dispute in der Ökonomie eigentlich primär ein Kampf der Geschichten und der verschiedenen Metaerzählungen sind. Die Menschen haben von den Ökonomen schon immer vor allem wissen wollen, was gut und was böse oder schlecht ist, und das ist bis heute so geblieben.
Man bringt uns Ökonomen bei, keine normativen Urteile darüber abzugeben, was gut und was böse oder schlecht ist. Doch die Ökonomie ist, im Gegensatz zu dem, was in den Lehrbüchern steht, überwiegend ein normatives Gebiet. Sie beschreibt die Welt nicht nur, sondern befasst sich auch häufig damit, wie die Welt sein sollte (sie sollte effektiv sein, den Idealen eines perfekten Wettbewerbs und eines hohen BIP-Wachstums bei niedriger Inflation entsprechen, wir sollten uns bemühen, große Konkurrenzkämpfe zu vermeiden …). Zu diesem Zweck entwickeln wir Modelle, moderne Gleichnisse, doch diese (oft absichtlich) unrealistischen Modelle haben mit der realen Welt kaum etwas zu tun. Ein Beispiel aus dem Alltag: Wenn ein Ökonom im Fernsehen eine scheinbar harmlose Frage zum Inflationsgrad beantwortet, wird er umgehend mit einer weiteren Frage konfrontiert (häufig wird er sie sogar selbst stellen): Ist das Ausmaß der Inflation gut oder schlecht, sollte die Inflation höher oder niedriger sein? Selbst bei so technischen Fragen sprechen die Analysten sofort von »gut« und »schlecht« und geben normative Urteile ab: Sie sollte niedriger (oder höher) sein.
Trotzdem bemüht die Ökonomie sich geradezu panisch, Begriffe wie »gut« und »böse/schlecht« zu vermeiden. Das kann sie aber gar nicht. »Wenn die Ökonomie wirklich wertneutral wäre, würde man erwarten, dass ihre Vertreter ein vollständiges ökonomisches Denkgebäude errichtet hätten.« Das ist aber, wie wir gesehen haben, nicht der Fall. Meiner Ansicht nach ist das zwar gut, doch wir müssen zugeben, dass die Ökonomie letztlich eher eine normative Wissenschaft ist. Laut Milton Friedman (Essays in Positive Economics) sollte die Ökonomie eine positive Wissenschaft sein, sie sollte wertneutral sein und die Welt so beschreiben, wie sie ist, nicht so, wie sie sein sollte. Dass die Ökonomie »eine positive Wissenschaft sein sollte«, ist aber schon eine normative Aussage. Sie beschreibt die Welt ja nicht, wie sie ist, sondern so, wie sie sein sollte. Im wirklichen Leben ist die Ökonomie keine positive Wissenschaft. Wäre sie das, müssten wir uns nicht bemühen, sie dazu zu machen. »Natürlich verwenden die meisten Wissenschaftler und viele Philosophen die positivistischen Grundsätze einfach dazu, lästigen Grundlagenfragen – das heißt der Metaphysik – aus dem Wege zu gehen …« Wertfrei zu sein ist übrigens schon ein Wert an sich, zumindest für die Ökonomen sogar ein großer. Es ist paradox, dass ein Gebiet, das sich vorwiegend mit Werten beschäftigt, wertfrei sein will. Und dass ein Gebiet, das an die unsichtbare Hand des Marktes glaubt, frei von Geheimnissen sein will.
In diesem Buch geht es um folgende Fragen: Gibt es eine Ökonomie von Gut und Böse? Zahlt es sich aus, gut zu sein, oder liegt das Gute außerhalb von jedem ökonomischen Kalkül? Ist die Selbstsucht dem Menschen angeboren? Kann man sie rechtfertigen, wenn sie zu etwas führt, was gut für die Gesellschaft ist? Wenn die Ökonomie mehr als ein mechanisch-allokatives, ökonometrisches Modell ohne tiefere Bedeutung (oder Anwendung) sein soll, muss sie sich solche Fragen stellen.
Vor Wörtern wie »gut« und »böse« oder »schlecht« brauchen wir uns übrigens nicht zu fürchten. Dass wir sie benutzen, heißt keineswegs, dass wir moralisieren. Wir haben alle eine internalisierte Ethik, nach der wir uns bei unserem Verhalten richten. Und einen Glauben (auch der Atheismus ist eine Religion). Bei der Ökonomie ist es auch nicht anders. John Maynard Keynes schreibt: »Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. … Aber früher oder später sind es Ideen, und nicht erworbene Rechte, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.«
Dieses Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten suchen wir in Mythen, der Religion, Theologie, Philosophie und Wissenschaft nach der Ökonomie. Im zweiten beschäftigen wir uns dann mit den Mythen, der Religion, Theologie, Philosophie und Wissenschaft in der Ökonomie.
Ich werde in unserer ganzen Geschichte nach Antworten suchen, von den Anfängen unserer Kultur bis zur derzeitigen Postmoderne. Das Ziel besteht nicht darin, jeden einzelnen Augenblick zu analysieren, der zu einer Änderung der ökonomischen Wahrnehmung der Welt bei den späteren Generationen (und bei unserer heutigen Generation) geführt hat. Es geht vielmehr um die Brüche bei der Entwicklung, teils in bestimmten historischen Epochen (wie dem Zeitalter von Gilgamesch, der Hebräer, der Christen usw.), teils im Zusammenhang mit bedeutenden Personen, die die Entwicklung des ökonomischen Verständnisses der Menschheit beeinflusst haben (Descartes, Mandeville, Smith, Hume, Mill …). Kurz gesagt: Ich möchte die Geschichte der Ökonomie erzählen – anders ausgedrückt: die Entwicklung des ökonomischen Ethos. Wir werden Fragen stellen, die vor dem Beginn jedes ökonomischen Denkens kommen müssen – philosophisch und in gewissem Maße auch historisch. Dieses Gebiet liegt ganz an der Grenze der Ökonomie, oft sogar jenseits von ihr. Wir können es (unter Rückgriff auf die Protosoziologie) als Protoökonomie bezeichnen, vielleicht auch noch eher als Metaökonomie (unter Rückgriff auf die Metaphysik). In diesem Sinne gilt: »Die Beschäftigung mit der Wirtschaftswissenschaft ist zu eingeschränkt und zu lückenhaft, als daß sie zu gültigen Erkenntnissen führen könnte, es sei denn, sie würde durch eine Beschäftigung mit Meta-Wirtschaftswissenschaft ergänzt und vervollständigt.« Die wichtigeren Elemente einer Kultur oder eines Forschungsgebiets wie der Ökonomie liegen in den Grundannahmen, von denen die Anhänger aller verschiedenen Systeme einer Epoche unbewusst ausgehen. Diese Annahmen erscheinen den Leuten so offensichtlich, dass sie gar nicht wissen, was sie annehmen – sie sind nämlich, wie der Philosoph Alfred North Whitehead in Abenteuer der Ideen bemerkt, noch nie auf die Idee gekommen, die Dinge anders zu betrachten.
Was tun wir denn genau? Und weshalb? Dürfen wir (ethisch gesehen) alles machen, was wir (technisch) machen können? Und was ist der Zweck der Ökonomie? Wofür nehmen wir die ganze Anstrengung auf uns? Was glauben wir wirklich, und woher stammen unsere (oft unbewussten) Überzeugungen? Wenn die Wissenschaft, wie Polanyi sagt, »ein System von Glaubensanschauungen ist, an die wir gebunden sind«, wie sehen diese Glaubensanschauungen dann aus? Da die Ökonomie heute ein ganz wichtiges Gebiet bei der Erklärung und Veränderung der Welt ist, sind das alles Fragen, die wir stellen müssen.
Wir wollen uns der Metaökonomie auf etwas postmoderne Weise philosophisch, historisch, anthropologisch, kulturell und psychologisch nähern. Dieses Buch will zeigen, wie sich die Wahrnehmung der ökonomischen Dimension des Menschen entwickelt hat. Die Schlüsselkonzepte, mit denen die Ökonomie bewusst und unbewusst operiert, haben fast alle eine lange Geschichte; ihre Wurzeln erstrecken sich überwiegend über den Bereich der Ökonomie und oft sogar ganz über den der Wissenschaft hinaus. Wir wollen jetzt die Anfänge der ökonomischen Glaubensanschauungen untersuchen, die Entstehung dieser Ideen und ihren Einfluss auf die Ökonomie.
Die Mainstream-Ökonomen haben zu viele Farben der Ökonomie aufgegeben und sind zu stark vom schwarz-weißen Kult des Homo oeconomicus besessen, der die Fragen von Gut und Böse außer Acht lässt. Wir haben uns selbst blind gemacht, blind für die wichtigsten Triebkräfte der menschlichen Handlungen.
Doch aus unseren Mythen und Religionen, von unseren Philosophen und Dichtern können wir ebenso viel Weisheit lernen wie aus exakten, strikten mathematischen Modellen für das ökonomische Verhalten. Die Ökonomie sollte daher nach ihren eigenen Werten suchen, sie entdecken und über sie sprechen, auch wenn man uns gelehrt hat, sie sei eine wertfreie Wissenschaft. Meiner Meinung nach stimmt das nicht – es gibt in der Ökonomie mehr Religion, mehr Mythen und Archetypen als Mathematik. Heutzutage legt die Ökonomie zu viel Gewicht auf die Methode statt auf die Substanz. Wir wollen zu zeigen versuchen, dass es für die Ökonomen und auch für ein größeres Publikum ganz wichtig ist, aus einem breiten Spektrum von Quellen zu lernen, wie dem Gilgamesch-Epos, dem Alten und dem Neuen Testament und Descartes. Wir können die Spuren unserer Denkweise besser verstehen, wenn wir uns ihre historischen Anfänge ansehen, als die Gedanken noch »nackter« waren – dort können wir die Ursprünge und Quellen vieler Ideen leichter erkennen. Nur so können wir herausfinden, was unsere wesentlichen (ökonomischen) Glaubensanschauungen sind – im komplizierten Gewebe der heutigen Gesellschaft, in der sie noch immer sehr stark sind, aber unbemerkt bleiben.
Um ein guter Ökonom zu sein, muss man entweder ein guter Mathematiker oder ein guter Philosoph oder beides sein. Wir haben zu viel Gewicht auf das Mathematische gelegt und unser Menschsein vernachlässigt. Das hat zu schiefen, künstlichen Modellen geführt, die uns oft kaum dabei helfen, die Realität zu verstehen.
Die Beschäftigung mit der Metaökonomie ist wichtig. Wir müssen über die Ökonomie hinausgehen und untersuchen, welche Glaubensanschauungen es »hinter den Kulissen« gibt; diese Ideen sind nämlich häufig zu den vorherrschenden, aber unausgesprochenen Annahmen in unseren Theorien geworden. In der Ökonomie wimmelt es von Tautologien, deren die Ökonomen sich größtenteils nicht bewusst sind. Die nicht historische Betrachtungsweise, die heute in der Ökonomie dominiert, greift zu kurz. Für das Verständnis des menschlichen Verhaltens ist es wichtig, sich mit der historischen Entwicklung der Ideen, die uns prägen, zu befassen.
Dieses Buch ist ein Beitrag zu der schon lange anhaltenden Auseinandersetzung zwischen der normativen und der positiven Ökonomie. Wissenschaftliche Modelle haben jetzt die Rolle übernommen, die in den alten Zeiten die normativen Mythen und Gleichnisse spielten. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, doch wir sollten es offen zugeben.
Die Menschheit schlug sich schon lange vor Adam Smith mit ökonomischen Fragen und Problemen herum. Mit ihm hat die Suche nach Werten in der Ökonomie nicht erst begonnen, sondern ihren Höhepunkt erreicht. Der moderne Mainstream, der behauptet, er sei aus der klassischen Smith-Ökonomie hervorgegangen, hat die Ethik vernachlässigt. In den klassischen Debatten war die Frage von Gut und Böse das vorherrschende Thema, doch heute gilt es schon fast als ketzerisch, überhaupt darüber zu sprechen. Die populäre Auslegung von Adam Smith versteht ihn nicht richtig, sein Beitrag zur Ökonomie ist viel umfassender und geht weit über das Konzept der unsichtbaren Hand des Marktes und die Geburt des egoistischen, ichzentrierten Homo oeconomicus (Smith selbst hat diesen Begriff nie verwendet) hinaus; sein einflussreichster Beitrag zur Ökonomie war ethischer Natur. Seine anderen Gedanken – zur Spezialisierung und zum Prinzip der unsichtbaren Hand des Marktes – waren schon lange vor ihm klar zum Ausdruck gebracht worden. Es wird sich zeigen, dass das Prinzip der unsichtbaren Hand viel älter ist und lange vor Smith entwickelt wurde. Bereits im Gilgamesch-Epos, im hebräischen Denken und im Christentum finden sich Spuren davon; Aristophanes und Thomas von Aquin formulierten es explizit.
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, unsere ökonomische Einstellung zu überdenken, denn heute ist den Leuten das angesichts der Schuldenkrise wichtig, und sie sind bereit, zuzuhören. Uns stehen ausgefeilte mathematische Modelle zur Verfügung, doch wir haben die ökonomischen Lektionen aus den einfachsten Geschichten aus dem Kindergottesdienst nicht gelernt, beispielsweise aus der Geschichte von Josef und dem Pharao. Wir müssen unser allein auf das Wachstum ausgerichtetes Denken aufgeben. Die Ökonomie kann eine wirklich faszinierende Wissenschaft sein und ein breites Publikum ansprechen!
In gewisser Weise ist dieses Buch eine Studie zur Evolution des Homo oeconomicus und, was noch wichtiger ist, zur Geschichte seiner Animal Spirits. Es geht um die Entwicklung der rationalen wie der emotionalen, irrationalen Seite des Menschen.
Da die Ökonomie es sich herausgenommen hat, ihr Denksystem auf Bereiche anzuwenden, die traditionell zur Theologie, Soziologie und Politologie gehörten, sollten wir einmal gegen den Strom schwimmen und die Ökonomie vom Standpunkt der Theologie, Soziologie und Politologie aus betrachten. Wenn die moderne Ökonomie es wagt, die Funktionsweise von Kirchen zu erklären und wirtschaftliche Analysen der familiären Bindungen durchzuführen (die oft durchaus neue, interessante Erkenntnisse bringen), können wir doch umgekehrt die theoretische Ökonomie so erforschen wie religiöse Systeme und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit anderen Worten: Weshalb sollten wir nicht versuchen, die Ökonomie einmal anthropologisch zu betrachten?
Dazu müssen wir uns zunächst von der Ökonomie entfernen. Wir müssen uns ganz an ihre Grenzen vorwagen – oder, noch besser, über sie hinaus. Wir müssen Ludwig Wittgensteins Metapher des Auges aufgreifen, das zwar seine Umgebung beobachtet, aber nie sich selbst, um Objekte zu untersuchen (Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 5.6ff.). Es ist immer notwendig, aus ihm herauszutreten, und wenn das nicht möglich ist, wenigstens einen Spiegel zu benutzen. In diesem Buch werden anthropologische, mythische, religiöse, philosophische, soziologische und psychologische Spiegel verwendet – alles, was uns ein Spiegelbild liefert.
Hier sind zumindest zwei Apologien angebracht. Zum einen erhalten wir oft ein bruchstückhaftes, disparates Bild, wenn wir in allem um uns herum unser eigenes Spiegelbild sehen. Dieses Buch will kein allumfassendes System präsentieren (so ein System gibt es nämlich gar nicht). Es wird sich nur mit dem Erbe unserer westlichen Kultur befassen, nicht mit dem Islam, dem Konfuzianismus, Buddhismus, Hinduismus und den zahlreichen anderen Religionen und Lehren (obwohl wir dort mit Sicherheit viele anregende Ideen finden könnten). Zudem wird nicht die gesamte sumerische Literatur unser Thema sein. In dem Buch geht es um das hebräische und christliche ökonomische Denken, aber nicht um die antike und mittelalterliche Theologie in ihrer Gesamtheit. Ziel ist es, die wesentlichen Einflüsse und die revolutionären Konzepte herauszugreifen, aus denen der ökonomische Modus Vivendi unserer heutigen Zeit erwachsen ist. Eine so breit gefächerte und in gewisser Weise unzusammenhängende Vorgehensweise lässt sich durch eine Idee rechtfertigen, die Paul Feyerabend schon vor langer Zeit aufbrachte: »Anything goes.« Wir können nie vorhersagen, aus welcher Quelle die Wissenschaft Inspiration für ihre weitere Entwicklung ziehen wird.
Die zweite Apologie betrifft die eventuelle Vereinfachung oder Verzerrung jener Bereiche, die mir wichtig erscheinen, obwohl sie zu ganz anderen Gebieten gehören. Heute verstecken die Wissenschaftler sich gern hinter einer Wand aus Elfenbein, die hier aus der Mathematik besteht, dort aus dem Lateinischen oder Griechischen, aus der Geschichte, aus Axiomen und anderen geheiligten Ritualen, und schaffen sich so ein unverdientes Refugium vor Kritikern aus anderen Gebieten und vor der Öffentlichkeit. Die Wissenschaft muss jedoch offen sein – sonst wird sie, wie Feyerabend ganz richtig schreibt, eine elitäre Religion für die Eingeweihten, die ihre totalitaristischen Scheinwerfer auf die Öffentlichkeit richtet. Um es mit den Worten von Jaroslav Vanek, einem amerikanischen Ökonomen tschechischer Abstammung, zu sagen: »Unglücklicher- oder vielleicht glücklicherweise ist die Neugier des Forschers nicht auf sein Arbeitsgebiet begrenzt.« Wenn dieses Buch dank der Verschmelzung der Ökonomie mit anderen Gebieten zu neuen Erkenntnissen anregt, hat es seine Raison d’être erfüllt.
Nicht die ganze Geschichte des ökonomischen Denkens ist Gegenstand des Buchs. Das Ziel besteht vielmehr darin, bestimmte Kapitel dieser Geschichte durch eine umfassendere Betrachtung und Analyse derjenigen Einflüsse zu ergänzen, die der Aufmerksamkeit der Ökonomen und der breiteren Öffentlichkeit oft entgehen.
Dieser Text enthält eine Vielzahl von Zitaten. So können die Leser sich selbst ein Bild von der authentischen Form der nützlichen Ideen ferner Zeiten machen. Wenn die alten Texte lediglich indirekt wiedergegeben würden, würden ihre Autorität und der damalige Zeitgeist schlicht verpuffen – und das wäre ein großer Verlust. Die Anmerkungen bieten dem Leser die Möglichkeit, sich intensiver mit den angesprochenen Problemen zu beschäftigen.
Dieses Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste folgt einem roten Faden durch die Geschichte; es geht dort um sieben Themen, die im zweiten Teil dann zusammengefasst werden. Der zweite Teil ist also thematisch aufgebaut, dort fahren wir die Ernte der historischen Themen ein und integrieren sie. In dieser Hinsicht ähnelt das Buch einer Matrix – man kann es historisch oder thematisch verfolgen, aber auch historisch und thematisch. Hier ein Überblick über die sieben Themen:
Hier beginnen wir bei den ältesten Mythen, in denen die Arbeit als ursprüngliche Berufung des Menschen behandelt wird, als etwas, was Freude macht, später (aufgrund unserer Unersättlichkeit) jedoch zu einem Fluch wird. Gott oder die Götter verfluchen die Arbeit (Genesis, griechische Mythen) oder zumindest zu viel Arbeit (Gilgamesch). Wir werden die Geburt des Begehrens, der Ansprüche und der Nachfrage analysieren. Danach geht es zu dem Asketismus in verschiedenen Konzepten. Später herrschte die augustinische Verachtung für diese Welt vor; mit Thomas von Aquin schwang das Pendel dann in die Gegenrichtung, man ließ der materiellen Welt nun Aufmerksamkeit und Pflege zuteilwerden. Bis dahin hatte die Sorge für die Seele an erster Stelle gestanden, die Begierden und Bedürfnisse des Körpers und der Welt waren an den Rand gedrängt worden. Später schlug das Pendel erneut in die entgegengesetzte Richtung aus, zum individualistischen, utilitaristischen Konsum. Der Mensch wurde jedoch von den Anfängen an als von Natur aus unnatürliches Wesen betrachtet, das sich aus eigenen Gründen mit äußeren Besitztümern umgibt. Die materielle wie spirituelle Unersättlichkeit ist ein fundamentales Metacharakteristikum des Menschen – wir begegnen ihr bereits in den ältesten Mythen und Geschichten.
Heute sind wir von der Idee des Fortschritts berauscht, doch ganz am Anfang existierte sie gar nicht. Die Zeit war zyklisch, von der Menschheit wurde keine historische Bewegung erwartet. Das Ideal, dem wir uns heute verschrieben haben, geht auf die Hebräer mit ihrem linearen Zeitverständnis und die spätere Erweiterung durch die Christen zurück. Die klassischen Ökonomen säkularisierten den Fortschritt dann. Wie sind wir zum heutigen Fortschritt beim Fortschritt und zum Wachstum um des Wachstums willen gelangt?
Hier geht es um einen ganz wichtigen Punkt: Zahlt gutes Verhalten sich (ökonomisch) aus? Am Anfang wird das Gilgamesch-Epos stehen, wo es keinen Zusammenhang zur Moralität von Gut und Böse zu geben scheint. Später, bei den Hebräern, galt die Ethik jedoch als Erklärungsfaktor der Geschichte. Die alten Stoiker erlaubten es nicht, den Ertrag des Guten zu berechnen, die Hedonisten hingegen waren überzeugt, dass alles, was vorteilhafte Ergebnisse brachte, grundsätzlich gut war. Das christliche Denken brach die klare Kausalität bei Gut und Böse durch die göttliche Gnade auf und verlegte den Lohn für Gutes und Böses in das Leben nach dem Tod. Dieses Thema erreichte mit Mandeville und Adam Smith seinen Höhepunkt, in dem heute berühmten Disput über die privaten Laster, die öffentliche Vorteile erzeugen. John Stuart Mill und Jeremy Bentham bauten ihren Utilitarismus später ebenfalls auf einem hedonistischen Prinzip auf. Die gesamte Geschichte der Ethik wurde von dem Bemühen bestimmt, eine Formel für die ethischen Verhaltensregeln zu finden. Ich werde die Tautologie von MaxU (der Maximierung des Nutzens) aufzeigen und über das Konzept von MaxG (der Maximierung des Guten) sprechen.
Wie alt ist die Idee der unsichtbaren Hand des Marktes? Wie lange existierte dieses Konzept schon, als Adam Smith die Bühne betrat? Fast überall sind Vorläufer der unsichtbaren Hand des Marktes zu finden. Dass wir unseren natürlichen Egoismus nutzen können und dieses Schlechte für etwas gut ist, ist ein altes philosophisches und mythisches Konzept. Wir werden uns auch mit der Entwicklung des Ethos des Homo oeconomicus befassen, mit der Geburt des »wirtschaftlichen Menschen«.
Hier werden wir die andere Seite des Menschen untersuchen – die unvorhersehbare, oft arationale und archetypische. Unsere Animal Spirits (als Gegenstück zur Rationalität) werden durch den Archetypus des Heros und unser Konzept vom Guten beeinflusst.
Woher stammt das Konzept der Ökonomen, dass die Zahlen die Grundlage der Welt bilden? Wie und weshalb hat sich die Ökonomie zu einem mechanistisch-allokativen Gebiet entwickelt? Weshalb glauben wir, dass die Welt (selbst die Welt der sozialen Interaktionen) sich am besten durch die Mathematik beschreiben lässt? Bildet die Mathematik den Kern der Ökonomie oder nur die Spitze des Eisbergs der ökonomischen Untersuchungen?
Woran glauben die Ökonomen? Wie sieht ihre Religion aus? Und was ist das Wesen der Wahrheit? Wir bemühen uns schon seit der Zeit Platons, die Wissenschaft von den Mythen zu befreien. Ist die Ökonomie ein normatives Gebiet oder eine positive Wissenschaft? Die Wahrheit war ursprünglich die Domäne der Gedichte und Geschichten, doch heute begreifen wir sie als etwas viel Wissenschaftlicheres, Mathematischeres. Wo können wir die Wahrheit bekommen? Wer ist in unserer Epoche »im Besitz« der Wahrheit?
Wenn es in diesem Buch um die Ökonomie geht, ist ihre Wahrnehmung im Mainstream gemeint, die vielleicht am besten durch Paul Samuelson repräsentiert wird. Unter dem Homo oeconomicus wollen wir das Grundkonzept der ökonomischen Anthropologie verstehen. Es ergibt sich aus der Vorstellung vom rationalen Individuum, das aus ganz egoistischen Motiven heraus danach strebt, seinen Nutzen zu maximieren. Die Frage, ob die Ökonomie überhaupt eine Wissenschaft ist, soll uns hier nicht beschäftigen. Obwohl ich sie hin und wieder als Sozialwissenschaft bezeichnen werde, meine ich damit oft nur das Gebiet der Ökonomie. Doch die »Ökonomie« umfasst mehr als nur die Produktion, die Zuteilung und den Konsum von Gütern und Dienstleistungen – sie erforscht die menschlichen Beziehungen, die sich manchmal in Zahlen ausdrücken lassen, sie befasst sich mit handelsfähigen Gütern, aber auch mit nicht handelsfähigen (Freundschaft, Freiheit, Effizienz, Wachstum).
Ich habe in meinem Leben drei wichtige Erfahrungen machen dürfen. Ich habe viele Jahre lang in der akademischen Welt gearbeitet, theoretische Ökonomie studiert, erforscht und gelehrt und mich mit metaökonomischen Problemen beschäftigt. Außerdem war ich lange wirtschaftspolitischer Berater unseres früheren tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel, unseres Finanzministers und schließlich auch unseres Premierministers (im Hinblick auf die praktischen Anwendungen der Volkswirtschaftslehre). Zudem schreibe ich mit Vergnügen regelmäßig Kolumnen für unsere führende Wirtschaftstageszeitung, in denen ich praktische und philosophische Aspekte der Ökonomie für ein breites Publikum aufbereite. Das hat mich die Grenzen und Vorteile der verschiedenen Seiten der Ökonomie erkennen lassen. Diese drei Facetten (Was ist der Sinn der Ökonomie? Wie können wir sie praktisch nutzen? Wie können wir auf verständliche Weise Verbindungen zu anderen Gebieten herstellen?) haben mich schon immer beschäftigt. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis.
ÜBER EFFEKTIVITÄT, UNSTERBLICHKEIT UND DIE ÖKONOMIE DER FREUNDSCHAFT
O Gilgamesch, wohin (noch) willst du laufen?
Das Leben, das du suchst, wirst nicht du finden! …
Ergötze dich bei Tage und bei Nacht,
Bereite täglich dir ein Freudenfest
Mit Tanz und Spiel bei Tage und bei Nacht!
Gilgamesch-Epos
Das Gilgamesch-Epos ist über 4000 Jahre alt und das älteste erhaltene literarische Werk der Menschheit. Die frühesten schriftlichen Zeugnisse kommen aus Mesopotamien, ebenso wie die ältesten menschlichen Relikte. Das gilt nicht nur für unsere Zivilisation, sondern für die gesamte Menschheit. Das Epos war Inspiration für zahlreiche Geschichten, die ihm folgten und die Mythologie bis zum heutigen Tag in mehr oder weniger stark geänderter Form beherrschen, ob es nun um das Flutmotiv oder um das Streben nach Unsterblichkeit geht. Doch schon in diesem ältesten Werk, das die Menschheit kennt, spielen Fragen eine wichtige Rolle, die wir heute als ökonomisch betrachten. Wenn wir uns die Geschichte des wirtschaftlichen Denkens ansehen wollen, müssen wir beim Gilgamesch-Epos anfangen – es ist der Punkt, an dem alles begann.
Aus der Periode vor dem Gilgamesch-Epos gibt es nur wenige archäologische Funde; von den schriftlichen Zeugnissen, die sich überwiegend mit der Wirtschaft, der Diplomatie, dem Krieg, der Magie und der Religion befassten, sind nur Fragmente erhalten geblieben. Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson weist (etwas zynisch) darauf hin, dass sie »belegen, dass die Menschen nicht als Geschichtsschreiber, Dichter oder Philosophen begannen, ihre Tätigkeiten festzuhalten, sondern als Geschäftsleute«. Das Gilgamesch-Epos ist jedoch ein Beweis für das Gegenteil – auch wenn es bei den ersten schriftlichen Tonfragmenten (wie Aufzeichnungen und Buchführung) um Geschäfte und Kriege ging, geht es bei der ersten schriftlich festgehaltenen Geschichte vor allem um eine große Freundschaft und um Abenteuer. Überraschenderweise ist dort weder von Geld noch von Kriegen die Rede; nirgendwo im ganzen Epos wird irgendetwas ge- oder verkauft. Kein Volk unterwirft ein anderes, es wird nicht einmal die Androhung von Gewalt erwähnt. Das Epos erzählt eine Geschichte von der Natur und der Zivilisation, von Heldentum, Auflehnung und dem Kampf gegen die Götter und das Böse, von Weisheit, Unsterblichkeit und auch Vergeblichkeit.
Obwohl das Gilgamesch-Epos von so großer Bedeutung ist, scheint es der Aufmerksamkeit der Ökonomen völlig entgangen zu sein. Es gibt keine Wirtschaftsliteratur zu ihm. Dabei stoßen wir dort auf die allererste ökonomische Betrachtung unserer Zivilisation, auf den Beginn so bekannter Konzepte wie der Markt mit seiner unsichtbaren Hand, das Problem der Nutzung des Reichtums der Natur und die Bemühungen, die Effektivität zu maximieren. Im Hinblick auf die Rolle der Gefühle, den Begriff »Fortschritt« und den Naturzustand oder das Thema der umfassenden Arbeitsteilung im Zusammenhang mit der Entstehung der ersten Städte zeichnet sich hier ein Dilemma ab. Dies ist der erste Versuch, das Gilgamesch-Epos von einem ökonomischen Standpunkt aus zu verstehen.
Zunächst möchte ich das Geschehen im Gilgamesch-Epos kurz zusammenfassen (ich werde es dann noch ausführlicher besprechen). Gilgamesch, Herrscher über die Stadt Uruk, ist ein übermenschlicher Halbgott: »Zwei Drittel an ihm sind Gott, doch sein (drittes) Drittel, das ist Mensch.« Das Epos beginnt mit der Beschreibung einer vollkommenen, beeindruckenden und unsterblichen Mauer um die Stadt, die Gilgamesch gerade erbaut. Um ihn für die unbarmherzige Behandlung seiner Arbeiter und Untertanen zu bestrafen, rufen die Götter den Wilden Enkidu dazu auf, ihn aufzuhalten. Die beiden werden jedoch Freunde, ein unbesiegbares Paar, und vollbringen gemeinsam Heldentaten. Später stirbt Enkidu, und Gilgamesch macht sich auf die Suche nach Unsterblichkeit. Er überwindet zahlreiche Hindernisse und entgeht vielen Fallen, doch die Unsterblichkeit entzieht sich ihm, wenn auch nur um Haaresbreite. Am Ende kehrt die Geschichte dorthin zurück, wo das Epos begonnen hat – zu dem Loblied auf die Stadtmauer von Uruk.
Gilgameschs Vorhaben, eine Mauer wie keine andere zu bauen, ist der zentrale Aspekt der ganzen Geschichte. Gilgamesch versucht, die Leistung und Effektivität seiner Untertanen um jeden Preis zu steigern, er verbietet ihnen sogar den Kontakt zu ihren Frauen und Kindern. Daher beklagen sie sich bei den Göttern:
Nicht läßt zum Vater Gilgamesch den Sohn,
rast ohne Maß bei Tage und bei Nacht!
… Nicht läßt zum Liebsten Gilgamesch das Mädchen,
Des Helden Tochter und des Edlen Wahl!
Das steht in direktem Zusammenhang mit der Entstehung der Stadt als einem Ort, der das Land in der Umgebung überwacht und lenkt. »Die dörflichen Nachbarn hielt man sich jetzt fern. Sie waren nicht mehr vertraut und gleichgestellt, sondern wurden zu Untertanen, deren Leben von militärischen und zivilen Amtsträgern überwacht und gelenkt wurde; alle diese Gouverneure, Wesire, Steuereinnehmer und Soldaten waren dem König unmittelbar Rechenschaft schuldig.«
Ein so fernes und doch so nahes Prinzip … Noch heute leben wir in Gilgameschs Vision, dass die menschlichen Beziehungen – und damit auch die Menschheit selbst – einen Störfaktor bei der Arbeit und der Effizienz bilden, dass die Leute bessere Leistungen erbringen würden, wenn sie ihre Zeit und Energie nicht auf nicht produktive Dinge »verschwenden« würden. Noch heute betrachten wir die Domäne des Menschseins (menschliche Beziehungen, Liebe, Freundschaft, Schönheit, Kunst usw.) oft als unproduktiv, vielleicht mit Ausnahme der Reproduktion (Fortpflanzung), die allein (buchstäblich!) produktiv (reproduktiv) ist.
Das Bemühen, die Effektivität um jeden Preis zu maximieren, diese Stärkung des Ökonomischen auf Kosten des Menschlichen, reduziert die Menschen in der ganzen Breite ihres Menschseins zu einem bloßen Produktionsfaktor. Das schöne, aus dem Tschechischen stammende Wort »Roboter« bringt das wunderbar zum Ausdruck: Es geht auf das alte tschechische und slawische Wort »robota« zurück, das »Arbeit« bedeutet. Jemand, der darauf reduziert wird, dass er nur ein Arbeiter ist, ist ein Roboter. Das Epos wäre Karl Marx sehr gut zupassgekommen, er hätte es leicht als prähistorisches Beispiel für die Ausbeutung und die Entfremdung des Einzelnen von seiner Familie und sich selbst benutzen können.
Über zu Robotern reduzierte Menschen zu herrschen ist schon seit ewigen Zeiten der Traum aller Tyrannen. Alle despotischen Herrscher sehen in den familiären Beziehungen und den Freundschaften eine Beeinträchtigung der Effektivität. Das Bemühen, die Personen auf Produktions- und Konsumfaktoren zu reduzieren, lässt sich auch bei gesellschaftlichen Utopien (besser gesagt: Dystopien) beobachten. Die Wirtschaft an sich braucht nämlich nichts weiter als menschliche Roboter; das hat sich schön – wenn auch schmerzhaft – beim Modell des Homo oeconomicus gezeigt, der ein reiner Produktions- und Konsumfaktor ist. Einige Beispiele für Utopien oder Dystopien dieser Art: Platon erlaubt in seiner Vision vom idealen Staat nicht, dass die Familien der Wächter ihre Kinder selbst aufziehen – sie müssen sie gleich nach der Geburt einer dafür bestimmten Institution übergeben. Das ähnelt den Dystopien in Aldous Huxleys Schöne neue Welt und George Orwells 1984. In beiden Romanen sind die menschlichen Beziehungen und Gefühle (überhaupt alle Formen des Persönlichkeitsausdrucks) verboten und werden streng bestraft. Liebe ist »unnötig« und unproduktiv, Freundschaft ebenfalls; beide können für totalitäre Systeme gefährlich sein (in 1984 sieht man das sehr gut). Freundschaft ist unnötig, weil der Einzelne und die Gesellschaft ohne sie leben können. C. S. Lewis schreibt: »Freundschaft ist unnötig, wie die Philosophie, wie die Kunst … Sie besitzt keinen Wert für den Lebenskampf; aber sie gehört zu jenen Dingen, die das Leben lebenswert machen.«