Eberhard Straub
Eine kleine Geschichte Preußens
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Klett-Cotta
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Michael Gaeb
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
Unter Verwendung des Bildes »Das Flötenkonzert Friedrich des
Großen in Sanssouci« von Adolph Menzel, Foto: © akg-images
Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94700-7
E-Book: ISBN 978-3-608-10238-3
Vorwort zur Neuausgabe von Jens Bisky
In der reichhaltigen Preußenliteratur, zu der jährlich immer neue Titel hinzukommen, ist dieses Buch ein sehr besonderes, eigenwilliges. Es ist außergewöhnlich schon durch seinen geringen Umfang. Gesamtdarstellungen der preußischen Geschichte umfassen, wenn sie nicht für Studienanfänger geschrieben wurden, meist viele hundert Seiten. Eberhard Straub reichen zwölf kurze Kapitel, um Aufstieg, Siege, Niederlagen, Reformen, Revolutionen und das lange Ende dieses Staates zu schildern. Das gelingt ihm, indem er sich auf die Stellung Preußens unter den anderen deutschen Ländern und das Verhältnis der Deutschen zu Preußen konzentriert. Er schreibt so klar wie gelassen, gern spöttisch, aber nie herablassend. Die Besserwisserei der Spätgeborenen, die glauben, dass die Geschichte mit ihnen etwas ganz Einzigartiges hervorgebracht habe, ist ihm fremd. Straub will verstehen, bevor er urteilt, was er ohnehin am liebsten dem Leser überlässt. Aber wenn er wertet, dann möglichst nach den Maßstäben der jeweiligen Zeit, nach ihren Möglichkeiten und Illusionen, denen unsere Vorfahren nicht weniger anhingen als wir den unseren. Wer einen ersten Überblick gewinnen will, wer ein deutliches Bild sucht, das später ergänzt, auch korrigiert werden kann, der wird hier bestens bedient. Als so kluges wie unterhaltsames Werk der Geschichtsschreibung ist dieses »Kleine Geschichte Preußens«, als sie vor zehn Jahren zum ersten Mal erschien, von den Rezensenten auch gewürdigt worden.
|8|Von heute aus erkennt man deutlicher, dass sie zugleich auch ein Dokument des Abschieds und des Aufbruch ist: des Abschieds von bundesrepublikanischen Gewohnheiten und des Aufbruchs in das, was man treffend »Berliner Republik« genannt hat. Da dieser Übergang noch lange nicht abgeschlossen ist, hat man beim Lesen immer wieder das Gefühl, es werde auch und gerade die eigene Gegenwart verhandelt. Nicht im Sinne plumper Aktualisierungen: Das Buch ist frei von Vogelscheuchen, die warnen, und Gebotsschildern, die belehren sollen. Stattdessen lädt es den Leser ein, im Gespräch über Geschichte mit sich selbst bekannt zu werden.
Nach dem durchschlagenden Erfolg des Buches von Christopher Clark, das in Deutschland 2006 unter dem Titel »Preußen. Aufstieg und Niedergang« erschien, herrscht eine neue Unbefangenheit im Umgang mit der preußischen Geschichte. Von dem in Cambridge lehrenden Historiker hat man sich gern sagen lassen, dass viele schwarze Geschichten über Militarismus und Untertanengeist nicht stimmen oder wesentliches verdecken. Das war einige Jahre zuvor noch anders.
Gewiss, Preußen war immer für eine Aufregung gut gewesen. Aber warum flammte der Streit nach der Wiedervereinigung so heftig auf, als sei er ein neuer und betreffe Wohl und Wehe der Gegenwart? Warum etwa wurde im Jahr 2002 mit so viel Lust über den Vorschlag des sozialdemokratischen Sozialministers Alwin Ziel debattiert, Berlin und Brandenburg zu einem Bundesland zu vereinen und dieses »Preußen« zu nennen? Dabei provozierte die Namenswahl offenkundig mehr als die Einzelheiten der sinnvollen, aber zum Schaden aller bis heute nicht verwirklichten Fusion. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, damals das Zentralorgan intellektueller Selbstverständigung, verhandelten Wolf Jobst Siedler |9|und Susan Sontag, Florian Illies und Gregor Gysi, Hans Jürgen Syberberg und Monika Maron die Frage »Darf Preußen sein?«.
»Es war einmal und bleibt ein Gegenstand der Geschichtsschreibung«, hätte man gelassen antworten und sich den Problemen der Region zuwenden können, die im Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Transferabhängigkeit gefangen schien. Aber man wich wie so oft ins geschichtspolitisch Grundsätzliche aus. Hinter der Frage, ob Preußen sein dürfe, verbarg sich unüberhörbar die aktuell viel beunruhigendere Frage, ob Geist und Glück der alten Bundesrepublik im neuen Deutschland erhalten bleiben könnten und sollten. Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler formulierte in einem Beitrag zur Debatte unübertroffen deutlich, welch staatstragende Funktion der Aversion gegen alles Preußische zukam: »Zu den unschätzbar vorteilhaften Startbedingungen der Bundesrepublik gehört, daß Preußen nirgendwo mehr Pate stand: keine Adelslobby und kein ostelbischer Konservativismus mehr, kein Militärnimbus und kein Sonderweg mehr zwischen Westen und Osten, endgültig diskreditiert das Vabanquespiel um neue Größe. Die Befreiung von Preußen hat die Entwicklung der Bundesrepublik erst ermöglicht. Das gilt es, gegen jede Nostalgiewelle, die ein mit extremen Kosten gescheitertes Experiment aufwerten will, zu verteidigen.«
Bonn war nicht Potsdam. Die innerdeutsche Grenze hatte es erleichtert, nicht genehme Traditionen und störende Erinnerungen östlich der Elbe zu lokalisieren, auch wenn in der Bonner Republik wohl mehr Preußisches lebendig war, als Wehlers Bekenntnis zur Westbindung zugestehen mochte. Eine Kulturgeschichte der Bundesrepublik jedenfalls wäre so unvollständig wie unverständlich ohne die prominenten Bemühungen um |10|das borussische Erbe. Dafür stehen Namen wie Marion Gräfin Dönhoff, Sebastian Haffner, Wolf Jobst Siedler, Hans-Joachim Schoeps und Joachim Fest. Ihre Bücher hatten vom Reiz des Gefährlichen profitiert, der immer dabei war, wenn von Preußen gesprochen wurde. Sie verunsicherten das behagliche Gefühl, endlich auf der richtigen Seite angekommen zu sein. Man sah auf vergangene Irrwege zurück, las von ihnen zu Unterhaltungszwecken oder in pädagogischer Absicht. Und je länger die gute alte Bundesrepublik Erfolge feierte, desto mehr verfestigte sich das Gefühl, es müsse immer so bleiben. Je weniger in der Bonner Gegenwart Potsdam oder Königsberg eine Rolle spielten, desto unbefangener konnte man sich dann für einzelne Gestalten interessieren, für Friedrich den Großen etwa oder Karl Friedrich Schinkel.
Der Fall der Mauer schien diese gemütliche Welt zu bedrohen, und weil es nicht opportun war, die Ostdeutschen unumwunden als Störenfriede zu bezeichnen, lebten anti-borussische Ressentiments wieder auf, wurde die Mottenkiste der Klischees geplündert und die angebliche Verwandtschaft zwischen Preußentum und Nationalismus warnend beschworen. Der ungeheure Stress, den die Vereinigung für Ost und West bedeutete, fand seinen Ausdruck auch in der Befürchtung, das neue Deutschland werde nun »preußischer« – was mal unruhiger, mal unbequemer, mal gefährlicher bedeuten sollte.
Der Augenschein sprach für eine so nicht erwartete und von vielen befürchtete Wiederkehr: Im Juni 1991 beschloss der Bundestag mit knapper Mehrheit den Hauptstadtumzug ins suspekte Berlin; im August 1991 wurden die Särge Friedrich Wilhelms I. und seines Sohnes, Friedrichs des Großen, mit militärischen Ehren nach Potsdam überführt; im Sommer 1993 weckten bemalte Plasteplanen die Sehnsucht nach dem Berliner |11|Schloss. Der märkische Wanderer Theodor Fontane war der Autor der Stunde, in Brandenburg gründeten sich Traditions- und Heimatvereine, man begann, Herrensitze zu restaurieren. Kaum residierte die Regierung in Berlin, führte die Bundesrepublik wieder Krieg, durchlebte ungewohnt harte ökonomische Krisen und sah sich mit scharfen Ost-West-Konflikten konfrontiert. Das hatte allein aktuelle Gründe. Die Warnung vor Preußen wurde dennoch zum wohlfeilen Schlagwort der Westalgie, des verklärenden Rückblicks auf die alte Bundesrepublik. Sie fand Zustimmung, weil sie seelische Bedürfnisse befriedigte. Da übersah man gern, dass die Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten ein präziseres Bild zeichnete, das weder der schwarzen Legende noch der hellen entsprach, und dass historische Wahrheit überhaupt nur zu haben ist, wenn man die bequeme Scheidung in »gut« und »böse«, »progressiv« und »reaktionär« vermeidet.
Für Ostdeutsche war die Preußen-Frage keineswegs einfacher. Groß war ihr Unwille an Geschichtsschreibung zu Zwecken der Volkserziehung – und das war ein Vorteil. Aber dem unbefangenen Urteil standen jüngste Erfahrungen entgegen: Die Militarisierung der DDR war von Anbeginn mit Scharnhorst, Clausewitz und Gneisenau begründet worden. Im Stechschritt erfolgte die Wachablösung vor Schinkels Neuer Wache, ein Schauspiel, dass viele an Demütigungen in der Nationalen Volksarmee und die Allgegenwart Uniformierter erinnerte. Die Stagnationsjahre unter Honecker waren mit einer Neuentdeckung des preußischen Erbes einhergegangen. Christian Daniel Rauchs Reiterstandbild Friedrichs des Großen kehrte auf die Straße Unter den Linden zurück, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt wurde wieder errichtet, das Berliner Nikolaiviertel in neohistoristischer Plattenbauweise aus dem Boden gestampft. Keiner |12|hatte wissen könne, dass Honecker selbst das Berliner Schloss vermisste, aber zu spüren war, dass der Glanz vergangener Zeiten instrumentalisiert werden sollte.
Preußen – das waren für die Sachsen, Thüringer und Mecklenburger die in der DDR privilegierten Hauptstädter, für deren Wohl ihre eigenen Städte verfallen waren und sie Mangel hatten erdulden müssen. Die Revolution von 1989 sollte auch eine Befreiung vom Berliner Zentralismus bringen, eine Stärkung regionalen Eigensinns. Und wer den Freiheitsrausch der Konsumgesellschaft entdeckte, wollte von Pflicht, Gehorsam und Sparsamkeit ohnehin nichts mehr hören, sondern endlich die Segnungen der alten Bundesrepublik genießen. Nicht jeder, der sich über den Beitritt zur Bonner Republik gefreut hatte, fühlte sich in der Berliner willkommen und daheim. Fremdheitsgefühle zwischen Ost und West blieben lange virulent.
In dieser Situation vielfachen Missbehagens an Staat und jüngster Unbequemlichkeit stellte Eberhard Straub sein Preußen nicht als Sonderweg oder Absurdität der deutschen Geschichte dar, sondern als einen klassischen Staat der Aufklärung und der Modernisierungsprogramme. Preußen war es – neben Österreich –, das die Deutschen aus der Ruhe ihrer begrenzten und gehegten Existenz aufgestört und herausgerissen hatte – ein oft gewaltsamer, oft auch stockender Prozess, der vom Regierungsantritt Friedrichs II. bis zur Reichseinigung viel Sympathie auf der Seite der Fortschrittsfreunde gefunden hatte. Es wurde Preußen verübelt, dass es nicht energischer voranging, nach den Befreiungskriegen ein Bündnis mit der Reaktion schloss und in der »Heiligen Allianz« die Wahrung des Status quo zur vornehmsten Aufgabe erkor. Aber selbst dann noch taugte es als Gegenbild zu den »Schönwetterstaaten«, wie Golo Mann einmal Bayern, |13|Sachsen oder Württemberg genannt hat. »Mit dem ohnmächtigen alten Deutschland«, heißt es bei Straub, »das heute andächtig als Vorbild der Bundesrepublik beschworen wird, verbanden liberale Geister seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert nur Krähwinkel, Spießbürgertum, Schlafmützigkeit, Philisterunwesen, Korruption.«
Dagegen stand der Beamtenstaat, geboren aus der Notwendigkeit, ein stehendes Heer zu finanzieren. In der Beamtenschaft entstanden die Kodifizierungen des Rechts, die durch lebhaftesten Austausch zwischen Berlin und Weimar vorbereitete Bildungsidee und die Reformen zur Freisetzung der Individuen aus den Bindungen der ständischen Gesellschaft. Es bedarf schon einer besonderen Verengung des Blicks, um in dem auf diese Weise – dank Rechtsstaat, Wehrpflicht und höherem Bildungswesen – entwickelten Staatsbürgerbewusstsein vor allem Untertanengeist zu entdecken. Zu zahlreich sind die Beispiele von Insubordination, Kühnheit vor Königsthronen, Selbstbehauptung und geistiger Selbständigkeit. Man denke nur an den Offizier Heinrich von Kleist und den Beamten E. T. A. Hoffmann, an die Zöglinge preußischer Universitäten Marx und Engels. Eberhard Straub hütet sich glücklicherweise vor Übertreibungen in die eine wie in die andere Richtung. Er rückt die Dinge zurecht und verabschiedet dabei auch manche unausrottbar scheinende Hilfskonstruktion. Preußen sei ein auffallend künstliches Gebilde? Nicht mehr als andere Staaten auch. Der moderne Staat ist ja gerade dadurch definiert, dass er nichts Naturwüchsiges an sich hat, eine durch und durch künstliche Maschinerie in Gang setzt. Preußen besitze einen Januskopf aus Militär und Kultur? Dies waren, anders als das Klischee von dummen Leutnanten und das idealisierte Bild von höherer Kultur nahelegen, keine Gegensätze. Gerade die enge Verzahnung |14|von Bildung, Kultur und Soldatentum zeichneten die preußische Entwicklung aus: mit gebildeten Offizieren und einem gelehrten Generalstab, der die Verwissenschaftlichung der Kriegsführung ins Extrem trieb.
Der Historiker Eberhard Straub, 1940 in Berlin geboren, hat sich in seiner langen Laufbahn als Wissenschaftler und Journalist mit vielen Themen beschäftigt, Studien zur spanischen, bayerischen und österreichischen Geschichte verfasst. Daher ist er in der Lage, von außen auf Preußen zu schauen. Ein ungläubiges Lächeln hat er für jene übrig, die in der Rückbesinnung auf »preußische Tugenden« ein Heilmittel für die Gegenwart erblicken: »Es ist Geschichte, nichts weiter.« Ihn fasziniert daran das Unverzagte, der Wagemut derer, die mehr aus sich machen wollen. »Wir wenigstens wissen, daß wir nichts taugen, und in dieser Erkenntnis ist die Möglichkeit der Besserung gegeben«, heißt es in Fontanes »Schach von Wuthenow«. Aus diesem Geist heraus hat Eberhard Straub 2002 erwogen, ob der Name »Preußen«, zunächst eine bloße Schmuckformel, die Deutschen nicht veranlassen könnte, über ihren Schatten zu springen: »Es liegt an den Brandenburgern und Berlinern, die Deutschen davon zu überzeugen, daß es sich lohnt, Preußen zu revitalisieren und damit ganz Deutschland zu beleben.«
Es ist anders gekommen. Die Kleider der Königin Luise und die Tabatieren Friedrichs II. dienen heute in der Region – wie Bauernmöbel und Bilder sinnenfroher Äbte in West- und Süddeutschland – zur Ausstattung der Geschichte als öffentliche Wärmestube. Aber das nimmt dieser essayistischen »Kleinen Geschichte Preußens« nichts von ihrer Suggestivität und Frische.