Nr. 2648
Die Seele der Flotte
Perry Rhodans Suche jenseits der Wirklichkeit – und der Kampf um MIKRU-JON
Christian Montillon
In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Seit dem dramatischen Verschwinden des Solsystems mit all seinen Bewohnern hat sich die Situation in der Milchstraße grundsätzlich verändert.
Die Region um das verschwundene Sonnensystem wurde zum Sektor Null erklärt und von Raumschiffen des Galaktikums abgeriegelt, eine neue provisorische Führung der LFT regiert vom Planeten Maharani aus die Menschenvölker der Milchstraße. Im Solsystem hingegen müssen die Menschen gegen dreierlei Feinde bestehen: die Spenta, die die Sonne verhüllt haben, die Fagesy, die die Terraner des Diebstahls von ALLDAR beschuldigen, und gegen die Sayporaner, die die Kinder der Menschheit »umformatieren«.
Perry Rhodan kämpft indessen in der von Kriegen heimgesuchten Doppelgalaxis Chanda gegen QIN SHI. Diese mysteriöse Wesenheit gebietet über zahllose Krieger aus unterschiedlichen Völkern und herrscht nahezu unangefochten in Chanda. Um ihre Macht zu brechen, benötigt Rhodan Unterstützung und Verbündete. Ramoz weist ihm den Weg zu einer grünen Sonne und einer dort verborgenen Flotte. Diese aber ist inaktiv, denn es fehlt DIE SEELE DER FLOTTE ...
Die Hauptpersonen des Romans
Perry Rhodan – Der Terraner sucht nach Unterstützung.
Mikru – Die Seele MIKRU-JONS gerät in Not.
Nemo Partijan – Der Wissenschaftler hat Kreuzschmerzen.
Numenkor-Bolok – Eine einst verlorene Seele bekommt eine zweite Chance.
Ramoz – Die Seele der Flotte muss sich äußern.
Prolog:
Diskussionen im Dunkeln
Es ängstigt ihn, im Dunkeln zu atmen.
Zumal es den Mund und die Nase schon lange nicht mehr gibt, mit denen er Luft holen könnte. Die Augen sind vor Ewigkeiten vergangen, genau wie sein ganzer Körper.
Dennoch strömt Luft in die Lungen. Das Fleisch entsteht neu. Unter der Haut kribbelt es. Es fühlt sich ... belebend an, nein, mehr noch, lebendig.
Statt der unablässigen Datenströme, die seit Unzeiten sein Bewusstsein durchschneiden, tauchen Gedanken in ihm auf: Ausgeburten eines organischen Gehirns.
Ich erwache, geht es ihm durch den Sinn, und die Vorstellung lässt ihn erschauern. Gleichzeitig dringt von außen eine Stimme in ihn ein, eine der vielen, die mit ihm im selben Informationsstrom schwimmen. »Bleib hier!«, sagt sie und strömt dabei von Wort zu Wort aus weiter Ferne. »Flieg nicht, ehe dir Federn wachsen!«
»Wer braucht Flügel«, antwortet er, halb als Informationsimpuls, halb mit seinem Mund gesprochen, »wenn er ein Raumschiff besitzt?«
Zugleich mit diesen wenigen Worten tauschen sie dutzend- und hundertfach Argumente aus, loten auf einer tieferen Schicht alle Details aus, die mit diesen bildhaften Vorstellungen einhergehen.
Es nimmt nahezu keine Zeit in Anspruch. Ein Atemzug mit seinem neuen, physischen Leib gleicht einer Ewigkeit in seinem vorherigen Leben. Ihm stand alle Zeit des Universums zur Verfügung, und nun stürzt er zurück in die Vergänglichkeit des materiellen Daseins.
»Wieso darfst ausgerechnet du uns verlassen und wieder einen Körper erhalten?«, fragt die Stimme, als sie schon so weit entfernt ist, dass er sie kaum noch hören kann.
»Ich weiß es nicht.« Das entspricht der Wahrheit. Es geschieht einfach. Materie formt sich aus dem Nichts reiner Information, aus den Erinnerungen seines alten Lebens. Er hat nicht darum gebeten. Es ängstigt und begeistert ihn zugleich. »Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Gnade ist, die mir erwiesen wird.«
»Was sonst?«
Wenn er das nur wüsste. »Eine Bestrafung?«
Daraufhin hört er in der Stille nur noch seinen eigenen Atem, das Geräusch, mit dem er einatmet. Zum ersten Mal füllen sich seine Lungen vollständig mit Luft, als wäre er ein Baby, das den Mutterleib unter Schmerzen verlässt.
Er denkt nach. Numenkor-Bolok, kommt es ihm in den Sinn. Diese Laute erscheinen völlig sinnlos, bis er begreift, dass dies sein Name ist. Einer der typischen Doppelnamen seines Volkes. Er ist ein ...
... ein Lare.
Richtig. So nennt sich sein Volk. Laren. Sie sind eine alte Zivilisation im Kosmos, oder sie waren es einst. Er, Numenkor-Bolok, ist kein unschuldiges Neugeborenes, dessen Leben nicht festgeschrieben ist. Er blickt auf eine vieltausendjährige Historie zurück.
Er erinnert sich nicht richtig daran. Nur vereinzelte Schlagworte tanzen in seinem Verstand und verwirren ihn mehr, als dass sie Klarheit bringen. Er sieht Welten und Sonnen, eine Zivilisation, die blüht und doch Anzeichen des Untergangs in sich trägt, wenn in den Worten der Philosophen und Warner ein Funken Wahrheit liegt.
Es ist zu lange her, denkt er. Alles verliert sich im Dunkel der Geschichte. Hat er soeben an eine Historie von vielen tausend Jahren gedacht, erkennt er nun, dass es um viel größere Zeiträume geht.
Jahrmillionen? Er weiß es nicht. Zu dem grundlegenden Wo bin ich? gesellt sich eine weitere, viel drängendere Frage: Wann bin ich?
Er linst aus fast völlig zusammengekniffenen Augen auf seine neu entstandene Hand. Wie erhaben dunkel sie ist. Sie zittert ein wenig. Wenn einige Jahrtausende der Länge eines Fingers entsprechen, so reicht die Geschichte der Laren wohl zahllose Kilometer in die Vergangenheit.
Flatternd heben sich die Augenlider endgültig. Das erste Licht schmerzt ihn, und er spürt, wie sich die Pupillen verengen. Er kann sich nicht erinnern, eine unwillkürliche Bewegung wie diese je zuvor wahrgenommen zu haben.
Ohnehin scheint alles klarer und deutlicher als jemals vorher. Es ist ein erstaunliches, wundervolles Gefühl, wieder einen Körper zu haben.
Noch ehe er begreift, wo er sich befindet, stellt sich ein Wesen vor ihn.
»Wer bist du?«, fragt er.
Dieses Wesen gehört nicht zu seinem Volk, aber es ist weiblich, das erkennt er sofort. Er fühlt es, und der zerbrechliche, geschwungene Körper beweist es überdeutlich.
»Ich war bislang dein Freund, doch nun bin ich dein Feind«, sagt es ... sagt sie. »Der schlimmste, den du dir nur vorstellen kannst. Ich werde dich töten.«
Numenkor-Bolok blickt auf das Wesen hinab. Es ist etwa so groß wie er, dabei aber zierlich, mit fahler Haut und Haaren wie ausgeblichenes Samtgras aus den Weiten seiner Heimatwelt. Seine Mutter hat ihm stets etwas davon auf sein Bett gelegt, weil der Duft dieser Pflanze friedliche Träume beschert. Das ist lange her. Ewigkeiten.
»Du willst mich töten?« Ein spöttisches Lächeln legt sich auf seine Lippen. »Du siehst nicht gefährlich aus.« Er könnte dieser Frau ohne Schwierigkeiten mit einem raschen Griff das Genick brechen.
Vielleicht sollte er es tun.
Nur zur Sicherheit.
»Du enttäuschst mich.« Die fahle Frau zerschmilzt und entsteht neu. »Jemand wie du weiß doch, dass der Schein trügen kann.«
Er schaut nun ein Ebenbild seiner selbst an. Dieselbe breitschultrige Gestalt. Dieselbe schwarze Gesichtshaut, aus der die dicken gelben Lippen herausleuchten. Dasselbe dunkle Haar, dick und auf dem Kopf nestartig geflochten.
Langsam hebt er den rechten Arm. Sein Doppelgänger folgt der Bewegung spiegelbildlich. Er krümmt die Finger, und im selben Sekundenbruchteil sieht er es auch bei seinem Gegenüber.
»Wer bist du?«, fragt er.
»Du bist ein Narr, Numenkor-Bolok.«
»Woher kennst du meinen Namen?«
»Horch doch in dich hinein! Du kennst meinen ebenso!«
»Nein, ich habe dich nie zuvor getroffen!« Er stockt, als er begreift, dass seine Worte nicht der Wahrheit entsprechen. Er kennt sein Gegenüber sogar sehr gut. Es gibt nur eine Erklärung. Nur eine Lösung dieses Rätsels, die alles erklärt. »Du bist ... Mikru?«
Die Augen sind auf einmal wie Feuer, und aus der Nase rinnt eine gelbe Flüssigkeit. Das Blut eines Laren.
»Selbstverständlich«, antwortet das Wesen. »Und deshalb muss ich dich töten.« Blutstropfen quellen über die Lippen und das Kinn. »Ehe ich selbst sterbe.«
1.
Im Kalten Raum
»Perry!«
Die Stimme verwehte, irgendwo in weiter Ferne, und sie war voller Schmerzen.
»Du musst ...«
Mehr hörte Perry Rhodan nicht. Er tauchte aus einer dunklen Tiefe auf. Er fror, und es gelang ihm nicht, die Augen zu öffnen. Die Kälte quälte nicht nur den Körper, sondern drang bis in die Seele vor.
War die Stimme nur ein Teil dieser Qual gewesen? Er konnte sie niemandem zuordnen. Ein Schauer rann durch seine Gedanken. Er war ohnmächtig geworden, nachdem ...
Ja, nachdem ... was?
Er erinnerte sich nicht mehr. Oder doch? Langsam schälte sich die Erkenntnis aus dem Dunkeln. Schwärze war über ihn gekommen, nachdem eine mentale Stimme – eine andere als die, die er gerade gehört hatte – Ramoz' Namen genannt und ihm gegenüber Bereitschaft erklärt hatte. Was immer das bedeuten mochte.
Wie lange war das her? Sekunden? Minuten? Rhodans Zeitgefühl versagte. Er setzte all seine Willenskraft ein, und seine Augenlider hoben sich flatternd, wie gegen Widerstand von außen.
Er lag mit dem Gesicht auf einem kalten, harten Grund. Sein Atem strich darüber, eine deutlich sichtbare Wolke in der Kälte, die eine winzige Schicht Reif auf dem bronzefarbenen Boden hinterließ.
Die Schulter, mit der er auflag, schmerzte. Er rollte sich zur Seite, stemmte sich mühsam in die Höhe, wenigstens in eine sitzende Position.
Er blickte sich um, und was er sah, gefiel ihm gar nicht. Es hatte sie hart erwischt – offenbar alle. Niemand in MIKRU-JONS Zentrale hatte das Eindringen in das mysteriöse Versteck mitten im freien Weltraum in der Nähe der grünen Sonne unbeschadet überstanden.
In der Zentrale des Obeliskenraumers herrschte Stille. Der Raum durchmaß zehn Meter bei etwa fünf Metern Höhe. Der einzige dauerhafte Zugang bestand in der Öffnung des Antigravschachtes, der in die Tiefe führte. Die sonst ständig sichtbare langsame Bewegung des bronzefarbenen Materials von Wänden und Boden war wie erstarrt; alles wirkte weniger organisch als sonst. Als sei das Schiff erfroren.
Mondra Diamond lag zusammengekrümmt neben dem Báalol Rynol Cog-Láar, dessen Arme ausgestreckt waren, als würde er noch in diesem Zustand versuchen, sein geliebtes Musikinstrument zu erreichen, das eine Handspanne von seinen Fingerspitzen entfernt auf dem Boden zu sehen war.
Weder Mondra noch der Báalol rührten sich. Sie waren ohnmächtig. Hoffentlich nur das.
Gucky stand auf beiden Füßen, aber der Körper des kleinen Mausbibers zitterte, und der Kopf hing schlaff auf die Brust. Der Mausbiber presste den platten Biberschwanz dicht an den Körper. Der Anblick erinnerte Rhodan daran, wie ein Terraner die Arme um sich selbst schlang, um sich zu wärmen.
Langsam hob Gucky eine Hand, deutete an Rhodan vorbei. »Perry? Wo ... wo sind wir hier?« Sein Atem ging schwer. »Was bei allen Universen ist das?«
Der Blick des Terraners folgte der ausgestreckten Hand des Mausbibers.
Ein Holo in der Zentrale zeigte die Umgebung des Schiffs – das, was sich nur wenige Meter entfernt jenseits der Außenhülle des Obeliskenraumers befand: das Innere jenes seltsamen Phänomens im Raum, in das sie sich mit MIKRU-JON »eingefädelt« hatten. Das Versteck mitten im freien Weltraum. Das Innere jenes Gebildes, das wohl ein eigenständiges Miniaturuniversum bildete, in das sie nur mit großer Mühe hatten eindringen können.
Von außen hatte es die Gestalt eines Knäuels aus hauchdünnen, nur von Quistus erkennbaren hyperphysikalischen Linien gezeigt; ein gigantisches Etwas von 85 Millionen Kilometern Durchmesser. Im Verbund mit MIKRU-JON hatte auch Rhodan als Pilot des Schiffes die verworrenen Linien wahrnehmen können, während er eingeflogen war – ein Höllenritt durch Verwerfungen im Raum-Zeit-Gefüge, durch Strukturerschütterungen und Instabilitäten.
Im Inneren sah dieses Gebilde nicht länger aus wie ein Stück des Weltraums, eher als würden sie in einer bläulich schimmernden Masse treiben, einer Art zähflüssigem Nebel von gigantischem Umfang.
Ein zweites Holo flackerte neben dieser optischen Darstellung ihrer Umgebung und löste sich auf. Es hatte die Schleuse ins Innere jenes Schiffes in diesem Nebel gezeigt, an das MIKRU-JON kurz vor Rhodans plötzlicher Ohnmacht angedockt hatte; eine von vielen Einheiten, die inmitten des Verstecks trieben, wie hinter einer dichten Wolke aus Kristallstaub verborgen.
Vor dem aktiven Umgebungsholo stand der Stardust-Terraner Nemo Partijan. Rhodan revidierte seine erste Einschätzung – offenbar hatte es nicht alle so schwer erwischt wie ihn. Der Wissenschaftler sah kaum mitgenommen aus. Er betrachtete das dreidimensionale Abbild, schüttelte hin und wieder den Kopf und murmelte unablässig so leise etwas vor sich hin, dass Rhodan kein Wort verstehen konnte.
Partijans schlanker Körper hob sich wie ein Scherenschnitt vor dem glitzernden Etwas ihrer kosmischen Umgebung ab. Er streckte die Hände aus, fast als wolle er sie in die Wiedergabe tauchen, um sie zu erspüren. »Alles ... schaut euch das an, alles ist voller Hyperkristalle!«
Diese Feststellung hatte Partijan vor Rhodans Ohnmacht schon einmal getroffen, schien es aber noch immer nicht glauben zu können. Kein Wunder – es war unglaublich.
»Es ist das Paradies für dich, was?«, fragte Gucky bemüht lässig. Rhodan hörte ihm genau an, dass er sich dazu zwingen musste, einen seiner üblichen Scherze zu reißen. Die ganze Körperhaltung des Kleinen sprach Bände – er rang um neue Kraft, und es schien ihm zu gelingen.
Auch Rhodan fühlte, wie die Schwäche von ihm abfiel. Während er zu Mondra ging und seitlich am Hals nach ihrem Puls tastete, ergänzte der Mausbiber: »Mir ist es entschieden zu kalt!«
Es klang fast kleinlaut.
»Kalt?«, fragte Partijan beiläufig. »Ist mir gar nicht aufgefallen.« Er fuhr sich über die Stirn, als wolle er Schweißtropfen wegwischen.
Erleichtert fühlte Rhodan, dass Mondras Herzschlag regelmäßig ging. Ihr Atem strich über sein Handgelenk.
»Es ist dir nicht aufgefallen?«, wiederholte Gucky die Worte des Wissenschaftlers. »Perry, lebt der in einer anderen Welt als wir? In der Dimension der Simsalabim-Topologen?«
»Quintadim«, verbesserte Partijan beiläufig, etwa in dem Tonfall, wie man einem kleinen Kind erklären mochte, dass zwei und zwei nicht fünf ist.
»Weiß ich doch«, stellte der Mausbiber klar.
»Warum sagst du es dann falsch?« Nemo Partijan, der sein Leben der Erforschung von Hyperkristallen verschrieben hatte, schüttelte den Kopf. »Aber haben wir wirklich nichts Besseres zu tun?«
Doch, hatten sie, und das wussten sie alle, auch Gucky, der zweifellos nur auf seine ganz eigene Art die Unsicherheit angesichts dieser seltsamen Umgebung zu überspielen versuchte. Doch für derlei Feinheiten schien Nemo Partijan keinen Sinn zu haben. Nicht in seinem Paradies, das ihn völlig gefangen nahm. Diese Einschätzung fand Rhodan durchaus treffend.
Partijan war Wissenschaftler durch und durch und fand sich nun plötzlich an einem Ort wie diesem wieder: in einem fast perfekt entrückten Versteck im All, nahe einer grünen Sonne, dessen eigentliche Natur sich nicht ergründen ließ und der bis in den letzten Winkel mit Hyperkristallstaub und -splittern gefüllt zu sein schien.
An mögliche Gefahren dachte ein Mann wie er in einem solchen Moment selbstverständlich nicht. Warum ausgerechnet er den Übergang so gut überstanden hatte, blieb darüber hinaus ein Rätsel. Worum handelte es sich bei diesem Versteck? Um eine Art Hyperraumfalte? Oder um ein eigenständiges, den Blicken verborgenes Miniaturuniversum, wie Ennerhahl behauptet hatte, der mit seiner Lichtzelle zurückgeblieben war?
MIKRU-JON hatte nur dank ihrer speziellen Technologie in dieses Versteck vorstoßen können. Auch die paranormalen Navigationsfähigkeiten des Iothonen Quistus, der reglos in seiner Umweltkapsel lag, hatten dabei eine Rolle gespielt.
Das Versteck stand offenbar in einer geheimnisvollen Verbindung zu Ramoz. Dieses Wesen, das sie seit einiger Zeit begleitete, war bis vor Kurzem in einer Tiergestalt gefangen gewesen, inzwischen aber in sein eigentliches Aussehen zurückverwandelt worden. Er sah nun aus wie ein Humanoide und hatte damit angeblich seine ursprüngliche Gestalt wieder angenommen. Alles, was damit zu tun hatte, blieb bislang ein ungeklärtes Rätsel.
Rhodan selbst hatte MIKRU-JON als Pilot in diese mysteriöse Verwerfung geführt, indem er sich in die Strukturen eingefädelt hatte, die ein riesiges Gebiet im All umfassten. Sie ähnelten verborgenen energetischen Linien, wie ein Knäuel aus hauchdünnen, ineinander verwobenen Fäden; ein Geflecht aus hyperphysikalischen Phänomenen, wie weder Rhodan noch MIKRU-JON sie je zuvor beobachtet hatten.
Eine mentale Stimme hatte sich direkt nach ihrer Ankunft im Inneren des Verstecks zu Wort gemeldet. Rhodan hatte antworten wollen, war jedoch barsch zurückgewiesen worden. Stattdessen hatte der Fremde Ramoz mit Namen begrüßt, ehe er erklärte, dass sie zu dessen Verfügung stünden – was immer damit gemeint sein mochte.
Seitdem schwieg die Stimme, und Ramoz saß in sich zusammengekauert auf dem Metallboden der Zentrale, die Hände vors Gesicht geschlagen. Nur der bizarre Metallstab, der ihm als Dorn aus dem rechten Auge ragte, stach zwischen den Fingern hervor.
Rhodan versuchte Ramoz anzusprechen, erntete aber keine Reaktion.
Stattdessen wurde Ramoz' Gemurmel lauter. »Es ist meine Flotte«, murmelte er, wieder und wieder. »Meine Flotte!«
Damit konnte er nur die vielen Schiffe meinen, die sie in dem bläulich schillernden Nebel umrissartig erkannt hatten, ehe sie an eines davon andockten und die mentale Stimme ertönt war.
Ob Ramoz selbst von der Entwicklung der Dinge überrascht worden war oder nur perfekt schauspielerte, konnte Rhodan nicht beurteilen. Die hyperphysikalischen Emissionen seines Augendorns hatten ihnen den Weg zu der grünen Sonne gewiesen. Was nun geschah, verstärkte nicht gerade sein Vertrauen zu Ramoz.
Was wusste der geheimnisvolle Fremde? Welches Schicksal verband ihn mit diesem Versteck?
Und wie sollte es nun weitergehen? MIKRU-JON hatte an einem der unbekannten Schiffe angedockt, woraufhin eine gedankliche Stimme Kontakt zu ihnen aufgenommen hatte. Rhodan und die meisten anderen sanken in eine Ohnmacht, erwachten und ... nichts geschah?
Der Terraner spürte die belebenden Impulse seines Zellaktivators, die die Schwäche mehr und mehr vertrieben. Nur gegen die schneidende Kälte vermochten auch sie nicht vorzugehen.
Je mehr sich seine Gedanken klärten, umso mehr reifte der Entschluss, endlich aktiv zu werden. In diesem Fall hieß das nichts anderes, als in das fremde Schiff einzudringen.
*
Mondra stöhnte plötzlich, ihr Gesicht verzog sich. Die Hände tasteten nach den Schläfen, und der ganze Körper spannte sich an. Sie riss die Augen auf.
Rhodan beugte sich über sie. »Bleib ruhig«, raunte er ihr zu. »Es gibt keine direkte Gefahr.«
Sie nickte matt.
»Kopfgroß!«, rief Nemo Partijan unvermittelt. »Ramol-4! Das ist ...« Er brach mitten im Satz ab, schlug sich mit einer Geste, die bei jedem anderen eher wie eine Karikatur gewirkt hätte, gegen die Stirn und ging geradewegs durch das frei im Raum schwebende Holo.
Lichter tanzten über das Gesicht des Wissenschaftlers, während er die Hände senkte und sich über das Kreuz rieb. »Verflixte Schmerzen! Ich ... ich muss es mir genauer ansehen!«, sagte er dabei, wohl mehr an sich selbst als an einen der anderen gerichtet.
Mit diesen Worten verließ er die Zentrale, indem er sich scheinbar achtlos in den Antigravschacht fallen ließ.
Rhodan ließ ihn gewähren; wahrscheinlich wusste Partijan, was er tat, und Rhodan war ohnehin nicht in der Stimmung, sich eine hyperphysikalische Abhandlung anzuhören. Nemo Partijans Gedanken gingen bisweilen ihre eigenen Wege.
Wichtiger war momentan ohnehin Ramoz. Der Atem, der zwischen dessen Fingern hindurchströmte, kondensierte in der Eiseskälte zu kleinen Wolken.
Perry Rhodan konnte es kaum länger ertragen. Die Kälte schien ihm in die Knochen zu kriechen und sie von innen zu sprengen. Die Gesichtshaut schmerzte, als würde sie von tausend winzigen Schnitten malträtiert.
Nun erst fiel ihm auf, was dies alles unwirklich machte. Wieso schützte ihn der SERUN angesichts der rapide fallenden Temperaturen nicht automatisch? Er versuchte, mit einem Sprachbefehl den Helm zu schließen, doch der Schutz- und Kampfanzug reagierte nicht. Nicht einmal vom Anzug der Universen kam irgendeine Reaktion.
Der Terraner wollte die Finger bewegen, doch es fiel ihm schwer; sie waren steif vor Kälte. Nur mühsam krümmte er sie, ballte die Hände zu Fäusten, streckte sie wieder. Parallel bewegte er die Arme und trat auf der Stelle.
Aus dem Augenwinkel sah er den Umwelttank des Iothonen Quistus. Eine Schicht aus glitzerndem Reif überzog die transparente, eiförmig gewölbte Kuppel aus glasartigem Material.
»Mikru!«, rief er.
»Sie ist nach wie vor verschwunden, Perry«, sagte Gucky. »Seit wir in dieses ... was auch immer eingedrungen sind.«
Rhodan versuchte, direkt auf MIKRU-JONS Steuermechanismen zuzugreifen, doch auch dies gelang nicht. Das Schiff blieb tot, als wären sämtliche Systeme ausgefallen.
Kalt und tot, dachte er, und der Gedanke trug nicht gerade zu seiner Beruhigung bei. Wie eine Leiche mitten in diesem lebensfeindlichen kristallinen Dunst, die bereit ist, für immer eingefroren zu werden.
Gucky deutete auf das Umgebungsholo, das inzwischen ein exakteres Bild zeigte. »Schau dir das an!«
In der bläulich schimmernden Nebelmasse zeichneten sich die Umrisse etlicher Raumschiffe ab. Das hatten sie zuvor schon erkannt; deshalb hatten sie an eines der Schiffe angedockt.
Die Orter gaben mittlerweile allerdings weitere Details preis. Es gab Einheiten aller Größen und Formen, sicher Dutzende insgesamt.
Sein Blick wanderte über einen schwarzen Würfel von den Ausmaßen eines Beiboots, das vor einem gigantischen Oval schwebte, das halb von einem Schiff verdeckt wurde, welches an eine Speerspitze erinnerte, deren Ende im Rand des Holos verschwand.
Rhodan stutzte, als er dort, genau über der Darstellung des spitzen Raumers, die kleine Messzahl bemerkte. Dutzende Schiffe? Mit dieser Einschätzung hatte er sich gewaltig getäuscht.
Es gab Tausende in diesem Versteck!