Einleitung
Eine erhebende Aussicht. Man schwebt im Wasser und schaut dabei über ganz Freiburg. Nichts versperrt dem Schwimmer die Sicht, und die riesigen Panoramafenster können selbst im Winter nicht beschlagen, sie werden beheizt. Die gewöhnlichen Menschen wohnen viel weiter unten; man kann sie kaum noch erkennen von hier oben, aus dem großen Pool mit Gegenstromanlage und Unterwasserstrahlern.
Allein für den Bau ihres Poolhauses haben die Eigentümer, meist von einem Konto in Andorra aus, rund 700000 Euro überwiesen. Die luxuriöse Schwimmhalle ist Teil eines Anwesens mit 450 Quadratmetern Wohnfläche auf fünf Ebenen, das 2005 samt riesigem Grundstück gekauft und dann für insgesamt rund 4 Millionen Euro komplett umgebaut wurde. Die Handwerker und die Architekten wurden über das Konto in Andorra bezahlt, die Bauherren wohnten, wenn sie aus Südfrankreich zu Besuch kamen, am Rand der Freiburger Altstadt im Hotel Colombi, dem wahrscheinlich besten Haus am Platz.
Im Herbst 2010 erfuhr die Öffentlichkeit, wer das Anwesen gekauft hatte: der Künstler Wolfgang Fischer, ein Maler. Mit der eigenen Kunst war er allerdings mäßig erfolgreich. Sein Geld kam aus anderer Quelle: Mindestens über drei Jahrzehnte hatte er Bilder gefälscht und sie mit einigen Komplizen in Umlauf gebracht – der größte Kunstfälschungsfall Europas nach dem Krieg. Geholfen hatte ihm bei der Betrugsserie sein alter Krefelder Bekannter Otto Schulte-Kellinghaus, und später kam auch Helene Beltracchi hinzu, die er heiratete und deren Namen er nach der Heirat übernahm. Ihre Schwester Jeanette S. war ebenfalls an dem Betrug beteiligt, juristisch aber kein Mitglied der später so genannten »Beltracchi-Bande«.
Im Herbst 2011 wurden die vier angeklagt. Der Prozess, der damals vor dem Kölner Landgericht begann, entwickelte sich in weiten Teilen zu einer Farce. Journalisten, die aus ganz Deutschland zur Verhandlung anreisten, waren sich nach deren überraschend schnellem Ende einig, dass so etwas nur in Köln mit seiner speziellen Mentalität hatte geschehen können. Dabei waren die Vorbereitungen professionell gewesen: Die Ermittler im auf Kunstdelikte spezialisierten Dezernat 454 des Landeskriminalamtes Berlin hatten hervorragende Arbeit geleistet. Wollte man alle Akten zu diesem Fall ausdrucken, bräuchte man Tausende Seiten von Papier: Eineinhalb Jahre wurde von Kunsthistorikern, Anwälten, Privatdetektiven, Staatsanwälten und Polizisten in einem halben Dutzend Länder ermittelt, es gab Hunderte Zeugenvernehmungen, die Auszüge von mehreren Konten, Dutzende Gutachten von Provenienzforschern und Kunsttechnikern, DNA-Analysen und Abhörprotokolle wurden gesichtet. Jahrzehntelang war es den Fälschern gelungen, eigene Gemälde als Werke von Künstlern wie André Derain und Raoul Dufy, Max Pechstein und Heinrich Campendonk, Fernand Léger und Kees van Dongen, Carlo Mense und Heinrich Nauen, Georges Braque, Émile-Othon Friesz und Max Ernst auszugeben und zu verkaufen.
Wolfgang Beltracchi gelang es auch, sich im Gerichtssaal hervorragend selbst darzustellen. Die Medien nannten ihn nach seinem Auftritt einen »Filou« oder »Eulenspiegel«. Der 60-Jährige wirkte mit seinen langen grauen Locken wie der Narr, der der Kunstwelt den Spiegel vorgehalten und die kriminellen Geschäfte und absurden Preise einer ganzen Branche der Lächerlichkeit preisgegeben hatte.
Tatsächlich steckte hinter seinen und den Taten seiner Helfer etwas ganz anderes: hohe kriminelle Energie, die der dreiköpfigen Bande über Jahre hinweg zu einem Millionenvermögen verhalf – und dem Ehepaar Beltracchi zu Luxusreisen und Luxusautos, zum Luxusanwesen in Freiburg, zu einer zweiten großzügigen Residenz in Südfrankreich (samt eigener Kunstsammlung) und zu Dutzenden von Bankkonten, von denen aus immer wieder hohe Geldbeträge in Investmentfonds auf der ganzen Welt verschoben wurden. Im Kölner Prozess war davon ebenso wenig die Rede wie vom Schaden, den die Beltracchi-Bande bei Händlern und Sammlern, bei Freunden und Verwandten, vor allem aber bei den betroffenen Künstlern selbst angerichtet hatte. Das Werk des gleich mehrfach gefälschten deutschen Expressionisten Heinrich Campendonk etwa dürfte zurzeit kaum noch neue Enthusiasten und Sammler finden. Ein großer Künstler ist fortan mit dem Makel behaftet, dass sein Œuvre durch zahlreiche Fälschungen geschmälert wird. Auch er ist, wie viele andere Maler, ein Opfer der Beltracchi-Bande geworden.
Darum aber sollte es vor Gericht von Anfang an nicht gehen. Aufgabe eines Strafverfahrens ist einzig und allein, konkrete Straftaten zu beweisen und für die konkret Schuldigen eine angemessene Strafe zu finden. Anklage und Gericht glaubten, dieses Ziel nicht ohne einen »Deal« mit den Tätern erreichen zu können. Man war sich nicht sicher, allen drei Hauptangeklagten ihre Taten nachweisen zu können – obwohl das mit den akribischen LKA-Recherchen durchaus einen Versuch wert gewesen wäre –, und sagte für umfassende Geständnisse Strafmilderung zu. Deshalb ging der Prozess gegen die Bande, kaum dass er begonnen hatte, nach nur neun Verhandlungstagen auch schon wieder zu Ende. Dabei hätte hier eigentlich auch eine ganze Branche auf der Anklagebank sitzen sollen: Quer durch den Kontinent waren der Fälscherbande Kunsthändler, Museen, Sammler und Experten auf den Leim gegangen. Einige von ihnen durchaus bereitwillig, denn sie verdienten mit Beltracchis Bildern viel, viel Geld. Andere aus Nachlässigkeit, Unfähigkeit oder Naivität. Der Kölner Prozess hat bestenfalls die Spitze des Eisbergs aus Leichtgläubigkeit, Schludrigkeit und Geldgier des internationalen Kunstmarktes gezeigt: Mehr konnte und wollte er nicht leisten. 170 Zeugen – darunter prominente Kunsthändler wie der berühmte Marc Blondeau, blamierte Experten wie Werner Spies und auch bekannte Sammler wie etwa der Hollywood-Schauspieler Steve Martin – wurden gar nicht erst gehört, viele Tausende Seiten akribischer Ermittlungsarbeit blieben unbeachtet.
Es hätte gute Gründe dafür gegeben, das Verhalten der Branche ebenfalls als Teil des Beltracchi-Skandals zu thematisieren. Nur wer begreift, dass die Strukturen und Usancen des internationalen Kunsthandels diesen Fall, in den die Elite der Auktionshäuser und Galeristen in Köln, Berlin, New York, London, Paris und Genf verwickelt war, erst möglich gemacht haben, kann aus ihm die dringend notwendigen Konsequenzen ziehen. Dafür haben die Ermittlungen des LKA Berlin die Grundlagen gelegt. In Köln allerdings blieb viel davon, ordentlich verstaut in Aktenordnern und Paketen hinter der Richterbank, weitgehend ungenutzt.
In fast zweijähriger Recherche, die schon lange vor dem Kölner Prozess begann, haben wir unveröffentlichte Unterlagen gesichtet, mit Dutzenden Beteiligten gesprochen und mithilfe von Experten wie Ralph Jentsch, Aya Soika und Peter van Beveren eine ganze Reihe weiterer mutmaßlicher Fälschungen gefunden, von denen die Öffentlichkeit noch nicht wusste und die hier zum ersten Mal aufgedeckt wurden. Wir erzählen auf dieser Grundlage die Geschichte eines Skandals, an dem sich exemplarisch aufzeigen lässt, dass der internationale Kunstmarkt zuweilen einem dunklen Morast gleicht. Schon immer hatte es den Verdacht auf schmutzige Geschäfte mit der schönen Kunst gegeben, doch erst der Fälschungsfall der Bande um Beltracchi machte die Praktiken der Branche in vollem Umfang sichtbar und erlaubt so Innenansichten, die die eiserne Diskretion des Kunsthandels vorher verhindert hat.
Die Geschichte, die wir erzählen, handelt von dubiosen Zwischenfinanzierern in Steuerparadiesen wie Hongkong, den British Virgin Islands und Monaco. Von Bildübergaben im Genfer Zollfreihafen und in den Lobbys von Hotels, von sagenhaften Preissteigerungen, von durch Gier geblendeten Kunstkennern, von korrupten Experten und von Käufen und Verkäufen gegen Schwarzgeld auf anonymisierten Konten. Deshalb berichtet dieses Buch nicht nur von einem der spannendsten Kriminalfälle der vergangenen Jahrzehnte. Es ist zugleich eine unzensierte Einführung in die Praktiken des Kunstmarkts – eines Marktes, in dem jährlich Milliarden von Euro umgesetzt werden und in dem die Gewinnmargen so hoch sind wie sonst nur im Drogen- oder Waffenhandel und im Geschäft mit der Prostitution.
Wolfgang Beltracchi steht – auch wenn er nicht alle ihm zugeordneten Bilder selbst gemalt haben sollte – schon heute in einer Reihe mit großen Kunstfälschern wie Otto Wacker, Han van Meegeren, Elmyr de Hory, Konrad Kujau oder Edgar Mrugalla. Die meisten von ihnen haben die Chance nicht ausgelassen, in Memoiren die Nachwelt von ihrer eigenen Sicht der Dinge überzeugen zu wollen. Auch Wolfgang Beltracchi wird diese Gelegenheit sicher nutzen. Seine Geschichte hat Roman-, vielleicht sogar Hollywood-Qualitäten und wurde verschiedenen Verlagen schon kurz nach Prozessende angeboten. Schon im Gerichtssaal stellte sich eine Frau den Journalisten als angebliche Agentin vor und verteilte Visitenkarten mit Beltracchi-Selbstporträt. Wem aber nützen diese Erinnerungsbücher, die sich alle ganz merkwürdig gleichen, wirklich? Immer stilisieren sich ihre Hauptdarsteller als Helden, denen es eigentlich nur darum gegangen sei, die Kaiser des Kunsthandels als in Wirklichkeit nackt vorzuführen. Er habe am liebsten im Garten in Südfrankreich gesessen und sich gefreut, sagte Wolfgang Beltracchi vor Gericht. Und im ersten Interview nach seinem Prozess ergänzte er fünf Monate später im Magazin »Der Spiegel«: »Ruhm hat mich nie interessiert. Ich hätte schon in den 70er-Jahren mehr von meinen eigenen Sachen ausstellen können, aber das wollte ich nicht. Das ist wie bei einem Kind. Wenn es aus der Schule kommt, will es nur eins: wieder raus, was erleben. Ewig lang an einem Bild rummalen? Nein, ich wollte Spaß haben, reisen, Frauen kennenlernen, das Leben leben.« Wer sich die Bilder seiner Villa in Freiburg ansieht und um die Geschichte seiner Fälschungen weiß, kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass sich die wahre Motivation des Fälschers von der des Kunsthandels nicht wirklich unterscheidet: Es ging ums Geld. Uns gegenüber wollte er sich dazu trotz mehrerer Anfragen nicht äußern.
In einem allerdings stimmen unsere Recherchen mit den Geständnissen von Helene und Wolfgang Beltracchi überein: Alles sei so absurd einfach gewesen, sagten beide vor Gericht aus. Darüber hätten sie sich am meisten gewundert. Viele Galeristen und Auktionatoren hätten entweder tatsächlich nichts bemerkt – oder einfach nichts bemerken wollen. Deshalb stellt dieses Buch auch die Frage nach einem neuen Kodex für den Kunstmarkt, auf dem nach Schätzungen mehr als zehn Prozent der Objekte gefälscht sind. Dass der Fall Beltracchi allein langfristige läuternde Folgen hätte, wie nach dem noch frischen Schock des Skandals von vielen Betroffenen vollmundig verkündet wurde, haben wir schon in der ersten Auflage dieses Buches bezweifelt: Keine Branche hat ein so schlechtes Gedächtnis wie der Kunstmarkt. Denn die Gier nach frischer Ware kennt keine Grenzen.
Tatsächlich hat in den anderthalb Jahren, die inzwischen seit dem Ende des Kölner Beltracchi-Prozesses vergangen sind, der groß angekündigte Selbstreinigungsprozess des deutschen wie des internationalen Kunsthandels nicht stattgefunden. Es gab keine einzige Tagung der entsprechenden Verbände, in der Galeristen, Auktionatoren oder Kunstvermittler zu analysieren versucht hätten, wie viel Mitschuld sie selbst am schmutzigen Geschäft mit den bunten Bildern tragen. Stattdessen sind neue Beltracchi-Fälschungen aufgetaucht – eine davon in einem französischen Auktionskatalog für eine Auktion in Dubai, der ganz offen den Namen Beltracchi als den des Einlieferers nennt. Zwar wurde das Bild, dessen Geschichte wir im letzten Kapitel dieses Buches dokumentieren, wenige Tage vor der Auktion doch noch zurückgezogen. Der Fall belegt aber, wie schnell die weltweiten Schlagzeilen, die Wolfgang Beltracchi und seine Taten gemacht haben, schon wieder vergessen waren – selbst innerhalb jener Branche, die so gern ihre Sorgfaltspflichten betont.
Das Ehepaar Beltracchi arbeitet unterdessen als Freigänger im offenen Strafvollzug an einem Film über ihr Leben mit. Angeblich ist auch ein Buch in Arbeit. Und nach Film und Buch? Wolfgang und Helene Beltracchi, die inzwischen Privatinsolvenz angemeldet haben und ihre Häuser verkaufen lassen mussten, werden sich nach über drei Jahrzehnten eine andere Erwerbstätigkeit als die Herstellung und den Vertrieb von gefälschten Kunstwerken suchen müssen. Der Sprung von diesem Metier ins seriöse Kunstfach ist bislang keinem ihrer Vorgänger – weder Otto Wacker noch Han van Meegeren, weder Elmyr de Hory noch Edgar Mrugalla – gelungen. Ihre eigenen Werke wollte kaum jemand für viel Geld kaufen und an die Wohnzimmerwand hängen. Aber vielleicht schafft es Wolfgang Beltracchi, die Kunstwelt ein zweites Mal zu überraschen.
Stefan Koldehoff/Tobias Timm
Köln/Berlin, April 2013
Das Bild explodiert – eine Explosion aus Farben. Auf der Leinwand ein paar Pferde und Fohlen, ihre Leiber sind rot und blau gemustert, sie haben gelbe Mähnen und weiden zwischen roten Häusern und roten Bäumen. Die Weidewiese ist ein wildes, psychedelisches Durcheinander aus verschieden geformten Flächen in grellem Rot, Blau, Gelb und Grün. Rote Bögen durchziehen die Szene, in der unteren rechten Ecke züngelt etwas. Das Gemälde trägt den Titel »Rotes Bild mit Pferden« (siehe Bildteil), stammt aus dem Jahr 1914 und wurde von Heinrich Campendonk gemalt – so steht es im Katalog des Kölner Auktionshauses Lempertz. Als es dort am Abend des 29. November 2006 versteigert wird, ist die Freude groß.
Das Auktionshaus hat das Cover des Katalogs für die Herbstauktion Moderner Kunst mit diesem Werk geschmückt, der Wert wurde auf 800000 bis 1,2 Millionen Euro geschätzt. Doch als der Auktionator das Los mit der Nummer 51 endlich aufruft, explodiert auch der Preis.
Ein Museum, der Londoner Kunsthändler Richard Nagy und ein französischer Galerist bieten in der Auktion mit, es geht um immer höhere Summen, erst bei 2,4 Millionen Euro ist Schluss. Zum Ersten. Zum Zweiten. Und: zum Dritten. Los Nummer 51 wird dem in Paris lebenden Vermittler Vladimir Kanevsky zugeschlagen. Das »Rote Bild mit Pferden« ist das teuerste Kunstwerk, das in diesem Boomjahr des Kunstmarkts in Deutschland versteigert wird. Es erzielt den höchsten Preis, der jemals weltweit für ein Campendonk-Gemälde gezahlt wurde. Der Käufer muss noch den Aufpreis an das Auktionshaus entrichten, das Gemälde wird ihn also insgesamt 2880000 Euro kosten. »So etwas Gutes haben wir noch nie erlebt«, wird Henrik Hanstein, der Inhaber von Lempertz, später zitiert. Er hat in diesem Jahr nicht nur einen Rekordumsatz von über 50 Millionen Euro gemacht, sein Haus kann an diesem Abend allein für den Campendonk über 800000 Euro Kommission in Rechnung stellen.
Der Preisrekord kam nicht ganz unerwartet, die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte das »Rote Bild mit Pferden« in ihrem Vorbericht als Höhepunkt der Auktion beschrieben, es sei zwar früher »mehrmals ausgestellt« worden, dann aber in Vergessenheit geraten, nachdem der Kunsthändler Alfred Flechtheim es 1930 verkauft habe. Eine französische Familie habe das Gemälde nun zur Moderne-Auktion bei Lempertz in Köln eingeliefert – nicht einmal die Verfasserin des Werkverzeichnisses habe das Bild gekannt. Eine Sensation also. Der Kunstmarkt giert schließlich nach Werken, die interessante Vorbesitzer haben und trotzdem »marktfrisch« sind, also lange nicht gehandelt wurden. Auch die Süddeutsche Zeitung hat in ihrem Vorbericht die berühmte Galerie Flechtheim als Vorbesitzer genannt und das Bild als »traumhaft-vitale naturmystische Szenerie« beschrieben. Das Gemälde sei, so beschied die Zeitung, zu den Hauptwerken des Künstlers zu zählen. In einem Bericht, der nach der Bekanntgabe des Rekordpreises erscheint, wird sie das bunte Bild dann sogar als »Schlüsselwerk der Moderne« bezeichnen.
Wenige Tage nach der Kölner Auktion klingelt in der Galerie Artvera’s in der Genfer Altstadt das Telefon. Ein Kunde der Galerie ist am Telefon, ein Sammler, der seinen Namen nicht in Büchern oder Zeitungen lesen will, dem aber unter anderem auch die Investmentfirma Trasteco Ltd. mit Sitz in Malta gehört. Stolz berichtet der Mann, dass er über einen Mittelsmann ein Gemälde von Campendonk im Auktionshaus Lempertz ersteigert hat. Der Mittelsmann stöbert normalerweise hauptsächlich in Frankreich in Galerien und Auktionshäusern nach lohnenswerten Investitionen für seine Auftraggeber. Diesmal hat er in Köln für den Sammler mit der Investmentfirma zugeschlagen. Nun bittet dieser die Galerie um Hilfe bei der Abwicklung des Geschäfts.
Die Galerie Artvera’s in der Genfer Rue Etienne Dumont ist in einem mehrere Hundert Jahre alten Gebäude mit niedrigen Decken und alten Steinwänden untergebracht. Das Licht ist vornehm schummrig, dafür leuchten die expressionistischen Gemälde an den Wänden umso heller im Licht der Punktstrahler. Der Besucher darf auf mit schwarzem Samt bezogenen Bänken Platz nehmen; auch alles andere, die Tische, Sessel und die Kleidung der Mitarbeiter, sind in Schwarz gehalten. Auf den gut 500 Quadratmetern Ausstellungsfläche organisiert die Galerie lang dauernde Ausstellungen, zu denen jeweils auch ein Katalog erscheint. Artvera’s hat nur einen kleinen Kreis von Kunden, doch für sie wird ein umfassender Service geboten. Galeriedirektorin Sofia Komarova und ihre Mitarbeiter organisieren An- und Verkäufe, betreuen Sammlungen, recherchieren Provenienzen, vermitteln Restauratoren und kümmern sich auch um den Transport und die Lagerung der Kunst. »Wir sind ein Rundum-Sorglos-Dienstleister für unsere Kunden«, sagt Komarova im Gespräch. Kunden, denen Diskretion so wichtig ist wie dem Inhaber der Trasteco Ltd. in Malta. Genf ist – wie die gesamte Schweiz – ein attraktiver Ort auch für nicht Schweizer Kunstsammler, hier haben viele von ihnen Geld angelegt, hier können sie aber auch die erworbene Kunst – steuerlich äußerst günstig – in Zollfreilagern und Freihäfen deponieren.
Der Kunstmarkt ist ein schwer zu durchschauendes Geschäft. Wer einen Manet, Modigliani oder Marc kaufen will, vollzieht dieses Geschäft in der Regel unter größter Diskretion. Meist soll niemand wissen, wer welches Kunstwerk von welchem Künstler für welchen Preis gekauft hat. Viele Sammler sind einfach bescheiden. Die meisten wollen sich zudem nicht von anderen Kunstliebhabern in die Karten schauen lassen, mit denen sie um die besten Werke konkurrieren. Andere haben Angst vor Kunstdieben, wieder andere Angst vor der Steuerfahndung. Und so tauchen die Sammler aus vielerlei Gründen meist nicht selbst bei den Auktionen auf, sondern bieten über das Telefon oder schalten Vermittler wie Vladimir Kanevsky oder die Galerie Artvera’s ein. Die Bezahlung der Millionensummen wird gern über Zwischenfinanzierer auf der ganzen Welt organisiert, über Firmen in Hongkong und den USA, auf karibischen Inseln oder in Irland.
Die Kunst landet dann oft für kurz oder lang in Zollfreilagern und Freihäfen, in Tresoren in Singapur zum Beispiel oder eben in der Schweiz. Wenn bei ihm ein Sammler aus Chicago ein Rothko-Gemälde kaufe, erklärt etwa ein Galerist von der Upper East Side in New York, dann müsse sich das Bild gar nicht in den USA befunden haben: »Die meisten von uns haben riesige klimatisierte Depots mit eigenen eleganten Showrooms in einem der großen Zollfreilager der Schweiz, in Basel-Dreispitz, Zürich-Embraport, Genf-Cointrin und Chiasso. Für Messen wie jene in Maastricht oder die immer im Juni stattfindende Art Basel werden die teuersten Meisterwerke dann für wenige Tage aus den Depots geholt und angeboten. Finden sie einen Käufer, lässt dieser die Bilder häufig aber sofort wieder einlagern – als Wertanlage, von der der Fiskus lange Zeit nichts erfahren muss.«
Wer befürchte, seine Schweizer Bank könne in Zeiten strengerer Kontrollen demnächst den Inhalt seines Schweizer Nummernkontos an die US-Finanzbehörden melden – so bestätigt auch eine Galeristin aus Los Angeles –, tue gut daran, das Geld möglichst schnell abzuheben: »Man bezahlt damit dann einen Bacon oder einen de Kooning oder einen Degas, weiß, dass das Geld gut und sicher angelegt ist, und lässt das Bild weiterhin in der Schweiz oder importiert es in die USA. Ich habe schon mehr als eine Rechnung gesehen, aus der hervorgeht, dass ein Kunstwerk angeblich schon vor vielen Jahren und für eine deutlich niedrigere Summe erworben worden sei als für den Kaufpreis, der dem heutigen Wert entspricht.«
Vielen Auktionshäusern und Kunsthändlern ist die Geheimnistuerei um die Zollfreilager und die Zwischenfinanzierer in den Steueroasen nur recht, denn auch sie profitieren von der Diskretion. Wer dem einen Großeinkäufer Prozente gewährt, will nicht, dass der andere Sammler davon weiß. Wer ein Objekt mit einer gewaltigen Gewinnmarge weitervermittelt, will dieses Wissen mit niemandem teilen. Und wer mit einem besonders kauflustigen Sammler Geschäfte macht und daran viel Geld verdient, will diesen Goldesel nicht mit anderen Händlern teilen. Nicht selten binden sich Sammler an einzelne Galerien ihres Vertrauens, die für sie auch bei anderen Kunsthändlern oder in Auktionshäusern einkaufen.
Die Galerie Artvera’s lässt nach der Versteigerung des »Roten Bildes mit Pferden« jedenfalls 2856000 Euro auf ein belgisches Konto des Auktionshauses Lempertz überweisen. Nach Aufforderung des Lempertz-Inhabers Henrik Hanstein fließen auch die restlichen 24000 Euro – der Betrag für die Folgerechtsumlage (eine gesetzlich begründete Urheberabgabe) – auf ein anderes Konto in Belgien. Hanstein überweist seinerseits am 19. Dezember 2038080 Euro auf das Konto, das die Einlieferin des Gemäldes ihm angegeben hat. Es ist ein Konto in dem Zwergstaat Andorra, einem Land, das als Paradies für Menschen gilt, die ihr Geld sicher anlegen wollen. Gesichert vor Polizei und Steuerfahndern zumindest. Noch nie haben bis dahin, so wird es später heißen, deutsche Ermittler die Erlaubnis bekommen, in Andorra Durchsuchungen durchzuführen.
Das Geschäft scheint damit abgeschlossen zu sein, doch gibt es ein Problem. Als die Mitarbeiter der Genfer Galerie den Auktionskatalog von Lempertz lesen und für den Käufer eine Dokumentation zu dem Weltrekord-Campendonk zusammentragen wollen, wundern sie sich, dass es keinerlei schriftliche Expertise gibt. Ohne ein solches Echtheitszertifikat lässt sich ein teures Kunstwerk normalerweise gar nicht verkaufen. Das Bild eines berühmten Malers ist ohne das Gutachten eines ausgewiesenen Experten wertloser als ein Auto ohne TÜV.
Die Expertin für das Werk von Heinrich Campendonk, das weiß auch Sofia Komarova, heißt Andrea Firmenich. Als Thema ihrer Dissertation hatte sich die Kunsthistorikerin mit dem 1889 in Krefeld geborenen Künstler beschäftigt. Campendonk, Sohn eines Kaufmanns, hatte die Kunstgewerbeschule in Krefeld besucht und bei dem Glasmaler Jan Thorn Prikker gelernt. Um das Jahr 1910 traf er Franz Marc und Wassily Kandinsky, siedelte nach Bayern über und wurde 1911 Mitglied der Künstlergruppe »Der Blaue Reiter«. Später unterrichtete Campendonk als Professor in Essen und schließlich an der Düsseldorfer Kunstakademie – als führender Vertreter des sogenannten »Rheinischen Expressionismus«. 1934 emigrierte Campendonk nach Belgien und ging dann ins Exil nach Amsterdam. In Deutschland wurden 1937 einige seiner Bilder in die Ausstellung »Entartete Kunst« gehängt.
Für ihr 1989 im Rahmen ihrer Promotion erschienenes Werkverzeichnis recherchierte die junge Kunsthistorikerin Firmenich seit 1985 alle Gemälde, die Campendonk bis zu seinem Tod 1957 in Amsterdam gemalt hatte. Jedes Bild, das sie nach Absprache mit dem Künstlersohn Herbert Campendonk in den Catalogue raisonné aufnahm, wurde von ihr im Original oder – war das nicht möglich – anhand von Dokumenten überprüft.
In Firmenichs Werkkatalog zu Campendonk findet Komarova zwar einen Verweis auf ein Gemälde mit dem Titel des gekauften Bildes, doch fehlen jegliche weiteren Angaben, und es gibt auch keine Abbildung des »Roten Bildes mit Pferden«. Diesen – wie etliche andere – Titel hatte die Autorin einer handschriftlichen Bilderliste des Künstlers aus dem Nachlass und aus Angaben alter Kataloge entnommen; jedoch hatte sie das entsprechende Bild bei den Forschungen für das Werkverzeichnis nicht im Original auffinden können. Rückblickend, wird Andrea Firmenich später sagen, habe sie mit der wissenschaftlich begründeten Veröffentlichung der Bilderliste in ihrem Werkverzeichnis den Fälschern unwissentlich in die Hände gespielt, indem sie ihnen damit mögliche Bildtitel für angeblich wiederentdeckte Werke nannte.
Der Galerie Artvera’s wird kurz vor Weihnachten 2006 vom Auktionshaus Lempertz mitgeteilt, Andrea Firmenich habe das Bild bereits gesehen. Nach den Weihnachtsferien werde die gewünschte Expertise erstellt, den Kaufpreis in Millionenhöhe konnte man also beruhigt überweisen.
Andrea Firmenich erinnert sich an andere Abläufe: Im November 2006 habe Herbert Campendonk, der Sohn des Künstlers, sie angerufen und erzählt, dass ein bislang unbekanntes Campendonk-Werk bei Lempertz eingeliefert worden sei. Erst vier Wochen nach der Auktion sei sie dann von Lempertz-Chef Henrik Hanstein aufgefordert worden, das Bild in seinem Büro intensiv in Augenschein zu nehmen. Dieser Bitte sei sie am 22. Dezember 2006 bei einem gemeinsamen Termin mit Hanstein gefolgt. Für das Erstellen einer stilkritischen Analyse habe sie aber nach intensiver Betrachtung des Bildes zunächst die Erfüllung zweier Voraussetzungen gefordert:
die Angaben einer lückenlosen Provenienz,
eine naturwissenschaftliche Untersuchung des Bildes im Doerner-Institut in München.
Weil Hanstein angegeben habe, er könne aus verschiedenen Gründen beide Bedingungen nicht erfüllen, so Firmenich, habe sie das Verfassen einer stilkritischen Analyse zu diesem Gemälde abgelehnt. Hanstein habe ihr gesagt, beim Einlieferer handle es sich um die Erben einer gut nachgewiesenen Sammlung aus dem Rheinland, die aber keine Kontaktaufnahme wünschten. Deshalb sei er zur Diskretion verpflichtet. Er sei aber bereit, schriftliche Fragen an die Vorbesitzer weiterzuleiten. Am 13. Februar 2007 verfasste Andrea Firmenich ein entsprechendes Schreiben. Ob es weitergeleitet wurde, weiß die Kunsthistorikerin nicht: Sie erhielt jedenfalls keine Antwort.
Das teure Bild mit den bunten Pferden bleibt also erst einmal bei Lempertz in Köln, reist zunächst nicht in die Schweiz zum neuen Besitzer. Sofia Komarova und die Inhaberin der Galerie Artvera’s sind zufrieden, alles scheint seinen gewohnten Gang zu gehen. Sie ahnen nicht, wie viel Zeit, Geld und Nerven ihnen dieses Bild in den kommenden Jahren noch rauben wird. Sie ahnen nicht, wie explosiv das bunte Bild wirklich ist: eine Bombe, die schließlich den größten Kunstbetrug der Nachkriegsgeschichte hochgehen lassen wird.
Die erste Überraschung kommt im März 2007 mit der Post nach Genf. Andrea Firmenich wünscht sich, so steht es in einem von Lempertz an die Galerie Artvera’s weitergeleiteten Brief der Expertin, dass der Rekord-Campendonk in einem Labor materialtechnisch auf seine Echtheit untersucht werde, bevor sie ihr stilkritisches Gutachten schreibt. Das Doerner-Institut in München solle die auf dem Bild verwendeten Pigmente daraufhin analysieren, ob es sie 1914 überhaupt schon gegeben habe. Außerdem verlangt Firmenich genauere Angaben zu der Herkunft des Bildes.
Die Galerie in Genf ist verwundert, ja sogar ein wenig schockiert: Man hatte die Zusendung der Expertise nur noch für eine Formalie gehalten, jetzt aber gibt es offenbar plötzlich Zweifel aufseiten der entscheidenden Expertin. Aber man ist einverstanden: Auf Kosten des neuen Besitzers soll das Bild für eine umfangreiche Analyse ins Doerner-Institut nach München geschickt werden.
Das Institut ist Teil der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und wurde 1937 von dem Maler und Professor Max Doerner gegründet. Schon damals betrieb dieser Grundlagenforschung zu Malmaterialien und Maltechniken, heute beschäftigt das Institut eine halbe Hundertschaft an Mitarbeitern. Wöchentlich werden hier Fälschungen entdeckt oder bislang urheberlose Bilder zu Meisterwerken geadelt. Die Arbeit des Instituts ist unter Museumsdirektoren, Händlern und Sammlern derart gefragt, dass es lange Wartezeiten für diejenigen gibt, die ihre Kunstwerke hier materialtechnisch untersuchen lassen wollen.
Und so dauert es über ein Jahr, bis im März 2008 endlich ein Untersuchungsergebnis zu dem »Roten Bild« vorliegt und das Gemälde in das Zollfreilager nach Genf geschickt werden kann. Ein Jahr, in dem der Kunstmarkt weiter boomt, Lempertz viele Hundert Kunstwerke verkauft und der Sammler des Campendonks neue, teure Gemälde erwirbt. Aber das »Rote Bild« mit dem stolzen Rekordpreis ist nicht vergessen.
Der Untersuchungsbericht des Doerner-Instituts wird direkt an Sofia Komarova nach Genf geschickt, auf der ersten Seite stehen der Titel des Gemäldes und der Name des Künstlers – dahinter allerdings das Wort »angeblich«. Das Bild, so heißt es, sei unter ultraviolettem Licht und unter dem Stereomikroskop betrachtet worden. Zusätzlich habe man das gesamte Instrumentarium für maltechnische Untersuchungen aufgefahren: Es seien eine vollständige Röntgenaufnahme und eine Infrarotreflektografie angefertigt worden, man habe fünfzehn Proben der Vorder- und Rückseite des Gemäldes entnommen und so die Pigmente der originalen Malschichten und Grundierungen mithilfe von Lichtmikroskopie und energiedispersiver Röntgenmikroanalyse, Röntgendiffraktometrie/Vertikalgoniometer sowie – um noch einen für Laien die Komplexität dieses Verfahrens illustrierenden Bandwurmbegriff zu nennen – Hochdruckflüssigkeitschromatografie zu bestimmen versucht. Und noch mehr.
Das Ergebnis klingt zunächst beruhigend. Rahmen und Aufkleber seien unter dem UV-Licht unauffällig gewesen, heißt es, auch die Signatur des Künstlers auf der Vorderseite. Der Erhaltungszustand der Malerei sei gut, die Craquelés der Malschichten ließen keine Fälschung vermuten.
Doch dann kommt der Bericht auf die Pigmentanalyse zu sprechen: Mehrere Malschichtproben enthielten Zinkweiß und Titanweiß, Letzteres liege in der Modifikation des Rutils vor. Und dann heißt es recht lapidar, dass dieser Befund im Widerspruch zur angeblichen Entstehungszeit des Gemäldes stehe. Denn Titanweiß/Rutil ist erst seit den Jahren 1937/1938 industriell hergestellt worden. Auf der Rückseite des Gemäldes habe man zudem ein Grünpigment gefunden, das auch erst 1938 in kommerziellem Maßstab produziert wurde. 1914 kann Campendonk mit diesem Weiß und diesem Grün die Pferde also nicht gemalt haben.
Als Schlussfolgerung schreibt die Mitarbeiterin des Doerner-Instituts in ihrem Bericht, dass diese gefundenen Pigmente gegen eine Eigenhändigkeit von Campendonk im Jahr 1914 sprechen würden. Doch blieben Unsicherheiten, da das Gemälde ansonsten einen echt alten Eindruck mache und die Kunstharzschicht des Firnisses eine genaue Untersuchung der Malschichten nicht zulasse. Allerdings sei ein Recycling von Leinwand und Rahmen nach Entfernung einer älteren Darstellung nicht auszuschließen. Ob es sich tatsächlich um eine Fälschung handle, müsse letztlich aber nach einer kunsthistorisch-stilistischen Begutachtung und Erforschung der Provenienz entschieden werden.
In der Galerie Artvera’s ist man nach der Lektüre dieses Berichts ratlos. Man ist offensichtlich einer Fälschung aufgesessen. Doch scheinen sich die Wissenschaftler nicht ganz sicher zu sein, sonst hätten sie nicht auf die Notwendigkeit einer kunsthistorischen Begutachtung verwiesen. Die Galerie schickt den Bericht mit dem Fälschungsverdacht an Andrea Firmenich. Doch die reagiert nicht, weil, so Andrea Firmenich, ihre zweite an das Kunsthaus gestellte Bedingung, die Angabe der Provenienz, nach wie vor von Lempertz nicht erfüllt wird, sodass sie ihre stilkritische Analyse nicht verfassen kann. Jetzt reicht es der Galerie Artvera’s. Fast eineinhalb Jahre sind seit der Auktion vergangen, die Echtheit des Gemäldes ist immer noch nicht bestätigt, sie wird immer fraglicher. Und die entscheidenden Figuren melden sich nicht. Im Mai 2008 schaltet die Galerie den auf Kunst spezialisierten Anwalt Marc-André Renold aus Genf ein.
Man will Klarheit schaffen, und so reist die Inhaberin von Artvera’s zusammen mit Anwalt Renold am 26. Mai 2008 nach Köln zu Lempertz, um mit dem Inhaber des Auktionshauses Lempertz das weitere Vorgehen zu besprechen. Die in Köln wohnende Andrea Firmenich wird nicht, wie nahegelegen hätte, hinzugezogen. Die Käufer sehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Auktionshaus besorgt ein positives Gutachten von Andrea Firmenich, die auf die direkte Anfrage aus Genf nicht reagiert hat. Oder Lempertz muss den Kauf stornieren, das Geld für den Rekord-Campendonk zurückgeben. Denn ohne Expertise und mit der zweifelnden Doerner-Analyse kann niemand mehr das Bild im guten Glauben weiterverkaufen. Und mehr noch: Der neue Besitzer würde zum mutmaßlichen Betrüger, wenn er das mit dem falschen Weiß gemalte Bild in eine Auktion gäbe.
Henrik Hanstein habe kühl reagiert, so erinnert man sich später in Genf an das Treffen in Köln. Hanstein habe auch auf ein Schreiben des Campendonk-Enkels Reiner Bornefeld verwiesen, in dem das Bild für echt erklärt worden sei – unter anderem deshalb, weil die Dynamik des Bildes die Lebensfreude seines damals frisch verheirateten Großvaters ausdrücke. Doch Bornefeld ist kein anerkannter Campendonk-Experte – er ist gelernter Maschinenbau-Ingenieur und war zuvor auch noch nie mit Expertisen an die Öffentlichkeit getreten. Außerdem liegt zu diesem Zeitpunkt bereits der Laborbericht des renommierten Doerner-Instituts in München vor, der an der Echtheit zweifelt, die falschen Weißpigmente benennt, das Bild aber nicht abschreibt.
Doch der nach wie vor anonyme Käufer, der hinter der Firma Trasteco steckt, will nun Klarheit und engagiert die auf Kunstrecht spezialisierte deutsche Anwältin Friederike Gräfin von Brühl. Die erfahrene Juristin hat sich schon seit Längerem mit Fragen zum Expertenwesen und den Sorgfaltspflichten auf dem Kunstmarkt auseinandergesetzt. Gemeinsam beschließt man, das »Rote Bild« noch einmal bei einem weltweit anerkannten Experten für Maltechniken untersuchen zu lassen, bei Nicholas Eastaugh in London. Eastaugh braucht nicht so lange wie das Münchner Labor für sein Testergebnis, sein Bericht ist datiert auf den 25. August 2008 und kommt zu einem klaren Ergebnis.
Das Bild könne nicht von 1914 stammen, lautet sein Urteil. Das verwendete Titaniumweiß spreche dagegen. Als Entstehungszeitpunkt schlägt Eastaugh zwei Möglichkeiten vor: Entweder sei das Bild in den 1940ern oder frühen 1950ern gemalt worden. Oder aber noch viel später, und der Maler habe absichtlich mit alten Farben gemalt – ohne jedoch zu ahnen, dass das von ihm verwendete Zinkweiß auch Spuren von Titanweiß aufwies.
Der Fall ist für Sofia Komarova und die Anwältin jetzt klar: An dem Bild muss mindestens das Entstehungsjahr neben der Signatur gefälscht sein.
Doch just in diesem Moment kommt auch eine Neuigkeit aus Köln. Lempertz schickt endlich jenes Gutachten von Andrea Firmenich, auf das die Galerie seit gut eineinhalb Jahren wartet. Inzwischen hat Helene Beltracchi der Expertin schriftliche wie mündliche Informationen zur angeblichen Herkunft des Bildes gegeben, sodass sie – da endlich ihre seit eineinhalb Jahren gestellte Bedingung der Kenntnis der Provenienz erfüllt ist – ihr Gutachten schreiben konnte. Es ist gleichzeitig mit dem Gutachten in London entstanden und birgt eine weitere Überraschung: Sie hielte das Gemälde, so schreibt Firmenich, noch in Unkenntnis des entlarvenden Laborberichts aus London, stilistisch und ikonografisch für ein Bild von der Hand Heinrich Campendonks. Es ähnele den anderen Werken Campendonks um 1914 – Firmenich beschreibt die Atmosphäre des explosiven Bildes als in hermetische Stille und Ruhe getaucht –, und es habe eine schlüssige, durch schriftliche Dokumente belegte Provenienzgeschichte. Ein Krefelder, später Kölner Sammler – gemeint ist Werner Jägers – habe das Bild in den 1930er-Jahren von Alfred Flechtheim gekauft, die Enkelin habe dies als Vorbesitzerin schriftlich bestätigt und ein Zeitzeuge habe die Existenz des Gemäldes in dieser Sammlung bezeugt. Und das falsche Weiß, das von Doerner festgestellt wurde? Könne dadurch erklärbar sein, so Firmenich, dass Campendonk später bei dem Krefelder Sammler verkehrt haben könnte und dort das Bild womöglich nachgebessert habe. Der Krefelder Sammler, so Firmenich, habe auch noch zwei weitere ihr bekannte Gemälde von Campendonk besessen, dazu eine umfangreiche Sammlung von Expressionisten.
Sofia Komarova traut in Genf ihren Augen nicht, als sie diese Expertise erhält. Sie lässt Rechtsanwältin Brühl nach Absprache mit Lempertz das zweite negative Gutachten aus London mit der Frage an Andrea Firmenich schicken, wie diese die Widersprüche erkläre. Doch diese – selbst verunsichert – antwortet ausweichend: Es bedürfe noch eines weiteren Farbgutachtens.
Am 19. September 2008 erstellt Eastaugh auch dieses Gutachten, in dem er die Argumentation Firmenichs, dass der Künstler das Bild später nachgebessert haben könnte, mit Titanweiß-Spuren in der Grundierung der Leinwand widerlegt. Das Bild sei mit 99,8-prozentiger Wahrscheinlichkeit, so Eastaugh, nicht im Jahr 1914 gemalt worden.
Noch am selben Tag reicht die Anwältin Brühl eine Zivilklage auf Rückzahlung der knapp drei Millionen Euro Kaufpreis ein. Damit beginnt ein bizarrer Rechtsstreit. Das Auktionshaus und die Einlieferer bestreiten zunächst lange, dass es sich bei dem »Roten Bild mit Pferden« um eine Fälschung handelt, und versuchen aufwendig nachzuweisen, dass das falsche Weißpigment mit dem Titanium schon früher von Malern verwendet wurde. Als Beweis legt das Auktionshaus unter anderem ausgerechnet ein Schreiben des privaten »Modigliani-Instituts« vor – einer Einrichtung, deren Gründer Christian Parisot wegen des Ausstellens von Kunstfälschungen in Frankreich bereits verurteilt wurde und dessen Modigliani-Werkverzeichnis in der Fachwelt einen zweifelhaften Ruf hat. Der – inzwischen verstorbene – Künstlersohn Herbert Campendonk, so Hanstein, habe ihm mündlich vor der Auktion die Echtheit des Gemäldes bestätigt. Außerdem, so die Lempertz-Argumentation, beweise der Aufkleber auf der Rückseite des Gemäldes die Herkunft aus der Sammlung des Galeristen Alfred Flechtheim. Der das Porträt Flechtheims zeigende Aufkleber, so der Anwalt des Auktionshauses in einem Schriftsatz an das Landgericht Köln, sei ein Holzschnitt von Max Pechstein.
Im Dezember 2008 wird schließlich die Einlieferin des »Roten Bildes« in den Streit als sogenannte Streithelferin mit einbezogen. Ihr Name lautet, wie Lempertz dadurch preisgeben muss, Jeanette S., die Prozessunterlagen sollen an eine Adresse in Südfrankreich geschickt werden, den Wohnort der Schwester von Jeanette S. Lempertz will sich für den Fall, dass man den Zivilprozess verliert und den Kaufpreis des Bildes zurückzahlen muss, an der Einlieferin schadlos halten. Im Laufe des Prozesses wird ein weiteres Gutachten zum »Roten Bild mit Pferden« vorgelegt. In ihm bescheinigt auch Sabine Roeder, Kustodin am Kunstmuseum Krefeld: »Aus kunsthistorischer Sicht konnte ich keine Hinweise finden, die gegen eine Urheberschaft von Campendonk sprechen könnten.«
Der Rechtsanwalt von Jeanette S. versucht, die Zivilklage mit allen möglichen Mitteln zu torpedieren. Er bestreitet die Existenz der Firma Trasteco in Malta, er bestreitet die Existenz von deren Geschäftsführer und die Echtheit seiner Unterschrift unter der Prozessvollmacht. Irgendwann wird die Einlieferin die Galerie Artvera’s sogar des Betrugs verdächtigen: Man will überprüfen lassen, ob sie überhaupt das richtige Bild vorlegen lässt oder ob sie das Original aus dem Besitz von S. manipuliert habe. Es gehe der Galerie womöglich um Geldwäsche, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Obwohl sich aufgrund von Transport- und Zollpapieren nachweisen lässt, dass das »Rote Bild« das Genfer Zollfreilager nur für die Untersuchungen in London und München verlassen hat, wird von S. und Lempertz ein absurder Besichtigungstermin verlangt, bei dem geklärt werden soll, ob es sich bei dem untersuchten Bild mit dem falschen Weißpigment tatsächlich um das von Jeanette S. bei Lempertz eingelieferte Campendonk-Gemälde handelt.
In einer Kölner Spedition treffen sich am 16. Dezember 2009 die Prozessbeteiligten Jeanette S., ihre Schwester Helene Beltracchi, der Auktionator Hanstein und sein Anwalt, die von der Galerie Artvera’s im Namen der Trasteco bestellten Rechtsanwälte Friederike von Brühl und Tobias Bosch, eine Sachverständige und drei Richter des Landgerichts Köln. Das Bild in der Transportkiste sei identisch mit dem versteigerten Bild, einigen sich die Anwesenden schließlich. Hanstein bemerkt während der Begutachtung laut Gerichtsprotokoll auch, dass er die Handschrift Alfred Flechtheims auf dem Sammlungsaufkleber der Rückseite wiedererkenne.
Viel später, Ende 2010, werden die Kriminaltechniker des Berliner LKA diesen Aufkleber auf der Rückseite des Bildes untersuchen. Sie werden einen Klebstoff finden, der beim Tod Flechtheims noch lange nicht erfunden war. Und sie werden Spuren in dem Papier des Aufklebers nachweisen, die auf eine künstliche Alterung hindeuten, Koffein nämlich. So als habe der Aufkleber mit dem Porträt des Alfred Flechtheim irgendwann einmal einen Kaffee getrunken. Es ist dieses Sammlungsetikett, das zur Enthüllung eines Kunstfälschungsskandals beitragen wird, wie es ihn in Deutschland noch nicht gegeben hat. Und es ist Andrea Firmenich, die dazu trotz ihrer Fehleinschätzung mehrerer angeblicher Gemälde von Heinrich Campendonk den Anstoß gibt – als sie sich bei einem anderen Experten nach dem merkwürdigen Label mit dem Gesicht Alfred Flechtheims erkundigt.
Andrea Firmenich lassen die sich gegenseitig widersprechenden Aussagen – von Herbert Campendonk und Reiner Bornefeld, dem Doerner-Institut, Nicholas Eastaugh und ihr selbst – keine Ruhe. Ohne weiteren Auftrag, aber nach Bitte der neuen Campendonk-Besitzer, ihre Expertise noch einmal zu überdenken, recherchiert sie weiter zur angeblichen Sammlung Werner Jägers, unter anderem in Archiven in Krefeld, Bonn und Köln und bei Kollegen. Am 13. Oktober 2008 wendet sie sich auch an ihren Kollegen Ralph Jentsch. Sie kennt den in Rom, Berlin und New York lebenden Kunsthistoriker nicht nur als Autor des (noch nicht erschienenen) Werkverzeichnisses des Malers und Grafikers George Grosz; sie hat inzwischen herausgefunden, dass er über das Verhältnis zwischen dem Künstler und seinem Händler Alfred Flechtheim erst ein halbes Jahr zuvor ein hervorragend recherchiertes Buch veröffentlicht hat. Darin enthüllt er unter anderem, wie internationale Kunsthändler nach 1933 gemeinsame Sache machten, um sich den in Deutschland zurückgelassenen Kunstbesitz der beiden Exilanten unter den Nagel zu reißen.
Grosz hatte Deutschland am 12. Januar 1933 verlassen und war nach New York ausgewandert, wo er zuvor schon einen Lehrauftrag gehabt hatte. Einen Tag nach der Machtübernahme schlugen Nazitruppen die Tür seines Ateliers in der Nassauischen Straße 4 in Berlin-Wilmersdorf ein und plünderten und zerstörten vieles von dem, was sie vorfanden. »Dass ich da lebend davongekommen wäre«, schrieb Grosz später aus dem amerikanischen Exil, »darf ich wohl bezweifeln.« In einer internen Liste, die der »Sicherheitsdienst des Reichsführer-SS« unter der Überschrift »Erfassung führender Männer der Systemzeit« zusammengestellt und mehrfach aktualisiert hatte, wurde Grosz beschrieben als »einer der übelsten Vertreter der entarteten Kunst, betätigt sich in deutschfeindlichem Sinne. Wurde am 8.3.33 ausgebürgert.« Als er davon und von der Zerstörung eines großen Teils seines Lebenswerks in New York erfuhr, erlitt Grosz nach Erinnerung seiner Frau einen »totalen Zusammenbruch«, bekam Angstzustände und Albträume, wurde depressiv und begann zu trinken. Von rund 70 seiner Gemälde und unzähligen Papierarbeiten fehlt bis heute jede Spur.
Grosz’ Galerist Alfred Flechtheim, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg im konservativen Deutschen Kaiserreich begonnen hatte, die Moderne durchzusetzen, wurde dafür von den Nationalsozialisten angefeindet und als Musterbeispiel des angeblich notorisch geldgierigen Juden diffamiert. Im Mai 1933 floh auch er aus seiner Heimat Deutschland und erreichte über die Schweiz und Paris schließlich London, wo er im März 1937 nach einer Operation im Alter von nur 58 Jahren starb.
Flechtheim gelang es zwar, Teile seiner wertvollen Kunstsammlung ins Ausland zu retten. Viele Bilder und Skulpturen – darunter Hauptwerke von Pablo Picasso und Georges Braque, Vincent van Gogh und Wassily Kandinsky – musste der sammelnde Händler aber zurücklassen. Was sich noch in der Düsseldorfer Galerie befand, wurde durch Flechtheims langjährigen Mitarbeiter und Geschäftsführer, dem SA- und NSDAP-Mitglied Alex Vömel, arisiert und verkauft – zum Teil weit unter Wert, weil es für die von den Nationalsozialisten später als »entartet« verfemten Werke in Deutschland keinen Markt mehr gab. Vieles von dem, was Grosz retten konnte, musste er später verkaufen, um damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Andere Bestände, die bei Flechtheims Witwe Betti in Berlin geblieben waren, beschlagnahmte die Gestapo dort, nachdem Betti sich aus Angst vor einer Deportation im November 1941 das Leben genommen hatte.