Die deutsche Ausgabe von «Stadt aus Glas» erschien 1987 im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, die amerikanische Ausgabe erschien 1985 unter dem Titel «City of Glass» im Verlag Sun & Moon Press, Los Angeles. «Schlagschatten» erschien 1986 unter dem Titel «Ghosts», «Hinter verschlossenen Türen» erschien 1986 unter dem Titel «The Locked Room», ebenfalls im Verlag Sun & Moon Press, Los Angeles.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2012
Copyright © 1989 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Stadt aus Glas» Copyright © 1987 by Hoffmann & Campe, Hamburg
«City of Glass» Copyright © 1985 by Paul Auster
«Ghosts» Copyright © 1986 by Paul Auster
«The Locked Room» Copyright © 1986 by Paul Auster
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ISBN Buchausgabe 978-3-499-25809-1 (1. Auflage 2012)
ISBN E-Book 978-3-644-46041-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-46041-6
dark = dunkel. A.d.Ü.
Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war. Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluss kommen, nichts ist wirklich außer dem Zufall. Aber das war viel später. Am Anfang waren einfach nur das Ereignis und seine Folgen. Ob es anders hätte ausgehen können oder ob mit dem ersten Wort aus dem Mund des Fremden alles vorausbestimmt war, ist nicht das Problem. Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muss die Geschichte nicht sagen.
Mit Quinn brauchen wir uns kaum aufzuhalten. Wer er war, woher er kam und was er tat, ist nicht so wichtig. Wir wissen zum Beispiel, dass er fünfunddreißig war. Wir wissen, dass er einmal verheiratet und Vater gewesen war und dass nun beide tot waren, seine Frau und sein Sohn. Wir wissen auch, dass er Bücher schrieb. Um genau zu sein, Detektivromane. Diese Werke wurden unter dem Namen William Wilson verfasst, und er produzierte ungefähr ein Buch pro Jahr, womit er genug verdiente, um in einer kleinen Wohnung in New York bescheiden leben zu können. Da er für einen Roman nicht mehr als fünf oder sechs Monate brauchte, konnte er den Rest des Jahres tun, was er wollte. Er las viele Bücher, er sah sich Gemälde an, er ging ins Kino. Im Sommer verfolgte er die Baseballspiele im Fernsehen, im Winter besuchte er die Oper. Was er aber am liebsten tat, war Gehen. Beinahe jeden Tag, ob Sonne oder Regen, heiß oder kalt, verließ er seine Wohnung, um durch die Stadt zu gehen – er ging nie wirklich irgendwohin, sondern ging einfach, wohin ihn seine Beine zufällig trugen.
New York war ein unerschöpflicher Raum, ein Labyrinth von endlosen Schritten, und so weit er auch ging, so gut er seine Viertel und Straßen auch kennenlernte, es hinterließ in ihm immer das Gefühl, verloren zu sein. Verloren nicht nur in der Stadt, sondern auch in sich selbst. Jedes Mal, wenn er ging, hatte er ein Gefühl, als ließe er sich selbst zurück, und indem er sich der Bewegung der Straßen überließ, sich auf ein sehendes Auge reduzierte, war er imstande, der Verpflichtung zu denken zu entgehen, und das brachte ihm mehr als irgendetwas sonst ein Maß von Frieden, eine heilsame Leere in seinem Inneren. Die Welt war außerhalb seiner selbst, um ihn herum, vor ihm, und die Schnelligkeit, mit der sie ständig wechselte, machte es ihm unmöglich, bei irgendeiner Einzelheit lange zu verweilen. Die Bewegung war entscheidend, die Tätigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich einfach von seinem eigenen Körper treiben zu lassen. Durch das ziellose Wandern wurden alle Orte gleich, und es war nicht mehr wichtig, wo er sich befand. Auf seinen besten Gängen vermochte er zu fühlen, dass er nirgends war. Und das war letzten Endes alles, was er je verlangte: nirgends zu sein. New York war das Nirgendwo, das er um sich her aufgebaut hatte, und es war ihm bewusst, dass er nicht die Absicht hatte, es jemals wieder zu verlassen.
Früher war Quinn ehrgeiziger gewesen. Als junger Mann hatte er einige Gedichtbände veröffentlicht, er hatte Stücke und kritische Essays geschrieben und an mehreren langen Übersetzungen gearbeitet. Aber ganz plötzlich hatte er all das aufgegeben. Ein Teil von ihm sei gestorben, hatte er zu seinen Freunden gesagt, und er wolle nicht, dass er zurückkomme, um ihn zu quälen. Damals hatte er den Namen William Wilson angenommen. Quinn war nicht mehr der Teil von ihm, der Bücher schreiben konnte, und obwohl Quinn auf mancherlei Art weiterlebte, existierte er für niemanden mehr außer für sich selbst.
Er schrieb weiter, weil er fand, dass es das Einzige war, was er tun konnte. Detektivromane schienen eine vernünftige Lösung zu sein. Es kostete ihn wenig Mühe, die verwickelten Geschichten zu erfinden, die sie erforderten, und er schrieb gut, oft ohne es zu wollen und so, als brauchte er sich nicht anzustrengen. Da er sich nicht als Autor dessen betrachtete, was er schrieb, brauchte er sich auch nicht dafür verantwortlich zu fühlen, und er musste es nicht vor sich selbst verteidigen. William Wilson war schließlich nur eine Erfindung, und obwohl er in Quinn selbst geboren worden war, führte er nun ein unabhängiges Leben. Quinn behandelte ihn mit Achtung, manchmal sogar mit Bewunderung, aber er ging nie so weit, zu glauben, dass er und William Wilson derselbe Mann seien. Aus diesem Grunde trat er auch nicht hinter der Maske seines Pseudonyms hervor. Er hatte einen Agenten, aber sie waren einander nie begegnet. Ihre Kontakte beschränkten sich auf die Post, und Quinn hatte zu diesem Zweck ein Postfach gemietet. Das Gleiche galt für den Verleger, der alle Honorare und Tantiemen durch den Agenten zahlte. In keinem Buch von William Wilson fand man je eine Fotografie des Autors oder einen biographischen Hinweis. William Wilson stand in keinem Autorenhandbuch, er gab keine Interviews, und alle Briefe an ihn wurden von der Sekretärin seines Agenten beantwortet. Soviel Quinn wusste, kannte niemand sein Geheimnis. Anfangs, als seine Freunde erfuhren, dass er das Schreiben aufgegeben hatte, fragten sie ihn oft, wie er zu leben gedenke. Er sagte allen das Gleiche: dass er Treuhandgelder von seiner Frau geerbt habe. Aber Tatsache war, dass seine Frau nie Geld gehabt hatte. Und Tatsache war auch, dass er keine Freunde mehr hatte.
Das war nun vor mehr als fünf Jahren gewesen. Er dachte nicht mehr sehr viel an seinen Sohn, und erst unlängst hatte er das Foto seiner Frau von der Wand genommen. Hin und wieder fühlte er plötzlich, wie es gewesen war, den drei Jahre alten Jungen in den Armen zu halten – aber das war, genau genommen, kein Denken, es war nicht einmal ein Erinnern. Es war eine körperliche Empfindung, ein Abdruck der Vergangenheit, der in seinem Körper zurückgeblieben war, und darauf hatte er keinen Einfluss. Solche Augenblicke kamen jetzt weniger oft, und meist schien es so, als hätte sich alles für ihn zu verändern begonnen. Er wünschte nicht mehr, tot zu sein. Andererseits kann man nicht sagen, dass er froh war zu leben. Aber zumindest war es ihm nicht mehr lästig. Er lebte, und die Hartnäckigkeit dieser Tatsache hatte ihn nach und nach zu faszinieren begonnen – so als wäre es ihm gelungen, sich selbst zu überleben, als führte er irgendwie ein posthumes Leben. Er schlief nicht mehr bei brennender Lampe, und seit vielen Monaten hatte er sich nun an keinen seiner Träume mehr erinnert.
Es war Nacht. Quinn lag im Bett, rauchte eine Zigarette und horchte auf den Regen, der gegen das Fenster schlug. Er fragte sich, wann er aufhören und ob ihm am Morgen nach einem langen oder nach einem kurzen Gang zumute sein werde. Ein aufgeschlagenes Exemplar von Marco Polos Reisen lag mit dem Rücken nach oben neben ihm auf dem Kopfkissen. Seitdem er vor zwei Wochen den letzten Roman William Wilsons beendet hatte, war er faul gewesen. Sein Erzähler, der Privatdetektiv Max Work, hatte eine komplizierte Reihe von Verbrechen aufgeklärt, er war einige Male zusammengeschlagen worden und nur mit knapper Not davongekommen, und Quinn fühlte sich von seinen Anstrengungen ein wenig erschöpft. Im Laufe der Jahre war ihm Work sehr nahegekommen. Während William Wilson für ihn eine abstrakte Figur blieb, war Work mehr und mehr lebendig geworden. In der Dreiheit von Personen, die Quinn geworden war, diente Wilson als eine Art Bauchredner, Quinn selbst war die Puppe, und Work war die belebte Stimme, die dem Unternehmen Sinn und Zweck verlieh. Wenn Wilson eine Illusion war, so rechtfertigte er doch das Leben der beiden anderen. Wenn Wilson nicht existierte, so war er doch die Brücke, die es Quinn erlaubte, aus sich selbst in Work hinüberzugehen. Und allmählich war Work eine Persönlichkeit in Quinns Leben geworden, sein innerer Bruder, sein Gefährte in der Einsamkeit.
Quinn nahm den Marco Polo auf und begann noch einmal, die erste Seite zu lesen. «Wir werden Gesehenes, wie es gesehen, Gehörtes, wie es gehört wurde, niederschreiben, sodass unser Buch ein genauer Bericht sei, frei von jeglicher Art von Erdichtung. Und alle, welche dieses Buch lesen oder anhören, mögen dies mit vollem Vertrauen tun, denn es enthält nichts als die Wahrheit.» Als Quinn eben begann, über den Sinn dieser Sätze nachzudenken und sich ihre selbstbewussten Behauptungen durch den Kopf gehen zu lassen, läutete das Telefon. Viel später, als er in der Lage war, die Ereignisse dieser Nacht zu rekonstruieren, erinnerte er sich, dass er auf die Uhr sah, feststellte, dass es nach Mitternacht war, und sich fragte, wer ihn um diese Zeit anrufen mochte. Sehr wahrscheinlich schlechte Nachrichten, dachte er. Er stieg aus dem Bett, ging nackt zum Telefon und nahm den Hörer nach dem zweiten Läuten ab.
«Ja?»
Eine lange Pause am anderen Ende, und einen Augenblick dachte Quinn, der Anrufer habe aufgelegt. Dann kam wie aus großer Entfernung der Klang einer Stimme, wie er dergleichen noch nie gehört hatte. Sie war mechanisch, aber voll Gefühl, kaum mehr als ein Flüstern und dennoch deutlich vernehmbar und so gleichmäßig im Tonfall, dass er nicht sagen konnte, ob sie die eines Mannes oder die einer Frau war.
«Hallo?», sagte die Stimme.
«Wer spricht dort?», fragte Quinn.
«Hallo?», sagte die Stimme wieder.
«Ich höre», sagte Quinn. «Wer spricht dort?»
«Ist das Paul Auster?», fragte die Stimme. «Ich möchte Mr. Paul Auster sprechen.»
«Hier gibt es niemanden, der so heißt.»
«Paul Auster. Vom Detektivbüro Auster.»
«Tut mir leid», sagte Quinn. «Sie müssen die falsche Nummer gewählt haben.»
«Die Angelegenheit ist äußerst dringend», sagte die Stimme.
«Ich kann nichts für Sie tun», sagte Quinn. «Hier gibt es keinen Paul Auster.»
«Sie verstehen nicht», sagte die Stimme. «Die Zeit wird knapp.»
«Dann schlage ich vor, Sie wählen noch einmal. Dies ist kein Detektivbüro.»
Quinn legte den Hörer auf. Er stand auf dem kalten Boden und blickte auf seine Füße, seine Knie, seinen schlaffen Penis hinunter. Einen kurzen Augenblick bedauerte er, dass er dem Anrufer gegenüber so kurz angebunden gewesen war. Es hätte, dachte er, interessant sein können, ein wenig auf ihn einzugehen. Vielleicht hätte er etwas über den Fall herausbekommen – vielleicht sogar irgendwie helfen können. «Ich muss mehr auf der Hut sein», sagte er sich.
Wie die meisten Menschen wusste Quinn beinahe nichts über Verbrechen. Er hatte nie jemanden ermordet, nie etwas gestohlen, und er kannte auch niemanden, der so etwas getan hatte. Er war nie in einem Polizeirevier gewesen, hatte nie einen Privatdetektiv kennengelernt, hatte nie mit einem Verbrecher gesprochen. Was er über diese Dinge wusste, hatte er aus Büchern, Filmen und Zeitungen erfahren. Er betrachtete das jedoch nicht als Handicap. Was ihn an den Geschichten, die er schrieb, interessierte, war nicht ihre Beziehung zur Welt, sondern zu anderen Geschichten. Schon bevor er William Wilson wurde, war Quinn ein eifriger Leser von Detektivromanen gewesen. Er wusste, dass die meisten schlecht geschrieben waren, dass die meisten keiner noch so oberflächlichen Prüfung standhalten konnten, aber die Form sprach ihn an, und nur einen ganz besonders schlechten Detektivroman würde er sich zu lesen geweigert haben. Während sein Geschmack bei anderen Büchern streng, anspruchsvoll bis zur Engstirnigkeit war, kannte er bei diesen beinahe überhaupt kein Urteilsvermögen. Wenn er in der richtigen Stimmung war, konnte er ohne große Mühe zehn oder zwölf davon hintereinander lesen. Eine Art Hunger überkam ihn dann, ein heftiges Verlangen nach einer besonderen Speise, und er hörte nicht auf, bis er sich satt gegessen hatte.
Was ihm an diesen Büchern gefiel, war ihr Sinn für Perfektion und Sparsamkeit. Im guten Detektivroman wird nichts verschwendet, kein Satz, kein Wort ist ohne Bedeutung. Und selbst wenn es zunächst keine hat, steckt in ihm die Möglichkeit, eine zu haben – was auf dasselbe hinausläuft. Die Welt des Buches wird lebendig, brodelt vor Geheimnissen und Widersprüchen. Da alles, was gesehen und gesagt wird, selbst das Geringfügigste, Trivialste, etwas mit dem Ausgang der Geschichte zu tun haben kann, darf nichts übersehen werden. Alles wird wesentlich, der Mittelpunkt des Buches verlagert sich mit jedem Ereignis, das die Handlung vorwärtstreibt. Daher ist der Mittelpunkt überall, und kein Kreis kann gezogen werden, bevor das Buch endet.
Der Detektiv ist einer, der beobachtet, der horcht, der sich durch diesen Morast von Dingen und Ereignissen bewegt auf der Suche nach dem Gedanken, der Idee, die alles zusammenfasst und allem einen Sinn gibt. Tatsächlich sind der Schriftsteller und der Detektiv austauschbar. Der Leser sieht die Welt mit dem Auge des Detektivs und erlebt das Wuchern ihrer Einzelheiten wie zum ersten Mal. Er ist für die Dinge um ihn her wach geworden, so als könnten sie zu ihm sprechen, als könnten sie, wegen der Aufmerksamkeit, die er ihnen nun widmet, beginnen, eine andere Bedeutung zu haben als die bloße Tatsache ihrer Existenz. Der Privatdetektiv, «private eye», das «private Auge». Der Ausdruck hatte für Quinn eine dreifache Bedeutung. Da war nicht nur ein «i» wie in «ermitteln», da war das «I» als Großbuchstabe, der winzige Lebenskeim, im Leib des atmenden Ichs verborgen. Zugleich war es auch das physische Auge des Schriftstellers, das Auge des Mannes, der aus sich selbst hinaussieht in die Welt und fordert, dass sich ihm die Welt enthüllt. Seit fünf Jahren lebte Quinn nun im Banne dieses Wortspiels.
Er hatte natürlich schon vor langer Zeit aufgehört, sich selbst für wirklich zu halten. Wenn er nun überhaupt auf der Welt lebte, so nur mit einigem Abstand, durch die imaginäre Person Max Works. Sein Detektiv musste notwendigerweise wirklich sein. Die Natur des Buches erforderte es. Wenn Quinn es sich gestattet hatte, sich in die Grenzen eines sonderbaren und hermetischen Lebens zurückzuziehen, so lebte Work weiter in der Welt der anderen, und je mehr Quinn zu verschwinden schien, desto beharrlicher wurde Works Anwesenheit auf dieser Welt. Während Quinn dazu neigte, sich in seiner eigenen Haut fehl am Platze zu fühlen, war Work aggressiv, schlagfertig, an jedem Ort zu Hause, an dem er sich gerade befand. Dieselben Dinge, die für Quinn Probleme darstellten, nahm Work als selbstverständlich hin, und er ging durch das Chaos seiner Abenteuer mit einer Leichtigkeit und Gelassenheit, die ihren Eindruck auf seinen Schöpfer nie verfehlten. Es war nicht unbedingt so, dass Quinn Work sein oder ihm auch nur ähneln wollte, aber es beruhigte ihn vorzugeben, Work zu sein, während er seine Bücher schrieb, zu wissen, dass er es in sich hatte, Work zu sein, wenn er es jemals wollte, und sei es nur im Geiste.
In dieser Nacht, während er endlich in den Schlaf hinüberglitt, versuchte Quinn sich vorzustellen, was Work zu dem Fremden am Telefon gesagt hätte. In einem Traum, den er später vergaß, stand er allein in einem Zimmer und feuerte mit einer Pistole auf eine kahle weiße Wand.
In der folgenden Nacht wurde Quinn überrumpelt. Er hatte gedacht, der Zwischenfall sei erledigt, und erwartete nicht, dass der Fremde noch einmal anrief. Er saß zufällig gerade auf der Toilette und entleerte seinen Darm, als das Telefon läutete. Es war etwas später als in der vorausgegangenen Nacht, vielleicht zehn oder zwölf Minuten vor eins. Quinn war eben bei dem Kapitel angekommen, das Marco Polos Reise von Peking nach Amoy schildert, und das Buch lag aufgeschlagen auf seinen Knien, während er in dem kleinen Badezimmer sein Geschäft verrichtete. Das Läuten des Telefons war entschieden ein Ärgernis. Wollte er sofort den Hörer abheben, so musste er aufstehen, ohne sich abzuwischen, und es war ihm zuwider, in diesem Zustand durch die Wohnung zu gehen. Wenn er andererseits in seinem normalen Tempo beendete, was er tat, kam er nicht mehr rechtzeitig an den Apparat. Trotzdem zögerte Quinn, sich zu bewegen. Das Telefon bedeutete ihm nicht viel, und schon mehr als einmal hatte er daran gedacht, sich von ihm zu befreien. Was ihm am meisten missfiel, war seine Tyrannei. Es hatte nicht nur die Macht, ihn gegen seinen Willen zu unterbrechen, sondern er gab seinem Befehl auch immer unweigerlich nach. Dieses Mal beschloss er, Widerstand zu leisten. Beim dritten Läuten waren seine Eingeweide leer. Beim vierten Läuten war es ihm gelungen, sich abzuputzen. Beim fünften Läuten hatte er seine Hose hochgezogen und das Badezimmer verlassen und ging ruhig durch die Wohnung. Er hob den Hörer nach dem sechsten Läuten ab, aber am anderen Ende war niemand mehr. Der Anrufer hatte aufgelegt.
In der nächsten Nacht hielt er sich bereit. Er lag auf dem Bett ausgestreckt, blätterte die Seiten der Sporting News durch und wartete auf den dritten Anruf. Ab und zu, wenn ihn die Nerven im Stich ließen, stand er auf und ging in der Wohnung auf und ab. Er legte eine Platte auf, Haydns Oper Il Mondo della Luna, und hörte sie von Anfang bis Ende. Er wartete und wartete. Um halb drei gab er endlich auf und ging schlafen.
Er wartete in der nächsten Nacht und ebenso in der darauffolgenden. Als er gerade seinen Plan aufgeben wollte, weil er erkannt hatte, dass alle seine Annahmen falsch gewesen waren, läutete das Telefon wieder. Es war der neunzehnte Mai. Er erinnerte sich später an das Datum, weil es der Hochzeitstag seiner Eltern war – oder gewesen wäre, wenn seine Eltern noch gelebt hätten –, und seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, dass sie ihn in der Hochzeitsnacht empfangen habe. Das hatte ihm immer gefallen: dass er imstande war, den ersten Augenblick seiner Existenz genau zu bestimmen, und im Laufe der Jahre hatte er für sich selbst seinen Geburtstag an diesem Tag gefeiert. Diesmal war es etwas früher als an den beiden anderen Abenden – noch nicht einmal elf Uhr –, und als er nach dem Hörer griff, nahm er an, es müsse jemand anders sein.
«Hallo?», sagte er.
Wieder ein Schweigen am anderen Ende. Quinn wusste sofort, dass es der Fremde war.
«Hallo?», sagte er noch einmal. «Was kann ich für Sie tun?»
«Ja», sagte die Stimme endlich. Dasselbe mechanische Flüstern, derselbe verzweifelte Ton. «Ja, es ist jetzt nötig, ohne Aufschub.»
«Was ist nötig?»
«Zu sprechen. Jetzt gleich. Jetzt gleich zu sprechen. Ja.»
«Und mit wem möchten Sie sprechen?»
«Immer noch mit demselben. Auster. Mit dem, der Paul Auster heißt.»
Diesmal zögerte Quinn nicht. Er wusste, was er tun wollte, und nun, da die Zeit gekommen war, tat er es auch.
«Am Apparat», sagte er. «Hier spricht Paul Auster.»
«Endlich. Endlich habe ich Sie gefunden.» Er konnte die Erleichterung in der Stimme hören, die fühlbare Ruhe, die plötzlich von ihr Besitz zu ergreifen schien.
«Das ist richtig», sagte Quinn. «Endlich.» Er schwieg einen Augenblick, um die Worte wirken zu lassen, auf sich selbst ebenso sehr wie auf den anderen. «Was kann ich für Sie tun?»
«Ich brauche Hilfe», sagte die Stimme. «Ich bin in großer Gefahr. Man sagt, Sie seien der Beste für solche Dinge.»
«Kommt darauf an, was für Dinge Sie meinen.»
«Ich meine Tod. Ich meine Tod und Mord.»
«Das ist nicht ganz mein Fach», sagte Quinn. «Ich gehe nicht herum und bringe Leute um.»
«Nein», sagte die Stimme ungeduldig. «Ich meine es umgekehrt.»
«Jemand will Sie töten?»
«Ja, mich töten. Das ist richtig. Ich soll ermordet werden.»
»Und Sie wollen, dass ich Sie beschütze?»
«Mich beschützen, ja. Und den Mann finden, der es tun will.»
«Sie wissen nicht, wer es ist?»
«Doch, ich weiß es. Natürlich weiß ich es. Aber ich weiß nicht, wo er ist.»
«Können Sie mir mehr darüber sagen?»
«Nicht jetzt. Nicht am Telefon. Ich bin in großer Gefahr. Sie müssen hierherkommen.»
«Wie wäre es morgen?»
«Gut. Morgen. Schon früh. Am Vormittag.»
«Um zehn?»
«Gut, um zehn.» Die Stimme gab eine Adresse in der East 69th Street an. «Vergessen Sie es nicht, Mr. Auster. Sie müssen kommen.»
«Keine Sorge», sagte Quinn. «Ich werde dort sein.»
Am nächsten Morgen wachte Quinn früher auf als in den vergangenen Wochen. Während er seinen Kaffee trank, Butter auf den Toast strich und die Baseballergebnisse in der Zeitung studierte (die Mets hatten wieder verloren, zwei zu eins, durch einen Fehler beim neunten Schlag), kam ihm gar nicht der Gedanke, seine Verabredung einhalten zu wollen. Schon dieser Ausdruck, seine Verabredung, kam ihm komisch vor. Es war nicht seine, es war Paul Austers Verabredung. Und er hatte keine Ahnung, wer diese Person war.
Dennoch, als die Zeit verging, stellte er fest, dass er sehr gut einen Mann imitierte, der sich darauf vorbereitet auszugehen. Er räumte das Frühstücksgeschirr ab, warf die Zeitung auf die Couch, ging ins Badezimmer, duschte, rasierte sich, ging, in zwei Handtücher gewickelt, weiter ins Schlafzimmer, öffnete den Schrank und wählte seine Kleidung für den Tag aus. Er ertappte sich dabei, dass er an Sakko und Schlips dachte. Quinn hatte seit dem Begräbnis seiner Frau und seines Sohnes keinen Schlips mehr getragen und konnte sich nicht einmal mehr erinnern, ob er noch einen besaß. Aber da hing er zwischen den Überresten seiner Garderobe. Ein weißes Hemd lehnte er als zu förmlich ab und entschied sich stattdessen für ein grau-rot kariertes, das zum grauen Schlips passte. Er zog sich an wie in Trance.
Erst als er die Hand schon auf die Türklinke gelegt hatte, begann er zu ahnen, was er tat. «Mir scheint, ich gehe fort», sagte er sich. «Aber wenn ich fortgehe, wohin gehe ich dann eigentlich?» Eine Stunde später, als er an der Ecke 70th Street und Fifth Avenue aus dem Vierer-Bus stieg, hatte er diese Frage noch immer nicht beantwortet. Auf der einen Seite lag der Park, grün in der Morgensonne, mit harten, wandernden Schatten; auf der anderen stand das Frick, weiß und nüchtern, als wäre es den Toten überlassen. Er dachte einen Augenblick an Vermeers Soldat und lachendes Mädchen und versuchte, sich an den Gesichtsausdruck des Mädchens, die genaue Haltung ihrer Hände um den Becher, den roten Rücken des gesichtslosen Mannes zu erinnern. Im Geiste erhaschte er einen Blick auf die blaue Karte an der Wand und das Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel und so sehr dem Sonnenlicht ähnelte, das ihn jetzt umgab. Er ging. Er überquerte die Straße und setzte seinen Weg nach Osten fort. In der Madison Avenue bog er nach rechts ab und ging einen Häuserblock weit nach Süden, dann wandte er sich nach links und erkannte, wo er war. «Ich scheine angekommen zu sein», sagte er zu sich selbst. Er stand vor dem Gebäude. Plötzlich schien nichts mehr von Bedeutung zu sein. Er fühlte sich bemerkenswert ruhig, so als wäre mit ihm schon alles geschehen. Als er die Tür öffnete und den Hausflur betrat, gab er sich einen letzten Rat. «Wenn dies alles wirklich geschieht», sagte er, «muss ich die Augen offen halten.»
Eine Frau öffnete die Wohnungstür. Aus irgendeinem Grunde hatte Quinn das nicht erwartet, und es brachte ihn aus der Fassung. Schon ging alles zu schnell. Bevor er noch Gelegenheit hatte, die Gegenwart der Frau in sich aufzunehmen, sie für sich selbst zu beschreiben und seine Eindrücke zu ordnen, sprach sie auch schon zu ihm und zwang ihn zu antworten. Daher hatte er schon in diesen ersten Augenblicken an Boden verloren und begann hinter sich selbst zurückzubleiben. Später, als er Zeit hatte, über diese Ereignisse nachzudenken, gelang es ihm, die Begegnung mit der Frau zusammenzustückeln. Aber das war das Werk der Erinnerung, und erinnerte Dinge, das wusste er, neigen dazu, die Dinge zu entstellen, an die man sich erinnert. Daher konnte er in Bezug auf keines von ihnen sicher sein.
Die Frau war dreißig, vielleicht fünfunddreißig, bestenfalls mittelgroß; Hüften eine Spur zu breit, oder sinnlich, je nachdem, wie man es sehen will; dunkles Haar, dunkle Augen, und ein Blick in diesen Augen, der zugleich zurückhaltend und auf eine unbestimmte Weise verführerisch war. Sie trug ein schwarzes Kleid, und ihre Lippen waren sehr rot geschminkt.
«Mr. Auster?» Der Versuch eines Lächelns und eine fragende Neigung des Kopfes.
«Richtig», sagte Quinn. «Paul Auster.»
«Ich bin Virginia Stillman», sagte sie. «Peters Frau. Er wartet seit acht Uhr auf Sie.»
«Wir sind für zehn verabredet», sagte Quinn und sah auf seine Uhr. Es war Punkt zehn.
«Er ist außer sich vor Aufregung», erklärte die Frau. «Ich habe ihn noch nie so gesehen. Er konnte es einfach nicht erwarten.»
Sie bat Quinn einzutreten. Als er über die Schwelle in die Wohnung ging, fühlte er eine Leere in sich, als hätte sich sein Gehirn plötzlich abgeschaltet. Er hatte alle Einzelheiten, die er sah, in sich aufnehmen wollen, aber diese Aufgabe überstieg im Augenblick seine Kräfte. Die Wohnung umgab ihn wie etwas Verschwommenes. Er erkannte, dass sie groß war, vielleicht fünf oder sechs Zimmer hatte, reich möbliert und mit zahlreichen Kunstgegenständen, silbernen Aschenbechern und kostbar gerahmten Gemälden an den Wänden geschmückt war. Aber das war alles. Nicht mehr als ein allgemeiner Eindruck – obwohl er da war und diese Dinge mit eigenen Augen betrachtete.
Plötzlich saß er auf einem Sofa, allein im Wohnzimmer. Er erinnerte sich, dass Mrs. Stillman gesagt hatte, er solle dort warten, während sie ihren Mann hole. Er konnte nicht sagen, wie lange das her war. Sicherlich nicht mehr als eine Minute oder zwei. Aber so wie das Licht durch die Fenster hereinkam, schien es beinahe Mittag zu sein. Es fiel ihm jedoch nicht ein, auf die Uhr zu sehen. Der Geruch von Virginia Stillmans Parfüm schwebte in der Luft, und er begann sich vorzustellen, wie sie ohne Kleider aussehen mochte. Dann überlegte er, was Max Work denken würde, wenn er da wäre. Er beschloss, sich eine Zigarette anzuzünden. Er blies den Rauch ins Zimmer, und es machte ihm Spaß zuzusehen, wie er seinen Mund in Stößen verließ, sich auflöste und neue Gestalt annahm, wenn ihn das Licht traf.
Er hörte, wie hinter ihm jemand das Zimmer betrat. Quinn erhob sich von seinem Sofa und drehte sich um in der Erwartung, Mrs. Stillman zu sehen. Stattdessen hatte er einen jungen Mann vor sich, ganz in Weiß gekleidet, mit dem weißblonden Haar eines Kindes. Unheimlicherweise dachte Quinn in diesem ersten Augenblick an seinen eigenen toten Sohn. Dann verschwand der Gedanke so schnell, wie er gekommen war.
Peter Stillman trat ins Zimmer und setzte sich Quinn gegenüber in einen roten Samtfauteuil. Er sagte kein Wort, während er zu seinem Platz ging, und nahm auch Quinns Anwesenheit nicht zur Kenntnis. Sich von einer Stelle an eine andere zu begeben, schien seine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen, so als müsste er zu Unbeweglichkeit erstarren, wenn er nicht an das dachte, was er tat. Quinn hatte noch niemanden gesehen, der sich so bewegte, und er erkannte sofort, dass dies die Person war, mit der er am Telefon gesprochen hatte. Der Körper agierte wie die Stimme: maschinenmäßig, ruckartig, mit bald langsamen, bald schnellen Bewegungen, steif und doch ausdrucksvoll, als wäre der Arbeitsvorgang außer Kontrolle geraten und entspräche nicht ganz dem Willen, der dahinterstand. Quinn hatte den Eindruck, dass Stillmans Körper lange nicht benutzt und dass jede Funktion neu erlernt worden war, sodass die Fortbewegung zu einem bewussten Prozess geworden und jede Bewegung in die Teilbewegungen zerlegt war, aus denen sie sich zusammensetzte, sodass das Fließen und jegliche Spontaneität verlorengegangen waren. Es war, als sähe man einer Marionette zu, die ohne Fäden zu gehen versuchte.
Alles an Peter Stillman war weiß. Weißes Hemd, am Hals offen, weiße Hose, weiße Schuhe, weiße Socken. Gegen die Blässe der Haut das dünne strohblonde Haar; er wirkte beinahe transparent, so als könnte man bis zu den blauen Adern unter der Haut seines Gesichtes hindurchblicken. Dieses Blau war beinahe das gleiche wie das Blau seiner Augen: ein milchiges Blau, das sich in eine Mischung von Himmel und Wolken aufzulösen schien. Quinn konnte sich nicht vorstellen, wie er ein Wort an diesen Menschen richten sollte. Stillmans Gegenwart war wie ein Gebot zu schweigen.
Stillman ließ sich langsam in seinem Sessel nieder und wandte schließlich seine Aufmerksamkeit Quinn zu. Als ihre Blicke einander begegneten, hatte Quinn mit einem Mal das Gefühl, dass Stillman unsichtbar geworden war. Er konnte ihn sitzen sehen, in dem Sessel ihm gegenüber, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, er sei nicht da. Quinn kam der Gedanke, dass Stillman vielleicht blind war, aber nein, das konnte nicht gut möglich sein. Der Mann sah ihn an, er musterte ihn sogar, und wenn auch kein Erkennen über sein Gesicht huschte, so hatte es doch mehr an sich als nur ein ausdrucksloses Starren. Quinn wusste nicht, was er tun sollte. Er saß stumm in seinem Sessel und erwiderte Stillmans Blick. Eine lange Zeit verging so.
«Keine Fragen, bitte», sagte der junge Mann endlich. «Ja. Nein. Danke.» Er unterbrach sich einen Augenblick. «Ich bin Peter Stillman. Ich sage das aus meinem eigenen freien Willen. Ja. Das ist nicht mein richtiger Name. Nein. Natürlich ist mein Verstand nicht ganz, was er sein sollte. Aber dagegen lässt sich nichts machen. Nein. Dagegen. Nein, nein. Nicht mehr.
Sie sitzen da und denken: Wer ist diese Person, die mit mir spricht? Was kommen da für Worte aus seinem Mund? Ich will es Ihnen sagen. Oder ich will es Ihnen nicht sagen. Ja und nein. Mein Verstand ist nicht ganz, was er sein sollte. Ich sage das aus meinem eigenen freien Willen. Aber ich will es versuchen. Ja und nein. Ich will versuchen, es Ihnen zu sagen, selbst wenn es mir mein Verstand schwer macht. Danke.
Mein Name ist Peter Stillman. Vielleicht haben Sie von mir gehört. Doch wohl eher nicht. Macht nichts. Das ist nicht mein richtiger Name. An meinen richtigen Namen kann ich mich nicht erinnern. Verzeihen Sie. Nicht dass es etwas ausmacht. Das heißt, nicht mehr.
Das also nennt man Sprechen. Ich glaube, das ist der richtige Ausdruck. Wenn Wörter herauskommen, in die Luft fliegen, einen Augenblick leben und sterben. Seltsam, nicht wahr? Ich selbst habe da keine Meinung. Nein und noch einmal nein. Aber immerhin, es gibt Wörter, die Sie brauchen werden. Es gibt viele davon. Viele Millionen, denke ich. Vielleicht nur drei oder vier. Verzeihen Sie. Aber ich bin heute so gut in Form. Viel besser als sonst. Ich kann Ihnen die Wörter geben, die Sie haben müssen, das wird ein großer Sieg sein. Danke. Ich danke Ihnen eine Million Mal.
Vor langer Zeit gab es Mutter und Vater. Ich erinnere mich an nichts davon. Sie sagen: Mutter ist gestorben. Wer sie sind, kann ich nicht sagen. Verzeihen Sie. Aber das sagen sie.
Keine Mutter also. Haha. So ist jetzt mein Gelächter, mein Hokuspokus, dass mir der Bauch platzt. Hahaha. Der große Vater sagte: Das ist ganz egal. Für mich. Das heißt, für ihn. Der große Vater mit den großen Muskeln und dem Klatsch, Klatsch, Klatsch. Keine Fragen jetzt, bitte.
Ich sage, was sie sagen, weil ich nichts weiß. Ich bin nur der arme Peter Stillman, der Junge, der sich nicht erinnern kann. Huhu. Wohl oder übel. Einfaltspinsel. Verzeihen Sie. Sie sagen, sie sagen. Aber was sagt der arme kleine Peter? Nichts. Nichts. Nichts mehr.
Da war dies. Dunkel. Sehr dunkel. So dunkel wie sehr dunkel. Sie sagen: Das war das Zimmer. Als ob ich darüber reden könnte. Die Dunkelheit, meine ich. Danke.
Dunkel, dunkel. Sie sagen, neun Jahre lang. Nicht einmal ein Fenster. Armer Peter Stillman. Und das Klatsch, Klatsch, Klatsch. Die Kackehaufen. Die Pipiseen. Die Ohnmachten. Verzeihen Sie. Starr und nackt. Verzeihen Sie. Nicht mehr.
Da ist also die Dunkelheit. Das können Sie mir glauben. Es gab Essen in der Dunkelheit, ja, viel Essen in dem stillen, dunklen Zimmer. Er aß mit den bloßen Händen. Verzeihen Sie. Ich meine Peter. Und wenn ich Peter bin, umso besser. Das heißt, umso schlechter. Verzeihen Sie, ich bin Peter Stillman. Das ist nicht mein richtiger Name. Danke.
Armer Peter Stillman. Ein kleiner Junge war er. Kaum ein paar eigene Wörter. Und dann keine Wörter, und dann niemand, und dann nie, nie, nie. Nicht mehr.
Vergeben Sie mir, Mr. Auster. Ich sehe, dass ich Sie traurig mache. Keine Fragen, bitte. Mein Name ist Peter Stillman. Das ist nicht mein richtiger Name. Mein richtiger Name ist Mr. Traurig. Wie heißen Sie, Mr. Auster? Vielleicht sind Sie der richtige Mr. Traurig, und ich bin niemand.
Huhu! Verzeihen Sie. So ist mein Weinen und Klagen. Huhu, schluchz, schluchz. Was tat Peter in diesem Zimmer? Niemand kann es sagen. Manche sagen, nichts. Ich für mein Teil denke, dass Peter nicht denken konnte. Konnte er blinken? Konnte er trinken? Konnte er stinken? Hahaha. Verzeihen Sie. Manchmal bin ich so witzig.
Wimbelklick krümelknatsch unner. Klappklapp beschlapp. Tauber Ton, flackelviel, Kaumanna. Jajaja. Verzeihen Sie. Ich bin der Einzige, der diese Wörter versteht.
Später und später und später. So sagen sie. Es dauerte zu lange für Peter, als dass er noch richtig im Kopf hätte sein können. Nie wieder. Nein, nein, nein. Sie sagen, dass mich jemand fand. Ich erinnere mich nicht. Nein, ich erinnere mich nicht, was geschah, als sie die Tür öffneten und das Licht hereinkam. Nein, nein, nein. Ich kann über all das nichts sagen. Nicht mehr.
Lange trug ich eine dunkle Brille. Ich war zwölf. Das sagen sie jedenfalls. Ich lebte in einem Krankenhaus. Nach und nach lehrten sie mich, Peter Stillman zu sein. Sie sagten: Du bist Peter Stillman. Danke, sagte ich. Jajaja. Danke und danke. Sagte ich.
Peter war ein Baby. Sie mussten ihm alles beibringen. Wie man geht, wissen Sie. Wie man isst. Wie man auf der Toilette Aa und Pipi macht. Das war nicht übel. Auch wenn ich sie biss, gab es kein Klatsch, Klatsch, Klatsch. Später hörte ich sogar auf, mir die Kleider herunterzureißen.
Peter war ein braver Junge. Aber es war schwer, ihm Wörter beizubringen. Sein Mund arbeitete nicht richtig. Und natürlich war er in seinem Kopf nicht ganz richtig. Bababa, sagte er. Und dadada. Und wawawa. Verzeihen Sie. Es dauerte noch Jahre und Jahre. Jetzt sagen sie zu Peter: Du kannst nun gehen, wir können nichts mehr für dich tun. Peter Stillman, du bist ein Mensch, sagten sie. Es ist gut zu glauben, was Ärzte sagen. Ich danke ihnen sehr.
Ich bin Peter Stillman. Das ist nicht mein richtiger Name. Mein richtiger Name ist Peter Karnickel. Im Winter bin ich Mr. Weiß, im Sommer bin ich Mr. Grün. Halten Sie davon, was Sie wollen. Ich sage es aus meinem eigenen freien Willen. Wimbelklick krümelknatsch unner. Das ist schön, nicht wahr? Ich erfinde immerzu solche Wörter. Dagegen ist nichts zu machen. Sie kommen ganz von selbst aus meinem Mund. Übersetzen kann man sie nicht.
Fragen und fragen. Das führt zu nichts. Aber ich will es Ihnen erzählen. Ich will nicht, dass Sie traurig sind, Mr. Auster. Sie haben ein so freundliches Gesicht. Sie erinnern mich an ein So-was oder ein Stöhnen, ich weiß nicht, welches von beiden. Und Ihre Augen sehen mich an. Ja, ja. Ich kann sie sehen. Das ist sehr gut. Danke.
Deshalb will ich es Ihnen erzählen. Keine Fragen, bitte. Sie wollen wissen, wie alles andere war. Das heißt, der Vater. Der schreckliche Vater, der dem kleinen Peter all das angetan hat. Seien Sie unbesorgt. Sie haben ihn an einen dunklen Ort gebracht. Sie haben ihn eingesperrt und behalten. Hahaha. Verzeihen Sie. Manchmal bin ich so witzig. Dreizehn Jahre, sagten sie. Das ist vielleicht eine lange Zeit. Aber ich weiß nichts von der Zeit. Ich bin jeden Tag neu. Ich werde geboren, wenn ich morgens aufwache, ich werde alt während des Tages, und ich sterbe abends, wenn ich schlafen gehe. Das ist nicht meine Schuld. Ich bin heute so gut in Form. Ich bin viel besser als jemals zuvor.
Dreizehn Jahre lang war der Vater fort. Er heißt auch Peter Stillman. Sonderbar, nicht? Dass zwei Menschen denselben Namen haben können. Ich weiß nicht, ob das sein richtiger Name ist. Aber ich glaube nicht, dass er ich ist. Wir sind beide Peter Stillman. Aber Peter Stillman ist nicht mein richtiger Name. Vielleicht bin ich also letzten Endes gar nicht Peter Stillman.
Dreizehn Jahre, sage ich. Oder sagen sie. Das ist egal. Ich weiß nichts von der Zeit. Aber was sie mir sagen, ist: Morgen gehen die dreizehn Jahre zu Ende. Das ist schlecht. Auch wenn sie sagen, das ist es nicht, ist es doch schlecht. Ich soll mich nicht erinnern. Aber ab und zu erinnere ich mich doch, trotz allem, was ich sage.
Er wird kommen. Das heißt, mein Vater wird kommen. Und er wird versuchen, mich zu töten. Danke. Aber ich will das nicht. Nein, nein. Nicht mehr. Peter lebt jetzt. Ja. Er ist nicht ganz richtig im Kopf, aber er lebt trotzdem. Und das ist doch etwas, oder nicht? Darauf können Sie Gift nehmen. Hahaha.
Ich bin jetzt hauptsächlich Dichter. Jeden Tag sitze ich in meinem Zimmer und schreibe ein neues Gedicht. Ich erfinde alle Wörter selbst, so wie damals, als ich im Dunkeln lebte. So beginne ich, mich an etwas zu erinnern, indem ich vorgebe, wieder im Dunkeln zu sein. Ich bin der Einzige, der weiß, was die Wörter bedeuten. Sie können nicht übersetzt werden. Diese Gedichte werden mich berühmt machen. Den Nagel auf den Kopf treffen. Jajaja. Schöne Gedichte. So schön, dass die ganze Welt weinen wird.
Später mache ich vielleicht etwas anderes. Wenn ich mit dem Dichten fertig bin. Früher oder später, sehen Sie, werden mir die Wörter ausgehen. Jeder hat nur soundso viele Wörter in sich. Und was fange ich dann an? Ich denke, ich würde dann gern ein Feuerwehrmann sein. Und danach ein Doktor. Ist egal. Das Letzte, was ich sein möchte, ist ein Hochseiltänzer. Wenn ich sehr alt bin und endlich gelernt habe, wie andere Leute zu gehen. Dann werde ich auf dem Seil gehen, und die Leute werden staunen. Sogar kleine Kinder. Ja, das würde mir gefallen. Auf dem Seil zu tanzen, bis ich sterbe.
Aber das hat nichts zu sagen. Es ist egal. Für mich. Wie Sie sehen können, bin ich ein reicher Mann. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Nein, nein. Nicht deshalb. Darauf können Sie Gift nehmen. Der Vater war reich, und der kleine Peter bekam sein ganzes Geld, nachdem sie ihn im Dunkeln eingesperrt hatten. Hahaha. Verzeihen Sie, dass ich lache. Manchmal bin ich so witzig.
Ich bin der letzte der Stillmans. Das war eine feine Familie, oder jedenfalls sagt man das. Aus dem alten Boston, falls Sie von ihr gehört haben. Ich bin der Letzte. Es gibt keine anderen. Ich bin das Ende von jedermann, der letzte Mann. Umso besser, finde ich. Es ist nicht schade, dass nun alles endet. Es ist für jedermann gut, tot zu sein.
Der Vater war vielleicht nicht wirklich schlecht. Wenigstens sage ich das jetzt. Er hatte einen großen Kopf. So groß wie sehr groß, was bedeutete, dass er zu viel Platz darin hatte. So viele Gedanken in seinem großen Kopf. Aber Peter war arm, nicht wahr? Und in einer schrecklichen Lage. Peter, der nicht sehen oder sagen, der nicht denken oder tun konnte. Peter, der nicht konnte. Nein. Gar nichts.
Ich weiß nichts von alledem. Ich verstehe auch nichts. Meine Frau ist es, die mir alles erzählt. Sie sagt, es sei wichtig für mich zu wissen, wenn ich auch nicht verstehe. Um zu wissen, muss man verstehen. Ist das nicht so? Aber ich weiß nichts. Vielleicht bin ich Peter Stillman, vielleicht auch nicht. Mein richtiger Name ist Peter Niemand. Danke. Und was halten Sie davon?
Ich erzähle Ihnen also vom Vater. Es ist eine gute Geschichte, wenn ich sie auch nicht verstehe. Ich kann sie Ihnen erzählen, weil ich die Wörter kenne. Und das ist doch etwas, oder nicht? Ich meine, die Wörter zu kennen. Manchmal bin ich so stolz auf mich. Verzeihen Sie. Meine Frau sagt das. Sie sagt, der Vater sprach über Gott. Das ist für mich ein komisches Wort. Gott – God. Rückwärts gelesen heißt es dog – Hund. Und ein Hund sieht Gott nicht sehr ähnlich, nicht wahr? Wuff, wuff. Wau, wau. Das sind Hundewörter. Ich finde sie schön. So hübsch und wahr. Wie die Wörter, die ich erfinde.
Jedenfalls. Wie ich schon sagte. Der Vater sprach über Gott. Er wollte wissen, ob Gott eine Sprache hat. Fragen Sie mich nicht, was das bedeuten soll. Ich erzähle es Ihnen nur, weil ich die Wörter kenne. Der Vater dachte, ein Kind könnte sie sprechen, wenn das Kind keine Menschen sah. Aber was für ein Kind gab es da? Ah. Jetzt fangen Sie an zu verstehen. Man brauchte nicht erst eins zu kaufen. Natürlich kannte Peter schon einige Menschenwörter. Dagegen war nichts zu machen. Aber der Vater dachte, vielleicht vergisst Peter sie. Nach einer Weile. Deshalb gab es so viel Klatsch, Klatsch, Klatsch. Jedes Mal, wenn Peter ein Wort sagte, gab ihm sein Vater ein Klatsch. Zuletzt lernte Peter, nichts zu sagen. Jajaja. Danke.
Peter behielt die Wörter in seinem Innern. All diese Tage und Monate und Jahre. Dort in der Dunkelheit, der kleine Peter ganz allein, und die Wörter lärmten in seinem Kopf und leisteten ihm Gesellschaft. Deshalb arbeitet sein Mund nicht richtig. Armer Peter. Huhu! So sind seine Tränen. Der kleine Junge, der nie erwachsen werden kann.
Peter kann jetzt wie Menschen sprechen, aber er hat noch die anderen Wörter in seinem Kopf. Sie sind Gottes Sprache, und niemand sonst kann sie sprechen. Sie können nicht übersetzt werden. Deshalb lebt Peter so nahe bei Gott. Deshalb ist er ein berühmter Dichter.
Alles ist jetzt so gut für mich. Ich kann tun, was ich will. Jederzeit, überall. Ich habe sogar eine Frau. Sie können es sehen. Ich habe sie schon erwähnt. Vielleicht haben Sie sie sogar kennengelernt. Sie ist schön, nicht wahr? Ihr Name ist Virginia. Das ist nicht ihr richtiger Name. Aber das spielt keine Rolle. Für mich.
Sooft ich darum bitte, besorgt mir meine Frau ein Mädchen. Es sind Huren. Ich stecke meinen Wurm in sie hinein, und sie stöhnen. Es waren schon so viele da. Haha. Sie kommen hier herauf, und ich ficke sie. Es tut gut zu ficken. Virginia gibt ihnen Geld, und alle sind zufrieden. Darauf können Sie Gift nehmen. Haha.
Arme Virginia. Sie mag nicht ficken. Das heißt, mit mir. Vielleicht fickt sie mit einem anderen. Wer kann das sagen? Ich weiß nichts davon. Es ist egal. Aber wenn Sie nett zu Virginia sind, dürfen Sie sie vielleicht ficken. Das würde mich glücklich machen. Ihretwegen. Danke.
Also. Es gibt so viele Dinge. Ich versuche, sie Ihnen zu erzählen. Ich weiß, dass nicht alles richtig ist in meinem Kopf. Und das ist wahr, ja, und ich sage aus meinem eigenen freien Willen, dass ich manchmal einfach schreie und schreie. Aus keinem guten Grund. Als ob es einen Grund geben müsste. Aber aus keinem, den ich sehen kann. Oder sonst jemand. Nein. Und dann gibt es die Zeiten, in denen ich nichts sage. Tagelang ununterbrochen. Nichts, nichts, nichts. Ich vergesse, wie ich die Wörter aus meinem Mund kommen lassen soll. Dann fällt es mir schwer, mich zu bewegen. Ja, ja. Oder auch nur zu sehen. Dann werde ich Mr. Traurig.
Ich bin immer noch gern im Dunkeln. Wenigstens manchmal. Es tut mir gut, glaube ich. Im Dunkeln spreche ich. Gottes Sprache, und niemand kann mich hören. Seien Sie bitte nicht ungehalten. Ich kann nichts dagegen tun.
Das Beste von allem ist die Luft. Ja. Und nach und nach habe ich gelernt, in ihr zu leben. Die Luft und das Licht, ja, das auch, das Licht, das auf alle Dinge scheint und sie hinstellt, damit meine Augen sie sehen. Da ist die Luft und das Licht, und das ist das Beste von allem. Verzeihen Sie. Die Luft und das Licht. Ja. Bei schönem Wetter sitze ich gern am offenen Fenster. Manchmal sehe ich hinaus und beobachte die Dinge unter mir. Die Straße und all die Menschen, die Hunde und Autos, die Ziegel des Gebäudes auf der anderen Straßenseite. Und dann gibt es Zeiten, da schließe ich die Augen und sitze einfach da, der Wind bläst mir ins Gesicht, und das Licht ist in der Luft, ganz um mich herum und kurz vor meinen Augen, und die Welt ist ganz rot, schön rot drinnen in meinen Augen, während die Sonne auf mich und meine Augen scheint.
Es ist wahr, dass ich selten ausgehe. Es fällt mir schwer, und man kann mir nicht immer trauen. Manchmal schreie ich. Seien Sie nicht böse auf mich, bitte. Ich kann nichts dagegen tun. Virginia sagt, ich muss lernen, mich in der Öffentlichkeit zu benehmen. Aber manchmal kann ich mir nicht helfen. Die Schreie kommen einfach aus mir heraus.
Aber ich gehe wirklich gern in den Park. Da sind die Bäume und die Luft und das Licht. Es ist etwas Gutes in alldem, nicht wahr? Ja. Nach und nach werde ich besser dadrinnen in mir. Ich kann es fühlen. Auch Dr. Wyshnegradsky sagt es. Ich weiß, dass ich noch der Marionettenjunge bin. Dagegen ist nichts zu machen. Nein, nein. Nicht mehr. Aber manchmal denke ich, ich werde endlich erwachsen und wirklich werden.
Vorerst bin ich noch Peter Stillman. Das ist nicht mein richtiger Name. Ich kann nicht sagen, wer ich morgen sein werde. Jeder Tag ist neu, und jeden Tag werde ich neu geboren. Ich sehe Hoffnung überall, sogar im Dunkeln, und wenn ich sterbe, werde ich vielleicht Gott.
Es gibt noch viel mehr Wörter zu sagen. Aber ich glaube nicht, dass ich sie sagen werde. Nein. Nicht heute. Mein Mund ist jetzt müde, und ich denke, es ist Zeit für mich zu gehen. Natürlich weiß ich nichts von der Zeit. Aber das spielt keine Rolle. Für mich. Ich danke Ihnen sehr. Ich weiß, Sie werden mir das Leben retten, Mr. Auster. Ich zähle auf Sie. Das Leben kann so lange dauern, Sie verstehen. Alles andere ist im Zimmer, mit der Dunkelheit, mit der Sprache Gottes, mit Schreien. Hier bin ich ein Teil der Luft, etwas Schönes, worauf das Licht scheinen kann. Vielleicht werden Sie sich das merken. Ich bin Peter Stillman. Das ist nicht mein richtiger Name. Ich danke Ihnen sehr.»
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