WEINKULTUR UND WEINGENUSS
IN EINER GLOBALEN WELT
KOSMOS
Vorwort zur E-Book-Ausgabe
Prolog
1. Magie, Matrix oder Mysterium?
2. Mother Nature’s Son
3. Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen
4. Man müsste Weintrinker sein
5. Und ward so einem Menschenwesen gleich
6. Ich weiß ein schönes Spiel im dunklen Tal, im Muschelgrund
7. Die Industrialisierung ist die zivilisatorische Mission des Kapitals
8. Die Streitfrage bio oder nicht bio ist Schnee von gestern
9. Wer nach außen blickt, träumt, wer nach innen blickt, erwacht
10. Der wahre Reisende weiß nicht, wohin die Reise geht
Epilog
Impressum
Wie zu erwarten haben sich in den zwei Jahren nach Erscheinen der ersten Auflage die Widersprüche zwischen Produktion und Marketing auch in der Weinwelt weiter verschärft. Ausgetüftelte Methoden in Weinbau und Kellertechnik ermöglichen die Herstellung eines immer besser auf vermeintliche Kundenwünsche abgestimmten Produkts. Auf der anderen Seite reagiert das Marketing auf die Bedürfnisse der Konsumenten mit einer unüberschaubaren Zahl von Öko-, Nachhaltigkeits-, Fair Trade- und sonstigen Siegeln und die wachsende Sehnsucht nach Spiritualität wird – selbst von Weingütern mit 200 Hektar Rebfläche – mit „biologisch-dynamisch“ befriedigt. Dabei fehlt das Wort Terroir in keinem Hochglanzprospekt.
Gleichzeitig haben aber auch immer mehr Winzer und Konsumenten die Nase voll von diesen Machenschaften. Sie meinen es ernst mit Ökologie, Humanismus und Spiritualität und sind auf der Suche: Wie ist Terroir zu fassen? Wie kann die Gegenbewegung zum allgegenwärtigen Food- und Minddesign aussehen?
Möge auch die zweite Auflage des Buches, nun als E-Book, diese Diskussion weiter mit interessanten Denkanstößen bereichern.
Winningen, im Februar 2012
Reinhard Löwenstein
Fragender Rheinländer
Ein Begriff, so hat es Karl Marx in der Auseinandersetzung mit seinen idealistischen Zeitgenossen formuliert, sollte nicht nur logisch wahr sein, sondern auch historisch. Recht hat er. Denn mit Logik lässt sich fast alles machen. So ist es ein Leichtes zu begründen, warum der deutsche Wein so unglaublich gut ist und die Preise trotzdem im Keller sind. Warum der Krise des deutschen Weinbaus mit neuen Marketingaktivitäten begegnet werden muss. Warum wir im deutschen Weingesetz dringend zusätzlich zu dem aus Prädikatswein, Kabinett, halbtrocken, Hochgewächs und Müller-Thurgau bestehenden Sprachsalat noch neue Qualitätsbegriffe à la Steillagenwein und Grand Reserve benötigen und gleichzeitig zu den erlaubten siebenundachtzig Rebsorten – neben Cabernet Dorsa, Dorio, Cubin und Mitos sowie den himmlischen Sirius und Solaris – noch siebzehn neue zulassen müssen. Und es liegt in der Logik der Aufklärung des modernen Verbrauchers, ihn wissen zu lassen, ob der Wein nun „objektiv“ als trocken, halbtrocken, feinherb, mild, süß oder edelsüß anzusprechen ist und ob die Zusammensetzung der verschiedenen Zucker es erlaubt, die Empfehlung „für Diabetiker geeignet“ auszusprechen. Immens wichtig ist es zu kommunizieren, ob der Alkoholgehalt nun „objektiv“ gering, mittel, hoch oder extrem hoch ist, das heißt, ob wir es mit einem leichten, gehaltvollen, mittelschweren oder alkoholischen Wein zu tun haben. Und natürlich müssen wir „objektiv“ und exakt wissen, ob die Säure als lasch, weich, harmonisch, fruchtig oder als Zieht-mir-den-Hintern-in-Runzeln rüberkommt und ob der – gleich ist es zu Ende – Polymerisationskoeffizient der Flavonoidfraktion seiner Phenole es gebietet, von einem weichen, kräftigen oder gar adstringierenden Geschmack zu sprechen, und und und …
Und jetzt soll der Verbraucher auch noch wissen/können/müssen/sollen, ob es sich um einen Terroirwein handelt? Na dann, Prosit!
Ja. Prosit! Denn der Begriff Terroir ist sinnvoll. Heute. Und mit einem ganz anderen Inhalt als noch vor zwanzig Jahren. Und vielleicht ist der Begriff in dreißig Jahren historisch überholt und wird ganz anders besetzt. Terroir ist keine weitere Taste eines originalverkorksten Marketingklaviers, sondern beschreibt die Gegenbewegung zu industrialisiertem Fastfood in der Weinwelt. Während immer mehr Wein zur Spielwiese von Food-Designern verkommt und auch die letzten Relikte von Weinkultur auf dem Altar der Globalisierung geopfert werden, erwächst die Sehnsucht nach ehrlichem, authentischem, kulturbeseeltem Wein – nach Terroirwein.
Terroirwein kennt kein Rezept, er entsteht nicht durch lineares Programmieren auf der Basis eines axiomatischen Denkmodells, sondern entwickelt sich an der Grenzfläche von Handwerk und Intuition, zwischen Kontrolle und Laissez-faire, zwischen Ordnung und Chaos.
Daher kann auch ein Terroirbuch keinen wissenschaftlichen Diskurs im traditionellen Sinn beschreiben. Das schöpferische Zusammenwirken von Weinberg, Rebe, Klima und Mensch lädt vielmehr zur Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven ein, erlaubt ein Verstehen, Begreifen und Erspüren des komplexen Begriffs Terroir auf ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen.
Edward Witten
Was ist Wein? Was ist guter Wein? Wer an der Oberfläche von Aussagen wie „Ein Wein muss gut schmecken“ oder „ökologisch hergestellt“ sein, nur ein klein wenig kratzt, wird schnell feststellen, dass die Zeiten einfacher Antworten vorbei sind und man Gefahr läuft, sich in einem Dschungel von Fragen zu verlieren. Was heißt schon „gut schmecken“? Soll mir der Wein schmecken, meinen Gästen, dem Weinfreak oder dem offiziellen Prüfer der Landwirtschaftskammer? Und was ist, wenn der Geschmack nach Rezepten hergestellt wurde, die, sagen wir es mal vornehm, nicht so ganz in mein Weltbild passen? Dann schmeckt der Wein gut, ist es aber nicht? Seltsam. Aber wenigstens ökologisch hergestellt soll er sein. Aber wer, bitteschön, definiert „öko“? Die Behörden in Brüssel oder Berlin, die basisdemokratische Diskussionsrunde oder der Guru? Oder mein eigenes Gefühl bei der Sache? Aber wie fühlt es sich an, zwischen Aluminiumphosphat, Kupfersulfat und Natriumbikarbonat als Spritzmittel gegen Rebkrankheiten zu entscheiden? Giftig? Und wenn, wie giftig und für wen? Für den Winzer, den Regenwurm oder den Weintrinker? Und wenn ich nun die giftigen Chemikalien hoch genug potenziere oder sie nur als „Information“ in speziell energetisiertem Wasser im Weinberg versprühe oder mit Wilhelm Reichs Orgonkanone in den Weinberg beame?
Ganz schön kompliziert, die Weinwelt. Nicht nur für die Winzer und Genießer, auch für die Verkäufer. Sollen sie die Wahrheit über den Wein erzählen? Welche Wahrheit? Sollen sie auf allergene Histamine und Sulfite hinweisen oder auf das Suchtpotenzial des Alkohols? Das Alter der Steine im Weinberg, das der Reben oder das des Winzers? Sollen die Verkäufer den Kunden mit passenden Histörchen bei seiner spezifischen Bedürfnisstruktur abholen oder wirklich etwas vom Wein erzählen? Oder beides? Oder ist das nicht sowieso das Gleiche, weil der Wein ohnehin zu hundert Prozent aus Projektionen besteht?
Wer den komplexen Anforderungen des modernen Marktes in einer globalisierten Gesellschaft genügen will, so hören wir es allenthalben, benötigt Marketingexperten, braucht Werbung. KISS, lernt der BWL-Student, ist die Abkürzung für Keep it simple and stupid. Eine klare, einfache Werbebotschaft, die jeder versteht und die man leicht behalten kann respektive die sich möglichst tief ins Unterbewusstsein einbrennt. Die Magie des Verkaufs ist seit Dekaden Forschungsgegenstand an vielen Universitäten. Professor Kroeber-Riel, einer der Klassiker unter den Konsumentenforschern, beschreibt den zentralen Zaubertrick wie folgt: Man verknüpfe das Produkt mit in der jeweiligen Zielgruppe positiv besetzten Gefühlswelten. Damit es richtig sitzt und da alle Menschen unterschiedlich strukturiert sind, klappt es am besten, wenn diese Verknüpfung auf allen Sinneskanälen erfolgt. Die visuellen Menschen, die größte Gruppe in unserer Gesellschaft, sehen sich besonders zu schönen Bildern hingezogen. Wenn sich die hübschen Gallo-Töchter in ihren 50er-Jahre-Klamotten inmitten der herrlichen Weinlandschaft des Napa Valley an ihren alten Chevy lehnen … Die zweite Gruppe, die auditiven Menschen, reagieren ganz besonders auf einen angenehmen Sound. Der geheimnisvolle Hall im Gewölbekeller, das blubbernde Gärgeräusch, der satte Plopp beim Herausziehen des Korkens. Das klingt gut, das hört sich gut an. Und die Gruppe der Fühler, Schmecker und Riecher reagiert wie der Pawlow’sche Hund, wenn es im Supermarkt so wohlig nach Kaffee, frischer Brotrinde oder Zwiebelkuchen mit Federweißem duftet. Und dann die schwere Flasche mit dem Etikett aus sanft-rauem Büttenpapier, da geht einem doch das Herz auf! Das fühlt sich toll an!
In Australien werden die Weine mit Kängurus, Koalabären, mystischen Bildern und Symbolen der Aborigines verknüpft. Und ob Baströckchen-Chiantiflasche der Caterina-Valente-Zeit, handgeschriebenes Etikett der Toskana-Selbsterfahrungsfraktion oder cooles Design für den italophilen Intellektuellen, das Schema ist immer das gleiche. Ob jemand mit industriellen Methoden möglicht billig möglichst viel Geschmack produziert hat oder mit viel Liebe hochwertige Handwerkskunst, dem Marketing ist das egal. Verkauft werden einfach zu kommunizierende Gefühlswelten wie Locker-flockig-fröhlich-Frühling oder Graumeliert-seriös-Kaminfeuer oder Grünes-heiles-Familien-und-Landleben. Das klappt allerdings – zurück zur Uni – nachhaltig nur dann, wenn es gelingt, das Produkt entsprechend zu individualisieren. Die Kuh auf der Alpenwiese kommt zwar gut an, dahinter kann sich aber alles Mögliche verstecken. Erst wenn das gute Tier lila angestrichen ist, mutiert es zu wirklich knackiger Werbung, räumt Marketingpreise ab und krallt sich derart im Hirn fest, dass sich auch in bayerischen Kindergärten die Mehrzahl der Kids beim Malen von Kühen um den lila Farbstift zanken. (NLP, das neurolinguistische Programmieren, lässt grüßen.) Sich dieser Manipulation, dieser verführerischen Magie der Werbung entziehen, das ganze System durchblicken – wer möchte das nicht?
Spätestens seit den Arbeiten des Züricher Psychoanalytikers Carl Gustav Jung muss sich auch der aufgeklärteste kritische Zeitgenosse von solchen Illusionen freimachen. Als einer der Schüler von Sigmund Freud forschte Jung über die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und beschrieb die in allen Kulturen relativ identischen Strukturelemente des kollektiven Unterbewusstseins, die als Archetypen auch das individuelle Verhalten prägen. Und zwar viel mehr, als es unser aufgeklärtes Weltbild als homo rationalicus gern wahrhaben möchte. Aber wenn wir ehrlich sind, was sind schon die wenigen Tausend Jahre, in denen so etwas wie Bewusstsein existiert, gegenüber den vielen Hunderttausenden von Jahren, in denen wir relativ gut – immerhin sind wir ja nicht ausgestorben – gelernt haben, uns unbewusst mit unseren Artgenossen zu arrangieren und in der Welt zurechtzufinden?
Schon vor Urzeiten haben wir als Jäger und Sammler gelernt, dass die goldgelben, reifen Trauben den grünen, unreifen vorzuziehen sind. Da braucht der Abbildung einer reifen Traube doch heute niemand ein „Schmeckt gut“ hinzuzufügen. Auch die Sehnsucht nach „Mittelmeer“ hat sich seit Jahrhunderten fest im kollektiven Unterbewusstsein der Teutonen eingebrannt und wird durch geheimrätliche Reisen zur Zitronenblüte, blaue Grotten nebst Sonnenuntergängen vor bella Napoli und Wochenendhäuser der Toskanafraktion lebendig gehalten. Daher verkaufen Magier, denen es gelingt, diese Träume nach ars vivendi mit billigstem alkoholhaltigem Sprudel zu verbinden, jährlich Tausende Paletten von Prosecco.
Der schöpferische Drang der Menschen, die Welt zu erkunden und für sich nutzbar zu machen, hat auch um die Weinwelt keinen Bogen gemacht. Warum auch? Die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden genutzt. In der Produktion genauso wie im Verkauf. Und warum sollte ausgerechnet beim Wein nicht mit unsauberen Tricks gearbeitet, nicht gelogen, getäuscht und manipuliert werden? Hier aufzuräumen, den Panschern und Lügnern das Handwerk zu legen, ist ein alter Traum der Menschheit. Shakespeare hat diesem Traum ein eigenes Drama, den Sturm, gewidmet. Auf einer einsamen Insel studiert Prospero die – aus der Perspektive des Mittelalters – magischen Künste der modernen Technik. Dabei missbraucht er Ariel, den guten Geist der Aufklärung, zur Manipulation seiner Mitmenschen. Für Shakespeare hat der Traum ein gutes Ende: Der bekehrte Prospero schwört, sein Leben zu ändern und seine schöpferischen Fähigkeiten nur noch zum Wohl der Menschheit zu nutzen. Ein schöner Traum, über den wir angesichts der rasanten Entwicklungen im Bereich des globalisierten Food-Designs nur müde lächeln können.
Stopp! Formiert sich nicht gerade die Gegenbewegung? Verzeichnet die Organisation Slow Food nicht rasant wachsende Mitgliederzahlen? Ist die Ökobewegung nicht im Zentrum unserer Gesellschaft angekommen? An den Universitäten werden Lehrstühle für Ökologie eingerichtet, und Jahr für Jahr wächst der Kreis der Winzer, die ihre gute Ausbildung dazu einsetzen, authentische und ökologisch verantwortbare Weine herzustellen. Während die geschmackoptimierten Coca-Cola-Weine der Plastico-fantastico-Fraktion in Supermarktregalen und Jetsetabsteigen ihre globalisierten Triumphe feiern, merken immer mehr Weinliebhaber, dass sie sich eigentlich nach etwas anderem sehnen. Nach einem ehrlichen, anständigen Wein.
Die Magie des Weins liegt nicht nur im Verkauf. Wein ist selbst ein magisches Getränk, in unserem Kulturkreis ist es das magische Getränk schlechthin. Weit mehr als Wasser, Milch und Brot umgibt Wein seit dem Altertum eine geheimnisvolle Aura. Daran konnten auch Louis Pasteur und der französische Chemiker Lavoisier nichts ändern, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts die „kleinen Tierchen“ entdeckten, die den Fruchtzucker in Alkohol umwandeln. Und auch die seit Generationen flächendeckende Aufklärung durch Heinz Rühmann als „Oswald Kolle des Weins“ in dem wunderschönen Film Feuerzangenbowle liefen ins Leere. Der Wein ist und bleibt Magie: Mit heiligen Formeln und geheimnisvollen Präparaten braut der Winzer in seinem Alchemistenkeller im großen Kessel seinen Zaubertrank. Und es ist Magie. Denn im Keller vollzieht sich mehr als nur eine chemische Wandlung. Aus Trauben wird ein Rauschgetränk, ein die Zunge lösendes Kommunikationswunder, ein vorzüglicher Essensbegleiter, das Blut Gottes, ein Sorgentröster, ein Potenzmittel, eine Wahrheitsdroge … Es entstehen neue Wirklichkeiten. Und schon sind wir wieder mittendrin, in der Magie. Aber das ist ihre andere, ihre schöne Seite. Ist es nicht wunderschön, sich von einem guten Wein verzaubern zu lassen? Klar, viele Menschen haben Angst davor. Auch viele Weintrinker. Sie kokettieren zwar ein wenig mit dem Rausch, wollen aber unbedingt die Kontrolle behalten. Statt sich dem Wein hinzugeben, zücken sie ihr organoleptisches Seziermesser und zerlegen den Wein in seine chemischen Bestandteile. Getreu dem Motto Marc Aurels:
Man dringe bis ins Innerste vor, indem man die Teile voneinander trennt, und gelangt, dank dieser Analyse, zu ihrer Verachtung.
Dabei kann Analyse auch ganz anders sein. Es ist ein tolles Spiel, in einer verdeckten Probe Weine zu erkennen, Bodenformationen, Klimate, Winzer zu schmecken. Aber auch hier ist man dann ganz schnell wieder mit Situationen konfrontiert, in denen man glaubt, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Wie soll denn das bitteschön möglich sein, im Wein die Unterschiede diverser vierhundert Millionen Jahre alter Sedimente eines tropischen Meeres zu schmecken? Mann und Frau kann. Probieren Sie es.
Ob die Magie nun böse ist oder gut: Sie verstehen, sie auf eine logische Ebene herunterbrechen ist immer nur in Ansätzen möglich. Klar, wir können im Nachhinein reflektieren und herausbekommen, warum wir hier jemandem gerade wieder auf den Leim gegangen sind, welcher Archetyp in uns durch den Wein wachgekitzelt wurde, in welchen Seelenzustand wir uns durch den Wein haben bringen lassen oder wie sehr der Rausch unsere Rezeption von Realität verzerrt hat. Meinen wir. In Wirklichkeit bleibt auch dies zum größten Teil eine Illusion. Wenn, wie uns die moderne Hirnforschung aufzeigt, nur eine von hunderttausend Informationen, die unser Körper empfängt, dem bewussten Teil unseres Hirns zugänglich ist, kommen wir nicht umhin zu akzeptieren, dass wir es immer nur mit einem minimalen Ausschnitt von Wirklichkeit zu tun haben.
„Put your faith in what you feel, and not in what you see“, heißt es in dem amerikanischen Volkslied vom Lemon Tree, dessen Blüten so wunderschön anzusehen sind und dessen Frucht so sauer schmeckt: „Very pretty and the flower is sweet, but the fruit of the poor lemon is impossible to eat.“
Aber spinnen wir die Idee ruhig mal weiter. Selbst wenn es theoretisch möglich wäre, unser Hirn eine gute Weile lang rattern zu lassen, um alle Informationen einer Werbebotschaft oder eines Glases Wein in dem für unser Bewusstsein zugänglichen Rechenzentrum zu verarbeiten, dann wüssten wir vielleicht, wie die Werbebotschaft strukturiert ist und wie sich die Aromatik des Weins zusammensetzt. Aber wissen wir dann auch, ob die Werbebotschaft stimmt und ob der Wein echt ist?
Die billige 80er-Jahre-Beerenauslese aus dem Supermarkt für ein paar Mark fuffzig – da musste man nicht lange verkosten und konnte eigentlich davon ausgehen, dass jeder Verbraucher trotz behördlich abgesegneter Etiketten zumindest ein unbehagliches Gefühl bekommt. Und beim Eiswein im Discounterregal für vier Euro neunzig erst recht. Blöd nur, dass die Beerenauslesen gepanscht waren und der Eiswein weingesetzlich absolut in Ordnung ist. Und nun? Sollen wir kapitulieren?
Einen spannenden neuen Denkansatz liefert uns die moderne Physik. Edward Witten ist Professor für mathematische Physik am renommierten amerikanischen Institute for Advanced Study in Princeton. Mehrfach wurde er für seine bedeutenden Beiträge zur Physik und Mathematik ausgezeichnet. Schon seit den 80er-Jahren beschäftigt er sich so ganz faustisch mit dem, was „die Welt im Innersten zusammenhält“, mit den Superstrings, den Urgebilden des Weltalls. Seine Arbeiten werden von vielen Physikern als derzeit wichtigste Beiträge für eine sogenannte vereinheitlichende Theorie angesehen, das heißt eine Theorie, welche die Quantenmechanik und die allgemeine Relativitätstheorie zusammenführt. Richtig kompliziert also und jenseits des Vorstellungsvermögens von Normalsterblichen. Das Interessante ist der Name dieser Theorie. Edward Witten hat sie die M-Theorie getauft. Und er sagt, der Buchstabe M stehe wahlweise für Magie, Matrix oder Mysterium? Und auch das Wort Mutter sei passend. Wahlweise. Welch provozierendes Wort für ein logisch-kausales Wissenschaftsverständnis! Aber was für ein neuer Grad von Freiheit! Wenn wir wollen, auch beim Wein. Wir akzeptieren, dass wir keine Theorie des Weins mit den Kriterien des bürgerlich-rationalistischen Wissenschaftsbegriffs beschreiben können. Wir nehmen uns die Freiheit zu wählen, welche Aspekte des Weins uns gerade wichtig und interessant erscheinen. Wir entscheiden, wo wir uns dem Wein hingeben wollen und wo wir uns kritisch distanziert annähern. Wir entscheiden, welche Erscheinungsform von Wein auch immer im Vordergrund erscheint: ob gute oder böse Magie, naturwissenschaftlich-logische Matrix, geheimnisvolles Mysterium, gebärend und verschlingend. Magie, Matrix, Mysterium, Mutter …
The Beatles
Sehr zum Ärgernis derjenigen Weinproduzenten, die mit einem bestimmten Kapitaleinsatz regelmäßig ein gleiches Geschmackserlebnis herstellen wollen, ist es auch heute noch fraglich, ob die „Übung“ gelingt. Nicht dass aus Trauben kein Wein würde. Aber trotz aller Erfolge der önologischen Frankensteins ist es bislang noch nicht gelungen, eine perfekte Show abzuliefern und dabei Trauben in einen Wein mit einem exakt vorgegebenen Aromenspektrum zu verwandeln. Schlechte Forscher, schimpft die Industrie, zu wenig Geld, schimpft die Uni. Oder ist es Eigendynamik einer nicht bezähmbaren Weinnatur? Aber warum eigentlich bezähmen?
Mother Nature’s Son gehört sicher nicht zu den stärksten Songs der Beatles. Aber was Paul McCartney und John Lennon hier nach ihrer Indienreise zu Maharishi Mahesh Yogi singen, zeigt auf einfache und schlichte Art, wie wir der Natur ganz anders begegnen können:
Sit beside a mountain stream,
See her waters rise,
Listen to the pretty
Sound of music as she flies.
Wie schön ist es, auf einer Weinbergsmauer zu sitzen und in die Landschaft zu schauen, einfach nichts zu tun, einfach nur zu sitzen und zu sinnieren.
Wie schön ist es, im Keller zu stehen und die Fässer zu betrachten, das Blubbern der Gärung zu hören, die ruhige Schwingung der Gewölbe zu spüren.
Wie schön ist es, einfach ein Glas Wein zu trinken. In aller Ruhe. Zu spüren, wie sich die Blume entwickelt, sich der Wein im Glas langsam erwärmt, wie er seinen Geschmack verändert. Einfach nur so. Einfach nur schmecken, es geschehen lassen. Ganz langsam webt sich ein geheimnisvolles Band aus Wein, Landschaft, Erde, Herkunft, Identität, Wasser, Trauben, Steinen, Himmel, Heimat, Luft, Staub, Wind, Sound …
Für uns moderne Menschen ist es nicht leicht, sich auf eine solche Ebene einzulassen. Wir sind nicht gern passiv. Im Gegenteil. Wir lieben es, aktiv zu sein, die Welt und uns selbst zu kontrollieren. Als Teil einer visuellen Gesellschaft bedienen wir uns primär der Augen. Das Auge unterscheidet, trennt aktiv die äußere Welt in verschiedene Farben Formen. Die optischen Reize, die auf unsere Netzhaut treffen, werden mit bekannten Bildern verglichen und weiterverarbeitet. Mit Bildern kennen wir uns gut aus. Auch mit Farben. Die deutsche Sprache kennt allein hundertzwanzig verschiedene sprachliche Varianten von Blau.
Die Dominanz des Visuellen feierte ihren Durchbruch mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, durch den Zeitgeist der Aufklärung mit seiner Hinwendung zum Licht, mit der Fokussierung auf das Individuum, auf das psychologische Ich.
Ward mit Musik ich erfreut,
schlürfte das Ohr Melodien:
Stimmen ertönten laut
und es schlugen die Berge die Orgel.
Und es hallt’ Melodien wider der hangende Fels.
Bald dämpft ehernes Werst
der Besaitung sanftere Töne,
Antwort hallte der Flöt’ ab von dem Berge Gesträuch
nun mit erzitterndem Beben,
und dann in dem vollen Gesanglaut
schallt von dem Fels die Musik,
wie sie entströmet dem Erz.
Also vereint der Gesang Anmut die getrennten Gestade,
und einstimmig entschallt Hügeln und Strömen Musik.
Venantius Fortunatus, der aus Venetien stammende Bischof von Poitiers, bereiste die Mosel von Metz bis Andernach im Jahr 588 zusammen mit dem Frankenkönig Childebert II. Wenn wir heute seine Reisebeschreibung De navigio suo lesen, scheint es uns, als sei er blind gewesen. Als hätte er die Mosel nicht gesehen, sondern gehört.
Vor der visuellen lag die auditive Zeit. Das Ohr war das wichtigste Organ im Kontakt mit der Umwelt. Nicht, dass die Menschen in dieser Zeit nichts gesehen hätten, aber das Sehen hatte eine andere Qualität, es erinnert uns heute mehr an ein tranceartiges Schauen.
Hier, möcht’ ich glauben,
treffen auch die ländlichen Satyrn mit den blauäugigen Najaden zusammen
hart am Uferrand, wenn jene bocksfüßigen Pane die ausgelassene Lüsternheit treibt
und sie im flachen Wasser hüpfen und ihre furchtsamen Schwestern da unten im Strome erschrecken,
tölpelhaft klatschend und patschend im Wasser.
Oft auch musste mitten aus den Rebhügeln,
eben Trauben naschend
bei den befreundeten Nymphen der Berge,
das schöne Flusskind Panope laufen
und flüchten vor den Faunen,
den geilen Gesellen, den Göttern der Feldflur.
Man erzählt auch,
wenn am Mittag hoch oben die feurige Sonne steht,
dass dann gemeinsam in der Flut die Satyrn
mit den Schwestern, die aus der gläsernen Tiefe kommen,
in schöner Harmonie ein Tänzchen üben,
sofern die allzu glühende Hitze Stunden schenkt,
die nicht des Menschen Tun und Treiben stört.
Dann tanzen die Nymphen in ihren Fluten
und treiben ihr Spielchen, und dümpeln die Satyrn
wohl unter das Wasser und gleiten behände
den plumpen Schwimmern mitten aus den Händen weg,
dieweil noch jene betrogen die glitschigen Glieder erhaschen und doch nur blankes Nass
statt einer schönen Maid in ihren Armen drücken.
So weit Decimius Magnus Ausonius, Erzieher des späteren römischen Kaisers Gratian am Hof in Trier. Sein berühmtes Gedicht in Hexametern, die Mosella, verfasste der in Bordeaux geborene studierte Rhetoriker um das Jahr 371 nach Christus. Es ist das älteste bekannte Poem über die Mosel.
Die auditive Phase scheint sehr eng mit der Bewusstseinsentwicklung der Menschen verknüpft zu sein. In fast allen Zeugnissen des Übergangs der alten matriarchalischen Kulturen zum Patriarchat finden sich die „Stimmen der Götter“. „Am Anfang war das Wort“, steht in der Bibel. Nur wenn man richtig gehört, wenn man „verstanden“ hat, kann sich „Verstand“ entwickeln.
Wenn wir heute bei Neugeborenen feststellen, dass sich der Säugling den Weg zur Mutterbrust „erriecht“, werden wir an die älteste der drei Repräsentationsebenen erinnert. Fühlen und schmecken (was exakt genommen ja ein Riechen ist) war für unsere Vorfahren die dominierende Sinneserfahrung – Auswahl der Nahrung, Zugehörigkeit zur Familie, zur Gruppe. Diese Orientierung und die Sicherheit durch den Geruchssinn, der schon den Reptilien das Überleben sicherte, ist, wie wir nachweisen können, auch heute noch vorhanden und prägt unser Sozialverhalten weit mehr, als wir wahrhaben wollen. Es ist kaum zu glauben, aber gut fünf Prozent unserer Gene sind für den Geruchssinn verantwortlich! Einige davon sind zwar, da Riechen immer mehr an Bedeutung verliert, mittlerweile durch Mutationen verkümmert. Aber trotzdem: Wenn wir heute feststellen, in welch großer Verdünnung einzelne Moleküle noch gerochen werden, stellt dies die „Messgenauigkeit“ des Auges weit in den Schatten. Denn selbst bei Fachleuten werden zum Beispiel zehn Prozent Abweichung bei der Wellenlänge der Farbe Rot nicht signifikant wahrgenommen.
Problematisch wird es nur dann, wenn wir uns des Riechens bewusst werden wollen und dabei unseren Sinneseindruck sprachlich auszudrücken versuchen. Da die Dominanz des Riechens aus einer vorsprachlichen Entwicklungsperiode stammt, ist dies im Prinzip unmöglich. Die sprachlichen Krücken, die wir zur Kommunikation von Geschmack bei Wein benutzen, geben davon ein beredtes Zeugnis. Im Grunde ist es doch lächerlich, wenn wir einem Wein den Geschmack von Pfirsich und Mango zuordnen. Das wäre, wie wenn uns bei der Beschreibung eines Bildes von Picasso nichts anderes einfiele, als dass es uns an ein Bild von Magritte erinnert. Und bei der Beschreibung des Geschmacks von Pfirsichen sagen wir dann, sie schmecken nach Wein …
Die auditive Repräsentationsebene ist näher am Geschmack. Hier wird die Welt nicht außen, sondern im Inneren wahrgenommen. Während das Objekt auf der visuellen Ebene vom Betrachter entfernt bleibt, dringt es beim Hören als Schwingung in den Körper ein. Beim Schmecken geht das noch eine Stufe weiter. Das gesamte Objekt dringt nicht nur in den Körper ein, sondern es verschmilzt letztlich mit ihm. Es ist dies die ursprünglichste, archaischste Rezeption von Welt. Irgendwann sind wir das, was wir gegessen haben, sind wir der Wein, den wir getrunken haben.
Wo die objektive Bildersprache versagt, erlauben uns Metaphern aus der auditiven Welt, die sprachlose, archaische Welt des Geschmacks zu beschreiben. Unter einer Weinbeschreibung wie „stark fraktionierter Wein mit übertriebenem Holzeinsatz und scharfem Alkoholabgang“ kann sich nur ein Insider etwas vorstellen. Da klingt „extrem unharmonisch, wie heavy metal“ doch wesentlich verständlicher. Und wie unnütz sind Analysedaten und statistisch abgesicherte Aromenprofile, wenn uns ein gereifter Grand Cru Altenberg von Jean-Michel Deiss in eine Kathedrale mit gregorianischem Chorgesang entführt.
Mother Nature’s Son. Wenn wir eine passive Rolle einnehmen, mit den Augen nach innen schauen, wenn wir still werden, uns öffnen und einfach nur zulassen, dann können wir ihn spüren: den Sound des Weins.
Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte
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