Uta Beth/Anja Tuckermann:
Junge VietnamesInnen in Deutschland
Originalausgabe
© 2008 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin
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Herausgeber:
Archiv der Jugendkulturen e.V.
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Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)
Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)
Privatkunden und Mailorder: www.jugendkulturen.de
Lektorat: Klaus Farin
Titelbild: Jörg Metzner
Layout: Cornelia Agel, Rasmus Stucke
Druck: werbeproduktion bucher
ISBN Print: 978-3-940213-43-3
ISBN E-Book: 978-3-940213-89-1
archiv
der jugendkulturen e.v.
Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt vor allemauthentische Zeugnisse aus den Jugendsubkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der interessierten Öffentlichkeit in seinen derzeit 300 qm umfassenden Bibliotheksräumen zur Verfügung. Darüber hinaus gibt das Archiv der Jugendkulturen eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine eigene Buchreihe mit sechs Titeln jährlich heraus, in denen sowohl sachkundige WissenschaftlerInnen, JournalistInnen u. a. über Jugendkulturen Forschende als auch Szene-AktivistInnen zu Wort kommen. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine enge Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Subkulturen und ist daher immer an entsprechenden Angeboten, Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert.
Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de
„Für gewöhnlich hat jeder Mensch nur eine Heimat.“
Nhu Quynh Nguyen Thi
Vorwort
Mein Vietnam
Tien-Dung Tran
Deutschland und Vietnam – wo sind die Berührungspunkte?
Boat people
VertragsarbeiterInnen
Aus DDR–Staaatsakten im Bundesarchiv Berlin
Nach der Wiedervereinigung
Die Familie
Konflikte in der Familie
Freizeit
Identität
„Vietnam ist für mich so eine Art Fluchtmöglichkeit.“
Thai Son Ngo, 19, Schüler
„Sie zeigen die Liebe nie offen.“
Huy Phuc Dang, 14, Schüler, und Hang-Ni Nguyen, 14, Schülerin
Alles im Wandel
Eine Spurensuche in den Großhandelszentren Berlin-Marzahn und -Lichtenberg
„Ich lasse das an mir abtropfen“
Hang, 18, Auszubildende
„Ich bin sehr sauer, wie mit Menschen hier 142 in diesem Land umgegangen wird“
Tamara Hentschel, Leiterin des „Reistrommel e.V.“ in Berlin-Hohenschönhausen
Gedichte von Thien Long, 24 Jahre
„Meine Mutter wollte, dass ich hierher komme“
Pham Do An, 20, Schüler
„Zurzeit lebe ich bei einer deutschen Familie.“
Nguyen Ngoc Tuan, 14, Schüler
Die Odyssee des Schülers Duy
Süddeutsche Zeitung vom 20.7.2006
„Ich dachte, ich wäre der Einzige.“
Khanh Duy Trieu, 16, Schüler
„Ich genieße einfach das Leben.“
Minh Nguyen, 16, Schüler
Hat die vietnamesische Gesellschaft mit der Aufarbeitung der boat-people- Vergangenheit begonnen
Ein Gastbeitrag von Rupert Neudeck
Mein Vietnam. Dein Vietnam. Unser Vietnam
Auszüge von der Internet-Seite www.unser-vietnam.de
Forum: Wie seid ihr nach Deutschland gekommen?
Wie entstand www.unser-vietnam.de?
Hoang Thai Hien
Kein Ort, nirgends
Bich Thuy Dam
New Generation – West & East
Auszug aus der Familienzeitung des „Reistrommel e.V.“
Gibt es Kontakt oder sogar Freundschaften zwischen Kindern von boat people und Kindern von ehemaligen Vertragsarbeitern? Eine Diskussion
1. Hoang Thai Hien
2. Mai Huong Nguyen und Nhu Quynh Nguyen Thi
3. Huynh Quoc-Bao
„Wenn man denkt, das ist richtig, dann tut man es eben.“
Thúy Nonnemann vom Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V.
Thich Nhat Hanh – Wege zu einem achtsamen Leben
Begegnung im Buddhistischen Meditationszentrum „Quelle des Mitgefühls“ in Berlin
Plum Village
Hang-Ni Nguyen
„Ich hatte wieder Freude am Leben.“
Anh Nguyen
Gedichte von Tien-Dung Tran
„In Vietnam würde ich untergehen.“
Nguyen Duy Hoang, 20, Student
„Die Eltern gehen der Kinder wegen fort.“
Ein Rundgespräch in der vietnamesisch-deutschen Begegnungsstätte Dien Hong in Rostock
Vietnamesische Mädchen in Deutschland
„Das Selbstbewusstsein entsteht mit der Zeit“ Do Ngoc Anh
Das Idealbild einer vietnamesischen Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft
Thien Long
Warum kann es wohl passieren?
Eine Chance für das Gedeihen der Liebe. Auszug aus der Familienzeitung des „Reistrommel e.V.“ vom Juni 2000
„Selbstausbeutung bis zum Geht-nicht-mehr“
Phuong Kollath, Leiterin der Begegnungsstätte von Dien Hong, Rostock
„Ich habe Angst, dass meine Eltern mich ausstoßen.“
Thanh Vu Trong, 18, Schüler
Ein Blick auf das schwule Berlin aus mandelförmigen Augen
Thanh Vu Trong
Karaoke
In der Karaoke-Bar – auf der Suche nach der vietnamesischen Jugend
„Ich würde mich als Vietlinerin bezeichnen.“
Mai Huong Nguyen und Nhu Quynh Nguyen Thi, beide 23, Studentinnen
Ein Tet-Fest in Witten
Yen-Ngan Vu-Duy
„Erst mal Deutsch lernen!“
Thi Hoai Thu Loos Nguyen, Sozialarbeiterin und Sprachmittlerin bei Vinaphunu im Club Asiaticus, Berlin
„Brücke zwischen zwei Kulturen“
Thuy Tien, Studentin
„Intoleranz bringt mich richtig auf die Palme.“
Thu Thao Nguyen, 20, Studentin
Ausblick
Einige nützliche Adressen
Links
Ausgewählte Literatur
Danksagung
Die Autorinnen
Der Fotograf
Bildnachweis
„Nicht da ist man daheim,
wo man seinen Wohnsitz hat,
sondern wo man verstanden wird.“
Christian Morgenstern
Aber schon seit langem ist mir bewusst geworden, dass ich in zwei verschiedenen Welten lebe. Und es gibt Tage, an denen ich nicht genau sagen kann, wohin ich eigentlich gehöre – ein Konflikt, in welchem ich mich zwischen zwei Welten zu entscheiden habe ... Bin ich eine Vietnamesin oder doch mehr eine ausländisch aussehende Berlinerin? Einerseits bin ich stolz darauf, eine Vietnamesin zu sein, andererseits habe ich mir auch die Mentalität einer Berlinerin angeeignet und kenne Berlin wie meine Westentasche.
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich eine Vietlinerin bin und bleiben möchte. Ich verbinde diese zwei Welten in mir und mache sie mir zu meiner eigenen Identität. Man sollte seine heimatlichen Wurzeln niemals vergessen, aber es ist auch wichtig, sich an den Ort, an welchem man lebt und in meinem Falle aufgewachsen ist, anzupassen. Das Leben ist so vielfältig, trotzdem kann man es zu einer Einheit formen, um so Frieden zu erlangen.
Nhu Quynh Nguyen Thi
Vietnamesische Nudelsuppe stand am Anfang unserer Recherche zu diesem Buch immer auf dem Tisch: in einer Großmarkthalle, in einer Karaoke-Bar, bei einem Treff für vietnamesische Frauen und ihre Familien. Bei diesen ersten Begegnungen und Gesprächen trafen wir auf Menschen, die anscheinend überrascht von unserem Interesse für sie waren. Und die uns sehr viel halfen, indem sie sich öffneten, uns Tipps und Adressen gaben, uns weitervermittelten. Überall lernten wir interessante und interessierte Menschen kennen.
Von der gegenwärtigen Lebenssituation der Kinder vietnamesischer Einwanderer in Deutschland berichtet dieses Buch. Es erzählt von der Geschichte der Einwanderung und der Geschichte der Familien. Entstanden ist eine Momentaufnahme dieser Bevölkerungsgruppe im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, einer Zeit des großen Wandels, sowohl in den Immigrantenfamilien als auch in Vietnam.
Im Buch wird von Eltern berichtet, die einst zum Arbeiten oder Studieren in die DDR kamen – inzwischen sind die ersten nach der Wende in Ostdeutschland geborenen Kinder erwachsen. Und von den Nachkommen der vietnamesischen Bootsflüchtlinge in Westdeutschland und West-Berlin, die Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre in die Bundesrepublik einwanderten und mittlerweile häufig schon Großeltern sind.
Für uns war die Arbeit an diesem Buch ein ständiger Lernprozess. Je mehr wir über Familie, Alltag, Kultur, Religion, Denkweisen und Probleme wussten, desto mehr und genauer konnten wir fragen. Wir entdeckten einen anderen Blick auf das Leben und die Rolle des Einzelnen in der Welt. Wir haben von den Menschen gelernt, die sich für unsere Fragen Zeit nahmen.
Uta Beth & Anja Tuckermann
Ein armes Land, aber auch ein schönes Land.
Es liegt in Asien, direkt am Pazifischen Ozean.
Vietnam hat den längsten Sandstrand der Welt.
Die berühmtesten Städte sind: Saigon und Ho-Chi-Minh-Stadt.
Fast überall in Vietnam sind Läden.
In den Läden gibt es Souvenirs.
In den Wäldern gibt es Mücken, Affen, Schlangen.
2002 war ich in Vietnam, zum 2. Mal.
Da gab es komische alte Wohnhäuser aus Stein,
manche angestrichen, manche nicht, orange, gelb, grün, hellblau.
Ich war in Ho-Chi-Minh-Stadt.
Dort leben meine Tante und mein Onkel, sie reparieren Motorräder,
Mopeds, Fahrräder, Reifen.
Ein paar Mal war ich am Meer mit den Kusinen, zum Schwimmen.
Das Meer ist sehr salzig.
Meine Kusinen haben immer nur in Vietnam gelebt.
Das tollste Essen dort ist Tintenfisch, geschnitten, in Teig getaucht,
dann in Öl gebraten, so schmeckt es mir am besten.
Dann gibt es noch Suppen mit Tintenfisch,
und man kann zu allem Reis essen, vietnamesischen Reis,
der ist besonders; ich mag ihn am meisten, wenn er klebt.
Vietnamesischer Tintenfisch mit vietnamesischem Reis, das ist sehr gut.
Mango. Lychees.
Es ist wunderschön in Vietnam.
Die Geschichte Vietnams ist enger mit der unseren verbunden, als die räumliche und kulturelle Entfernung vermuten lässt. Beide Länder wurden geteilt durch den nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzenden und sich zunehmend verschärfenden „Kalten Krieg“ zwischen dem von der Sowjetunion angeführten Ostblock und den Westmächten unter Führung der USA: Deutschland bereits 1945, Vietnam 1954.
Nachdem Japan, das im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft hatte, aus Vietnam abgezogen war, rief Ho Chi Minh, Führer der Kommunistischen Partei im Norden des Landes, 1945 die Demokratische Republik Vietnam aus. Frankreich aber wollte 1946 seine aus Vietnam, Laos und Kambodscha bestehende Kolonie Indochina wieder in Besitz nehmen, obwohl es den Vietnamesen für ihre Unterstützung im Kampf gegen Japan die Unabhängigkeit versprochen hatte. Daraufhin nahmen Ho Chi Minhs kommunistische Streitkräfte den Kampf gegen die französische Kolonialarmee auf. Sie besiegten die Franzosen 1954 in der Schlacht von Dien Bien Phu, und noch im Juli desselben Jahres wurde Vietnam auf der Indochina-Konferenz in Genf entlang des 17. Breitengrades vorläufig geteilt: in den von der Sowjetunion, seinen Satellitenstaaten und der Volksrepublik China anerkannten kommunistischen Norden und den westlich orientierten, auch militärisch von Großbritannien und den USA unterstützten Süden. Die für 1956 in Aussicht gestellten Wahlen für eine unabhängige gesamtvietnamesische Regierung sollten das Land dann vereinen. Aus Angst vor einem Sieg des kommunistischen Nordens wurde die Wahl jedoch durch die 1955 in Südvietnam ausgerufene Republik Vietnam verhindert. Darauf stürzte das Land in einen grausamen Bürger- und Stellvertreter-Krieg, in dessen Kampfhandlungen die USA ab 1964 offen eingriffen. Der alsbald in Amerika und den Ländern seiner westlichen Verbündeten umstrittene, vor allem von der jungen Generation lautstark abgelehnte Vietnam-Krieg löste eine weltweite Protestbewegung aus, die auch das Leben in West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig veränderte.
Die Teilung Deutschlands, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Siegermächten beschlossen, war 1949 durch die Gründung zweier deutscher Staaten zementiert worden: Auf dem Gebiet der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszonen war die westlich orientierte Bundesrepublik Deutschland entstanden, auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone mit dem sowjetisch besetzten Teil von Berlin die Deutsche Demokratische Republik. Die drei West-Sektoren von Berlin waren zur selbständigen politischen Einheit von West-Berlin zusammengefasst worden. In dem alsbald auf allen Feldern ‚kalt‘ und ‚heiß‘ ausgetragenen mörderischen Konkurrenzkampf zwischen den Systemen waren natürlich auch die beiden deutschen Staaten verwickelt. Die Bundesrepublik Deutschland stand an der Seite der USA und damit auf der Südvietnams, die DDR an der Seite der nördlich des 17. Breitengrades gelegenen Demokratischen Republik Vietnam. Sie hatte die DRV bereits 1950 anerkannt und entwicklungspolitisch tatkräftig unterstützt, seit Ende der 50er Jahre zum Beispiel auch durch den Bauvon Fabriken.
Der blutige Krieg in Vietnam endete mit der bedingungslosen Kapitulation der südvietnamesischen Regierung und der Eroberung Saigons am 30. April 1975 durch die Truppen aus dem Norden. Nach einem Krieg von fast 30 Jahren um die Unabhängigkeit, die Vorherrschaft und die Einheit im Lande wurden Nord- und Südvietnam am 2. Juli 1976 vereint zur Sozialistischen Republik Vietnam. Regierungssitz wurde Hanoi. Saigon, ehemals Residenz der südvietnamesischen Regierung, wurde zu Ehren des 1969 verstorbenen Präsidenten der DRV umbenannt in Ho-Chi-Minh-Stadt.
In Vietnam hatte das vom Ostblock unterstützte System auf ganzer Linie gesiegt. Doch die Opfer, die der Krieg auf beiden Seiten gefordert hat, waren unvorstellbar. Etwa 2 Millionen Vietnamesen waren getötet, 3 Millionen verwundet, Hunderttausende von Kindern zu Waisen gemacht worden. Auf amerikanischer Seite waren etwa 59.000 Soldaten gefallen, 153.000 verwundet. Zur traurigen Bilanz des Vietnam-Krieges gehört weiter, dass fast 1,3 Millionen Vietnamesen ihre Heimat verloren und fast zehn Prozent der Anbaufläche des Landes durch die verheerenden Flächenbombardements der USA mit Napalm und dem dioxinhaltigen Entlaubungsmittel „Agent orange“ verwüstet waren – mit teils irreparablem ökologischen Schaden. Ganz zu schweigen von den genetischen Folgeschäden bei Hunderttausenden von Neugeborenen.
Der „Kalte Krieg“ aber ging weiter, der „Eiserne Vorhang“ schien für die Ewigkeit errichtet – eine Ewigkeit, die unter dem Einfluss der politischen Umwälzungen in den europäischen Ostblockstaaten keine 15 Jahre mehr dauern sollte. 1989 wurde der „Eiserne Vorhang“ durchlässig, die innerdeutsche Grenze geöffnet, die DDR aufgelöst und Deutschland 1990 wiedervereinigt. Von den politischen Ereignissen waren auch die in Ost-und West-Deutschland lebenden Vietnamesen betroffen. Ihre anfängliche Begeisterung nach dem Mauerfall aber legte sich schnell angesichts ihrer unterschiedlichen Sozialisation – die einen waren vor der sozialistischen Regierung Vietnams geflohen, die anderen gerade von dieser Regierung als Vertragsarbeiter in die DDR geschickt worden. Bei den durch ihre Fluchterlebnisse traumatisierten „boat people“ brachen die alten Wunden wieder auf. Die VertragsarbeiterInnen wiederum verloren mit dem Ende der DDR ihre Arbeit und damit das Aufenthaltsrecht. Plötzlich gab es auch unter den VietnamesInnen „Ossis“ und „Wessis“, hatten sie neben dem historischen Nord-Süd-Konflikt mit einem Mal auch ein Ost-West-Problem.
Die meisten Deutschen wissen wenig über das Leben der VietnamesInnen. Denn hüben wie drüben hat das Engagement für bzw. gegen den Krieg in Vietnam nicht zu einer engeren persönlichen Beziehung mit den VietnamesInnen in Deutschland geführt. In der DDR wurde von vietnamesischer und deutscher Seite jeder Kontakt zur Bevölkerung systematisch verhindert, und in der Bundesrepublik, die der Protest gegen den Vietnam-Krieg so polarisiert und nachhaltig erschüttert hatte, gab es trotz der mit allen Mitteln geförderten Integrationspolitik für die boat people nur wenige direkte Berührungspunkte. Dabei spielte eine Rolle, dass es der kritischen Jugend in West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland bei ihrem Protest weniger um Vietnam als um den Kampf gegen das Establishment ging. Im Verlauf der deutschen Protestbewegung gegen den Krieg, in dem ein Großteil der so genannten 68er offen mit Ho Chi Minh und dem Norden Vietnams sympathisierten, wurde immer deutlicher, dass sich hier vor allem der Konflikt mit der älteren Generation Bahn brach. Mit den Eltern und Großeltern, die ihre Rolle im Dritten Reich total verdrängt, über ihre nationalsozialistische Vergangenheit geschwiegen und an die Stelle einer kritischen Auseinandersetzung den Wiederaufbau zum „Wirtschaftswunderland Deutschland“ gesetzt hatten. Der Aufstand der Jugend richtete sich in erster Linie gegen die muffigen 50er Jahre, rechnete ab mit einer Erziehung, die Fleiß, Disziplin, Unterordnung und Anpassung verlangte und stets darauf schielte, einen „guten Eindruck“ zu machen. Stattdessen wurde nun eine antiautoritäre, emanzipatorische, soziale und antikapitalistische Erziehung propagiert, deren Ziele durch die breite und sehr kontrovers geführte Diskussion weit ins öffentliche Bewusstsein vordrangen und in der Folge West-Berlin und die Bundesrepublik tatsächlich tief greifend verändern sollten. Die aktuelle Situation Vietnams geriet darüber in Vergessenheit.
Heute leben im wieder vereinigten Deutschland etwa 115.000 Vietnamesen, allein in Berlin sind es knapp 10.000, wobei die ca. 3.000 Eingebürgerten, die vietnamesischen AsylbewerberInnen und natürlich die Illegalen nicht mitgezählt sind. In den letzten Jahren wurden außerdem zahlreiche Jugendliche und Kinder schon von sechs Jahren an von ihren Eltern nach Deutschland geschickt – hier toleriert man sie, bringt sie in Jugendheimen unter, bis sie 16 Jahre alt sind, und schickt sie dann in der Regel zurück. So gut wie niemand bekommt davon etwas mit.
Die Probleme, vor allem für die Familien der ehemaligen Vertragsarbeiter, sind vielfältig: für die Kinder, die sich in zwei Welten bewegen, für die Eltern, die das nicht schaffen und unter größten Mühen den Lebensunterhalt sichern.
Die VietnamesInnen leben unauffällig in der deutschen Gesellschaft, betreiben ihre Geschäfte, ihre Restaurants, Imbisse, Läden und Stände mit Textilien, Lebensmitteln, Blumen und – vor allem für ihre Landsleute – mit Videos, DVDs, CDs und Zeitungen; sie sind arbeitsam, freundlich und sehr reserviert. Wenn überhaupt, finden sie Aufmerksamkeit als Opfer fremdenfeindlicher Übergriffe, als Verkäufer der berüchtigten Zigaretten-Mafia oder – ja, als gute SchülerInnen und zielstrebige StudentInnen. Wer weiß eigentlich genau, wann, wie und warum sie hierher gekommen sind?
Als die siegreichen nordvietnamesischen Truppen nach dem Abzug der Amerikaner und der Eroberung Saigons am 30. April 1975 in Südvietnam einmarschierten, hatte das Leiden in Vietnam noch lange kein Ende. Aus Angst vor den Repressalien der neuen kommunistischen Regierung mit ihren Umerziehungs- und Arbeitslagern verließen Hunderttausende ihre Heimat. Flohen im Sommer 1975 zunächst die Angehörigen der Elite, hochrangige Militärs und Beamte, so kam es ab 1978 zu einer Massenflucht ungeheuren Ausmaßes. Hunderttausende – darunter auch die verfolgten chinesischstämmigen Vietnamesen aus dem Norden – flohen auf zumeist seeuntüchtigen Booten unter dramatischen Umständen über das südchinesische Meer, versuchten nach Hongkong, Macau oder Singapur zu entkommen, und mussten für die Überfahrt nicht selten ihr gesamtes Vermögen hergeben. Man schätzt, dass auf der Flucht allein 400.000 bis 500.000 Menschen den Tod fanden. Sie ertranken, versanken mit den maroden und überfüllten Schiffen in stürmischer See oder wurden von Piraten gefangen genommen, vergewaltigt, ins Meer geworfen und von Haien getötet. Dennoch überlebten mehr als 200.000 der so genannten boat people. Sie kamen in die Auffanglager in Hongkong und in Malaysia und hofften dort auf eine Aufnahme durch Drittländer wie die USA, Frankreich, Australien, Kanada oder die Bundesrepublik Deutschland. Bis 1982 emigrierten aus politischen Gründen und wirtschaftlicher Not 1.218.000 VietnamesInnen und ließen sich in über 16 Ländern nieder.
Ein Kontingent von etwa 36.000 boat people fand bis Mitte der 80er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin eine neue Heimat. Manche erinnern sich noch, wie die VietnamesInnen – sommerlich bekleidet, ihre ganze Habe in Plastiktüten – im Winter aus dem Flugzeug stiegen und von MitarbeiterInnen der Wohltätigkeitsvereine in Decken gehüllt wurden, bevor man sie in Bussen in die Auffangheime brachte. Maßgeblich an ihrer Aufnahme beteiligt war der deutsche Journalist Rupert Neudeck, den das Elend der boat people umtrieb und 1979 zur Gründung eines privaten Hilfskomitees unter dem Namen „Ein Schiff für Vietnam“ veranlasste, zusammen mit seiner Frau Christel und prominenten Freunden wie dem Schriftsteller Heinrich Böll. Der für sie zu einem Hospitalschiff umgebaute Frachter „Cap Anamur“ mit einem Team aus freiwilligen Technikern, Logistikern, Ärzten und Pflegern an Bord tauchte erstmals am 13. August 1979 im Chinesischen Meer auf. Bis 1986 hat die 1982 in „Cap Anamur“ umgetaufte humanitäre Hilfsorganisation, die noch heute existiert und boat people an anderen Brennpunkten der Welt aufnimmt, insgesamt 10.375 vietnamesischen Flüchtlingen das Leben gerettet.
Im Rahmen des Kontingentflüchtlingsgesetzes von 1980 hatten die boat people in der Bundesrepublik Deutschland den Status einer privilegierten Flüchtlingsgruppe mit sofortigem Anspruch auf unbefristeten Aufenthalt, Arbeitserlaubnis und sämtliche Eingliederungshilfen wie Sprachförderung, soziale Beratung und Betreuung. Denn Ziel war von vornherein die dauerhafte Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft. Bis 1990 waren es insgesamt 45.779 Kontingentflüchtlinge und ihre im Rahmen der Familienzusammenführung nachgeholten Familienmitglieder, die – großzügig unterstützt von Wohlfahrtsverbänden wie dem Deutschen Roten Kreuz oder der Caritas und vielen sich unermüdlich für sie einsetzenden Einzelnen – hier tatsächlich ein neues Zuhause fanden.
Sie wurden so wie die Deutschen behandelt, und wenn sie nicht arbeiten konnten, haben sie Sozialhilfe bekommen. So gesehen hatten sie also keine finanziellen Probleme. Damals gab es für die Integrationsmaßnahmen auch genug Möglichkeiten – da sind ganze Familien gekommen, also, die Leute, die schon da waren, konnten ihre Eltern, Großeltern, Geschwister, Onkel, Tanten, die ganze Sippe nachkommen lassen, weil geglaubt wurde, Integration kann nur gelingen, wenn die ganze Familie da ist. (...) Ja, und damals, 1980, gab es in Westdeutschland eine blühende Wirtschaft. Arbeitskräfte wurden gebraucht. Die boat people haben sofort Arbeit bekommen. Sie konnten die Arbeitsstellen wechseln, wie sie wollten; also, wenn ihnen eine Arbeit nicht gefiel, haben sie sich eine andere gesucht und sofort eine neue gefunden. Die Integration ist auch deshalb ziemlich schnell gelungen, weil so viele Deutsche ihre Patenschaft angeboten haben und so viele Initiativen eingesprungen sind, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Die Leute haben also schnell Arbeit und eine Wohnung gefunden, was sehr wichtig ist für die Integration. Schon nach einem Jahr wohnten sie nicht mehr in den Heimen, ihre Kinder waren sehr gut in der Schule – und so gelingt Integration. Es muss eben entsprechende Bedingungen geben, damit sich die Leute einleben können.
Thúy Nonnemann, Mitglied der Härtefallkommission im Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V.
Die VietnamesInnen in der DDR sind unter völlig anderen Voraussetzungen nach Deutschland gekommen. Dort wurde zu keinem Zeitpunkt eine Integration der Ausländer angestrebt – vielmehr wurde alles dafür getan, damit die VertragsarbeiterInnen in der DDR n i c h t heimisch wurden. Sie wurden in erster Linie als billige Arbeitskräfte ins Land geholt. Denn bis zum Bau der Mauer im August 1961 hatten insgesamt 3,4 Millionen DDR-Bürger ihrer Republik den Rücken gekehrt – den dadurch entstandenen Mangel an Arbeitskräften versuchte die Regierung zu kompensieren, indem sie bilaterale Kooperations-Verträge mit sozialistischen Bruderstaaten wie Polen und Ungarn, später auch mit Algerien, Mosambik, Angola, Kuba und eben Vietnam abschloss. Anfangs hatte bei diesen Arbeitsverträgen durch das Angebot einer qualifizierten Ausbildung zum Facharbeiter auch der Gedanke der Solidarität eine gewisse Rolle gespielt, bald aber ging es nur noch um ihren Einsatz in der Produktion. Die VertragsarbeiterInnen mussten – ähnlich wie seit Mitte der 50er Jahre die „GastarbeiterInnen“ in der Bundesrepublik – z. B. in Schuhfabriken, in der Textil- und der metallverarbeitenden Industrie meist die schlecht bezahlten, schmutzigen und gefährlichen Arbeiten übernehmen, also Arbeiten, für die keine Berufsausbildung nötig war. Nach vier, später fünf, in Ausnahmefällen auch sieben Jahren wurden sie dann wieder nach Hause geschickt und durch andere ArbeiterInnen ausgetauscht. Sie konnten aber auch sofort – und zwar ohne Begründung – wieder zurückgeschickt werden: bei Verstößen gegen das Strafgesetz, die „sozialistische Arbeitsdisziplin“ und längerem Arbeitsausfall wegen Unfall, Krankheit oder Schwangerschaft. Erwartete eine Vietnamesin ein Kind, wurde sie vor die Alternative Rückkehr auf eigene Kosten oder Abtreibung gestellt. Die VertragsarbeiterInnen kamen allein und mussten, wenn sie verheiratet waren – und das waren circa die Hälfte – ihre EhepartnerInnen und Kinder zu Hause lassen. Untergebracht wurden sie in streng kontrollierten, nach Geschlechtern getrennten Wohnheimen, die sie von der Bevölkerung bewusst isolierten. In Deutschkursen von einem bis höchstens zwei Monaten lernten sie nur das Nötigste für ihre Arbeit, ansonsten waren sie auf Dolmetscher angewiesen.