INHALT

Information Page

Prolog

TEIL I Shiver Me Timbers

TEIL II Shore Leave

TEIL III Straight To The Top

Epilog

Diskografie

Filmografie

Bibliografie

Danksagung

Für Thomas Dylan Brooke — fürs Heranwachsen …

und für Laura-lou — fürs Genau-zur-richtigen-Zeit-Ankommen

PROLOG

Wasted and wounded … eine schwer gebeutelte Figur krümmt sich im Wind. Sie schleicht durch die Straßen, dann drückt sie sich in eine Häuserecke. Einen Laternenmast als einzigen Freund. Neon reißt den Himmel über der Stadt auf. Darüber — wie eine Nagelhaut — wartet geduldig der Mond und schaut zu …

Die Szenerie ändert sich ständig, aber kaum spürbar. Der Soundtrack: eine Großstadt-Symphonie aus U-Bahn, Straßenbahn und Sirenengeheul in endloser Schleife; die Kulisse: Verkehrsstau, das bröckelnde Mauerwerk einer Mietskaserne, U-Bahn-Eingänge; die Besetzung: Bettler, Hure, Trunkenbold. Und nur der Barhocker, die Isolation und alkoholischer Nebel können jetzt noch helfen.

Egal, ein Drink wird seine Erinnerung auffrischen, noch einer und die Sehnsucht nach dem Vergangenen ist betäubt, und das dritte Glas hilft, einfach nur zu vergessen. Erinnerungen? Zur Hölle mit ihnen! Ein paar Kurze werden sie verblassen lassen wie das Foto des Lebensgefährten auf dem Schminktisch einer Stripperin. Er reibt das Streichholz an seinem Fingernagel, zündet sich eine Zigarette an. Er nimmt einen tiefen Zug … und atmet aus. Und im kalten, bitteren Rauch steigen all die gestohlenen, zerfressenen und untragbaren Erinnerungen aufwärts zum Mond. Er stellt seinen Kragen hoch und bewegt sich in die Richtung des lockenden Lichts.

When everything’s broken … sein Blick gleitet von drinnen nach draußen, dorthin, wo die urbane Hölle tobt: Desolation Row mit einer Postleitzahl davor. Wo der Dampf aus den Lüftungsschächten aufsteigt und jede einzelne Straße zum Vorsprechen zu führen scheint. Um die Ecke — unter einer Laterne — heulen Rain Dogs den Mond an. Die Hydranten pumpen ihr unnützes Wasser auf das Pflaster, das glitzert und glänzt wie frisch gebohnertes Linoleum.

Die Geschäftsfassaden weichen zurück vor dem grellen Neonschein; wie eine alternde Hure, die das neugierige Licht nicht mehr erträgt. Aus einem Mietshaus pumpt ein knisterndes Radio lustlos Melodien, bei denen sich keiner mehr die Mühe macht mitzusummen. Lieder von gestern, stammelnd und zerhackt. Das Radio verliert den Sender.

And no one speaks English … Wir sind genau da, wo Spanish Harlem in die 42. Straße schwappt: „Du gehst da raus als ein Niemand“, ermahnt Warren Baxter Ruby Keeler, „aber zurückkommen musst du als Star!“1 Hier geht das Tollhaus mit dem Schmutz und dem Traum von einer Filmkarriere ins Bett. Das hier ist nicht die Schickimicki-Stadt; das hier ist ganz genau der Ort, wo die kleinen West Side Story-Gangster ins Helle gekrochen kamen, um Apotheken zu eröffnen, die rund um die Uhr aufhaben. So konnten sie sich gegenseitig ausrauben, wenn die Zeiten wieder mal richtig hart wurden.

An der gegenüberliegenden Ecke schnippen Beatniks mit ihren Fingern cool im Takt: Waiting For The Man. Die Nerven spielen auf Zeit — in endlosen Fahnen von Zigarettenrauch. Blinde Brownstones2 kauern sich zusammen. Da muss es doch mehr geben als nur das

Es gibt eine Ost-und eine Westküste — und dazwischen rund 5000 Kilometer gefüllt mit echtem Leben. London liegt näher an New York als Los Angeles. Kein Wunder, dass 90 Prozent der Amerikaner nicht mal einen Reisepass besitzen — es ist ein verdammt großes Land, warum sollten sie es verlassen? Wer will schon einen Ozean überqueren? Du streckst deinen Daumen am New Jersey Turnpike raus und befolgst Horace Greeleys Anweisung3 … du trampst los Richtung Westen.

Der Mittlere Westen ist das andere Ende von allem: da, wo sich Charaktere aus John-Ford-Filmen an Felsvorsprüngen festkrallen; da, wo die Spitze jeder Kirche, das Dach jeder hölzernen Schule die Geburt einer neuen Gemeinde markiert und ein Stück Zivilisation rauskratzt aus der endlos wuchernden Wildnis; und da, wo jeder kleine, aber entschiedene Schritt in einem mächtig anschwellenden Kehrreim von Shall We Gather At The River widerhallt.

Heutzutage ist es einfacher … du folgst einfach dem sich dahinschlän-gelnden Highway, der sich wie eine lange Blutspur durch Amerika zieht. Bald hast du die schäbigen Häuserblocks von New York hinter dir gelassen; vor dir breiten sich Weizenfelder und Berge aus, Wüsten und Wälder … das ist die Landschaft, die James Fenimore Cooper, John Steinbeck, Mark Twain und Jack Kerouac in dein Bewusstsein gemeißelt haben. Das ist das Herzstück von Amerika, die Seele und der regelmäßige Herzschlag der Nation — von der Elite der anderen Küste als Durchfahrtsland abgetan.

Aber in deinem Auto herrscht immer die Nacht. Alles, was du siehst, ist ein Abzug, gefiltert durch Sonnenbrille, Windschutzscheibe, Staub und den Qualm deiner Zigaretten. Der Wagenboden ist zugemüllt mit Bierdosen von Coors, Hamburger-Verpackungen und zerknüllten Kent-Schachteln. Der kaputte Buick frisst die Meilen, rast näher und näher zum Pazifik. Bis du plötzlich raus bist aus der Wüste und Palmen siehst, die den Horizont bewachen. Und schon übernimmt das Neonlicht. Aus einem bestimmten Grund setzt du die Sonnenbrille nicht ab an der Kreuzung Heartattack und Vine. Die Straßen krachen hier aufeinander wie Autos bei einem Verkehrsunfall. Und an jeder Ecke erwachen Träume und sterben wieder, sickern durch die Gullideckel den Abwasserkanal hinunter. Leben sind schnell ausgelebt unter dem Zeichen, das nun bald ein Jahrhundert lang für Hoffnung stand, für Illusion und Unsterblichkeit: Hollywoodland. Der Ort, an dem die Guten jung sterben und die Schlechten langsam zerbröckeln unter der Last ihrer zerbrochenen Träume. Los Angeles bietet Sonne, Palmen und einen grenzenlosen, blauen Ozean. Was die Stadt nur noch merkwürdiger macht. Die Kollision — und die heimliche Verständigung — zwischen dem hellen, offenen Raum und der dunklen Schlechtigkeit, die sich hinter den Fensterläden der alten großen Herrenhäuser versteckt, in den unteren tausend Hausnummern des Sunset Boulevard. Ein mieser Schnüffler öffnet ein Auge: Er sieht leere Zigarettenschachteln, kalten Kaffee in Styroporbechern und Taschenbücher, deren Rücken gebrochen sind wie die Glieder eines Kriegsveteranen. In der Ecke plärrt ein Fernseher unbeachtet vor sich hin. Ein britzelndes Neonschild wetteifert mit der elektrostatischen Störung eines Radios und dem Brummen des Kühlschranks. In Gedanken an die Rechnungen, mit deren Bezahlung er im Rückstand ist, blinzelt er durch die Jalousie. Etwas Verschwommenes und Unermessliches gibt sich zu erkennen: Da draußen ist Amerika … Willkommen zur Reise durch den Themenpark deiner Einbildungskraft. Willkommen im Leben, das sich hinter der Sonnenbrille abspielt. Willkommen in der Welt von Tom Waits … Hier sind die querschlagenden Romantiker — aus der Bahn geworfen von einem Weib, das es besser hätte wissen müssen; die verdrehten Psychotiker; die Einsamen, die Verlierer … hier reisen die Hobos ein Leben lang auf Schienensträngen, weil das für sie dem, was wir ein Zuhause nennen, am nächsten kommt. Hier ist es, wo eine gewisse verblasste Noblesse obligat ist; du bist vielleicht am Ende der Fahnenstange angekommen, aber du versuchst immer noch, deine Schuhe trocken zu halten. Und vielleicht — aber nur vielleicht — sind Schuhe der Schlüssel zu allem … Hier leben Realisten und Romantiker, Pragmatiker und Poeten, Tölpel und Träumer. Eine Welt, in der sogar das Piano getrunken hat und der alte Kerl, der da krumm in der Ecke sitzt — aber warte mal, schau noch mal genau hin, er ist nicht so alt, er sieht nur sehr, sehr verlebt aus — dieser Kerl jedenfalls haut in die Tasten und spinnt eine Kneipenhocker-Geschichte voller Mystik und Romantik und Poesie und Fantasie. Er nimmt uns mit: The Heart Of Saturday Night. Eine zarte kleine Reise inspiriert von einer Sinatra-artigen Träumerei, die Geschichte einer missbrauchten und geschlagenen Seele, verpackt in eine kleine Anekdote und verkauft mit einer Melodie, wie gemacht für jeden Rumtreiber in jeder Bar von Manhattan bis Malibu.

Dann plötzlich ändert sich das Tempo … als ob die mutierten Kinder von Kurt Weill und aus Frank Loessers Musical Schwere Jungen — Leichte Mädchen in einer Mülltonne gefangen wären — zusammen mit einem Zwerg, der eine Vorliebe für Howlin’ Wolf hat und mit einem Baseballschläger gegen den Eimer hämmert, um wieder rauszukommen. So klang es jedenfalls im Kopf von Tom Waits — nach seiner Hochzeit — und dieser Soundtrack sollte zur bemerkenswertesten Wiedergeburt in der Rockgeschichte führen, seit Paul Simon Scarborough Fair hinter sich gelassen hatte und den weiten Weg in die Townships von Südafrika machte, um Graceland zu finden …

Waits ist kein Kerl für Kompromisse. Und es kümmert ihn nicht wirklich, was du von ihm hältst. Du kannst ihn nur so nehmen, wie er eben ist … und das mag der Griesgram mit der Totengräberstimme aus den 70er-Jahren sein: ein gut abgehangener hangover aus den 50ern in einer Tunke aus Bebop und Kerouac, aus dem Schritt gekommen und unzeitgemäß von Geburt an. Oder der furchtlose musikalische Pionier der 80er-Jahre, der den … nenn’ ihn von mir aus Rock ’n’ Roll … auf eine Spritztour mitnahm, dann wie eine tote Katze in eine Tüte steckte und in den reißenden Fluss warf. Auf seiner Alben-Trilogie für die Plattenfirma Island schredderte Waits rücksichtslos die eigene Vergangenheit. Als ob er wünschte, den „alten Tom“ in eine kaum besuchte Bar seiner Kenntnis auszuführen, ihm ein paar Martinis zu viel einzuflößen, um ihn dann zum Spielen in den Straßenverkehr rauszuschicken.

Danach brach Waits alle Zelte ab und ging nach Westen. Infiziert vom Filmvirus saß er in Schwab’s Drug Store 4 auf einem Barhocker und wartete, bis Hollywood ihn abholte. Auch wenn man nicht behaupten kann, dass er besonders ansehnlich ist, sah man ihn doch über die Jahre Seite an Seite mit Leuten wie Jack Nicholson, Meryl Streep, Winona Ryder, Robin Williams oder Lily Tomlin spielen …

Was sich auch geändert haben mag, eines blieb gleich: Da war immer Waits der Gewitzte. Und das war ein Geschenk der Götter für die Rockjournalisten: Das Einzige, was sie tun mussten, war da zu sein, den Kassettenrekorder anzuwerfen und Waits den Rest tun zu lassen. Er hatte ein großes Maul und machte keine Gefangenen. Wie ein Maschinengewehr schoss er Salven aus Anspielungen, Weisheiten und erhabenem Zitatwerk. Während seine Kollegen sich mit den verzwickten Konsequenzen der Antwort auf Fragen wie „Was ist ihre Lieblingsfarbe?“ abkämpfen mussten, sprühte Waits über vor Witz — „Ich bin so pleite, ich kann Ihnen nicht mal Aufmerksamkeit schenken.“ — und Weisheit — „So etwa 43 Millionen Tonnen Meteoritenstaub fallen täglich vom Himmel.“

Prägnant und unbezahlbar. Waits ist ein wandelndes Bonmot, das nur darauf wartet, zitiert zu werden. „Wenn ich einen guten Spruch auf Lager hätte“, antwortete Bob Dylan einst müde, „würde ich ihn auch bringen.“ Waits brachte seinen die ganze Zeit — mit Würde und zeitloser Respektlosigkeit: „Ich bin vielleicht kein Alltagsbegriff, der jedermann bekannt ist, aber eine Legende meiner eigenen Einbildung.“

Die Songs sprudelten nur so aus ihm hervor: gebrochene Erzählungen und übernächtigte Balladen, bevölkert von einer Schar von Tunichtguten, Rumtreibern und unverbesserlichen Romantikern. Dann langweilte ihn das. Filmrollen, Bühnenlibretti, eine wachsende Familie und andere Ablenkungen nahmen ihn aus dem Spiel. Aber Waits fand sich an seine Vergangenheit gekettet, sie klebte an ihm wie Melasse.

Er wollte weiterkommen. Mit neuen Arbeiten, die ihn herausforderten. Nur alles, worüber sie sprechen wollten, war … ach, der übliche Cocktail aus Jazz … und dem Trinken … und Kerouac … aber Waits wusste, dass die Zeit reif war; und so behielt er fast die ganzen 90er-Jahre über das Profil eines Flüchtigen. Zu seinen zunehmend seltener werdenden Auftritten flogen die Fans aus der ganzen Welt ein; er wurde verfolgt von U2, von den Pogues; und allmählich und verspätet auch von der A-Klasse: Von Johnny Depp bis zu Jerry Hall bekannten sich alle als Tom-Waits-Fans.

Die meiste Zeit seiner Karriere weigerte er sich beharrlich, seriöse Interviews zu geben. Er autorisierte keine Biografie. Und bis heute zeigt er kein Interesse daran, seine Geschichte selbst niederzuschreiben. Als ich sein erster Biograf wurde — damals als Ronald Reagan im Weißen Haus den war room suchte —, dachte ich, er würde sich geschmeichelt fühlen. Das Schreiben von Rockbiografien steckte in den Kinderschuhen — es gab welche über Elvis, über die Beatles, über Dylan und, äh, das war es auch schon.

Nur, weil er jetzt in den Pantheon der gedruckten Biografie aufgenommen war, hieß es nicht, dass Waits von nun an dick mit mir befreundet gewesen wäre. Da landete nicht mal ein gegrummeltes „gut gemacht“ auf meinem Anrufbeantworter, keine hingekritzelte Notiz mit einem knappen „Danke“.

Aber Jahre später hörte ich aus der Gerüchteküche, dass in einem seiner unzähligen Gerichtsprozesse — als Waits behauptete, dass er ein international bekannter Künstler sei und daher ein Werbespot mit einem ihn imitierenden Sänger rufschädigend sei — die Richter streng geantwortet hätten: „Das ist alles ja sehr schön Herr … Waits, aber woher sollen wir denn wissen, dass das wirklich der Fall ist. Wir auf der Richterbank haben noch nie von Ihnen gehört!“ „Aha“, habe Waits geantwortet und mit einem Tusch mein Buch als Beweismittel aus der Tasche gezogen!

Im Lauf der folgenden Jahre schrumpften die Telefone, und die Fernsehbildschirme wuchsen; Kinofilme wurden ge-FX-t und ge-IMAX-t, die Musik digitalisiert und dröge … nur der alte Tom machte einfach weiter. Seine Zuhörerschaft wuchs, und er wurde der Kultname, den man kennen musste. Vor seinen Auftritten in London — 2004, nach 17 Jahren Pause („Ich weiß, ich weiß …“, meldete er sich zurück, als er die Bühne betrat) — wechselten 65-Pfund-Eintrittskarten für 900 Pfund den Besitzer.

Was folgt, ist ein Bild von Tom Waits aus europäischer Perspektive. Er verkörpert so vieles, was Amerika ist — und wovon wir uns diesseits des Atlantik so gerne betören lassen: die Worte — ein Longdrink gemischt aus Edward Hopper und Steinbeck verfilmt von Coppola und schwer auf dem Kerouac-Trip …, die Musik — ein Auszug aus übernächtigtem Sinatra verschmolzen mit einem anregenden Spritzer Dylan, Howlin’ Wolf, Ethal Merman und James Brown …

Für europäische Ohren servierte Waits auf seinen frühen Alben den amerikanischen Traum, mit Pommes als Beilage und einem Milchshake. Er führte uns die überwältigende Weite von Amerika vor, komplett mit ihren düsteren Rissen und anrüchigen Spalten. Und er tat das mit der gewandten Hand des Poeten und dem beißenden Witz eines Varietékünstlers.

Etwas später rannte er davon und schloss sich einem Zirkus an. Er lebte seine Kreativität im Fahrgeschäft aus wie Der Elefantenmensch, wie eine Idee von Tod Browning oder wie in DeMilles Die größte Schau der Welt. Der megafonbewehrte Direktor trug seine Lieder ins Zirkusrund und hielt sich, einem Löwenbändiger mit seinen Stuhl gleich, die Vergangenheit vom Leibe.

Aber egal, welchen Schuh sich Waits auch anzog, er blieb durchweg unterhaltsam. Zu einem Zeitpunkt, als die meisten Rockstars nur noch mit der Richterskala der drögen Protzigkeit bewertet werden konnten, erfüllte Waits weiter unsere Erwartungen. Jon Anderson von Yes beispielsweise zeigte sich in den Sleevenotes zum 1973er-Album Tales From Topographic Oceans „beim Durchblättern von Paramhansa Yoganadas Autobiografie eines Yogi gefesselt von der ausführlichen Fußnote auf Seite 83.“ Ich liebe dieses saloppe „Durchblättern“. Andere mögen sich erinnern an Frank Zappas zwar bekannte, aber nichtsdestotrotz scharfsinnige Beobachtung: „Rockjournalismus ist, wenn Leute, die nicht schreiben können, mit Leuten reden, die nicht sprechen können, für Leute, die nicht lesen können!“ Waits hingegen bot im Interview Anschauungsunterricht in Vaudeville („Make like a hockey player and get the puck outta here!“ 5).

Aber Kritiker, und ganz besonders Rockkritiker, sind berüchtigt dafür, ihren Kuchen zu wollen — und den auch zu essen. Und so regten sie sich darüber auf, dass Waits nur ein die Lippen bewegender Hochstapler sei. Man munkelte, dass Thomas Alan aus Pomona der Sohn eines Studienrats wäre und der betrunkene Boho-Gammler nur ein Charakter, den er per FedEx bei einer Nebendarstelleragentur bestellt hätte. Kritiker nörgelten, dass „Tom Waits“ nur ein Kostümchen sei, das er lediglich überwarf, wenn er raus ins Rampenlicht musste.

Es war immer schon so … bis heute wird John Lennon, der eindeutig dem Mittelstand zugehörte und die Ausbildung an einer Oberschule genossen hatte, als Held der Arbeiterklasse charakterisiert; Julie Burchill war nicht die Einzige, die die Ironie bemerkte, dass da einer imagine no possessions sang und gleichzeitig ein ganzes Apartment im Dakota-Building nur für Pelzmäntel besaß. Und Bob Dylan? Das frühe Image eines rolling railroad bum aus Texas, der sich mit Schaustellern aus dem Staub machte und dann ein paar Melodien von Cisco und Blind Boy aufschnappte. In Wirklichkeit müsste der Rap so lauten: „Guten Abend. Mein Name ist Robert Zimmerman. Ich bin der älteste Sohn von mittelständischen, jüdischen Ladenbesitzern aus Minnesota, aus einer Stadt oben an der Grenze zu Kanada.“

Tom Waits erfüllte in gewissem Sinne genau das, was die Kritiker und seine Zuhörerschaft wollten. Und er machte ihnen ein gutes Angebot: so eine Art trinkfreudiger, gutmütiger W.-C.-Fields-Typ, dem man es nicht übel nimmt, wenn er einem in der Bar einen Knopf an die Backe labert — natürlich nicht jede Nacht. „Einen berauschten, guten Abend, Ihnen allen …“, so leitete der Wortverweber und fesselnde Märchenerzähler einige ausgelassene Stunden mit ihm ein.

Als sein Erfolg ein Selbstläufer wurde und Heirat und Elternschaft unseren Helden aufs Angenehmste einlullten, wurde Waits noch undurchschaubarer. Wenn eine Frage ihm zu nahe kam, wurden seine Augen schmale Schlitze, kippte sein Kinn und ein trotziger, beinahe grober Ton bestimmte den weiteren Verlauf des Gesprächs. Waits war darin ein Fachmann geworden, der mit „Privatleben“ überschriebene Absatz blieb einfach leer; dafür folgten Bonmots auf faszinierende Fakten und auf zitierbare Sticheleien, sodass auch der anspruchvollste Journalist glücklich gemacht wurde.

Aufdringliche Fragen wurden abgeblockt. Waits war ein Meister im Verschleiern von Tatsachen. Stattdessen deckte er dich mit einem Trommelfeuer aus wissenswerten Randnotizen ein. So versetzte er 1999 Barney Hoskyns in den Zustand höchster Verwirrung, als er ihn mit Neuigkeiten von der bevorstehenden Bananenschnecken-Festwoche fütterte: „Gallertartige Bauchfüßler, 25 Zentimeter lang. Die Leute kochen sie. Du findest die Tiere hinter deinem Haus so um 6 Uhr morgens. Und jetzt ist Saison für Bananenschnecken.“

Hinter diesen Techniken versteckte sich ein zurückhaltender Mensch. Bei all seiner großspurigen Sprüchemacherei erwies sich der Showman Waits als nachdenklich und überraschend schüchtern. Sein Wechsel zur Filmschauspielerei schien wie eine natürliche Entwicklung. Aber den „wahren Tom Waits“, den glücklich verheirateten Mann, den stolzen Vater zeigte er uns nicht. Für Interviews wurde die öffentliche Person angeknipst wie der Scheinwerfer eines Pontiacs im Dämmerlicht.

„Darüber zu sprechen, was mein eigentlich tut, scheint mir immer so schwierig“, sagte Waits einmal. „Das ist, als ob ein Blinder versucht, einen Elefanten zu beschreiben. Man muss gewöhnlich das Meiste erfinden.“

Vielleicht ist es — in allen Fällen — unfair zu erwarten, dass ein Künstler uns sein Selbst offenbart, im Grunde ist die Sache, um die es geht, ja das Spiel. Und seit er Vater geworden ist, scheint Waits doppelt davon überzeugt zu sein, es genau so zu halten. Was möglicherweise seine über die Jahre perfektionierten Ausweichtechniken erklärt, wie er auf das Eloquenteste unangenehme Fragen umleitet. „Lügen Sie immer?“, wurde er einmal gefragt. „Nein, nein. Ich erzähle immer die Wahrheit. Außer Polizisten. Ein alter Reflex.“

Widersprüchlich und widerspenstig, launisch und verdreht — Tom Waits hat trotzdem über all die Jahre eine Menge Leute begeistert. Er arbeitet in einer schattigen Welt, einer windschiefen Welt, einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt. Es mag kein Ort sein, an dem man sich wünscht zu leben, aber ein Ort, den man gelegentlich besuchen mag. Denn dort ist es einzigartig und faszinierend; ein Ort, modelliert von einem Mann mit einer Einbildungskraft, die so groß ist wie Wyoming, eine Heimstatt für Worte, so eindrucksvoll wie der Grand Canyon, und eine künstlerische Vision, die sich windet und wendet wie der Mississippi.

Das ist, im Grunde, die Welt von Tom Waits. Du weißt, du bist nur auf der Durchreise, aber was für ein beschwingter, desorientierender, unberechenbarer Trip das ist. Es ist eine Fahrt auf der Geisterbahn, betrachtet durch Rauch und Spiegel. Tom hat ein Apartment hier, sein Name steht im Telefonbuch, und man kennt ihn im örtlichen 5&Dime-Laden 6. Aber genauso wie wir, lebt er nicht ständig hier. Es ist nur ein Ort, wo er mal reinschneit, wenn ihm gerade danach ist.

Eintauchen in das Leben von Tom Waits ist ein bisschen wie auf der Kirmes an einem dieser Kranautomaten zu spielen; es ist nicht möglich, sie zu steuern; das Spiel mit den Greifern ist kaum zu bewältigen; denn, was du wirklich willst, ist ein Hauptgewinn: die Uhr, das silberne Halsband, das goldene Medaillon; aber alles, was du kriegen wirst, ist Ramsch: ein billiges Armbändchen, eine schäbige Plastikhalskette … und am Ende des Tages hast du genug lumpige Souvenirs gesammelt: ein kaputtes Radio, ein rostiges Taschenmesser, Kunstlederschuhe … und, oh, eine Medaille für Tapferkeit …

Hübsche Erinnerungen, alle für einen Dollar; du lässt sie in deiner Tasche verschwinden und verschwindest selbst nach Hause. Du lässt die Jalousie herunter, knipst das Licht an, es ist Zeit, wieder mal an der Zeit, dass diese Stimme den Raum füllt. Wasted and wounded …

Es gab viele andere Toms: Tom Traubert, der Sohn des Pfeifers, der Flöte spielen lernte, als er ein Kind war; Tom Thumb; Tom, Dick und Harry; Onkel Tom (und seine Hütte); Tommy Gun; Tom Sawyer; Tombola; der Kater Tom; Tom Dooley; Tommy Rot; Major Tom; Tom Brown (and his Schooldays) … Brewer’s Dictionary hat noch ein paar mehr im Angebot: Tom Fool; Old Tom; Tom Foolery; Poor Tom. Und natürlich Tom O’Bedlam, der Bettler, der Almosen eintrieb, indem er so tat, als sei er wahnsinnig …

Aber es gibt keinen, der an unseren Tom herankommt. Es gab nie einen. Es wird nie einen geben. Also, auch wenn ihr natürlich wisst, dass er das Zeug nie wieder anfassen würde, hebt euer Glas und sprecht einen Toast aus. Auf den Kronprinzen der Melancholie. Auf den shadow spokesman des Song Noir. Auf Tom!

Patrick Humphries, London im Januar 2007

1 Warren Baxter und Ruby Keeler sind Hauptdarsteller im Musical Die 42. Straße — 42nd Street (USA 1933).

2 Brownstone ist ein Buntsandstein; in New York bezeichnet man damit ein Reihenhaus mit einer Fassade aus diesen Steinen. Ein solches wird im Velvet-Underground-Song I’m Waiting For My Man erwähnt.

Der Mann, auf den Lou Reed wartet, ist sein Heroindealer. Brownstone ist auch ein Slangausdruck für Heroin.

3 Horace Greeley war ein amerikanischer Publizist und Politiker, der 1841 die New York Tribune gründete. Er war Republikaner, aber ein aktiver Gegner der Sklaverei und deswegen auch ein Kritiker des damaligen Präsidenten Lincoln. Greeley trat 1872 gegen den korrupten, skandalträchtigen Repub likaner Grant als Präsidentschaftskandidat der Liberal Republican Party an — mit Unterstützung der Demokraten, verstarb aber noch im selben Jahr. Die berühmte Anweisung, die gemeinhin auf ihn zurückgeführt wird und ursprünglich der Aufruf war, von der Ostküste aus den ganzen amerikanischen Kontinent zu zivilisieren, lautet: „Go West!“

4 Schwab’s Drug Store war von den 30er-Jahren bis in die 50er der Treffpunkt auf dem Sunset Boulevard in Hollywood für Filmagenten und Schauspieler.

5 Get the puck outta here = get the fuck out of here

6 5&Dime hießen amerikanische Ladenketten, in denen alles entweder fünf Cents oder einen Dime (10 Cents) kostete; also das, was heute die 99-Cent-Läden sind.

I

SHIVER ME TIMBERS

KAPITEL 1

Ich bog in die Lambeth Road ein und wies mit einer Handbewegung auf das Imperial War Museum. Früher stand an dieser Stelle das Bedlam, die berüchtigte Irrenanstalt, die im 18. Jahrhundert den Adel auf die südliche Seite der Themse gelockt hatte: Man überquerte den Fluss und machte sich auf den tückischen Weg ein paar Hundert Meter weiter nach Süden. Dann zahlte man Eintritt und durfte die Irren in der Anstalt anglotzen.

Danach zogen sich die Adligen zurück in ihre Villen in Mayfair, wo sie es ihren lebenslustigen Kurtisanen besorgten, bevor sie sich von Gainsborough und Reynolds porträtieren ließen. Später dann, am Abend, bei einem Glas Portwein, beglückwünschten sie sich, dass sie clever genug gewesen waren, eine Revolution zu vermeiden und noch Köpfe auf den Schultern trugen — ganz anders als dieses gotterbärmliche Franzosenpack. Das Bedlam bot den unbekümmerten Aristokraten für eine kurze Weile Abwechslung: Sie konnten all die Armen auslachen, die von Fortuna im Stich gelassen worden waren.

„Dieser Stadtteil“, brummte Tom Waits unter seinem abgenutzten Filzhut und schielte durch das schmutzige Beifahrerfenster auf das elegante Gebäude am anderen Ende der Lambeth Road, „heißt also Bedlam?“ Das war keine belanglose Frage. Schließlich hatte er höchstpersönlich einst behauptet, dass er ein Apartment gemietet habe, on the corner of Bedlam and Squalor

Leider musste ich ihn enttäuschen: Das Viertel hieß Lambeth. Du weißt schon … The Lambeth Walk. Ich summte ein paar Zeilen. Waits nickte. Und wieder erfüllte Stille das Auto.

Ein Gebäude vis-à-vis des Museums trug eine dieser blauen Gedenk-plaketten, die anzeigen, dass irgendeine Berühmtheit hier gewohnt hat. „Dieses Haus“, betonte ich — stolz, dass ich meinem Beifahrer noch mehr Details über das Leben in Lambeth vermitteln konnte — „dieses Haus war die Residenz von William Bligh. Der Kapitän der Bounty? Das Schiff, das Schauplatz war für die berüchtigtste Meuterei in der Geschichte der See-fahrt?“ Das schlug eine Saite in Waits an und er grummelte wieder … eine lange Anekdote über Charles Laughton.

Er grummelte wirklich. Die Stimme kam unter diesem Hut hervor, der schon bessere Tage gesehen hatte. Genau wie Waits, genau wie seine Stimme. Sie war tief und rumpelnd und schien den ganzen Weg von den Schuhsohlen bis hoch zu seinem Mund zu nehmen. Sie klang wie ein Stockcar, das auf einer entfernten Rennstrecke aufdreht. Also ganz genau so, wie man sich wünscht, dass Tom Waits klingt. Ich meine, wenn man Billy Wilders Film Das verlorene Wochenende neu synchronisieren würde, und für Ray Millands hangover eine Stimme auswählen müsste, Waits wäre der perfekte Kandidat.

Die ganze Situation begann sich langsam in einen der merkwürdigeren Tage meines Lebens zu verwandeln: dass ich den Mann, der einst behauptete, „eine Legende seiner eigenen Einbildung“ zu sein, durch London kutschierte, die ganze Zeit auf Sehenswürdigkeiten hinwies — und tatsächlich doch ein professionelles, investigatives Interview zu führen versuchte mit einem der besten amerikanischen Singer-Songwriter der Generation nach Dylan.

Dabei hatte alles ganz gewöhnlich begonnen. Waits hielt sich für ein paar Konzerte in London auf. Ich arbeitete als Journalist für den Melody Maker. Es war also zum Glück unvermeidbar, dass sich unsere Wege kreuzen würden. Ich bewunderte Waits’ Arbeit seit einer halben Dekade. Der Melody Maker war eine der monatlich erscheinenden britischen Rockgazetten. Ich wollte mit ihm reden. Er brauchte unsere Berichterstattung.

Damals gab es in England noch keine monatlich erscheinenden Hochglanz-Musikmagazine, damals lagen die Zeitungshäuser der Fleet Street noch in der Fleet Street 1 — und den Popstars wurde außerhalb der Rockpresse wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der einzige Platz, wo Tom Waits — oder genauer gesagt, auch jeder andere Popstar — eine Plattform finden konnte, war in einem der Weeklies.

Das London von 1981 war ein anderer Ort als die überdrehte modische Britpop-Metropole des 21. Jahrhunderts. Die Pubs schlossen täglich um drei Uhr nachmittags pflichtgemäß ihre Türen für ein paar sehr lange Stunden (Sonntags von zwei bis halb acht). Man durfte noch rauchen auf dem oberen Deck der Busse. Zu Hause konnte man nicht zwischen einem, auch nicht zwischen zwei, sondern zwischen drei Fernsehprogrammen wählen. Die Meinungen waren übrigens gespalten, welches das bessere Videosystem sei — VHS oder Betamax.

Es gab keine Absperrungen vor der Downing Street, keine Betonblockaden um die Houses of Parliament oder um die Amerikanische Botschaft. Ich konnte damals einen Aprilscherz in Londons Evening Standard platzieren, in dem ich — sehr unwahrscheinlich — behauptete, man könne bald mit im Fond von Taxis installierten Geräten telefonieren! 1981 scheint wirklich sehr, sehr lange zurückzuliegen.

Auch die Docklands waren keine Schöne neue Welt, sondern kaum mehr als das Leuchten im Auge eines ambitionierten Architekten. Erst kürzlich hatten hier zum letzten Mal Schiffe angelegt — die Transformation in ein glanzvolles Metropolis war weit entfernt. Vielleicht dachte der Presseagent, Waits würde es genießen, etwas vom Old London zu sehen. Also wurde unser Rendezvous zur Mittagszeit am St. Katherine’s Dock angesetzt — in einem Motto-Pub namens „The Charles Dickens“. Waits kam rein, den Hut ins Gesicht gezogen, in einem langen, langen Mantel. Irgendwie wirkte er sehr vorsichtig und — zu meiner Überraschung — schüchtern. Er nickte, als wir einander vorgestellt wurden, streckte mir seine Hand entgegen, und ich schüttelte sie. Er hatte außergewöhnlich lange, spindeldürre Finger, bleich und weiß. Es erschien mir, als hätten sie ein zusätzliches Gelenk.

Wir merkten schnell, dass der Pub etwa so viel mit Charles Dickens zu tun hatte wie der Schöpfer von David Copperfield mit Spandau Ballet. Waits war enttäuscht: Als ob er gehofft hätte, an unserem Treffpunkt das Geheimnis von Edwin Drood zu lüften. Aber man musste kein Dickens-Jünger sein, um zu erkennen, dass die desinteressierten philippinischen Kellnerinnen und die kitschig benannten Menüs keinerlei Verbindung zu dem berühmten Autor von The Old Curiosity Shop hatten.

Wie auch immer, als Waits hörte, dass wir nicht weit vom Tatort der Morde Jack the Rippers entfernt seien, wurde er munter. Und als er dann noch erfuhr, wie nah wir dem Londoner Krankenhaus waren, in dem angeblich das Skelett des Elefantenmenschen aufbewahrt wurde, begann ich zu fürchten, unser Mittagessen alleine beenden zu müssen.

Bevor ein Interview wirklich beginnt, findet in der Regel ein Ausloten zwischen dem Interviewer und seinem Gegenüber statt — zwischen dem Matador und seinem Stier. Ein kreiselndes, gastliches, belangloses Geschwafel, während man den Kassettenrekorder einstellt, den Akku überprüft und ob die Kassette wirklich läuft. „Wie geht’s?“, gefolgt von „Schon lange hier?“

Die beiden Protagonisten sind wachsam. Sie sitzen wie auf heißen Kohlen. Ein Interview zu führen ist eine seltsame, unnatürliche Sache: Du hoffst, ein harmonisches Verhältnis aufzubauen, eine Beziehung zu deinem Gegenüber — und das alles innerhalb weniger Minuten. Dabei wirst du gestört, nur zu oft schauen dir Leute im wahrsten Sinne des Wortes über die Schulter, PR-Leute, rudern mit den Armen, um das Gespräch abzubrechen und entziehen ihre Schützlinge deiner Reichweite.

Du willst, dass sich dein Gesprächspartner dir öffnet, weil du seine Arbeit so sehr schätzt. Du willst, dass er sich an dich erinnert, dass er dich auserwählt aus der Parade der eifrigen neuen Freunde, die ihm regelmäßig vorgestellt werden.

Und er weiß, dass hier ein Spiel gespielt werden muss, dass es Regeln zu beachten gilt: Er soll höflich dasitzen und sich Fragen anhören, die er schon hundert Mal zuvor gehört hat. Es wird von ihm erwartet, dass er antwortet mit einer höflichen Zuvorkommenheit, die suggeriert: „Du meine Güte, was für ein interessanter Aspekt; lass mich dieser eindringlichen und originellen Frage meine ungeteilte, ehrliche Aufmerksamkeit widmen …“

Ein noch größeres Problem ist ein Interview mit einer Person, deren Werke man bewundert — man darf sie nicht idolisieren. Aber Waits besaß unleugbar ein beeindruckendes Talent. Ich schätze seine Arbeit sehr und ich wollte unbedingt mehr über ihn erfahren. Ich war scharf darauf, ihn nach gewissen lyrischen Absonderlichkeiten auszuhorchen, nach ein paar musikalischen Versponnenheiten. Ich war heiß darauf, einen Blick hinter die Maske zu werfen. Ich wollte auch etwas von seinem Wortgeplänkel, eine Handvoll origineller Zitate, zumindest eine Anekdote, die ich mit nach Hause nehmen könnte, um sie bei Gelegenheit aufzupolieren und einzusetzen.

Tom Waits dagegen war hier, um Tickets zu verkaufen für seine kommenden Shows; er war da, um das Album zu promoten, an dem er bis eben noch gearbeitet hatte. Er hatte genug Erfahrung mit diesem Prozedere. So einnehmend er auch war, er hatte kein Interesse daran, mit mir einen ausschweifenden Ausflug auf der Straße der Erinnerung zu machen.

Waits kauerte sich in seinen Stuhl und blinzelte in die Speisekarte. Da war einiges an Fisch aufgelistet. Garnelen riefen in ihm Erinnerungen wach an „ein paar schlechte Erfahrungen in Irland“. Sprotten brachten uns irgendwie zu einer gewundenen Diskussion über das Lizenzrecht in England und den Ersten Weltkrieg. Ich entschied mich für Scholle, aber die war ausgegangen, was meinem Gast ein amüsiertes „Was ist denn das hier für ein Schuppen?“ entlockte.

Mit meinen Gedanken zurück im fishy business, entdeckte ich ein Gericht mit Petersfisch. Vom letzten Album der Albion Band wusste ich, dass dieser Fisch ein biblischer Favorit war — was ich sogleich Waits mitteilen musste. Die Flecken auf den Flanken des Petersfisches seien ihm von Jesus Christus beigebracht worden. Die Geschichte geht folgendermaßen: Als Jesus mit den Fischern von Galiläa zusammen war, hätte er einen Petersfisch in die Hand genommen, um eine Parabel zu erläutern. Und seine Finger hätten buchstäblich diese Male auf dem Fisch hinterlassen.

Waits nickte und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Speisekarte: „Also Petersfisch, gegrillt in Butter und Petersilie? Sie wollen also andeuten, der Sohn Gottes hätte ihn gegrillt?“

Es sollte sich zeigen, dass unsere Kellnerin ihren Abschluss in Ungastlichkeit offensichtlich mit Auszeichnung gemacht hatte: Waits wählte Rotzunge und wollte sie ohne Gräten — sie sträubte sich, einen entgräteten Fisch zu servieren, nur weil ein Gast, dies wünscht. Waits fragte sie, ob in der Rotzunge viele Gräten seien. Sie nickte enthusiastisch. Waits betonte mit Nachdruck, dass er etwas essen wolle, „das noch nie eine Gräte in sich gehabt hatte.“ Nach einer delikaten Verhandlungsphase fanden wir einen Fisch, der nur eine Gräte hatte. Leider war auch dieser aus dem Menü geschwommen. „Meerbrasse?“, fragte Waits. „Oh, sehr viele Gräten!“, antwortete die Bedienung schadenfroh.

Befürchtend, dass wir nicht über das Studium der Speisekarte hinauskommen würden, steckten Adrian Boot, der Fotograf des Melody Maker, und ich die Köpfe zusammen und wir versuchten, uns an Schulstunden zum Thema „Fisch mit wenig Gräten“ zu erinnern. Seezunge war unser Favorit, aber schließlich gelang es uns doch, die entgrätete Rotzunge zu bekommen. Die erste Hürde war genommen, wir erlaubten uns, erleichtert aufzuatmen. Der Rest der Bestellung müsste locker verlaufen. Dieser Glaube hielt jedoch nur einige Sekunden an, bis wir zum nächsten problematischen Thema kamen, der Bestellung von Kartoffeln …

„Pommes frites“, bat Waits. Aber die Serviererin war nun warmgelaufen und betonte mit Nachdruck, dass hier nur „große Kartoffeln“ gereicht würden. „Bratkartoffeln, gebackene Kartoffeln?“ — „Nur große Kartoffeln!“ Auch das Thema Gemüse gestaltete sich so schwierig wie eine Kernspaltung. Mit Mühe konnten wir uns auf Vorspeisen einigen und das Menü ging seinen schlingernden Gang. Als die Bestellung komplett war, konnte man förmlich sehen, wie sich Waits entspannte.

Kauend betrachtete er meinen Kassettenrekorder mit einem Blick, als hätte er auf ein unwillkommenes Gewürz gebissen. Während ich immer noch wie hypnotisiert seine Hände anstarrte. Lange, schlangengleiche Finger: die Hände eines Würgers … na, vielleicht eines Pianisten. In ein paar Jahren würde man Finger genau wie diese auf Millionen von Filmplakaten für E.T. — Der Außerirdische sehen.

Während unser Mahl seinen aquatischen Kurs nahm, entspann sich eine uferlose Diskussion. Damals war die Fernsehmoderatorin Anna Ford Stadtgespräch. Ihre atemberaubende Schönheit machte die Fernsehnachrichten zu einem Ereignis. Waits nickte, er war vertraut mit dem Phänomen: „Die Leute hören schlechte Nachrichten lieber aus einem hübschen Mund.“ (Später sollte er ähnlich fasziniert sein vom Auftauchen barbusiger Nachrichtensprecherinnen in der ehemaligen Sowjetunion.) Vor dem Essen saß Waits geduckt und wirkte verschlossen, jetzt streckte er sich und entspannte seine Glieder. Seine Gesprächsbeiträge wurden ausführlicher, er erzählte mit gewissem Stolz von seinem gerade erst fertiggestellten Album Heartattack & Vine. Er war ganz besonders angetan von der Zusammenarbeit mit Francis Ford Coppola bei dem Film Einer mit Herz. Das war ein aufregendes Thema; Coppola — immer noch im Windschatten von Apocalypse Now und nun mit Der Pate — Teil II im Kopf von jedermann — war auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Und hier sprach ich mit dem Mann, der gerade den Soundtrack für Coppolas nächsten Film produziert hatte.

Waits liebte insbesondere Coppolas Fähigkeit, „kindliches Staunen“ in den Prozess der Filmproduktion einzubringen; und die Art, wie er aus einer Besprechung mit den Produzenten oder Geldgebern kommen konnte und direkt ans Set ging, um mit den Schauspielern zu arbeiten. Er bewunderte den ungezügelten Enthusiasmus des Regisseurs und natürlich das Vertrauen, das er in Waits gesetzt hatte, der zu jener Zeit eine unbekannte Größe mit eher zweifelhaftem Ruf war.

Das Gespräch flog nur so dahin, dann kam die unvermeidliche Unterbrechung durch den Pressereferenten — Tom hätte das Essen wirklich sehr geschätzt, aber die Zeit dränge. Er müsse zurück ins Hotel, so viele Interviews stünden noch an; so ein enger Zeitplan, wir würden sicher verstehen, Tom bräuchte jetzt etwas Ruhe … immerhin wurde mir eine Entschuldigung erspart, wie sie mal einem Kollegen gegeben wurde: dass nämlich der Beach Boy Mike Love auf sein Zimmer müsse, um zu meditieren.

Ich grummelte und grollte. Ich hatte kaum Zeit gehabt, den Mann kennenzulernen; nicht genug Material auf meiner Kassette; hatte kaum das Thema Schuhe angeschnitten … als Boot, der pfiffige Hausfotograf des Maker, eine Initialzündung hatte: Warum sollten nicht wir Tom Waits zurück ins Hotel fahren? Dann könnten wir das Gespräch weiter führen und Tom hätte die Chance, etwas vom historischen London zu sehen.

Innerhalb weniger Minuten war er auf den Beifahrersitz meines Fiat Strada verfrachtet und Boot saß im Fond — mit knappen Instruktionen, wie er den Kassettenrekorder zu bedienen habe. Um so viel wie möglich aus Tom Waits rauszukriegen, ging die Reise vom St. Katherine’s Dock zum irgendwo in Kensington gelegenen Hotel, na sagen wir mal „irgendwie gemütlich“ vonstatten.

Es war eine dieser klassischen Hollywood-kommt-nach-London-Odyssee n, wo man, um von Heathrow nach Westlondon zu gelangen, am Bucking-hampalast vorbei muss, am Tower of London, an Big Ben und den Weißen Klippen von Dover … eine mäandernde Fahrt, aber ich war Realist und wusste, ich konnte Waits nicht endlos in meinem Wagen festhalten. Auch mit nur vagen juristischen Kenntnissen war mir der Terminus „Entführung“ durchaus ein Begriff.

Am Ziel angekommen, stieg Waits aus — durchgerührt, aber nicht allzu sehr geschüttelt — und bedankte sich herzlich für die Mitfahrgelegenheit. Er richtete den Hut und nahm seinen Weg durch die Türen des Hotels. Und für mich war es Zeit geworden, nach Hause zu gehen, zu Abend zu essen, in den Pub zu gehen. Den Sonntag verbrachte ich mit dem Transkribieren des Interviews und schrieb meinen Text, Montag früh lieferte ich die Schreibmaschinenseiten mit doppeltem Zeilenabstand bei der Zeitung ab.

Zurück am Schreibtisch drehte sich der Rest der Woche um einen plötzlich geschmälerten Melody Maker: Bruce Springsteens erste Auftritte in Großbritannien seit sechs Jahren waren gestrichen worden. Ich wurde nach Hause geschickt, um etwas — irgendetwas, Hauptsache überhaupt etwas — über den „Boss“ zu schreiben, um den Platz zu füllen, der fest eingeplant war für das lange versprochene Interview und die Konzertbesprechungen.

Mein Waits-Text erschien in der Melody-Maker-Ausgabe vom 14. März 1981 unter dem Titel: Heart Of Saturday Morning — Desolation Angel: Patrick Humphries, Dharma Bum: Adrian Boot. 2 Es ist erhellend zu sehen, welche Themen sonst noch den Maker beschäftigten, eines der vier wichtigsten wöchentlichen Musikmagazine in Großbritannien. Waits war auf der Titelseite, die aber dominiert wurde von Jools Holland und seiner neuen Band The Millionaires, neben Judas Priest, John Lydon und Queen in Brasilien. Beim Durchblättern dieser Nummer merkt man, was für eine Lüge es ist, wenn heute erzählt wird, die 80er seien das „verlorene Jahrzehnt“ des Rock ’n’ Roll gewesen. Die Welt war noch aufgewühlt vom sinnlosen Mord an John Lennon drei Monate zuvor. Roxy Musics Coverversion von Jealous Guy war Nummer eins in Großbritannien, Lennons Woman Nummer eins in den USA. Und sein letztes Album Double Fantasy in den Top 5 auf beiden Seiten des Atlantiks.

Zur selben Zeit war der große Name im amerikanischen Rock ’n’ Roll Christopher Cross — er hatte gerade mit Sailing einen Grammy gewonnen. In Großbritannien stylten sich New-Romantic-Künstler wie Visage und Classic Nouveau für ihre Nanosekunde im Rampenlicht.

Im Heft wurde die LP Face Dances von The Who beworben (nicht vergessen, wir sprechen über die Zeit vor der CD); und Island promotete sein „revolutionäres neues Konzept 1+1: eine Kassettenseite ein komplettes Album, die andere Seite als Bonus leer“ (nicht vergessen, wir sprechen über die Zeit, in der man noch keine CDs brannte). Man konnte den für seine Unentschlossenheit legendären Lynden Barber finden mit der Auswahl seiner neun (!) Singles der Woche (Heaven 17, The Passage, Altered Images, Simple Minds …).

Außerdem war da eine Reklame für die Großbritannien-Konzerte von Waits — zwei Termine im Londoner Apollo-Victoria-Theater („Tickets zu 3, 4 oder 5 Pfund“), im Edinburgher Playhouse, im Apollo in Manchester. Ein dritter Termin in London war angekündigt — mit dem reißerischen Zusatz „Aufgrund der großen Nachfrage“.

Waits befand sich damals an einem Wendepunkt seiner Karriere. Er war ein aufkommender Singer-Songwriter, der von ein paar Eingeweihten bereits favorisiert wurde. Und ein Stückchen hinter dem Horizont wartete Bruce Springsteen, der seine Songs covern würde. Dennoch schien die Vorstellung, dass der schüchterne Tourist, der mir gegenübergesessen hatte, eines Tages an der Seite von Jack Nicholson und Meryl Streep spielen würde, einfach absurd. Aber Tom Waits stand kurz vor dem Durchbruch. Und je berühmter er wurde, umso kunstvoller wurden seine Erzählungen. Während er unaufhaltsam an Profil gewann, gestalteten sich die Geschichten fantastischer und das Seemannsgarn farbenprächtiger. Die Wahrheit wurde zu einem weit entfernten Land.

Damals im Restaurant dachte ich, wir seien ziemlich nahe rangekommen an etwas, was Wahrheit heißen könnte. Aber das ist eine lange Zeit her: Reagan regierte im Weißen Haus; Prinzessin Diana war noch Single und Tom Waits musste sich noch üben in der Kunst der Täuschung. Aber lasst ihn seine Geschichte erzählen …

1 In der Fleet Street im Zentrum von London war vom 16. Jahrhundert an bis Mitte der 1980er die britische Presse beheimatet. Dann begann der Wegzug der meisten Agenturen, Zeitungen und Magazine in die Docklands. Die Fleet Street ist in unzähligen Büchern (zum Beispiel Evelyn Waugh), Songs (zum Beispiel von Pete Townshend) und Filmen (zum Beispiel von Val Guest) unsterblich gemacht worden und in Großbritannien bis heute ein Metonym für das Pressewesen geblieben.

2 Desolation Angels und The Dharma Bums (deutsch: Gammler, Zen und hohe Berge) sind Romane von Jack Kerouac.

KAPITEL 2

„Ich wurde auf der Rückbank eines Yellow Cab in der Ladezone eines Krankenhauses geboren, das Taxameter lief noch. Ich merkte, dass ich dringend eine Rasur brauchte und rief dem Fahrer zu: ‚Times Square, und drück aufs Gas!’“ 1

Nun ja … oder so ähnlich. Tatsächlich wurde Thomas Alan Waits am 7. Dezember 1949 als einziger Sohn von Mr und Mrs Waits in Pomona, Kalifornien, geboren. Und mit einem schönen Gefühl für Timing war das exakt acht Jahre nach „diesem Tag, der als das Datum ewiger Schande in der Geschichte weiterleben wird“, dem siebten Dezember 1941. Damals stürzten japanische Flugzeuge aus dem Nichts auf Pearl Harbor nieder, versenkten die US-Pazifik-Flotte und zogen Amerika widerstrebend in den Krieg.

„Beinahe jeder Amerikaner, der damals lebte, kann den Moment beschreiben, an dem er diese Nachricht hörte“, schrieb Walter Lord später. „Man merkte sich den Termin genau, ritzte sich eine Art von mentaler Kerbe ein, weil man instinktiv wusste, wie sich das eigene Leben verändern würde durch das, was auf Hawaii passiert war. Soziologen nennen den 7. Dezember 1949 den Anfang vom Ende des amerikanischen Familienidylls; Ärzte weisen auf die medizinische Revolution hin, die danach begann — neue Medikamente zur Wundversorgung, neue chirurgische Methoden; mancher mag sagen, dass die Beat-und Hip-Generation ihren Ursprung hatte am 7. Dezember 1949.“

Geboren im Zeichen des Schützen feierte der junge Thomas Alan Waits am gleichen Tag Geburtstag wie sein Singer-Songwriter-Kollege Harry Chapin oder die Schauspieler Eli Wallach, Ellen Burstyn und der ultimative Dorian-Gray-Darsteller Hurd Hatfield. Und als Waits auf die Welt kam, verließ sie Huddie Ledbetter, besser bekannt als Leadbelly. „Er starb am Tage bevor ich geboren wurde“, erinnerte sich Waits später, „und ich mag den Gedanken, dass ich ihn in der Halle passierte und er in mich über den Haufen rannte.“ 2

Leadbelly wurde 1889 als Sklavenkind geboren. Seine Großeltern waren vom Ku-Klux-Klan ermordet worden. Es wird geschätzt, dass er von seinen 60 Lebensjahren 13 hinter Gittern verbrachte — als er eine Haftstrafe in Texas absaß, wurden Alan und John Lomax, die legendären Sammler uramerikanischen Liedgutes, aufmerksam auf ihn. Für Tom Waits war Leadbelly „ein Fluss … ein Baum. Seine 12-saitige Gitarre klang wie ein Klavier in einem Kirchenschiff. Der Stein von Rosetta für sehr vieles, was folgen sollte … außerordentlich anzuhören, wenn man durch Texas fährt, enthält alles, was man braucht, um das Leben zu ertragen, eine wahre Kraft der Natur.“ 3

Als 1999 sein 50. Geburtstag bevorstand, sang Waits ein weiteres Loblied: „Ich verehre Leadbelly. Für mich ist er wie ein musikalischer Springbrunnen. Als er mit Moses Asch zu arbeiten begann, sagte dieser zu Huddie, er wolle alles aufnehmen — Wiegenlieder, an die er sich erinnere, was auch immer … Seine Schallplatten waren wie Konzeptalben … wie Fotoalben, mit Bildern von dir, als du noch ein Kind warst. Ich liebe die Art, wie sich seine Lieder entfalten … Die Sachen, die er mit Alan Lomax gemacht hatte sind … wie eine Geschichte des Landes zu jener Zeit.“

OrphansAin’t Goin Down To The WellGoodnight Irene