INHALT

Information Page

EINLEITUNG

     Boy

     October

     War

     Under A Blood Red Sky

     The Unforgettable Fire

     The Joshua Tree

     Rattle And Hum

     Achtung Baby

     Zooropa

     Passengers: Original Soundtracks 1

     Pop

     All That You Can’t Leave Behind

     How To Dismantle An Atomic Bomb

KOMPILATIONEN

SINGLES, EPs & SONSTIGES

DISKOGRAPHIE: SINGLES & EPs

EINLEITUNG

Ruhm erspielten sich U2 zuallererst als Live-Band. Dass sie zeitgenössischen Stadionrockern stets einen Schritt voraus waren, lag zum einen an Bonos Qualitäten als Entertainer und seiner Publikumsnähe, zum anderen an The Edges hypnotisierender, eindringlicher Gitarrenarbeit sowie der ausgesprochenen Professionalität der Band und ihrer Helfer im Hintergrund.

U2’s Reputation als Plattenkünstler profitierte davon nicht immer. Kritiker echauffierten sich in der Vergangenheit häufig über Äußerlichkeiten wie U2’s irische Herkunft, ihre religiösen und politischen Ansichten oder ihre umsichtige Weigerung, ihre Karriere von irgendwelchen kurzlebigen Pop-Manifesten der 80er Jahre abhängig zu machen. U2 polarisieren bis heute. Man betrachtet sie als Helden oder Scharlatane, zeichnet sie in Schwarz oder Weiß, aber eben nur selten in all den Grauschattierungen dazwischen. Viel häufiger als andere Superstars ernteten sie Rezensionen, die entweder Anbetung oder Verdammung ausdrückten: Kritikergetöse, bei dem die Musik oft nur die Nebenrolle spielte.

Wenn man U2’s Gesamtwerk betrachtet, entdeckt man jedoch eine extrem vielseitige Band, gesegnet mit der außerordentlichen Gabe, sich stets weiter zu entwickeln. Die umtriebige, einnehmend ambitionierte Live-Band in ihrer ersten Inkarnation ist heute Geschichte. Von The Unforgettable Fire bis hin zu Zooropa hat kein zeitgenössischer Act ein musikalisch derart vielschichtiges Werk kreiert wie U2. Ist es tatsächlich das gleiche Quartett, das für so unterschiedliche Songs wie A Sort Of Homecoming und Numb, Love Is Blindness und Angel Of Harlem verantwortlich zeichnet?

Nicht zu vergessen: U2 sind eine Band. Auch wenn Edge und Bono als Kreativzelle die meiste Aufmerksamkeit zuteil wird, sollte man Adam Clayton und Larry Mullen keinesfalls als Hilfsarbeiter diskreditieren. Vielmehr zählen sie zur ersten Liga der klassischen Rock-Rhythmusabteilungen: Stabile, aber dennoch kreative Persönlichkeiten, die das verlässliche Fundament schaffen, auf dem Bono und Edge ihre Träume verwirklichen können. Journalisten übertreiben oft dabei, wenn sie bei jungen Bands die Solidarität und gegenseitige Abhängigkeit ihrer Mitglieder beschwören. Im Falle von U2 sprechen fast 30 gemeinsame Jahre wohl eine recht deutliche Sprache.

Effektiv zusammenarbeiten konnten Bono und Edge anfangs eher auf der Bühne als im Studio. Bono mag ein verwegener Live-Performer sein, im Studio fühlte er sich bisweilen ziemlich unwohl. In einem sterilen, fensterlosen Raum einen Take nach dem anderen einzusingen, empfand er oft als lästige Routine - und wurde immer ungeduldiger. Ganz anders Edge, der, fasziniert von den Klangmöglichkeiten moderner Studios, die Technik schon immer gerne wie ein zusätzliches Instrument einsetzte.

Schritt für Schritt gewannen U2 an Fomat. Ihre Musik glich immer mehr einer transkontinentalen Entdeckungsreise - von Europa in die USA und wieder zurück. Bono und Edge erweiterten ihre Fähigkeiten, letzterer avancierte dank seiner beinahe schon beängstigenden Kunstfertigkeit von einem weiteren vielversprechenden, jungen Saitenkünstler zum Orchestrator des gesamten Gruppensounds, und zwar sowohl in rhythmischer als auch melodischer Hinsicht.

In einem früheren Buch über U2’s Anfangstage in Irland zitierte ich bereits einige Zeilen aus einem 1958 verfassten Essay John Bergers über den großen irischen Maler Jack Yeats: „Irland hat den kritischen Punkt, an dem es seinen Lebensweg nur noch absichern kann, noch nicht erreicht. Irland müht sich noch immer, es schwankt, leidet und träumt sich dem Ziel entgegen. Es ist unmöglich, Yeats richtig einzuschätzen, ohne diesen Umstand zumindest ansatzweise zu begreifen.“

Gleiches gilt für U2 und ihr verwirrendes Sendungsbewusstsein, das sich bisweilen gar aus überholten Ideen speist, die schon von den Altvorderen verworfen worden sind. Derlei Recycling ist jedoch akzeptabel, sofern es neue Anstöße gibt. John Bergers Zeilen über Jack Yeats erklären also in gewisser Weise auch die Intensität und Dauerhaftigkeit von U2’s künstlerischer Berufung. Der Glaube spielte dabei stets eine große Rolle, wobei U2 aber nie zwei weitere Kardinaltugenden außer acht ließen: Hoffnung und Wohltätigkeit.

Im Gegensatz zu vielen anderen Rockmusikern der zweiten Generation hatten U2 immer genug Verstand und Entschlossenheit, nicht zu prätentiösen, ängstlichen Vorstadt-Bohemiens zu verkommen, die die Zukunft fürchten. Ich hoffe, dass dieses Buch einen Eindruck davon vermittelt, wie U2 stets in Bewegung waren und niemals still standen.

Bill Graham, Januar 1996

Bill Graham, der Autor dieses Buches, starb bedauerlicherweise im Jahr 1996. Caroline van Oosten de Boer rezensierte U2’s ab dem November 1995 erschienenen Werke sowie die Compilationen.

BOY

ISLAND ILPS 9646, ERSCHIENEN IM NOVEMBER 1980

Boy war der Paukenschlag, mit dem U2’s Karriere begann. Zur zeitgenössischen Punk-Doktrin gehörte die Forderung, dass sich Rockmusik wieder an den Bedürfnissen junger Hörer orientieren sollte, doch viele Kunstschul-Geheimbündler drückten in ihrer Musik eine derart selbstbewusste Abgeklärtheit aus, die zwar der jugendlichen Sehnsucht nach Hipness entsprach, aber eben nicht die Erfahrung pubertärer Unsicherheiten widerspiegelte.

Das Geheimnis von Boy lag indes darin begründet, dass U2 sich weigerten, allzu schnell erwachsen zu werden. Der Boy war noch kein Mann, er gab sich nicht selbstbewusster, als er sich in seinem tiefsten Inneren fühlte. Vielleicht war er ein romantischer Schwärmer, auf jeden Fall jedoch war er verwirrt - von den Mädchen ebenso wie von all den neuen Verantwortlichkeiten, die nach dem Wegzug aus dem elterlichen Haus zu bewältigen waren.

Es ist genau diese thematische Ausrichtung, die Boy so einzigartig macht, denn bislang hatte sich der Rock’n’Roll immer erwachsener gegeben, als er eigentlich war. Das „Danach“ wurde dabei traditionell immer stärker betont als das „Davor“, weshalb ein Bono, der seine Mutter betrauert, von vielen Rockern womöglich als Weichei betrachtet wurde. Erwachsen zu werden, fand in der Rockmusik bislang nur maskiert statt. Boy ließ diese Maske erstmals fallen.

Dafür verantwortlich war Lypton Village im Norden Dublins mitsamt seiner Teenager-Clique aus Bonos Schulfreunden und Nachbarn. Den frühreifen, harten Jungen zu mimen, war in diesem Umfeld vollkommen verpönt, sei es beim Sport oder beim Anhören von Heavy-Metal-Platten. Bono betonte seine emotionale Verletzlichkeit, sein erster Bühnencharakter war dann auch „The Fool“ - ein hyperaktives, verwirrtes Geschöpf, das er absichtlich als völlig uncool charakterisierte. Boy hatte auf Bono eine fast therapeutische Wirkung, denn der Tod seiner Mutter war damals seine alles dominierende Lebenserfahrung. Er war 14 Jahre alt, als sie starb.

Boy befreite sich zudem vom Diktat des Zeitgeistes. Als es veröffentlicht wurde, war der britische Post-Punk ein Gemischtwarenladen, in dem unterschiedliche Stile um die Käufergunst rangen. Es gab die neuen Mods, Oi, Synthie-Popper, Industrial- und Ska-Bands, die allesamt mit den überlebenden Punk-Pionieren um ein wenig Aufmerksamkeit buhlten. Was Boy auszeichnet ist die Tatsache, dass sich U2 damit eben nicht als weitere Handpuppen für all die Postpunk-Bauchredner verkleideten. Sie entschieden sich bei Null anzufangen, und zwar in Dublin, dem einzigen Ort wo sie sich auskannten. Aus ihrer Sicht entsprach das der wahren Bedeutung des Punk-Slogans „Blank Generation“.

Natürlich war ihre Musik nicht völlig frei von Einflüssen und Vorläufern. Bonos Gesang mag noch heute atemlos klingen, aber den Geist von David Bowie wird er wohl nie aus seiner Kehle vertreiben können. Edge indes hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass Tom Verlaine von der Band Television sein Spiel extrem beeinflusst hat.

Dass die Nachwehen des Punk einen Stylisten wie Edge hervorbringen würden, war vermutlich unvermeidbar. Die Single war damals noch immer wichtiger als das Album, doch das rudimentäre, schnelle Hardrock-Riffing primitiver Punkbands wie Penetration (von U2 sehr geschätzt), The Skids, Siouxsie And The Banshees, The Cure und Echo & The Bunnymen musste dringend weiterentwickelt werden. In Ermangelung eines zweiten Gitarristen kombinierte Edge Rhythmus- und Solospiel zu einen neuen, farbenfroheren Stil, der aus lauter Bequemlichkeit fälschlicherweise „Neo-Psychedelic“ getauft wurde. Edge fing diese Welle zwar ein, surfte dann aber in eine andere Richtung weiter.

Es ist offensichtlich, dass U2 nicht „Neo-irgendwas“ waren. Ihr Songwriting kam zu jeder Zeit ganz ohne geborgte Licks aus, was nicht nur ihrer Standhaftigkeit zuzuschreiben ist, sondern in gewisser Weise auch ihrer irischen Herkunft: U2 fühlten anders und verfolgten andere Pläne. Anders als The Clash waren sie keine Straßengang, sondern Romantiker, die von der selbstbewusst zur Schau gestellten Dekadenz, die damals die britische Szene infiziert hatte, nicht das Geringste wussten. Im vergleichsweise unhippen Dublin der späten 70er spielten Moden überhaupt keine Rolle.

Warum das Album so frisch klang, hatte einen weiteren Grund: Im rückständigen Irland war der Rock’n’Roll-Traum noch lebendig. Die ersten Generationskämpfe hatte die Rockkultur in England und den USA längst gewonnen, doch in Irland war die Schlacht noch nicht entschieden. Während anderswo Punks als Rockrebellen der zweiten oder dritten Generation wahrgenommen wurden, zählten U2 in Irland zu den Pionieren der Bewegung. Was vielleicht auch ein Grund dafür ist, warum die frühe Zusammenarbeit mit dem Produzenten Martin Hannett nicht funktionierte. Bei ihrer einzigen gemeinsamen Session entstand die Single 11 O’Clock Tick Tock, doch auf der sozialen Ebene gab es zwischen U2 und dem Mann aus Manchester wenig Berührungspunkte. Zudem deutete sich langsam U2’s „christliche Phase“ an, auch wenn davon in Bonos Texten, die allesamt in den Jahren zuvor entstanden waren, wenig zu spüren ist.

Steve Lillywhite übernahm Hannetts Posten: als eine Art großer Bruder, der das Quartett begeistert in die Mysterien der Plattenaufnahme einführte, die ideale Besetzung. Im Gegensatz zu früheren irischen Bands profitierten U2 auch vom neu gegründeten Dubliner Windmill Studio, in dem sie gern gesehene Kunden wurden. Es war gewiss von Vorteil, das Debütalbum nicht in einer fremden, womöglich sogar störenden Umgebung einspielen zu müssen. Lillywhite erwies sich als große Hilfe. Die Songs von Boy waren bereits konzerterprobt, weshalb die Arrangements kaum verändert werden mussten. Es gab nur wenige Gitarren-Overdubs, am meisten Zeit beanspruchte die Feinabstimmung von Larry Mullens und Adam Claytons Timing.

Natürlich hat Boy auch seine Schwächen. Als Songwriter noch relativ unerfahren, neigten U2 gerade bei den schnelleren Nummern zu Wiederholungen - ein Problem, das sie erst bei The Unforgettable Fire vollständig in den Griff bekommen sollten. Doch The Ocean, Shadows And Tall Trees und vor allem der Zweiakter An Cat Dubh/Into The Heart geben einen Vorgeschmack auf spätere Großtaten.

I WILL FOLLOW

Edge zeigt erstmals, was in ihm steckt, Lillywhite fügt ein atmosphärisches Glockenspiel hinzu und die Plattenkäufer werden zum ersten Mal Zeuge von U2’s rasendem Überschwang. Der thematische Überbau des Albums kommt bereits beim ersten Song zum Tragen. Bono schwelgt in Kindheitserinnerungen, und „seine Mutter nimmt ihn bei der Hand“. Die schmerzliche Trennung von der geliebten Person mag ein etwas abgedroschenes Thema sein, doch Bono macht sich auf die Suche, wobei er nicht sicher ist, ob er besagte Person überhaupt braucht oder nicht.

TWILIGHT

Ein Stück über das Mysterium des Erwachsenwerdens in der Vorstadt. Auch ohne die Anspielungen auf den Zeitgeist ist Bonos Text eher symbolisch denn konkret. Man erfährt nur, dass er sich der schützenden Hand des Vaters entziehen möchte und dabei im Schattenreich gefangen ist, „wo der Junge auf den Mann trifft“. Seine Stimme ist unsicher, hektisch, er verschluckt sich beinahe, während Edge wesentlich selbstsicherer wirkt. Gegen Ende des Songs legen drei verschiedene, treibende und melodische Passagen ein frühes Zeugnis seiner Fähigkeit ab, den Gruppensound zu orchestrieren.

AN CAT DUBH/INTO THE HEART

Auf der Tracklist werden beide Songs getrennt geführt, doch sie sind ineinander verzahnt und wurden auch live immer gemeinsam gespielt. Es ist der erste Song der offenbart, dass U2 Magischeres zu bieten haben als reinen Teenager-Enthusiasmus. Edges ursprüngliches Gitarrenarrangement wurde für die Aufnahme kaum verändert, Produzent Lillywhite konzentrierte sich darauf, Larrys Schlagzeugspiel in den Vordergrund zu rücken.

Das ist Edge, wie er leibt und lebt: Statt An Cat Dubh in einem klischeehaften Höhepunkt gipfeln zu lassen, tritt er gemeinsam mit Larry und Adam auf die Bremse, bevor eine neue Melodie schüchtern Into The Heart ankündigt. Sein Sinn für Dynamik und seine Fähigkeit, eine emotional derart tiefe und starke Melodie zu schreiben, sind unvergleichlich. Bono beklagt währenddessen den Verlust der Unschuld und die Zerstörung des geheimen Gartens der Jugend, um sich dann „in das Herz eines Kindes“ zu singen. Für alle, die der gälischen Sprache nicht mächtig sind: „An Cat Dubh“ bedeutet „Die schwarze Katze“.

OUT OF CONTROL

Das Schlagzeug macht Druck, doch die Dynamik ist erneut verwirrend. Bonos Hauptfigur, „The Fool“, ist drauf und dran, geradewegs durch den Song zu rasen, doch kurz vor der Dreiminutenmarke werden die Zügel abrupt angezogen. Edge dudelt sich durch die Randbereiche, Bonos Gesang verliert sich ebendort in verträumten Echos. Eine behutsame, aber spürbare Weiterentwicklung der ursprünglichen Live-Version, die dazu beitrug, dass das Album nicht allzu vorhersehbar wirkte.

STORIES FOR BOYS

Ein sehr früher Song mit einer Art Punk-Feeling aus der Spielzeugvorstadt. Wie schon Out Of Control rechnet auch dieser Text mit herzhaft-männlichen Stereotypen ab. U2 schreiben lieber ihre eigenen „Jungsgeschichten“

THE OCEAN

Auf dem Album spielt der Song nur eine Nebenrolle, dabei ist er das früheste Beispiel für U2’s Fähigkeit, aus allerlei Fragmenten und monotonen Grundtönen magische Momente zu zaubern. Schon damals spielten U2 keinen Ton zu viel, was jedoch häufig ignoriert und erst bei The Unforgettable Fire richtig gewürdigt wurde. Der Text handelt von einem Jungen, der mit dem Universum verschmelzen möchte, was ihm aber leider nicht gelingt, da er am Meeresufer sitzt und nur „ein Bild in Grau, Dorian Gray“ sieht. Offenbar las Bono bereits damals Bücher von Oscar Wilde, ausgeliehen von seinem Bruder im Geiste Gavin Friday, der bei der Band The Virgin Prunes spielte.

A DAY WITHOUT ME

Nach der ersten Kennenlern-Session mit Steve Lillywhite wurde dieser Song als Single veröffentlicht. Es war U2’s erster Versuch, in den Mainstream vorzustoßen, aber sie hatten den Trick noch nicht raus, ihren ureigenen Sound mit den Bedürfnissen der Radiosender in Einklang zu bringen. Dafür, dass sich der Song mit dem Thema Selbstmord beschäftigt, ist er erstaunlich munter. Ein Anfängerfehler, und nicht der letzte: U2’s Themen und Reime passen nicht immer zusammen.

ANOTHER TIME, ANOTHER PLACE

Der Song hat nichts mit Bryan Ferrys gleichnamigem Stück zutun, dafür jede Menge mit dem kollektiven Unterbewusstsein von Lypton Village: „Mit einer Träne auf der Zunge“ weigert sich Bono erneut, den starken Macker zu mimen und streift statt dessen durch das Niemandsland zwischen Jugend und Erwachsensein, in dem „ein weiteres Kind das Rennen verloren hat“.

THE ELECTRIC CO.

Ein späterer Live-Favorit, dessen mehrdeutiger Titel nicht nur auf eine Rockband anspielt, sondern auch auf ECT, die Electroconvulsive Therapy, zu deutsch: Elektroschocktherapie - damals in Irland ein beliebtes Instrument, um mit drogensüchtigen Teenagern fertig zu werden. „Das Spielzeug kann ein Loch in deinem Kopf fühlen“, singt Bono. Die Band lässt es dazu krachen, doch die definitive Version dieses Songs findet sich auf Under A Blood Red Sky.

SHADOWS AND TALL TREES

Der Studiotrack, der sich am weitesten von der ursprünglichen Live-Version entfernt hat. Diese Ballade war Bestandteil der ganz frühen Live-Shows, für die Studiofassung wurde Edges überladenes Solo gegen ein demokratischeres Arrangement eingetauscht, das Adam und Larry stärker berücksichtigte. Der Grund dafür: Die Band und ihr Produzent hatten wahrscheinlich bemerkt, dass sich die Originalversion gefährlich nah am Soft-Metal bewegte. Was Bono angeht, kleidet er die schon bekannte Geschichte einfach in einen neuen Text. Und der handelt davon zu akzeptieren, dass jugendliche Angst und Selbständigkeit untrennbar miteinander verwoben sind.

OCTOBER

ISLAND ILPS 9680, ERSCHIENEN IM OKTOBER 1981

In der Hackordnung der U2-Alben rangiert October schon seit geraumer Zeit ganz weit unten, gilt es doch nicht einmal wie das Debütalbum zumindest als Meilenstein. Selbst in kommerzieller Hinsicht versagte es: U2 hatten sich als Live-Act und durch Boy eine Fan-Gefolgschaft erspielt, die durch October allerdings kaum größer wurde. Die Gründe dafür sind offensichtlich: October ist Flickwerk und klingt noch dazu reichlich hingeschludert. U2 waren fleißig und guten Willens, hatten aber noch viel zu lernen. Manch gute Idee versandete im Nichts.

Alles stand und fiel mit U2’s übervollem Tourneeplan. Wie fast jedes Debüt, war auch Boy eine Auswahl der besten Songs aus dem reichhaltigen Repertoire der Band-Frühzeit. Beim Nachfolgewerk mussten sie erst noch beweisen, dass sie auch in der Lage waren, unter großem Druck bei Null anzufangen. Dabei wenig hilfreich war natürlich auch ein Vorfall an der Westküste, als Bono seinen Aktenkoffer verlor - gefüllt mit all seinen Notizen und neuen Texten. Andererseits waren die Tourneen gewiss auch eine gute Schule und eröffneten der Band neue Horizonte. Ein weiterer Nebeneffekt der Tourneen war, dass U2 zwar die strubbelköpfige Unschuld, die Boy ausgezeichnet hatte, teilweise verloren, ihr Spiel im Gegenzug aber deutlich aggressiver wurde.

Die größte Veränderung bestand allerdings darin, dass zumindest Bono, Edge und Larry zu gläubigen Christen wurden. Eine offizielle Stellungnahme gab es dazu allerdings nicht, in Interviews mied die Band das Thema und October sollte das einzige U2-Album werden, das ganz ohne Textbeilage auskam. Dafür funktionierten Songs wie Gloria und October als deutliche Glaubensbekenntnisse, Rejoice, With A Shout und Scarlet waren gar voll von christlichem Sentiment und entsprechenden Metaphern.

Argwöhnisch beäugt, provozierte ihre Religiosität in manchen Kreisen strikte Ablehnung, sorgte paradoxerweise aber auch für neuen kreativen Input. Ihr Glaube schützte sie zumindest vor verletzenden Einflüssen, er stärkte ihren Idealismus sowie ihre Arbeitsdisziplin und bewahrte sie vor dem Schlimmsten, das einer jungen Band widerfahren kann: der Korruption durch frühreifen Zynismus. Oberflächliche Beobachter neigten dazu, U2’s Glauben fälschlicherweise als traditionellen irischen Katholizismus zu interpretieren, wobei sie den entscheidenden Punkt übersahen: U2 mochten durch eine schwierige Phase gehen, ihr Glaube war im Kern allerdings nicht auf Abgrenzung bedacht oder gar dogmatisch, sondern offen, flexibel und auf Wohltätigkeit ausgerichtet. Eine Band, die Benefizkonzerte für Familienberatungen gab, die gegen die rigiden irischen Abtreibungsgesetze opponierten, konnte man wohl kaum als engherzige Puritaner bezeichnen.

Ihr Glauben sollte ihnen auch künstlerische Vorteile verschaffen, die sie anfangs nicht einmal erahnen konnten. Die britische Rockpresse der späten 70er und frühen 80er Jahre, allen voran der New Musical Express und der Melody Maker, konzentrierte sich ganz auf alles Weltliche. Spiritualität galt als unbequemes, peinliches Thema, das mit Cliff Richard und Pat Boone assoziiert wurde, mit den laschen Lehrsätzen des anglikanischen Establishments, mit Predigern des Höllenfeuers aus den US-Südstaaten oder den exotischen und erotischen Jüngern des Katholizismus. Viele, wenn auch nicht alle Musikjournalisten, hielten Bob Marleys Rastafarianismus für gleichbedeutend mit Ganja und antiimperialistischer Politik, während sie die spirituelle Seite komplett ignorierten.

John Lennon, Bob Dylan und Van Morrison hatten allerdings gezeigt, dass Rockmusik auch spirituell sein kann. Dass U2 das Christentum gewählt hatten, immunisierte sie zumindest gegen die schlimmsten Hippie-Exzesse, namentlich östliche Pseudoreligionen und New-Age-Firlefanz. Sie bewegten sich noch immer im weiten Feld der westlichen Kultur. Ihr Glaube eröffnete ihnen dabei einzigartige Einblicke in die spirituellen Spannungsfelder amerikanischer Rock-, Soul- und Gospelmusik - und sogar in den Jazz von John Coltrane. Bono, Edge und Larry hätten sich für diese Einsichten wohl kaum mit dem Blut eines Lammes taufen lassen, von ihnen profitieren konnten sie letztlich trotzdem.

Derlei Erkenntnisse spielten zu der Zeit, als October aufgenommen wurde, noch keine Rolle. U2 wollten lediglich ihren auf Boy gewonnenen Horizont erweitern. Neue Songformate wurden ausprobiert und Edge begann mit dem Klavierspielen, was sich sogleich im Titeltrack niederschlug - dem einzigen Dauerbrenner des Albums. Indem er Adam und Larry mehr in den Vordergrund rückte, versuchte Produzent Lillywhite, die Dynamik der Band neu auszuloten, doch in manchen Momenten klingen derlei rasante Kopfsprünge eher zwanghaft als brillant. Der von den Tourneen erhöhte Adrenalinspiegel pendelte sich eben nicht immer aufs Normalmaß ein. Wer genau hinhört, bemerkt allerdings auch, wie einige Samen langsam aufgingen. Die Ernte konnte dann auf späteren Alben eingefahren werden.

GLORIA

Noch vordergründiger hätten sie ihren christlichen Glauben kaum inszenieren können: Bono intoniert beim Eröffnungstrack den lateinischen Jubelgesang „Gloria, exultat me“. Die Musik ihrer zweiten Single-Auskopplung aus diesem Album ist ebenfalls überschwänglich und erhebend. Ein Klassiker in U2’s Live-Repertoire, der sogar noch während der 94er-Zooropa-Tour gespielt wurde. Adam darf erstmals ein Basssolo aus dem Daumen schütteln, während im Hintergrund Glas klirrt.

I FALL DOWN

U2’s erster Versuch auf diesem Album, ihrem prototypischen Sound zu entkommen. Edge setzt sich ans Piano und spielt auch noch die Akustikgitarre, während sich die Band an hübschem Pop à la Julian Copes Teardrop Explode versucht. U2’s Live-Show entwickelte sich ständig weiter, weshalb viele frühe Songs schnell wieder aus dem Repertoire gestrichen wurden. So auch I Fall Down, das dieses Schicksal eigentlich nicht verdient gehabt hätte: zwar noch nicht das Hauptgericht, aber immerhin eine leckere Vorspeise.

I THREW A BRICK THROUGH A WINDOW

Der Bass im Dub-Stil und der eitle Schlagzeug-Break am Ende verdeutlichen, wie sehr U2 und Lillywhite versuchten, den Band-Sound zu verändern. Bono gibt sich zögerlich, er blickt in den Spiegel und mag nicht, was er dort sieht. Weshalb er seiner Wut mit einem Text freien Lauf lässt, der ganz konventionell die Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens thematisiert. Unausgegoren mutet auch das leicht hektische Arrangement an, einzig Edges kraftvolle Gitarrenpassagen wirken ausgereift.

REJOICE

Ein weiteres Kirchenlied, in dem Bono Zeugnis ablegt: „Ich kann die Welt nicht verändern, aber ich kann die Welt in mir verändern“. Der Song ist ein wenig zu atemlos und hektisch, aber zumindest wird deutlich, wie die US-Tourneen Edges Gitarrensound verändert haben - er klingt rauer denn je.

FIRE

Alle anderen Songs des Albums wurden im Windmill Studio aufgenommen, doch Fire, das drei Monate früher als Single erschien, entstand in Nassau. Die Band hatte dort während der US-Tournee eine Pause eingelegt. Der Pseudo-Choral am Anfang sollte dabei behilflich sein, U2’s aufregenden Sound dem konservativen Mainstreamradio nahe zu bringen, doch nach der vielversprechenden ersten Strophe ließ der Song drastisch nach. U2 litten häufiger darunter, nicht recht in die Gänge zu kommen.

TOMORROW

Der Albumtrack, der am deutlichsten auf den Punkt bringt, was an U2 damals gut und was schlecht war. Erstmals in ihrer Karriere schrieben sie sich „Irland“ auf die Fahne, Vinnie Kilduffs Uilleann Pipe hebt denn auch gehörig ab. Das ist zunächst großes Kino, Bono singt auch angemessen beherzt. Doch mittendrin steigt der Rest der Band brachial ein, das Tempo wird massiv angezogen und urplötzlich ist die Stimmung dahin, die Magie verflogen. Bono rechtfertigte diesen Wechsel mit einem Hinweis auf den Text, der zuerst von seinen unauslöschlichen Erinnerungen an das Begräbnis seiner Mutter handelt, dann jedoch die Angst und den Terror in Nordirland thematisiert. Typisch für eine junge Band ist der Fehler, Leidenschaft mit schnöder Geschwindigkeit zu verwechseln.

OCTOBER

Was bei Tomorrow noch falsch lief, wird bei OctoberThey Call It An Accident