Robert Spaemann
Über Gott und die Welt
Eine Autobiographie in Gesprächen
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-94737-3
E-Book: ISBN 978-3-608-10311-3
Das Sichzusammenschließen der vielen Momente des Lebens zu einem Ganzen ist nicht ein objektives Geschehen jenseits und außerhalb dieser Momente, sondern es geschieht wiederum in Augenblicken, die ihrerseits einen Teil des Lebens bilden. Das Ganze wird so zum Teil seiner selbst. Wir erinnern uns, und wir integrieren das Erinnerte, indem wir seine Bedeutung stets aus einem Entwurf des Künftigen neu bestimmen. Dieser Entwurf ist seinerseits wieder bestimmt durch die erinnerte und nicht erinnerte Vergangenheit.
Robert Spaemann: »Die Zweideutigkeit des Glücks«
von Stephan Sattler
Wie ist Robert Spaemann der Philosoph geworden, der er heute ist? Er zählt zu den wenigen deutschen Denkern der Gegenwart, deren Stimme über die akademische Welt hinausreicht. Mit seinen Büchern und Vorträgen fand er schon immer international Beachtung.
»Über Gott und die Welt« zeigt nun Lebensstationen des Philosophen auf und die ihn bestimmenden Gedanken. Zu seinem Leben hat sich Robert Spaemann bislang nur zurückhaltend geäußert; er hält den Gedanken für abwegig, das Ausbreiten der eigenen Vita könne Wesentliches über den Inhalt seines Philosophierens aussagen. Wenn Philosophie – hier zitiert er Hegel – »wirkliche Erkenntnis dessen, was in Wahrheit ist« bedeutet, dann geht es dabei um Einsichten, von denen man meinen könnte, es sei nur Zufall, dass sie nicht schon von den Lesern selbst gedacht wurden; von der eigenen privaten Lebensgeschichte allein sind sie nicht abzuleiten.
Nun schildert Robert Spaemann, eingebettet in zehn Kapitel mit Gesprächen, die ich mit ihm führte, Episoden, Erfahrungen und Begegnungen, die ihn nachhaltig prägten. Beides, Dialog und Episode, bilden ein Buch, in dem Robert Spaemann seine Lebensstationen und seine Denkwege erzählt. Biographisches und Philosophisches mischen sich, und das Erzählen – typisch für diese und viele andere Gespräche mit Robert Spaemann – weitet sich und mündet ins Weiterdenken. Dabei ist ein bilder- und gedankenreiches Panorama aus Lebensstationen, Porträts, Diskussionen und Positionen entstanden, das Spaemann-Kenner freuen und alle anderen Leser, die ihm noch nicht begegnet sind, in Spannung versetzen wird. »Die zwei Interessen der Vernunft«, ein Text, der in nuce Robert Spaemanns Denken der letzten Jahre zusammenfasst, bildet den Schlusspunkt und Ausklang dieser knappen Gedankenbiographie in Gesprächen.
Über Kindheit und Jugend von Robert Spaemann in Berlin, Köln, Dorsten und Münster wusste man bislang kaum Näheres: die Konversion seiner Eltern zum katholischen Glauben, den frühen Tod seiner Mutter, seine frühe Haltung und innere Widerständigkeit gegen den Nationalsozialismus, die ihn mit 17 Jahren veranlassen, sich im Reichsarbeitsdienst dem »Eid auf den Führer« und danach dem Gestellungsbefehl der Wehrmacht zu entziehen. Schon in Jugendjahren offenbaren sich sein Hang zur Eigenständigkeit und die Bereitschaft zum Dissidententum. Mit dieser Vita im Dritten Reich unterscheidet er sich von allen, die wie Robert Spaemann um 1927 geboren sind und das geistige Leben der alten und der wiedervereinigten Bundesrepublik bis heute gestalten.
Es fällt auf, dass Spaemann sich in der Nachkriegszeit zunächst ganz gegensätzlichen Gruppierungen und Ideen zuwandte. Da ist einmal sein starkes Interesse am christlichen Leben und dann seine Neigung zu linken und sozialistischen Vorstellungen, mit denen er nach einem abenteuerlichen Aufenthalt Ende der vierziger Jahre in Ostberlin für immer bricht. Die Schriften Carl Schmitts wie auch die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno faszinieren ihn gleichermaßen. Thomas von Aquin und Hegel gelten ihm ein Leben lang als Lehrer des Denkens.
In Joachim Ritter, dem Philosophen, der ab 1946 in Münster lehrt, findet er die Lehrerpersönlichkeit, die ihn endgültig für die Philosophie gewinnt, wobei er für theologische Fragen stets offenbleibt. Mehr als 20 Jahre später tritt er bei den Auseinandersetzungen mit zu Revolten neigenden Studenten zwischen 1967 und 1971 als ein Mann auf, der an einmal gewonnenen Einsichten festhält und sich nicht einschüchtern lässt. Er sucht in Stuttgart und Heidelberg das Gespräch mit den jungen Leuten und wird von ihnen wegen seiner klaren, für jeden nachvollziehbaren Diktion geachtet, obwohl er unmissverständlich und nicht selten eine Gegenposition vertritt. An allen wichtigen Debatten der jungen Republik hat sich Robert Spaemann seit den fünfziger Jahren bis heute beteiligt: In der Frage der Atombewaffnung sieht man ihn an der Seite Heinrich Bölls. In seinem Buch »Grenzen« ist der Brief an Heinrich Böll vom Ende der siebziger Jahre nachzulesen, in dem er seine Parteinahme für die sogenannte Nachrüstung begründet. Als es um die Bildungsreform geht, tritt er zusammen mit Hermann Lübbe auf, der das schöne Wort »Verblüffungsresistenz« geprägt hat.
Auf Robert Spaemann passt Goethes Wort: »Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungen seiner Zeit nicht einig.« Seine Moral- und Naturphilosophie sind große Gegenentwürfe zu den heute herrschenden Ideologien, vor allem der »wissenschaftlichen Weltanschauung«, die mit imperialem Gestus verspricht, alle Wünsche der Neuzeit und der Moderne zu erfüllen. Und doch ist er kein Wissenschaftsgegner, ganz im Gegenteil. Wer sich mit ihm über physikalische und biologische Fragen unterhält, ist gelegentlich verblüfft über seine Kenntnisse auf diesen Gebieten. Sein Begriff des »Lebens«, seine Philosophie der »Personen« sind gründlich durchdachte Plädoyers für den Menschen wie er »geht und steht« und wie er sich auch selbst versteht, gegen alle Versuche, den Menschen als »Ding« hinzustellen, das beherrscht und manipuliert werden kann und muss.
Descartes’ Diktum vom Menschen als »Herrscher über die Natur« ist ambivalent. Denn »Herrschaft über die Natur« und »Beheimatung in der Natur« stehen in einem dialektischen Verhältnis zu einander. Warum aber verhält es sich so? Darauf gibt der Aufsatz »Zwei Interessen der Vernunft« eine Antwort. Aber eigentlich kreist das ganze Buch um diese wichtige Grundfrage: Wir beobachten Robert Spaemann beim Verfertigen seiner Gedanken, beim Denken mit seiner sanften, aber beharrlichen Überzeugungskraft. Er ist katholischer Christ und Philosoph, kein katholischer Philosoph, wie seine Kritiker behaupten, um ihn abzuwerten. Auch die Bezeichnung »Linkskatholik« in den fünfziger Jahren hat er immer abgelehnt. Seine politischen Überzeugungen waren einmal »links«, sein Katholizismus nie. Sein Philosophieren ist authentisch, argumentierend, nie nur antithetisch. Den Gegner so genau wie möglich zu verstehen, dieses Ethos steht am Anfang seiner kritischen Bemühungen. Die gemeinsame Vernunft zwingt ohne Zwang allmählich zur Einsicht – mit diesem Eindruck verlässt man Robert Spaemann nach einem zweistündigen Gespräch mit ihm »Über Gott und die Welt«. Für ihn ist Philosophie eine ars longa, die nie zum abgeschlossenen System gelangt, solange das Fragenstellen möglich ist. Erst der Tod setzt ihm ein Ende.
Wie kam es überhaupt zu diesem Buch? Ich schätze Spaemann seit dem Jahr 1972, als ich den Aufsatz »Die Utopie der Herrschaftsfreiheit« im »Merkur« las. Darin durchmusterte er in jargonfreier Sprache die gängigen politischen Theorieangebote, angefangen von Habermas über Dahrendorf und Luhmann, und brachte Platon und Nietzsche luzide zum Sprechen. Mir gefiel dieses von den »Modetönen des Zeitalters« (Kant) unbeeindruckte Denken, vor allem der Nachweis, wie unhintergehbar der Begriff des Guten für die gesamte Ethik und Politik ist.
1987 lernte ich Robert Spaemann in Frankfurt kennen, als er die Laudatio auf Hans Jonas bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt. Seine souveräne Apologie einer teleologischen Naturphilosophie, seine Aktualisierung des Begriffs »Natur« und die Reflexion darüber, was wir meinen können, wenn wir von »natürlichen Dingen« reden, hinterließ bei mir einen starken Eindruck.
In den neunziger Jahren traute ich mich dann als Kulturredakteur des »Focus«, Spaemann um ein Interview zu bitten, und rechnete mit einer Absage. Doch es kam anders. Das Interview fand statt, sogar der Anklang in der Redaktion blieb nicht aus. Danach folgten noch einige Interviews und vor allem längere Telefonate. Aber erst 2006 kamen wir uns näher: längere Spaziergänge durch die schattigen Laubwälder um das Schloss Solitude in Stuttgarts Westen. Es dauerte dann noch bis Dezember 2010, dass ich den Mut aufbrachte, Spaemann zu überzeugen, einen Gesprächsband über seine geistige Biographie mit mir herauszugeben. Wir hatten immer häufiger über Ereignisse aus seinem Leben gesprochen. Er erzählte mir, er habe einige »kleine« Episoden aus seiner Vergangenheit niedergeschrieben, die aber eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt seien. Bei mir dagegen verstärkte sich beim Zuhören immer mehr die Überzeugung, gerade diese Erinnerungen, gerade ein Gespräch über seine Vita müssten publiziert werden – ein Gedanke, den, wie Spaemann mir sagte, Michael Klett schon vor Jahren geäußert hatte. Es war die Freude, mit Spaemann zu reden, ihn zu befragen, mit ihm zusammen zu sein, die mich antrieb, andere mit einem Buch daran teilnehmen zu lassen. Schließlich gab er meinem Mitteilungsbedürfnis nach und willigte in das anfangs keineswegs sichere Unternehmen ein, unsere Gespräche zu veröffentlichen.
Zwölf Sitzungen im Jahr 2011, die lange Abschrift daraus, viele Kürzungen und Gespräche über Streichungen folgten. Dieses Buch kam zustande und ist nun, wie ich meine, die beste Einführung in das Philosophieren Robert Spaemanns. Ich habe eine wichtige Erfahrung im Zusammenhang dieses Buches gemacht: Es besteht kein kleiner Unterschied zwischen dem umfangreichen und kompetenten Sich-Auskennen in der Philosophie, wie sie seit Platon betrieben wird, und dem Philosophieren selbst.
Dem Autor bin ich zu tiefem Dank verpflichtet, dass er meine Fragen mit großer Geduld hingenommen, mit nie nachlassender Konzentration beantwortet hat und bereit war, seine »Episoden«, Texte, die so viel über ihn offenbaren, einzufügen. Erst sie geben dem Buch sein eigentliches Gewicht.
Frau Susanne Held, die das druckfertige Manuskript unermüdlich engagiert erstellt und unsere Arbeit durch kluge Vorschläge zur Kürzung und Korrektur begleitet hat, sei vielmals gedankt. Auch dem Lektor Johannes Czaja, der Korrektorin Frau Renate Warttmann und dem Verlag Klett-Cotta gebührt – natürlich nicht zuletzt – mein bester Dank.
München, im März 2012
Stephan Sattler
Kindheitserinnerungen
Nächst Gott verdanke ich, wie mein Vater mir erzählte, meine Existenz der Malerin Käthe Kollwitz. Sie muss den genialischen jungen westfälischen Kunstgeschichtsstudenten, Dichter und Bauhaus-Schüler Heinrich Spaemann als Mitarbeiter der legendären »Sozialistischen Monatshefte« kennengelernt und gemocht haben. Mein Vater war dort zuständig für Film und Varieté, also damals zum Beispiel für Charlie Chaplin, Buster Keaton, Sergej Eisenstein, Josephine Baker und den Mozart der Jongleure, Rastelli. Ich besaß als Kind einen der Bälle, die Rastelli nach der Vorstellung ins Publikum geworfen hatte.
Die aus dem Schwäbischen stammende Tänzerin und Mary-Wigman-Schülerin Ruth Krämer mochte Käthe Kollwitz auch und fand, die beiden sollten einander kennenlernen. Sie stiftete den älteren Freund und Mentor meines Vaters, den Psychologen Alexander Mette (später Präsident des Psychologenverbandes der DDR), dazu an, die beiden zusammen einzuladen. Sie hatte Erfolg.
In Mettes Haus allerdings ereignete sich später (es war der letzte Besuch) auch die Wende im Leben meiner Eltern, der Blutsturz meiner Mutter, der ihrer tänzerischen Laufbahn ein Ende setzte. Dass sie im Himmel wieder würde tanzen können, war ihr gewiss. Dies und ein gleichzeitiger Anfall dämonischen Wahnsinns bei Mette war der Beginn einer gänzlichen Neuorientierung meiner Eltern, die, beginnend mit der Lektüre Rousseaus über Jean Cocteaus Briefwechsel mit Maritain schließlich zum Weggang von Berlin nach Münster und am Ende in den Schoß der katholischen Kirche führte. So viel zur Vorgeschichte meiner Erinnerungen.
Ergänzend ist nur noch zu sagen, dass mein Vater sich Jahre nach dem Tod meiner Mutter entschloss, Priester zu werden. Er wurde 1942 vom Bischof von Münster, Graf Galen, geweiht.
Den Bericht aus diesen Erinnerungen sollte ich beginnen mit dem Vers des Psalms Laetatus sum in his quae dicta sunt mihi: In domum Domini ibimus. Meine früheste Kindheitserinnerung ist die Erinnerung an die Freude, von der in diesem israelitischen Wallfahrtslied die Rede ist – die Erinnerung an ein unbeschreibliches Wohlbehagen des Dreijährigen, der auf dem Schoß seiner Mutter liegend aufwacht beim Psalmodieren der Mönche, das ihn auch schon in den Schlaf gesungen hatte. Die Eltern meinten, es sei nun genug, und wollten aufbrechen. Aber ich bettelte sie an, noch zu bleiben. Ich konnte mich von dem Gesang mit seinen endlosen Wiederholungen nicht trennen (und kann es bis heute nicht). Es war in der Benediktinerabtei St. Josef im münsterländischen Gerleve, wo meine Eltern in die Kirche aufgenommen wurden und wo sie mich als Dreijährigen hatten taufen lassen.
Mein Taufpate war der alte, bärtige Klosterbruder Radbod, der mich früh in die Geheimnisse seiner Bienenzucht einweihte, während meine Eltern im Klosterladen ihren Honigbedarf deckten. Später begleitete ich gelegentlich als Ministrant einen Mönch auf dem »Versehgang« zu einem der umliegenden Bauernhöfe, wo es dann nach stattgehabter Zeremonie ein reichliches Frühstück gab, reichlicher, als das im Kloster üblich war.
Die Verbindung zur Abtei überdauerte die Übersiedelung meiner Eltern nach Köln im Jahr 1932. Ostern feierten wir fast immer dort. 1943 wurden die Mönche vertrieben. Ich schrieb damals mein erstes Sonett in einem etwas pathetischen, von Reinhold Schneider inspirierten Stil, in dem ich mein Land dem Untergang preisgegeben sah, weil es die zehn Gerechten ausstößt, deretwegen Gott sogar Sodom und Gomorrha verschont hätte:
Gerleve 1943
Das Volk, das seine Beter feig verriet, / die Erstgeborenen aus seinen Söhnen, / den eignen heiligen Namen, würd es wähnen, / den Namen selbst zu retten? Doch es flieht // aus seiner Mitte das geweihte Lied, / das seinen Namen trug und unter Tränen / den Segen Gott abrang. Nur dumpfes Stöhnen / dringt aus dem Abgrund noch und schaudernd sieht // ein Engel, wie sein Volk die zehn Gerechten / ausstößt, um derentwillen Gott vergeben / und Sodoma selbst freigesprochen hätte. // Nun ist es rettungslos den finstern Mächten / und namenlos und nackt dahingegeben. / Nur du bleibst noch, mein Gott, du komm und rette.
Ein pathetischer Augenblick war für mich das Osterfest 1943. Meine Mutter war sieben Jahre zuvor gestorben. Ich verbrachte das Fest, wie meistens, in Gerleve, diesmal einquartiert bei einem Bauern. Das Kloster war inzwischen in ein Lazarett verwandelt. Die Bauern hatten mit der Drohung von Lieferstreik die Öffnung der Abteikirche und regelmäßige Gottesdienste darin erzwungen. So fand an jenem Tag das Osterhochamt statt. Die Kinder von der Gerlever Volksschule sangen, ja schmetterten die gregorianischen Gesänge: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei in der besonderen österlichen Melodie.
Ihr Lehrer hatte es mit ihnen geprobt, und es erscheint mir immer als lächerlich, wenn die Liturgiereformer später verbreiteten, es hätte dieser Reform und der Abschaffung des Lateins bedurft, um eine aktive Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie zu erreichen. Pathetisch war der Augenblick für mich, weil ich ganz allein den vertriebenen Mönchschor zu vertreten hatte durch den Sologesang des sogenannten »Proprium«, eines der reichen, melismatisch komponierten gregorianischen Ostergesänge, Gesänge, die zu den schönsten des Jahres gehören und die von Rechts wegen Sache einer kleinen Mönchsschola waren.
Die kleine Terz, mit der das »Resurrexi« beginnt, ist so ganz anders als die Pauken und Trompeten, die in späteren Jahrhunderten für diesen Text mobilisiert wurden. Der verhaltene Jubel der kleinen Terz drückt die Stille aus, in der sich die Morgenröte eines neuen Äons ereignet. Adressat des Psalmworts »Ich bin auferstanden und immer bei Dir« sind nicht wir. Es ist eine Zwiesprache des Auferstandenen mit dem Vater.
Zwei Jahre später kamen die Mönche zurück. Dass ich in ihre Gemeinschaft eintreten wollte, ist nach all dem verständlich. Und auch, dass der ehrwürdige alte Abt, so wie es die Benediktinerregel vorschreibt, meinen Enthusiasmus bremste und mich erst einmal an die Universität zurückschickte. Da ich ohnehin über beide Ohren verliebt war, blieb (womit ein weiser Abt immer rechnet) dieses Anklopfen an der Klosterpforte Episode. Ein älterer, aus dem Krieg heimgekehrter Freund und Mitstudent, der mit mir angeklopft hatte, trat dann bald darauf wirklich ein, wurde Mönch, ein guter Mönch, später Novizenmeister, und ist schon lange am Ziel dieses Unternehmens angekommen.
Mein Kontakt zur Abtei wurde spärlich. Erst viele, viele Jahre später entdeckte ich in der Provence, am Fuß des Mont Ventoux, die neue Abtei Ste Madeleine in Le Barroux, in der ich das Mönchtum meiner Jugendzeit, die herrliche römische Liturgie, die strenge monastische Observanz, den frühen Tagesbeginn, das strikte Schweigen wiederfand und jenen Gehorsam, der das Lebenselement des Benediktinermönchs ist, ihn zum Ruhen in sich bringt und die Mönchsgemeinde zu einer brüderlichen Gemeinschaft von Einsiedlern macht.
Entstanden ist diese Abtei durch einen Mönch, der zur Zeit der Verwirrung und Aufweichung der klösterlichen Disziplin nach dem 2. Vatikanischen Konzil mit Erlaubnis seines Abts sein Kloster verließ und in der Provence bei einem leerstehenden steinernen Kirchlein als Einsiedler zu leben begann, die alte Messe las und die monastischen Tagzeiten rezitierte. Bald sammelten sich junge Leute um ihn, und sie begannen zusammen eine neue Mönchsgemeinde zu bilden, bauten dann in Le Barroux ein großes Kloster. Zwei Kilometer entfernt entstand ein ebensolches Frauenkloster.
Als dann das päpstliche Verbot durch päpstliche Gunstbeweise abgelöst wurde, stand dem inneren Frieden und der äußeren Entfaltung und Ausstrahlung nichts mehr im Weg.
Ich muss, wenn ich über mein Leben schreibe, zuerst von dem sprechen, was gar nicht mein Leben ist. Ich bin kein Mönch. Aber mein Leben ist eine vorübergehende Episode im Universum. Wichtig ist, was immer ist. Die Mönche bezeugen durch ihren Gesang und durch die Form ihres Alltags das, was immer ist. Sie bezeugen es als den, der immer ist. Ohne das, was sie bezeugen, wäre das, was jetzt ist, also auch die Episode dieses Lebens, ebenso wie des Lebens aller anderen, ohne Bedeutung. Es hätte, wenn die Erinnerungen erloschen sind, nicht einmal mehr den Status der Vergangenheit.
Ernst Bloch, dem ich sonst nichts verdanke, schreibt einmal von dem, »was uns allen in die Kindheit scheint und wo noch keiner war: Heimat«. Ja, in die Kindheit ist mir wohl so etwas geschienen: die heitere, zärtliche, strenge Liebe meiner kranken, jungen Mutter. Was mir blieb, war, was meine Mutter mir mitgegeben hat: Glaube und Hoffnung auf die »wahre Heimat«, von der der Apostel Paulus schreibt, dass sie im Himmel ist. Ich kann mich nicht erinnern, von meiner Mutter später geträumt zu haben.
Erst vor einem Jahr träumte ich, dass ihr Besuch mir unmittelbar ins Haus stünde. Ich wunderte mich zwar, weil ich doch gedacht hatte, sie sei gestorben, und weil sie, wenn sie lebte, doch eigentlich sehr alt sein müsste. Aber das änderte nichts daran, dass dieser Traum die reine Euphorie war. Ich hatte das Gefühl: Nun werden sich alle Fragen beantworten, alle Probleme lösen, alles, alles würde gut sein. Natürlich konnte ich auch im Traum das Gesicht meiner Mutter nicht wieder hervorrufen. Ich wachte also auf, ehe sie an die Haustür kam.
Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein anderer Traum ein, den ich als Kind hatte und in dem meine Mutter auch eine entscheidende Rolle spielte, obgleich sie persönlich gar nicht auftrat. Mir träumte, auf einer Dorfstraße lief aus der Ferne eine Hexe mir nach. Ich rannte in panischer Angst weiter, um nach Hause zu kommen, aber die Hexe kam immer näher. Die Situation wurde verzweifelt.
Aber in diesem Augenblick schoss es mir durch den Kopf: Meine Mutter hatte mir gesagt: Es gibt keine Hexen. An dem, was meine Mutter sagte, zweifelte ich nie. Sie sagte immer nur die Wahrheit und hatte auch kein Verständnis dafür, wenn jemand, und sei es ein Kind, nicht die Wahrheit sagte.
Aber gegen die Wahrheit der Worte meiner Mutter stand nun die eigene unmittelbare Erfahrung: Hier ist eine Hexe. Sie sieht aus wie eine Hexe und sie droht, mich gefangenzunehmen. Es gab nur eine Lösung dieser Frage: Es muss sich um einen Traum handeln. Die Hexe muss geträumt sein. Das Problem war nun nur noch: Wie schaffe ich es, aufzuwachen, ehe die Hexe mich fängt? In diesem Augenblick warf ich mich, im unbedingten Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit meiner Mutter, vor der Hexe auf die Straße und wälzte mich hin und her, um aufzuwachen, was mir dann auch gelang.
Mir war später diese Geschichte immer ein Bild für den unbedingten Glauben an die göttliche Offenbarung entgegen dem Augenschein, für den vernünftigen Glauben gegen abergläubische Empirie.
Ein dritter Traum hatte die umgekehrte Struktur. Er wehrte sich gegen die Entlarvung als Traum, und das jahrzehntelang. In ihm ging es um meinen Jugendfreund Martin Bongartz. Wir waren schon als Kinder enge Freunde, waren zusammen Ministranten, wir gingen zusammen zur Schule. Er stotterte. Er war witzig. Ich nicht. Aber ich lachte gern über seine Späße.
Im letzten Kriegsjahr wurde er noch zum Militär eingezogen und blieb in Ungarn verschollen. Vermutlich zwei Tage vor seinem Tod schrieb er mir noch bei einem Glas Tokayer einen langen Brief, ein wundervolles Dokument unserer Freundschaft, das dann leider selbst im Bombenkrieg verbrannt ist.
Danach träumte ich jahrzehntelang, dass er wiedergekommen sei und wir ein großes Fest des Wiedersehens feierten. Nach der etwa zehnten Wiederholung dieses Traums fing ich an, mich im Traum zu erinnern, dass ich das alles schon früher einmal oder mehrmals geträumt hatte, und nun kamen mir zunehmend Zweifel, ob es sich nicht auch diesmal wieder nur um einen Traum handelte. Aber alles war doch so real. Und ich sagte zu meinem Freund: »Denk dir, ich habe schon so oft geträumt, du seist wiedergekommen. Und dann war es immer nur ein Traum. Ich hätte nicht gedacht, dass du nun tatsächlich doch noch wiederkommen würdest.« Und dann, am Ende, war es wieder nur ein Traum.
Später versuchte ich mich dann empirisch zu vergewissern, indem ich alle möglichen Experimente anstellte, die dazu dienen sollten, mir während des Traums Klarheit zu geben. Aber alle Kriterien, die es erlauben sollten, Realität von Illusion zu unterscheiden, schienen erfüllt zu sein. Bis ich dann schließlich wieder aufwachte und alles nur ein Traum war. Es gibt in der Tat keinen Test, der uns eine absolute Gewissheit verschaffen könnte, dass wir nicht träumen. – Nachdem sich alle Tests als unzureichend erwiesen hatten, kehrte der Traum nicht wieder.