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LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

E.T.A. Hoffmann

Der Sandmann

Von Peter Bekes

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Hrsg. von Rudolf Drux. Stuttgart: Reclam, 2004 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 230.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2005, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene
Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960100-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015354-3

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Werkaufbau

5. Wort- und Sacherläuterungen

6. Interpretation

7. Autor und Zeit

8. Rezeption

9. Checkliste

10. Lektüretipps/Filmempfehlungen

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

Mit den Begriffen der Romantik und des Romantischen verbindet man heute häufig Bilder und Vorstellungen, die sehr stark durch die Klischees der Werbung und der touristischen Industrie geprägt sind: etwa nostalgische Erinnerungen an Sonnenaufgänge und -untergänge am Meer, an idyllische Landschaften, vielleicht denkt man aber auch an gefühlvolle Liebe, an Spaziergänge eines Liebespaares auf einsamen Wegen in einer Mondscheinnacht. Womöglich verwendet man diese Begriffe zudem in wertender Absicht, verbindet mit ihnen Erlebnisse, Sehnsüchte und Lebensformen, die idealisiert sind, d.h., den Kontakt zur alltäglichen Wirklichkeit verloren haben.

Der Blick in die Literaturgeschichte zeigt, dass diese Vorstellungen zu eng und einseitig sind. »Romantik« und »romantisch« bezeichnen hier auch das Unheimliche, Gespenstische, Dunkle, Abgründige, ja Verborgene und Abseitige. Ein Vertreter der Romantik in diesem Sinne ist der Dichter, Komponist und Zeichner E.T.A. Hoffmann. In ihm begegnet uns eine Art Universalkünstler, vielleicht die vielseitigste, genialste, aber auch zerrissenste Persönlichkeit dieser Epoche. Er hat sich in seinen Erzählungen, Märchen und Fantasiestücken mit den »Schattenseiten der Natur«, mit der Welt des Unbewussten und des Traums, den Sphären des Fantastischen und Unheimlichen beschäftigt. Das hat ihm in der Literaturgeschichte – nicht immer in wohlwollender Absicht – den Namen des »Gespenster-Hoffmann« eingebracht. Dabei übersah man allerdings, dass seine Darstellungen des Schauerlichen und Abgründigen, die Skurrilität seiner Figuren und die wunderlichen Begebenheiten in seinen Erzählungen keine »fantastische Manier«, also Selbstzweck sind, sondern ihre poetische Wirkung gerade aus ihrem Spannungsverhältnis zur Normalität des bürgerlichen Alltagslebens entfalten. Dies ist auch charakteristisch für eine seiner bedeutendsten Erzählungen: den Sandmann, die 1816 (mit Druckdatum 1817) im ersten Band seines zweiteiligen Zyklus Nachtstücke erschien: »Vielleicht wirst du, o mein Leser!«, so rechtfertigt der Erzähler dieses Textes sein Vorhaben, die wunderbare und seltsame Lebensgeschichte von Nathanael wiederzugeben – »glauben, dass nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben und dass dieses der Dichter doch nur, wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen könne« (19).

Dieser Text von E.T.A. Hoffmann gehört heute zum literarischen Schulkanon, er zählt zu den meistgelesenen Erzählungen im Deutschunterricht. Im Herbst 2002 wurde er von einer Jury, die aus Schüler(inne)n, Lehrer(inne)n und Journalist(inn)en bestand, in die 50 Titel umfassende ZEIT-Schülerbibliothek gewählt.1 Dies ist nicht verwunderlich: E.T.A. Hoffmann hat mit seiner Geschichte und ihrem Stoff sozusagen einen anthropologischen Nerv getroffen. Seit jeher faszinieren Rätselhaftes und Geheimnisvolles, das Abwegige und das Abgründige den Menschen. Mit dieser Faszination verbindet sich nicht nur das Ungenügen an der Normalität, sondern auch das Bedürfnis, alternative Formen der Wirklichkeitserfahrung kennen zu lernen. Dem wird die facettenreiche Thematik des Werkes gerecht. Hoffmanns Darstellung der Beziehungen von Normalität und Wahnsinn, Rationalität und Mystik, Bürgertum und Künstlertum ist für Schülerinnen und Schüler nicht nur aktuell und interessant, sondern auch anregend poetisch gestaltet. Die ihr zugrunde liegende Geschichte von »Nathanaels verhängnisvollem Leben« (18) wird spannend und anschaulich erzählt, zieht den Leser rasch in ihren Bann und lässt ihn nicht mehr los. Mit der Lektüre des der Erzählung vorangestellten Briefwechsels wird er zum ständigen Begleiter des Helden, erfährt er, mit welchen fantastischen Begebenheiten dieser konfrontiert wurde und wird.

Von allen Erzählungen Hoffmanns ist Der Sandmann nicht nur der am häufigsten interpretierte Text, sondern, neben dem Goldnen Topf, auch das Werk des Dichters, das in den letzten Jahrzehnten die literaturwissenschaftliche Forschung zu immer neuen Deutungsversuchen herausgefordert hat. Mit strengen Werkanalysen wetteifern Ansätze sozial- und geisteswissenschaftlicher Art, neben psychoanalytischen Zugriffen finden sich detaillierte Untersuchungen zur erzählerischen Gestaltung sowie zur Motivik und Symbolik des Textes. Das hat seine Gründe: Der Text ist rätselhaft, hintergründig und entzieht sich durch die ständig wechselnde Perspektive eindeutiger Festlegung. Er lässt viele Fragen offen: Wo verlaufen die Grenzen von Innen- und Außenwelt, was ist Einbildung, was Realität? Woher rühren die fantastischen Ereignisse im Text? Entspringen sie, wie Nathanael, der Protagonist der Erzählung, meint, den Wirkungen eines schicksalhaften Prinzips, beruhen sie auf dem Zufall oder liegen sie – darauf besteht Clara, die Verlobte Nathanaels – in den dunklen Mächten der Innenwelt? Handelt es sich um die Geschichte eines hochsensiblen Menschen, den ein erlittenes Kindheitstrauma in den Wahnsinn treibt, oder wird dieser tatsächlich verfolgt? Geht es in ihr um eine Person, die mehr und tiefer sieht als die Menschen in ihrer Umwelt, sich deshalb von ihnen nicht verstanden fühlt und zum Schluss an der selbst gewählten Isolation und ihren Selbstbezüglichkeiten und Fantasmen zugrunde geht? In Übereinstimmung mit diesen Interpretationen ist die Erzählung als Grusel-, Spuk- und Liebesgeschichte, als psychopathologische Fallstudie und als Künstlernovelle, als Bürgersatire und Groteske charakterisiert worden. Alle diese Deutungsansätze besitzen eine gewisse Berechtigung. Wenn man sie aber verabsolutiert, werden sie dem Sandmann in seiner Vielschichtigkeit und Komplexität nicht gerecht. Im Facettenreichtum und in der Vielbezüglichkeit seiner Themen und Motive, vor allem aber in den mannigfaltigen perspektivischen Brechungen stellt der Text sicherlich das radikalste Erzählexperiment des Autors dar. In ihm steckt ein großes ästhetisches Beteiligungspotential für den Leser, Reiz und Herausforderung zugleich, sich produktiv mit ihm zu beschäftigen.

2. Inhalt

Die Abfassung einer Inhaltsangabe zu Hoffmanns Erzählung Der Sandmann sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, das in der Geschichte dargestellte Geschehen nicht immer eindeutig erfassen zu können. An vielen Stellen bleibt der Text hintergründig und rätselhaft. Hier lässt der Dichter offen, ob das, was erinnert bzw. erzählt wird, einer getrübten bzw. verzerrten Wahrnehmung des Protagonisten entsprungen oder tatsächlich so geschehen ist. Im Einzelfall ist also immer genau auf die Perspektive und den Modus der erzählerischen Vermittlung zu achten.

Die Erzählung beginnt mit einem Briefwechsel zwischen dem Studenten Nathanael, seiner Verlobten Clara und ihrem Bruder Lothar. In seinem Brief an Lothar erzählt Nathanael von einer merkwürdigen Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola, die ihn stark verunsichert und schlimme Erinnerungen an seine Kindheit in ihm wachgerufen habe. In Coppola meint Nathanael den Advokaten Coppelius, einen Bekannten seines Vaters, wiedererkannt zu haben, den er auf Grund seines unfreundlichen Auftretens, seines hässlichen Erscheinungsbildes und seiner dämonischen Ausstrahlung stets als bösen, grausamen Sandmann gefürchtet hatte. Dieser Coppelius habe den Vater – zum Unwillen der Familie – abends häufiger besucht, um mit ihm geheimnisvolle Laborversuche durchzuführen. Beide Männer habe er mit Grausen bei einem ihrer »teuflischen« Experimente beobachtet, sei aber von Coppelius entdeckt und von ihm grausam misshandelt worden. Dann sei er in Ohnmacht und in ein heftiges Fieber gefallen, von dem er sich aber kurze Zeit später wieder erholt habe. Ein Jahr nach diesem schockierenden Vorfall sei Coppelius nochmals erschienen, habe wiederum zusammen mit dem Vater experimentiert. Dabei sei es zu einer schweren Explosion gekommen, die den Vater tödlich verletzte. Durch den friedlichen und milden Gesichtsausdruck des Toten sei in ihm aber die Zuversicht geweckt worden, dass seines Vaters »Bund mit dem teuflischen Coppelius ihn nicht ins ewige Verderben gestürzt haben könne« (11).