Schwarzbuch
Menschenrechte
Worüber Österreich schweigt
RESIDENZ VERLAG
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© 2012 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
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St. Pölten – Salzburg – Wien
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ISBN ePub:
978-3-7017-4286-8
ISBN Printausgabe:
978-3-7017-3171-8
Ich widme dieses Buch
meiner Lebensgefährtin Jutta Zinnecker,
die mir auch in der stressigen Schreibezeit mit Rat,
Tat und Nervenkraft zur Seite gestanden ist.
Im Folgenden wird bei Bezeichnungen von Personengruppen durchgängig das Binnen-I verwendeet. Laut der Gleichbehandlungsanwältin des Bundes, Ingrid Nikolay-Leitner, stellt das Binnen-I »die gleichberechtigste und gleichzeitig lesbarste gendergerechte Schreibform dar«.
Die Verwirklichung der Menschenrechte steht oder fällt mit dem Wissen über sie. Also mit Informationen über das Woher und das Warum: Was waren die Entwicklungen, die zum historischen Schritt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 führten?
Sie steht oder fällt mit dem Wissen über die Inhalte der Bestimmungen, aber auch über die Mittel und Wege zu ihrer Umsetzung: Wer wo und wie um diese verbrieften, unteilbaren, universellen Rechte kämpft, die allen Menschen zustehen. Die aber vielfach erst umgesetzt, also gelebte Realität, werden müssen.
Denn auch, wenn die Menschenrechte 63 Jahre nach der historischen Verkündung am 10. Dezember 1948 in Paris inzwischen weltweit als verbindlich gelten: Sie sind noch lange nicht überall und immer Praxis – nicht einmal in einem Staat wie Österreich, in dem Menschenrechte im weltweiten Vergleich jedenfalls überdurchschnittlich gut verwirklicht sind. Amnesty International, eine der ältesten, weltweit für Menschenrechte aktive regierungsunabhängige Organisation, kann das bezeugen.
Was haben Menschenrechte mit dem Leben der Menschen zu tun, wie wirken sich menschenrechtliche Defizite konkret aus? Und welche Chancen eröffnen neue Bestimmungen – etwa die Konvention über die Rechte von Behinderten? Wie können sie das Leben Betroffener verbessern, ganz konkret, im Alltag? Auch das sind Fragen, denen in diesem Buch nachgegangen wird – vor allem aus österreichischer, aber auch europäischer Perspektive.
In Österreich galt die menschenrechtliche Auseinandersetzung lang als rein universitäre, professorale, in internationalen Gremien zu diskutierende Angelegenheit. Die Notwendigkeit, vor der eigenen Tür zu kehren – etwa dann, wenn AusländerInnen Gewaltvorwürfe gegen die Polizei erhoben –, wurde kaum gesehen. Das hat sich heute tendenziell zum Besseren gewandelt. Doch immer noch ziehen sich politische MandatarInnen vor Gesetzesbeschlüssen mit Menschenrechtsbezug gern auf Klubzwänge zurück, statt sich ein eigenes, selbstverantwortliches Bild zu machen und ihrem Gewissen zu folgen, so, wie es ihrem freien Mandat entsprechen würde.
Das war bei mehreren Antiterrornovellen so, deren Folgen in diesem Buch geschildert werden, aber auch beim Außenhandelsgesetz über Waffenexporte – und vor allem bei den Asyl- und Fremdenrechtsnovellen, die uns in Jahresabständen heimsuchen. Allzu gerne wird darauf »vergessen«, Übergangsregelungen für jene Fälle vorzusehen, die noch nach alten Bestimmungen in Arbeit sind. Das gilt allerdings auch für Bereiche, die nicht unmittelbar mit Menschenrechten, wohl aber mit Rechtssicherheit und Vertrauen in die Regierung zu tun haben.
Hier existiert eine Vielzahl schwarzer Flecken, über die die Verantwortlichen in Österreich lieber schweigen: Vor allem Flüchtlinge und MigrantInnen, aber auch Einheimische in Notlagen verheddern sich in den Netzen der Bürokratie, verzweifeln an institutionalisiertem Misstrauen gegen Fremdes oder sozial Schwächere. Über die Auslegung von Verordnungen und Gesetzen wird länger gefeilscht, als über die Lage der Betroffenen diskutiert. Das ist auf Dauer nicht hinnehmbar.
Heinz Patzelt, Jänner 2012
Ariana hat sich Österreich nicht ausgesucht – sondern Österreich sie. Sie wurde im Rahmen einer internationalen Mission der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) zu ihrem eigenen Schutz hierher geholt, im Jahr 2000, als sie 16 Jahre alt war: Eine Minderjährige aus dem heutigen M., ein Opfer langjähriger Kinderprostitution und Mädchenhandels, die sich in akuter Lebensgefahr befand.
Dennoch hat Ariana zwölf Jahre danach in Österreich weder Aufenthaltssicherheit noch eine Zukunftsperspektive. Weil die humanitäre Selbstverpflichtung der Republik einen Haken hatte. Dem Mädchen wurde die Zuflucht unter der Bedingung des Wohlverhaltens gewährt. Das aber verfehlte es: Zweimal wurde Ariana wegen Betrugs rechtskräftig verurteilt.
Das Aufenthalts- und Niederlassungs- sowie das Staatsbürgerschaftsgesetz verlangen, dass Fremde, die in Österreich bleiben oder die Staatsbürgerschaft erwerben wollen, keine Vorstrafen aufweisen dürfen: eine klare, eindeutige Bestimmung. Aber kann man das auch von einem Menschen verlangen, den die Republik freiwillig aufgenommen hat, wissend, dass dieser Mensch von klein auf Willkür und Ausbeutung ausgesetzt war und dadurch niemals gelernt hat, richtig von falsch zu unterscheiden? Von einem Menschen, der lernen musste, in Ungesetzlichkeit zu überleben – mit tiefgreifenden psychischen und sozialen Folgen für die Persönlichkeit?
Fragen wie diese betreffen die strengen »Fremden«-Gesetze, die Österreich im vergangenen Jahrzehnt beschlossen hat, aber auch die Verpflichtungen eines modernen Rechtsstaats. Wie weit geht die Verantwortung eines Staates für Opfer humanitärer Verbrechen in Drittstaaten? Ist diese Verantwortung international? Und wenn sie, wie im »Fall Ariana«, ausdrücklich übernommen wurde: Was umfasst sie?
Wer der jungen Frau, deren Verbleib in Österreich so viele Fragen aufwirft, gegenübersitzt – sagen wir in einem Kaffeehaus in Wien – sieht eine hübsche, blonde Person mit dunkelbraunen Augen. Eine schlanke, vollbusige Frau in engem Top und Minirock, die in ihrem Caffè Latte rührt und sich gefällig im Spiegel gegenüber betrachtet: »Alles Natur!«, kommentiert sie und lacht. Gutmütigkeit und Humor strahlt sie aus – wenn es ihr gut geht.
Das ist Arianas helle Seite, die starke, alltagsfitte. Diejenige, die sie durch Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenleben hinweg ins Heute retten konnte. Die Seite, welcher sie es zu verdanken hat, dass sie, die mit 16 Jahren als Analphabetin nach Österreich kam, Lesen, Schreiben und Rechnen lernte, und zwar alles auf Deutsch. Dass sie, trotz schwerer psychischer Einbrüche, zäh am Ziel des Hauptschulabschlusses festhielt und diesen im Jahr 2006 auch schaffte.
Die andere, schwer verletzte Seite der jungen Frau wird aus einer Reihe von Arztkurzbriefen und Befunden sichtbar. PsychiaterInnen schildern Arianas Depressionen, ihre Ängste, verfolgt zu werden. Etliche Male hat sich die junge Frau in den vergangenen Jahren freiwillig in Psychiatrien einweisen lassen – oder wurde eingewiesen: Wenn sie mit ihren Gefühlen nicht mehr zu Rande kam, weil etwas aus dem Vergessen auftauchte: Situationen, in denen sie außer sich gerät, so dass sie danach den Eindruck hat, eine »andere Person« habe aus ihr gesprochen. Was Ariana als Kind und Jugendliche miterleben musste, kann man nur durch Abspaltung überleben.
Die Ärzte diagnostizierten eine Persönlichkeitsstörung als Folge schwerer traumatischer Erlebnisse. Worin diese Erfahrungen bestanden, schildert Ariana nur in Bruchstücken. Erinnerungen aus ihrer Kindheit, die in ihr auferstehen, haben den Charakter von Albträumen und Zwangsgedanken: »Ich bin in einem Keller aufgewachsen, habe niemand gehabt außer einer älteren Frau, die alle paar Tage gekommen ist.« – »Manchmal waren andere Kinder dort, von den Prostituierten. Ich habe gesehen, wie Kinder getötet wurden. Wegen des Organhandels, damit hatte meine Familie auch zu tun.«
Besagter Keller gehörte zu einem Haus, in dem sich ein Bordell befand. Mit fünf Jahren sei Ariana von ihrem eigenen Vater dorthin »vermietet« worden, in einen westeuropäischen Staat, steht in einem Schreiben des Wiener Jugendamts aus dem Jahr 2001. Woher diese Informationen kamen, weiß dort heute niemand mehr, und Ariana selbst hat die genauen Daten ihres kindlichen Leidensweges nicht aufschreiben können.
Wer die Erwachsenen waren, die ein kleines Mädchen zu Sexzwecken quer durch Europa schickten, ist hingegen einem Mailverkehr aus 2001 zu entnehmen, den sich Ariana in ausgedruckter Form aufgehoben hat. »Wir haben keinen Zweifel, dass die lokale Mafia in den ›Verkauf‹ dieses Mädchens involviert war«, schreibt ein OSZE-Entsandter mit dem Decknamen »Stanislaw« an Eva Kaufmann von der Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels (Lefö/IBF) in Wien.
Kaufmann, eine von Arianas ersten Betreuerinnen in Österreich, hatte den Wunsch ihrer Schutzbefohlenen, mehr über ihre Herkunft zu wissen, damals an Kontaktleute in M. weitergeleitet. »Stanislaw« war daraufhin in Arianas Geburtsort gefahren, hatte unter einem Vorwand – und, wie er betont, ohne sich dabei beobachten zu lassen – im dortigen Standesregister auf der Gemeinde Einsicht genommen. In seinem Mail warnt er: »Sollten wir versuchen, über die dort herrschenden Mafiafamilien weitere Informationen einzuholen, riskiert sowohl das OSZE-Team als auch die Familie des Mädchens ihr Leben.«
Die Mafiafamilien hatten Ariana bis zu ihrem 16. Lebensjahr in der Gewalt. Zwar floh sie mit 13 aus dem ersten westeuropäischen Bordell: »Es war ganz nah an der österreichischen Grenze«, erzählt sie. Doch in einem Bordell befand sie sich erneut, als sie in W. drei Jahre später, am 22. Juni 2000, durch multinationale Polizeikräfte aufgegriffen wurde, die dort nach einem entführten Buben suchten. »Sie stand offensichtlich unter Drogeneinfluss und war vergewaltigt worden. Die Minderjährige wurde im Rahmen eines Prozesses als Zeugin befragt, sie identifizierte die Täter. In der Folge wurde ihr Aufenthalt ausfindig gemacht, und es wurden auf sie Schüsse abgegeben in der Absicht, sie als Tatzeugin zum Schweigen zu bringen«, steht in dem oben erwähnten Wiener Jugendamtsschreiben.
Danach war klar: Das Mädchen musste aus W. weg, diskret und unbürokratisch, ohne Pass und Visum, die man offiziell beantragen muss und die die Mafia daher auf ihre Spur bringen konnte. Das war eine Situation, die eine Reisefreiheit erforderte, wie sie sonst nur Angehörige des diplomatischen Dienstes genießen, denn nur dieser konnte Staatsgrenzen und Aufenthaltsgesetze unwirksam machen. »Wir haben in diesen Jahren mehrfach Frauen, die als Opfer des Menschenhandels gefährdet waren, mit OSZE-Hilfe in andere Staaten gebracht«, bestätigt Helga Konrad, ehemalige österreichische Frauenministerin der SPÖ und von 2000 bis 2004 Vorsitzende der Anti-Trafficking Force in der OSZE mit Schwerpunkt Balkan.
Auch Österreich habe sich zu derlei humanitären Rettungsaktionen bereit erklärt, schildert Konrad. »Trotz unklarer Rechtslage« habe man sich im Innenministerium dafür stark gemacht.
So bekam Österreich für die humanitäre Rettung Arianas den Zuschlag – und das Mädchen eine Überlebenschance in einem westeuropäischen Staat. Ende Juli 2000 wurde sie mit Hilfe der OSZE unter falschem Namen nach Wien gebracht. »Ich bin damals zum ersten Mal geflogen«, erinnert sie sich.
Doch diese gute Tat hatte einen Haken: »Ob ich nach Österreich wollte, hat mich keiner gefragt«, sagt Ariana. Die unfreiwillige Rettung belastet ihr Verhältnis zum Aufnahmeland bis heute: »Was soll ich in Österreich? Ich will nach M. zurück!«, behauptet sie in Situationen erhöhten Stresses: Kein einnehmendes Verhalten für jemanden, der Vorstrafen aufzuweisen hat und auf den Goodwill des Aufnahmelandes angewiesen ist. Vielmehr selbstgefährdend: Von Habenichtsen wie Ariana verlangt das österreichische Fremdenwesen bedingungslose Regelbefolgung.
Dabei beruht Arianas starke Ambivalenz auf einem grundlegenden Problem: Dass Österreich für sie keine wirklich passenden Angebote hatte. Die zuständigen Behörden und Einrichtungen gerieten mit der Problemlage der 16-Jährigen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, sie waren für einen solchen »Fall« nicht wirklich gewappnet.
Das Mädchen wurde in einer geschützten Wohnung der Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels (Lefö/IBF) in Wien untergebracht. Aber Ariana habe dort nicht hingepasst, schildert Grace Latigo, eine damalige Betreuerin. Unter den anderen erwachsenen Frauen sei ihr der verstörte Teenager völlig fehl am Platz vorgekommen: »Niemand hatte wirklich Zeit für sie. Sie war total verloren, sprach keine Sprache wirklich, versuchte, sich mir irgendwie verständlich zu machen. Mir war unklar, warum man sie in diese Institution, nicht etwa in eine Wohngemeinschaft für minderjährige Flüchtlinge, gebracht hatte.« Eva Kaufmann, damals wie heute beim Lefö/IBF in leitender Funktion, sieht das anders: »Wir nehmen Frauen ab 16 Jahren auf. Ich kann mich an keine Probleme mit Ariana erinnern.«
Da waren die Demarchen bei den Fremdenbehörden, die Ariana nur befristete Aufenthaltsbewilligungen aus humanitären Gründen gewährten. Zuerst am 10. August 2000 für ein Jahr, verlängerbar nach Ermessen, dann wieder für zwölf Monate, dann für zwei Jahre – mit der unsicheren Aussicht, danach erstmals ein einjähriges, »echtes« Aufenthaltsrecht zu ergattern. Jedes Jahr Bittgänge, lange Episteln von Eva Kaufmann an Ministerialverantwortliche, ans fremdenpolizeiliche Büro Wien, an die für Aufenthaltsangelegenheiten in Wien damals zuständige MA 20: »Die Entscheidungsmacht lag allein auf Behördenseite, im Endeffekt beim Innenminister selbst«, erläutert Eva Kaufmann. Denn bis 2009, als auf einen Verfassungsgerichtshof-Entscheid hin ein Antragsrecht auf humanitären Aufenthalt eingeführt wurde, habe in diesen Belangen das Prinzip Gnade geherrscht.
Keine Option für Ariana: Mit jahrelanger Aufenthaltsunsicherheit, einer Art fremdenrechtlicher Bewährungsprobe, kann eine Verfolgte, Traumatisierte, eine Art weiblicher »Kaspar Hauser« ohne innere moralische Festigung nicht umgehen. Wäre Ariana eine Opernsängerin – im Interesse der Republik wäre Entgegenkommen bis hin zur Einbürgerung möglich gewesen. Eine Notaufnahme im Rahmen eines Friedenseinsatzes hingegen sieht diese Möglichkeit nicht vor.
Erfüllt ein Staat auf diese Art eine freiwillig eingegangene Verpflichtung? Wohl kaum. Schon wegen des Fehlens eines Auffangnetzes für den Fall, dass etwas schiefgeht. Denn das tat es, im Jahr 2004. Ariana zog aus der geschützten Wohnung aus und lernte einen jener Männer kennen, die Liebe mit Ausbeutung verbinden. Mit einer Bankomatkarte beging sie einen Betrug. Er nahm das Geld, sie fasste sechs Monate bedingte Haft aus. »Wir bitten, die gravierende Traumatisierung unserer Klientin bei der Beurteilung ihrer Handlungsweise zu berücksichtigen«, wandte sich Betreuerin Kaufmann am 25. Mai 2004 an den für die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung zuständigen Referenten. Dieser ließ Gnade vor Recht ergehen: Die Aufenthaltsbewilligung wurde verlängert.
Verlängert wurde sie noch weitere drei Male, bis zum Jahr 2008, der zweiten Straffälligkeit: Ariana nahm Geld für die Vermietung einer Wohnung, die nicht vermietet werden konnte. U-Haft, Gerichtsverhandlung, weitere Strafe wegen schweren Betrugs, diesmal 15 Monate teilbedingt. Und, vor allem: keine Aufenthaltsverlängerung mehr. Stattdessen leitete die Bundespolizeidirektion Wien ein Ausweisungsverfahren ein: Am 26. März 2009 wurde über Ariana ein sechsjähriges Aufenthaltsverbot ausgesprochen (das inzwischen wieder aufgehoben worden ist).
Doch wohin sollte man sie schicken? Ins Land ihrer Geburt? Unmöglich, wegen der weiter bestehenden mafiösen Verstrickungen der Familie. Nach W., wo sie aufgegriffen worden war oder gar in das Land, wo sie als Kind zwangsprostituiert wurde? Unmöglich, keine Anknüpfungspunkte. Ariana sollte nicht hier bleiben, aber weggebracht werden konnte sie auch nicht: eine kafkaeske Situation. Der Gedanke an ein Weggehen, das sie wohl noch tiefer in Not stoßen würde, begann sich in ihrem Kopf zu verselbstständigen, als letztmögliche selbstbestimmte Handlung. Wird ihre Verzweiflung übermächtig, kündigt sie seither regelmäßig ihre bevorstehende Abreise an.
Was mit Ariana tun? Neun Jahre nach der freiwilligen Aufnahme des traumatisierten Teenagers in Österreich war die absurde Logik und Gleichgültigkeit des heimischen Fremdenwesens an ihre Grenzen gestoßen. Fest schien zu stehen, dass Ariana anderswo Verfolgung drohen könnte: Am 16. Dezember 2009 brachte sie mit ihrer Rechtsberaterin einen Asylantrag ein. Internationaler Schutz, so der leitende Gedanke, würde ihrer Lage rechtlich an meisten entsprechen.
Doch leider: Auch einer solchen Lösung stehen Arianas Vorstrafen im Weg. Politisches Asyl oder subsidiärer Schutz werden nicht erteilt, wenn sich Antragstellende eines »Verbrechens« schuldig gemacht hat, auch wenn er oder sie zur Tatzeit minderjährig und traumatisiert war. Und außerdem: Ariana, psychisch angeschlagen und nach der langen Wartezeit höchst frustriert, sieht den Sinn des Verfahrens nicht ein. »Ich will kein Asyl, ich will Gerechtigkeit!«, sagt sie.
In Phasen des Außer-sich-Seins neigt sie zu überstürzten Handlungen: Am 9. August 2010 rief sie den zuständigen Referenten des Bundesasylamts an, um ihm mitzuteilen, dass sie den Asylantrag zurücklege. Sie werde jetzt nach W. zurückkehren. Nur viel Zureden konnte die Verfahrenseinstellung abwenden.
Was also tun? Man müsse die junge Frau vor sich selber schützen, meinten Rechtsberaterin und BetreuerInnen. Sie regten eine Sachwalterschaft im Asylverfahren an. Am 7. November 2011 wurde diese im Bezirksgericht Favoriten endgültig ausgesprochen. Für Ariana wieder ein Eingriff in ihre Selbstbestimmung.
Auch wenn allein das Asylverfahren Chancen für ihren Verbleib eröffnet, zumindest theoretisch: War es legitim, sie dafür den Preis einer Sachwalterschaft zahlen zu lassen, die sie als Entmündigung empfindet? Diese Frage im Fall Ariana wendet sich an SozialarbeiterInnen und BeraterInnen. Es ist eine Frage nach deren Handlungsmöglichkeiten und Verantwortung angesichts der strengen Bestimmungen des Fremdenrechts und der labilen Persönlichkeit Arianas.
Denn im Asylverfahren ist für Ariana inzwischen eine scheinbar ausweglose Situation entstanden. Das Bundesasylamt hat ihren Antrag abgelehnt und lediglich eine »Duldung« ausgesprochen: ein Status ohne Arbeitsbewilligung und Zugang zu Sozialleistungen, aber mit ständiger Ausweisungsgefahr. Perspektive auf fixes Aufenthaltsrecht mit Chance auf Arbeitsbewilligung hat Ariana damit keine, über lange Jahre hin. »Geduldete« haben nur unter der Bedingung ihrer Unbescholtenheit eine Chance auf Aufenthaltsrecht.
Ist eine solche »Lösung« mit den Mindestnormen bei der Anerkennung von Flüchtlingen und anderen Schutzsuchenden vereinbar? Verstößt Arianas Situation gegen die Regeln, die sich die Europäische Union gegeben hat? Fragen wie diese machen Arianas Fall zu einem Fall für ganz Europa: Die Rechtsberaterin hat angeregt, der Asylgerichtshof möge die Causa vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, dem höchsten Gericht der EU, prüfen lassen, der über die Einhaltung der EU-Grundrechtscharta wacht. Im Jänner 2012 nahm der Asylgerichtshof die Behandlung des Falles Ariana auf.
Entscheidet sich der Asylgerichtshof zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofes, so kann es bis zu einem Beschluss Jahre dauern, weitere Jahre der Unsicherheit für Ariana. Zwölf Jahre ist sie jetzt in Österreich. Ausgesucht hat sie sich das nicht. Indem man sie hierher brachte, wollte man ihr Gutes tun, aber das hat sie in eine Sackgasse geführt. Sie erfüllt die verlangten Bedingungen nicht, weil sie aufgrund ihrer Geschichte und damit zusammenhängender psychischer Probleme dazu schlicht nicht fähig ist. Der Staat, der sie aufgenommen hat, hat nicht nach einer Lösung gesucht. Dabei wäre bei lösungsorientierter Großzügigkeit hier keinerlei fremdenrechtliche Präzedenzwirkung zu befürchten: Im »Fall Ariana« ist es niemals um Einwanderung gegangen, sondern immer nur um eine Selbstverpflichtung Österreichs.
Arianas Geschichte steht nicht ohne Grund am Anfang dieses Buches. Was auf Grundlage unzureichender Ausländergesetze, die keine Rücksicht auf Menschen in besonderen Situationen kennen, seit zwölf Jahren mit der jungen Frau geschieht, ist ungeheuerlich. Dass niemand in Österreich, dem humanitären Aufnahmeland der ehemaligen Kinderprostituierten, bisher in der Lage war, einen Schlussstrich unter diese Affäre zu ziehen, um Ariana in Sicherheit hier leben und hoffentlich gesunden zu lassen, mag dem Gesetz entsprechen. Aber es zeigt auch, wie sehr sich die politischen Player in Sachen Ausländerpolitik gegenseitig in Schach halten.
Denn die Gesetze, die der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens dienen sollen – vom Asyl- übers Fremdenpolizei-, Aufenthalts- und Niederlassungs- bis hin zum Staatsbürgerschaftsgesetz –, führen in vielen Fällen dazu, dass Lösungen, die Menschen helfen würden, unterbunden werden. Das Grundproblem ist der Geist, der aus diesen Regelungen spricht: ein Geist des Misstrauens gegen »Fremde«, wie Menschen von außerhalb der EU, also der so genannten »Drittstaaten«, in Österreich von Gesetzes wegen heißen.
Ariana habe ich über Grace Latigo kennengelernt, ihre frühere Betreuerin in der geschützten Wohnung. Beim ersten Treffen habe ich eine junge Frau erlebt, die mich in dem, was sie erzählte und was sie als ihren Wunsch schilderte, vielfach an Natascha Kampusch erinnerte, mit der ich für den Standard mehrere Interviews geführt habe. Der gleiche nach oben hin ausweichende Blick, wenn es um belastende Erfahrungen ging, derer es auch bei Ariana mehr als genug gibt. Ein ähnlich ausgeprägtes Bedürfnis, das eigene Schicksal via Medien zu einer veröffentlichten Story zu machen.
Doch für Ariana, Opfer des Kinderhandels, der Zwangsprostitution sowie der Härten der Fremdengesetze, wäre der offensive Gang an die Öffentlichkeit noch gefährdender als für das Verbrechensopfer Natascha Kampusch. Weil sie Drittstaatangehörige ist und es in ihrem Fall zusätzlich um die Frage geht, ob und unter welchen Bedingungen sie überhaupt im Land bleiben darf. Es geht um ihre bloße Existenz. Das Anonymisieren und akribische Rekonstruieren der bürokratischen Abläufe, die Ariana in ihre immer noch gefährdete rechtliche Lage gebracht haben, erschien als der adäquate Weg, um darüber zu berichten.
Denn auch wenn Ariana derzeit nicht akut von einer Abschiebung bedroht ist: Ihr Verbleib in Österreich ist immer noch nicht gesichert, obwohl sie als Schutzbedürftige ins Land gebracht wurde. Und die Perspektive einer Abschiebung hat für alle »Fremden« in Österreich ein immenses Drohpotenzial. 2577 Abschiebungen wurden 2010 aus Österreich durchgeführt. Zwar erscheint es logisch, dass ein Staat das Recht hat, unerwünschte AusländerInnen des Staatsgebiets zu verweisen. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass die Abschiebepraxis in Österreich für Betroffene vielfach einer Katastrophe gleichkommt. Sowohl Traumatisierte wie auch bereits länger ansässige Menschen werden um ihr Umfeld, um Familienanschluss, Freunde und Bekannte, um manches Hab und Gut – kurz um ihr mühselig neu aufgebautes Zuhause gebracht.
Im folgenden Kapitel geht es um Stationen solcher Entwurzelung, die für Menschen mit jahrelanger Fluchtgeschichte vielfach ein weiteres traumatisches Herausreißen darstellen. Ich möchte Ihnen dazu einen interessanten Gedanken des Wiener Flüchtlingshelfers Michael Genner von der NGO Asyl in Not mit auf den Weg geben, der im Österreich der 1970er-Jahre jugendlichen Heimzöglingen half, die vor der damals vielfach schwarzen Pädagogik flohen, und heute Menschen vor ungerechten Abschiebungen zu bewahren sucht: Es dauerte Jahre, bis die Misshandlungserfahrungen ehemaliger Insassen etwa des Heims am Wiener Wilhelminenberg als inhuman und skandalös erkannt wurden. Wird es noch einmal vierzig Jahre dauern, bis mit gleicher Empörung darüber diskutiert wird, wie hart man mit Flüchtlingen 2011 in Österreich umgegangen ist?
30. November 2010, »Freunde schützen«-Haus, Wien-Meidling. Die Frau im Bett schreit. Immer wieder, eine Folge panischer, schwer verletzter Gefühle, die sich über ihre Stimme Bahn brechen. Auf dem Rücken, den Kopf abgewandt, liegt sie voll bekleidet unter einer Wolldecke, auf der nackten Matratze, ihr derzeit einziger Ort des Rückzugs im Fluchtland Österreich. Ihr »Vielleicht-morgen-nicht-mehr-da«-Ort, im Haus eines Wohnprojekts, das versucht, unmenschliche Ab- und Rückschiebungen zu verhindern.
Die Frau schreit, und dabei wird sie gefilmt. Eine Fernseh- und mehrere Videokameras sind auf sie gerichtet, wie sie in dem weiß ausgemalten, ungeheizten Zimmer mit nichts als drei Betten darin lauthals klagt. Nur bildlich festgehaltene, dokumentierte Zerrüttung kann vielleicht das Abschiebekommando fernhalten. Dieses wartet draußen, auf der Straße, in den Polizeiwagen und ist umringt von Menschen, die »Keine Mauern um Europa« skandieren: ein Teil der schmalen, abschiebekritischen österreichischen Öffentlichkeit, die krasse Unrechtsfälle manchmal skandalisieren kann. Die Frau schreit und wir JournalistInnen sind ganz nahe dran, unsere Medienaugen auf die Bettstatt gerichtet, als läge darin ein großes, aufgespießtes Insekt: Eine Situation, die die Intimität der Betroffenen verletzt.
Neben der 46-Jährigen sitzt ein junger Mann, Khiza, ihr 22-jähriger Sohn. Als er sich über seine Mutter beugt, wird ihr Jammern noch lauter. Ratlos hebt er den Kopf, weg von der schmalen Gestalt unter der Decke. Weg von der Gestalt, die sich verzweifelt dem Vollzug des fremdenpolizeilichen Dublin-II-Rückschiebebefehls widersetzt: dem Wegbring-Befehl für sie, ihn und den 14-jährigen Magomed, der draußen vor der Tür regungslos auf einem Sessel kauert. Nur seine Augen jagen über die Gesichter aller, die vorbeigehen.
Die Tür geht auf. Drei Männer in orangen Overalls betreten den Raum. Sie kommen von der Rettung, doch ob sie solche bringen, ist ungewiss – ihre Aufgabe ist es, medizinische Hilfe zu leisten, nicht Hilfe gegen fremdenpolizeiliche Maßnahmen. Rasch durchmisst der Erste, ein Arzt, den Raum, beugt sich über das Bündel unter der Decke. »Grüß Gott. Was ist denn passiert?« Keine Reaktion.
Der Arzt richtet sich auf: »Für mich gilt nur, wie ein Patient beisammen ist«, sagt er, an die anderen im Raum gerichtet, als wäre das eine erforderliche Festlegung. Dann wendet er sich an den Sohn: »Können Sie übersetzen?« Der nickt und tut es. Keine Reaktion. Die Frau jammert weiter. Dann dreht sie sich zur Seite und rollt sich zusammen, in Embryohaltung. Der Arzt zögert nur kurz: »Wir fahren ins Spital. Abg’schoben wird heut nimmer.«
Und so war es dann auch an diesem kalten Novembertag. Die erlösenden Worte waren gesprochen. Kein Transport in die Schubhaft unter Einwirkung schwerer Psychopharmaka, keine von Halluzinationen begleitete Busfahrt zurück nach Polen, das laut der Dublin-II-Verordnung für den Asylantrag der tschetschenischen Familie zuständig ist. Das bestätigte anschließend auch Andrea Jelinek, damals Leiterin der Wiener Fremdenpolizei.
Stattdessen wurde Taybat Plieva abends um sieben Uhr auf einer Bahre durch die Nebentür aus dem Haus gebracht, in den Rettungswagen gehievt und in die Psychiatrie auf der Baumgartner Höhe gefahren. Nur eine schwere, akute Erkrankung bringt einen solchen Aufschub. Ein Abschiebeverfahren, das erst einmal am Laufen ist, wird nur nach dem physischen oder psychischen Zusammenbruch des oder der Abzuschiebenden gestoppt.
Im Fall Pliev war das bislang acht Mal so. Lösung ist immer noch keine in Sicht. Für einen Ausweg ohne Polen-Transport müsste die Republik großzügig sein. Sie müsste das Selbsteintrittsrecht nutzen, das ihr laut Dublin-II-Verordnung zukommt, und das Asylverfahren in Österreich durchführen. Doch in Fällen wie diesem zeigen sich die Behörden in der Regel dazu wenig bereit. Doch wieso – und warum auch in diesem Fall nicht – ist im zuständigen Innenministerium nicht zu erfahren. Zu Einzelfällen würden prinzipiell keine Kommentare abgegeben, teilt ein Sprecher mit.
Überhaupt liege die strikte Einhaltung von Dublin II im Interesse des EU-Binnenstaats Österreich, besagt der Migrationsund Integrationsbericht des Innenministeriums und der Statistik Austria 2011: »Nach der Erweiterung der EU 2004 und 2007 ist Österreich nur mehr von sicheren Drittstaaten umgeben, die jene Asylfälle zu übernehmen haben, für die Österreich früher noch zuständig war«, steht da. Und im Innenministerium werden sinkende Asylantragszahlen seit Jahren als Erfolg gefeiert.
Ein solches Misstrauen gegen Flüchtlinge sei »inzwischen ein globales Phänomen«, meint dazu Manfred Nowak, wissenschaftlicher Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte in Wien und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter über Folter: »Es ist eine Reaktion darauf, dass legale Migration fast überall zunehmend erschwert wird und daher vielen Menschen nur die Asylschiene bleibt, um in ein anderes Land zu wechseln.« Als Reaktion darauf hätten etliche europäische Staaten ihre Asylgesetze verschärft, »in der Hoffnung, dass dann in ihr Land weniger Flüchtlinge kommen. In Österreich ist der Zugang zum Thema jedoch ein besonders repressiver«, sagte Nowak in einem Interview.
Bei Familie Pliev hatte dies die Entwurzelung von drei Menschen zur Folge. Ein Leben in permanenter Schwebe, in ständiger Unsicherheit, was die Chancen einer psychischen Stabilisierung Frau Plievs verringert. Traumabewältigung erfordere Sicherheit, weil erst die Gewissheit, von weiteren Belastungen verschont zu bleiben, die Bearbeitung früherer Ereignisse ermöglicht, bestätigen TraumatherapeutInnen. Doch Sicherheit gibt es für die 46-jährige Tschetschenin nicht. Nur die Aussicht, so lange in Österreich bleiben zu dürfen, bis es ihr wieder besser geht, ein zerstörerisches Abwarten, ja Hineintreiben in psychische Krankheit.
13. September 2011, Bundespolizeidirektion einer größeren niederösterreichischen Stadt. H., Amtsdirektor der Fremdenpolizei, hat ein Problem mit der Pflichterfüllung. Diese besagt, dass er Tariel und Anastassja K. (Namen geändert) aus Georgien, beide 62 Jahre alt, aus Österreich in ihren Heimatstaat abzuschieben hat. Viermal hat Anastassja K. einen Asylantrag gestellt, drei Mal wurde dieser rechtskräftig abgelehnt – ihr Ehemann, ebenfalls schon lange negativ beschieden, durfte in dieser Zeit mit ihr in Österreich bleiben.
Der vierte Antrag hat – wie im Grunde davor schon der zweite und dritte – gegen einen Abtransport keine aufschiebende Wirkung mehr. Die zwei sind noch da, also war hier ohnehin schon »Großzügigkeit« am Werk, wenn man vom Wortlaut des Gesetzes ausgeht. Jetzt besteht für den Fremdenpolizisten H. kein Grund mehr zu zögern. Immerhin ist der Vollzug des Fremdenrechts seine Aufgabe. Wenn die beiden nur nicht in einem derart erbärmlichen Zustand wären …
»Mit tun diese Leute leid. Für mich sind sie Personen aus einer Parallelgesellschaft«, sagt H., einen Ausdruck benutzend, der in der Einwanderungsdiskussion meist verwendet wird, wenn es um angeblich Integrationsunwillige geht. Er hingegen meint es anders und dennoch treffend: Er spricht vom materiellen und sozialen Elend der beiden älteren georgischen Staatsangehörigen inmitten der Einkaufs- und Schulstadt.
»Das sind Menschen, die vegetieren am Existenzminimum«, schildert er mir am Telefon. Ich habe ihn im Zuge der Recherchen über den Fall angerufen, in Erwartung der üblichen Abwehrhaltung, stattdessen ergab sich ein längeres Gespräch. »Ich kenne die zwei ein wenig, denn sie mussten sich seit eineinhalb Jahren einmal wöchentlich bei der Polizei melden«, sagt der Repräsentant der Staatsmacht.
Er beschreibt die Verhältnisse: Von Einkünften (über)lebend, die der Mann aus Verkäufen der Obdachlosenzeitschrift Augustin nach Hause bringt. In einer Wohnung untergebracht, die gerade einmal ein Dach über dem Kopf bietet. Nach der ersten Asylablehnung ohne Grundversorgung (die Asylsuchenden sonst den Lebensunterhalt ermöglicht), denn diese habe das Land Niederösterreich dem Paar gestrichen. Sie ist praktisch gehunfähig, weil an Parkinson erkrankt. »Die Folgeasylanträge hat sie wegen ihrer medizinischen Behandlung gestellt, weil sie nur auf diese Weise weiter krankenversichert bleiben konnte«, schildert H. Tatsächlich gab Anastassja K. diesen Grund während der Asylbefragung ganz offen an.
In Georgien hatten die K.s bis kurz vor der Flucht als Bauern in einem Dorf nahe der ossetischen Grenze gelebt. Der einzige Sohn sei seit dem Jahr 2000 in Russland, Kontakt gebe es keinen mehr. Dann, 2008, brannte während des georgisch-ossetischen Krieges ihr Haus ab. Sie landeten auf der Straße, kratzten das Geld für die Schlepper in den Westen zusammen.
Ein Leben auf der Straße, so der Fremdenpolizist, blühe dem Paar nach der Rückkehr wohl erneut. »Jobs beim Wiederaufbau« für ihn und verfügbare Behandlung für sie, wie der Richter des Asylgerichtshofes in seiner Ausweisungsbegründung schreibt, werde es wohl keine geben. Und nun säßen die zwei bei ihm im Büro. Er habe sie abholen lassen. »Wir dachten, diese Abschiebung versuchen wir.« Doch jetzt stehe Existenzvernichtung im Raum.
Wenig später ein zweites Telefonat. »Frau K. hat hyperventiliert. Ich habe den Amtsarzt geholt«, berichtet H. Das habe den Ausschlag gegeben, die Frau sei im Spital; in Absprache mit Vorgesetzten und der Sicherheitsdirektion sei die Abschiebung zunächst gestoppt worden. Nur, gelöst sei gar nichts, weder fremdenrechtlich noch sozial – und allfällige Unternehmungen hätten nur zweifelhafte Aussicht auf Erfolg.
Versucht wird es trotzdem. Zehn Tage später bringen die K.s bei der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt einen Antrag auf humanitären Aufenthalt ein. Dieser wird abgelehnt. Am Samstag, den 15. Jänner 2012 dann holen Fremdenpolizisten Herrn und Frau K. von daheim ab. Diesmal kommen sie rasch in die Schubhaft nach Wien, wo ein Amtsarzt Anastassja K. Flugfähigkeit attestiert. Trotz Protesten werden sie am Dienstag, den 17. Jänner nach Tiflis abgeschoben.