Joyce Maynard
Das Leben
einer anderen
ROMAN
Deutsch von
Sibylle Schmidt
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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»The Good Daughters« bei William Morrow,
an Imprint of HarperCollins Publishers.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2010
by Joyce Maynard
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Published by arrangement with William Morrow,
an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.
All rights reserved.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: nic. /buchcover.com
Lektorat: Kerstin von Dobschütz
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-07226-1
V002
www.goldmann-verlag.de
Für Laurie Clark Buchar, Rebecca Tuttle Schultze,
Shirley Hazzard Marcello und Lida Stinchfield –
Töchter von New Hampshire wie auch ich
(zwei hier geboren, zwei verpflanzt).
Und für meine Schwestern – seelenverwandt,
nicht blutsverwandt.
PROLOG
Hurrikanzeit
Oktober 1949
Der Wind naht von Nordosten, feucht und für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm. Edwin Plank sieht, wie die Böen durch das dürre Gras und die letzten Maisstauden auf dem Feld bei der Scheune fegen.
In der kurzen Zeit, in der ein Mann sich eine Tasse Kaffee eingießen und seinen Hund hereinrufen kann (Sadie spürt das Unwetter aber schon und kommt angelaufen), verdunkelt sich der Himmel. Krähen und Stare kreisen über der Scheune und halten Ausschau nach schützenden Dachsparren. Es ist noch nicht einmal vier Uhr nachmittags, und bald wird die Zeit umgestellt, aber als die Wolkenwand heranrückt, wird es so düster, als ginge die Sonne schon unter. Vielleicht stoßen die Kühe deshalb ihre tiefen anklagenden Rufe aus. Tiere spüren immer, wenn etwas im Argen ist.
Edwin, der mit seinem Kaffee auf der Veranda steht, ruft nach Connie, seiner Frau. Sie ist im Garten und nimmt die Wäsche von der Leine, die sie heute Morgen aufgehängt hat. Mit vier Töchtern hat man immer viel Wäsche. Baumwollkleider, rosa Hemden und Höschen, Windeln – und Connies schlichte weiße Baumwollwäsche, über die man aber ihrer Ansicht nach am besten kein Wort verliert.
Während sie rasch die letzten, noch feuchten Teile von der Leine nimmt, bevor der Wind sie wegreißen kann, denkt Connie schon daran, dass womöglich wegen des Sturms der Strom ausfallen wird. Dann wird ihr Mann den Radiobericht über das Baseballspiel nicht hören können und sich wohl heute Abend im Bett wieder an sie heranmachen. Sie hatte gehofft, dass er mit dem Finale beschäftigt sein würde. Die Red Sox waren zwar wie üblich im September wieder ausgeschieden, aber das Finale versäumt Edwin trotzdem nie.
Sie wussten, dass der Hurrikan – den man »Bonnie« genannt hatte – kommen würde. (Edwin hat in den acht Jahren ihrer Ehe wohl nicht einmal den Wetterbericht versäumt.) In der Scheune hat Edwin schon nach dem Rechten gesehen, das Werkzeug aufgeräumt und dafür gesorgt, dass das Stroh abgedeckt ist und die Türen fest geschlossen sind. Die Kühe sind natürlich im Stall. Aber der Wetterhahn auf dem Dach – der sich dort schon seit hundertvierzig Jahren dreht, seit sechs Generationen von Planks – wirbelt nun so schnell herum wie ein Kreisel.
Der Regen setzt ein. Zunächst nur ein paar Tropfen, doch dann stürzen solche Fluten vom Himmel, dass Edwin nicht einmal mehr seinen Traktor sehen kann, den alten roten Massey Ferguson, der draußen auf dem Feld an der Stelle steht, an der er heute sein Tagewerk beendet hat. Der Regen macht einen solchen Radau, dass Edwin die Stimme erheben muss, um seine beiden älteren Töchter zu rufen – Naomi und Sarah. »Schaut nach euren Schwestern, Mädchen.« Die beiden Kleinen, Esther und Edwina, müssten demnächst aus ihrem Mittagsschlaf aufwachen, wenn sie bei dem Lärm nicht schon wach geworden sind.
Im Garten kämpft Connie mit dem Wäschekorb, Wind und Regen peitschen ihr ins Gesicht. Edwin stellt seinen Kaffee ab und läuft hinaus, um Connie den Korb abzunehmen. Sie ist schon völlig durchnässt, und ihr Kleid klebt an ihrem gedrungenen Körper. Sie hat so gar keine Ähnlichkeit mit den Frauen, an die Edwin manchmal denkt, an den Nachmittagen auf dem Traktor oder in den vielen Stunden, die er mit dem Melken der Kühe verbringt – Frauen wie Marilyn Monroe, Ava Gardner, Peggy Lee. Doch in diesem Moment, als Connies Brüste sich unter dem Stoff abzeichnen, denkt er, dass es ein schöner Abend werden wird, wenn die Kinder schlafen – denn das Baseballspiel wird wegen des Unwetters gewiss nicht stattfinden – und er mit seiner Frau im Bett liegen und dem Trommeln des Regens auf dem Dach lauschen kann. Eine gute Zeit für die Liebe – wenn Connie ihn dulden wird.
Sie reicht ihrem Mann den Wäschekorb. Den freien Arm legt er ihr um die Schultern, um sie zu stützen, als sie den Abhang hinaufsteigen, denn der Sturm peitscht ihnen mit voller Wucht entgegen. Edwin muss beinahe schreien, um das Getöse des Unwetters zu übertönen.
»Das ist ’n Prachtstück, wie’s ausschaut«, sagt er. »Wird uns wohl den Strom kosten.«
»Ich muss zu den Mädchen«, sagt Connie und schiebt Edwins Hand beiseite. »Die Kleine fürchtet sich bestimmt.« Sie meint Edwina, die Jüngste, die nach ihrem Mann benannt ist. Man hätte glauben können, dass Edwin enttäuscht sei, weil er keinen Jungen bekommen hatte, und ein bisschen stimmte das vielleicht auch, doch er liebt seine Töchter. Bislang scheint es, als seien sie alle vom selben Wuchs wie Connie, und wenn sie nacheinander mit ihm in die Kirche marschieren, ist sein Herz von zärtlichem Stolz erfüllt.
Plötzlich klingelt das Telefon. Erstaunlich bei diesem Sturm. Die Zentrale meldet einen umgestürzten Baum auf der alten Landstraße. Edwin soll mit seinem Pick-up und einer Kettensäge kommen, um die Straße zu räumen – obwohl vermutlich keiner unterwegs sein wird, bis das Unwetter sich gelegt hat. Edwin ist Einsatzleiter der freiwilligen Feuerwehr der Ortschaft; ihn ruft man, wenn solche Dinge erledigt werden müssen.
Er hat schon seine Stiefel angezogen. Dann schlüpft er in die gelbe Regenjacke und überprüft, ob seine Taschenlampe einwandfrei funktioniert. Noch ein paar Schlucke Kaffee für den Fall, dass der Einsatz länger dauert, als er hofft. Einen Kuss für seine Frau, die ihm wie gewohnt mechanisch die Wange hinhält. Dann zündet sie die Herdflamme an, um die Bohnen für die Kinder aufzuwärmen.
Der Himmel ist inzwischen pechschwarz, der Sturm tost und heult. Edwin steigt ins Führerhaus seines Wagens und startet den Motor. Trotz der Scheibenwischer kann er diese Strecke nur zurücklegen, weil er sie so gut kennt – er könnte sie mit verbundenen Augen fahren.
Das Radio läuft, und Edwin findet es eigenartig, dass sie gerade jetzt ein Lied von Peggy Lee spielen, der Frau, an die er vor knapp einer Stunde gedacht hat, als er das Vieh in den Stall trieb. Das wäre die rechte Frau für ihn. Wie es wohl sein muss, mit so einer was zu haben.
Die Sendung wird unterbrochen, es wird nun sogar der Notstand ausgerufen. Im ganzen County ist der Strom ausgefallen. Niemand darf auf der Straße sein außer den Rettungskräften – zu denen auch Edwin gehört.
Er weiß, dass er einen langen Abend vor sich hat. Bald wird er durchnässt sein bis auf die lange Unterhose. Außerdem ist es gefährlich, in so einem Unwetter draußen zu sein. Umstürzende Bäume, abgerissene Stromkabel, Überschwemmungen.
Er denkt an einen Film, den er einmal gesehen hat, bei einem seiner wenigen Besuche in einem Kino: Der Zauberer von Oz. Als da der Sturm losbrach (ein Twister, wenn er sich recht entsinnt), riss er das Farmhaus in die Lüfte, und es landete an diesem vollkommen fremden Ort, von dem kein Mensch je gehört hatte. Das war zwar eine erfundene Geschichte, aber auch in New Hampshire bekam man es mit wilden Unwettern zu tun. Etwa zu der Zeit nämlich, als Edwin diesen Kinofilm mit Judy Garland sah, gab es das schlimmste Unwetter seit hundert Jahren, den Hurrikan von 1938. Er entwurzelte die Eiche vor dem Farmhaus, an der damals Edwins Reifenschaukel hing. Und noch ein paar Hundert Bäume dazu. Oder wohl eher ein paar Tausend. Nach so vielen Jahren reden die Leute in der Gegend nach wie vor von diesem Sturm und teilen sogar die Zeit in vor ’38 und danach ein.
Und dieser Hurrikan hier scheint es auch in sich zu haben. Edwin geht im Geiste die Stellen auf der Farm durch, an denen Schaden drohen könnte. Die Ernte ist dieses Jahr nicht gefährdet (auf den Feldern liegen nur noch ein paar Kürbisse), doch das Scheunendach, der Schuppen und der Hickoryhain an den Erdbeerfeldern, den er so liebt, könnten bedroht sein. Um die Hickorybäume würde es Edwin leidtun, aber die erwischte es bei Unwettern immer zuerst.
Und dann das Farmhaus, das vom Urgroßvater erbaut wurde und dem Zahn der Zeit getrotzt hat, mit Edwins vier kleinen Mädchen und seiner guten Frau darin. Er lässt sie ungern alleine in solch einem Unwetter.
Dennoch hat Edwin Plank eine seltsam freudige Vorahnung, als er mit seinem alten Dodge durch Sturmböen und Sturzfluten die nachtschwarze Straße entlangtuckert. Ein Hurrikan kehrt nämlich alles von oben nach unten. Man weiß nie, was man vorfindet, wenn der Sturm sich erst gelegt hat. Aber so viel steht fest: Morgen wird die Welt eine andere sein. Vielleicht lässt es auf eine gewisse Unrast in Edwin Planks Wesen schließen oder gar einem Begehren nach etwas, das ihm bislang fehlt – jedenfalls schlägt sein Herz schneller, während er durch diese wilde Dunkelheit fährt. Am nächsten Morgen schon könnte das Leben auf diesem Flecken Erde vollkommen anders sein.
TEIL 1
Ruth
Bohnenstange
Mein Vater sagte stets, ich sei ein Hurrikankind, obwohl ich nicht während eines Hurrikans geboren wurde. Der 4. Juli 1950, der Tag meiner Geburt, lag weit vor der Zeit, in der alljährlich die Stürme tobten.
Er meinte damit, dass ich während eines Hurrikans gezeugt wurde. Oder gleich danach.
»Lass das doch, Edwin«, pflegte meine Mutter zu erwidern, wenn sie diese Bemerkung hörte. Meine Mutter, Connie, war der Ansicht, dass man über alles, was mit Sex oder den Folgen von Sex zu tun hatte (in diesem Fall meine Geburt oder zumindest die Vorstellung, dass meine Geburt mit dem Geschlechtsakt zusammenhing), nicht sprechen sollte.
Aber wenn sie nicht in der Nähe war, erzählte mein Vater mir von diesem Unwetter – wie man ihn gerufen hatte, damit er einen umgestürzten Baum von der Straße holte, wie der Sturm getobt hatte und wie der Regen herabgeprasselt war. »Ich war nicht in Frankreich im Krieg wie meine Brüder«, sagte er, »aber es kam mir vor, als würde ich in einer Schlacht kämpfen, inmitten dieser Böen, die mit hundertzwanzig Sachen angefegt kamen«, berichtete er. »Und weißt du, was komisch ist? Wenn man am meisten um sein Leben fürchtet – dann spürt man auch am meisten, dass man lebendig ist.«
Er beschrieb, wie er wegen der Sturzfluten die Straße nicht erkennen konnte und wie sein Herz wild hämmerte, als er blindlings durch die Dunkelheit fuhr – und wie er dann im strömenden Regen völlig durchnässt den Baum zersägte und ihm die Arme zitterten, als er die schweren Äste an den Straßenrand zerrte und dabei im Schlamm einsank.
»Der Sturm klang irgendwie menschlich«, sagte er, »wie das Stöhnen einer Frau.«
Als ich später daran zurückdachte, wie mein Vater diese Geschichte erzählte, fiel mir auf, dass er das Unwetter mit Worten schilderte, die man auch für den Liebesakt benutzte. Er ahmte den Wind für mich nach, und ich schmiegte mich an seine Brust, damit er mich in seinen starken Armen halten konnte. Allein beim Gedanken an jene Nacht begann ich zu zittern.
Niemand außer mir hörte ihm bei dieser Geschichte zu. Aber dafür gab es vielleicht einen guten Grund. Ich sei sein Hurrikanmädchen, sagte er. Hätte es dieses Unwetter nicht gegeben, erklärte er mir immer wieder, dann gäbe es auch mich nicht.
Neun Monate nach dem Hurrikan, fast auf den Tag genau, kam ich auf die Welt, im Kreißsaal des Bellersville Hospital – um die Mittagszeit am Jahrestag unserer Nation, kurz nach der ersten Heuernte und zur besten Reifezeit der Erdbeeren.
Und dann gab es noch diesen anderen Teil der Geschichte, den ich in- und auswendig kannte, weil ich ihn so oft gehört hatte: Obwohl unsere Stadt so klein war – man konnte diese Hand voll Farmen mitsamt einer Schule, einem Gemischtwarenladen und einem Postamt kaum als Stadt bezeichnen –, war ich nicht das einzige Kind, das an diesem Tag im Bellersville Hospital geboren wurde. Keine zwei Stunden nach mir kam ein weiteres Mädchen auf die Welt. Dana Dickerson. Und an dieser Stelle der Geschichte schaltete sich dann immer meine Mutter ein, wenn sie gerade in der Nähe war.
»Deine Geburtstagsschwester«, pflegte sie zu sagen. »Ihr beide habt gemeinsam das Licht der Welt erblickt. Es liegt nahe, dass da eine Verbindung besteht.«
Dabei hätten unsere Familien – die Dickersons und die Planks – kaum unterschiedlicher sein können. Schon allein von unserer Herkunft.
Die Farm, auf der wir lebten, war seit dem sechzehnten Jahrhundert in der Familie meines Vaters weitervererbt worden. Damals hatte einer unserer Ahnen, ein früher Siedler namens Reginald Plank, der mit einem der ersten Schiffe aus England gekommen war, bei einem Kartenspiel zwanzig Morgen Land gewonnen. Seit damals hatten zehn Generationen von Planks diese Felder bearbeitet, und jeder dieser Männer hatte das Anwesen vergrößert, indem er Nachbarfarmen aufkaufte, sobald weniger beherzte Männer das harte Leben eines Farmers aufgaben.
Mein Vater war ältester Sohn eines ältesten Sohnes. Auf diese Art war das Land über alle Generationen weitergegeben worden und bestand nun aus zweihundertzwanzig Morgen, von denen vierzig bewirtschaftet wurden. Wir bauten hauptsächlich Mais an und einige andere Feldfrüchte – wie unsere Erdbeeren, die der ganze Stolz meines Vaters waren und die wir im Sommer an unserem Stand an der Scheune verkauften.
Reich waren wir nie, aber unser Land war hypothekenfrei, und schon als Kinder wussten wir, dass dies für einen Farmer das Wichtigste war, außer (hier meldete sich wieder meine Mutter zu Wort) der Kirche. (Und unsere Familie hatte Ansehen in der Stadt, weil nicht nur die Großeltern und Urgroßeltern meines Vaters in der Erde von New Hampshire begraben lagen, sondern auch sämtliche anderen Vorfahren.) Unsere gesellschaftliche Stellung in der Stadt beruhte mehr als die anderer Familien auf unserer Geschichte und unserer Verbundenheit mit dem Land.
Die Dickersons dagegen waren wenige Jahre zuvor in der Stadt gestrandet (so pflegte meine Mutter das auszudrücken). Wir erfuhren, dass sie aus einem anderen Bundesland kamen, und obwohl sie in einem heruntergekommenen einstöckigen Haus an der Landstraße wohnten, das sie gekauft hatten, wusste doch jeder, dass sie eigentlich nicht aufs Land gehörten. Dana hatte noch einen älteren Bruder, Ray, einen schlaksigen blauäugigen Jungen, der im Schulbus Mundharmonika spielte und einmal von sich reden machte, indem er sich in der großen Pause im Schulhof auf den Rücken legte und mit leerem Blick gen Himmel starrte, als sei er aus dem Fenster gesprungen. Die Pausenaufsicht hatte schon den Direktor beauftragt, einen Krankenwagen zu rufen, als Ray plötzlich so gelenkig wie ein Gummimännchen aufsprang und übers ganze Gesicht grinste. Obgleich ein Scherzbold und Unruhestifter, war Ray bei allen beliebt, vor allem bei den Mädchen. Seine Dreistigkeit erstaunte und faszinierte mich immer wieder.
Mr Dickerson war angeblich Schriftsteller und arbeitete an einem Roman, aber bis er mit dem Geld verdienen konnte, war er häufig unterwegs; meine Mutter vermutete, dass er als Bürstenvertreter tätig war. Valerie Dickerson bezeichnete sich als Künstlerin, was meine Mutter nicht guthieß, denn sie war der Überzeugung, dass eine Frau mit Kindern nur die häuslichen Künste gut beherrschen sollte.
Dennoch bestand meine Mutter darauf, dass wir Dickersons jedes Mal, wenn wir in die Stadt fuhren, einen Besuch abstatteten. Sie brachte dann Gebäck mit oder je nach Jahreszeit Maiskolben oder eine Schale frisch gepflückter Erdbeeren mitsamt Biskuitküchlein, noch warm vom Ofen. (»Valerie Dickerson wäre es doch glatt zuzutrauen«, sagte meine Mutter, »dass sie für Erdbeertörtchen Sprühsahne benutzt.« Dass Val Dickerson ihr womöglich Erdbeertörtchen gänzlich ohne Sahne, frisch oder aus der Dose, servieren könnte, schien die Vorstellungskraft meiner Mutter zu überschreiten.)
Bei den Besuchen trug meine Mutter gewöhnlich ein schlichtes Schürzenkleid und den blauen Pullover, den sie in meiner Kindheit ständig anhatte; Val dagegen war die erste Frau, die ich jemals in Jeans sah. Bei ihr gab es bestenfalls Rührkaffee. Sie schien auch nie sonderlich begeistert zu sein, wenn wir kamen, machte meiner Mutter aber dennoch eine Tasse Kaffee. Ich bekam ein Glas Milch oder – weil Dickersons fanatisch auf gesundes Essen achteten – einen Saft aus verschiedenen Gemüsesorten, die in einer Maschine herumgewirbelt wurden, von der Mr Dickerson behauptete, sie sei der kommende Renner nach der elektrischen Bratpfanne. Ich hatte gar nicht gewusst, dass die elektrische Bratpfanne so eine fantastische Errungenschaft war.
Dann zogen Dickersons weg, und man hätte glauben können, dass damit die Verbindung zu meiner Familie abgerissen wäre. Doch dem war nicht so. Von all den Menschen, die über die Jahre in unserem Leben auftauchten und wieder verschwanden – Farmhelfer, Kunden am Verkaufsstand, sogar Verwandte aus Wisconsin –, achtete meine Mutter darauf, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Es war, als sei diese Beziehung mit einer besonderen Magie verbunden, weil Dana und ich am selben Tag geboren waren.
»Ich frage mich, ob Dana jemals irgendwas außer Nüssen und Beeren zu essen kriegt«, sagte meine Mutter einmal. Inzwischen wohnten Dickersons in Pennsylvania, aber sie waren gerade auf der Durchreise, und da Erdbeersaison war, machten sie an unserem Verkaufsstand halt. Dana und ich müssen damals neun gewesen sein, und Ray war dreizehn und schon so groß wie mein Vater. Ich kam gerade mit einem Korb voller Erbsen, die ich vormittags gepflückt hatte, zum Stand zurück, als er mich bemerkte.
»Malst du noch Bilder?«, fragte er. Seine Stimme klang tiefer, als ich es in Erinnerung hatte, aber seine Augen waren unverändert, und er schaute mich so ernsthaft an, als sei ich ein richtiger Mensch und nicht bloß ein kleines Mädchen.
»Das da hab ich im Auto gelesen«, sagte er dann und reichte mir eine aufgerollte Zeitschrift. »Dachte mir, es gefällt dir vielleicht.« Die Mad. Meine Lieblingszeitschrift, die bei uns zuhause verboten war.
Bei diesem Besuch damals – dem ersten in einer fast jährlichen Tradition von Erdbeer-Treffen – stellte sich heraus, dass Valerie inzwischen Vegetarierin geworden war. Und das zu einer Zeit, in der es praktisch niemanden gab, der kein Fleisch aß. Diese Tatsache schockierte meine Mutter ebenso wie andere Angewohnheiten von Dickersons.
»Manche Leute meinen, die Amerikaner äßen zu viel Fleisch«, bemerkte mein Vater – es war erstaunlich, so etwas aus dem Mund eines Farmers zu hören, auch wenn er hauptsächlich Feldfrüchte anbaute. Mein Vater legte durchaus Wert auf sein Steak, aber er war geistig sehr aufgeschlossen, wohingegen meiner Mutter alles suspekt war, was sich von unserer Lebensweise unterschied.
»Dana scheint mir ein sehr intelligentes Mädchen zu sein, meinst du nicht auch, Edwin?«, äußerte sich meine Mutter, als die Familie Dickerson in Vals fantastischem Wagen davonfuhr, einem Chevrolet Bel Air mit Heckflossen, in dem man eigentlich einen Filmstar mit Chauffeur erwartet hätte. Dann berichtete meine Mutter, meine Geburtstagsschwester habe in diesem Jahr den Buchstabier-Wettbewerb ihrer Schule gewonnen und nehme an einem Forschungsprojekt des Jugend-Naturclubs teil, bei dem man sich mit Hühnern beschäftigte.
»Vielleicht solltest du diesem Club auch beitreten«, meinte meine Mutter.
Solche Bemerkungen – und von denen gab es viele – trugen zweifellos dazu bei, dass ich Dana schon von Kind auf ablehnte. In meiner Kindheit und Jugend wurden meine eigene Entwicklung und meine Leistungen unentwegt an ihr gemessen. Und dabei konnte ich nur verlieren, von der Körpergröße einmal abgesehen.
Da wir nicht regelmäßig mit Dickersons in Kontakt standen, wussten wir nicht immer Bescheid über Danas Fortschritte, doch dann behalf sich meine Mutter mit Mutmaßungen. Als ich Fahrradfahren lernte, äußerte sie: »Ich frage mich, ob Dana das schon kann.« Als ich meine erste Periode bekam – früh, kurz nach meinem zwölften Geburtstag –, überlegte sie, ob es wohl bei Dana auch schon so weit sei. An meinem – und Danas – Geburtstag bekam ich einmal Briefpapier mit Lilienmuster von meiner Mutter geschenkt. »Damit kannst du Briefe an Dana schreiben«, sagte sie dazu. »Ihr beide solltet eine Brieffreundschaft pflegen.«
Das Briefpapier blieb unbenutzt. Wenn es ein Mädchen auf der Welt gab, mit dem ich keinen Briefkontakt haben wollte, dann war es Dana Dickerson. Wir beide hatten ebenso wenig gemein wie unsere Familien.
Doch ein Mitglied dieser Familie interessierte mich tatsächlich: Danas Bruder Ray, der vier Jahre älter war als sie und ich. Ray war groß und so feingliedrig wie seine Mutter, und obwohl er nicht so hübsch war wie die Jungs aus dem Fernsehen (Wally Cleaver und seine großen Brüder in Meine drei Söhne oder Ricky Nelson), wurde mir immer ganz heiß, wenn ich ihn ansah. Seine blauen Augen wirkten, als wolle er gleich lachen oder weinen – womit ich wahrscheinlich sagen will, dass sie stets so gefühlvoll schienen –, und er hatte sehr lange, dichte Wimpern.
Ray hatte eine umwerfende Wirkung, sobald er einen Raum betrat. Das lag nicht nur an seinem Äußeren, sondern auch an seiner verrückten Ausstrahlung und all seinen lustigen und verblüffenden Ideen. Er machte Dinge, auf die keiner außer ihm kam, wie zum Beispiel ein Floß aus alten Benzinfässern zu bauen und damit zum Beard’s Creek zu fahren – wo es dann im Schlamm stecken blieb – oder, angetan mit einem Umhang, den er offenbar selbst genäht hatte, Zauberkunststücke vorzuführen. Er hatte sich selbst das Bauchreden beigebracht und ließ einmal an unserem Verkaufsstand zwei Kürbisse miteinander sprechen, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, brachte er aus meinem Ohr einen Silberdollar zum Vorschein, worauf ich die nächsten Tage versuchte, dem Ohr weitere Gegenstände zu entlocken – natürlich erfolglos.
Eines Tages bastelte Ray sich aus ein paar alten Radteilen vom Müllplatz ein Einrad. So war er. Während die anderen Jungen sich mit Ballsport abgaben, radelte Ray auf seiner selbst gebauten Gerätschaft durch die Stadt und spielte dabei Mundharmonika.
Irgendwann versuchte er, seiner Schwester das Einradfahren beizubringen, aber Dana stürzte dabei so schlimm, dass sie danach den Arm in einer Schlinge trug. Man hätte annehmen können, dass Mrs Dickerson das Ding nun konfisziert oder sich zumindest Sorgen gemacht hätte. Doch der Vorfall schien sie nicht weiter zu beunruhigen; dafür regte meine Mutter sich maßlos darüber auf.
Val Dickerson schien ziemlich vieles gleichgültig zu sein; ich hatte den Eindruck, dass ihre Kunst ihr wichtiger war als ihre Kinder. Meine Mutter hatte alles im Blick, was meine Schwestern und ich taten, wohingegen Val Dickerson für Stunden in ihrem sogenannten Atelier verschwand, ihre Kinder vor einer riesigen Schüssel trockener Cheerios sitzen ließ und bestenfalls noch Anweisungen wie »spielt was« oder »vielleicht findet ihr ein Eichhörnchen, dem ihr was beibringen könnt« von sich gab. Und merkwürdigerweise gelang ihnen das manchmal auch. Wenn Ray mit Tieren sprach, schienen sie ihm zuzuhören.
Im Sommer hatte mein Vater so viel zu tun, dass er sich nie frei nehmen konnte, aber meine Mutter bestand darauf, dass wir jedes Jahr in den Frühjahrsferien eine Reise machten. In dieser Zeit fielen auf der Farm nur Arbeiten an, die mein Vater – wenn auch widerstrebend – seinem Gehilfen überlassen konnte, einem drahtigen Burschen namens Victor Patucci, der etwa mit vierzehn bei uns aufgetaucht war, weil er Arbeit suchte. Victor war nicht gerade der typische Farmer: Er rauchte, benutzte so viel Pomade, dass sich das Licht in seinen Haaren spiegelte, hatte eine Schwäche für Autorennen, stellte sein Transistorradio auf volle Lautstärke, sobald ein Song von Elvis Presley lief, und schien niemals zur Schule zu gehen. Sein Vater arbeitete in der Schuhfabrik, und mein Vater fand kein gutes Wort für den Mann – was ungewöhnlich war, da er so gut wie nie schlecht über andere Menschen sprach.
»Der Junge braucht ein bisschen Unterstützung«, meinte mein Vater, als er Victor einstellte. Und obwohl meine Mutter ursprünglich gegen die zusätzliche Ausgabe von dreißig Dollar pro Woche gewettert hatte, war sie dennoch dankbar für Victors Anwesenheit, denn ohne ihn wäre die alljährliche Reise nicht möglich gewesen.
Im März brachen wir also jedes Jahr zu Dickersons auf. Meine Mutter packte eine Kühltasche mit Sandwiches, Gläsern mit Erdnussbutter und Lebensmitteln wie Konservenfleisch ein, die nicht schlecht wurden. Meine Schwestern und ich quetschten uns, mit Malbüchern und Rätselheften ausgestattet, auf den Rücksitz unseres alten Ford Kombi mit den Holzimitattüren und vertrieben uns während der Fahrt die Zeit, indem wir »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielten oder nach Autonummern von fremden Bundesstaaten Ausschau hielten. Ab und an besichtigten wir Schlachtfelder oder Museen, aber unser eigentliches Reiseziel war immer das verlotterte Haus oder der Wohnwagen (einmal auch eine ausgebaute Nissenhütte), in dem die Dickersons in diesem Jahr gerade wohnten.
Anlass dieser alljährlichen Reise war für meine Mutter meine Verbindung mit Dana Dickerson. Doch ich freute mich nur auf Danas Bruder Ray.
Ich erkannte, dass Ray ein hübscher Junge war, und dieses Wissen machte mich schüchtern, obwohl ich mich zugleich zu ihm hingezogen fühlte. Und sonderbarerweise schien er mich interessanter zu finden als meine Schwestern, obwohl ich vier Jahre jünger war als er. Bei einem unserer Besuche entdeckte er ein Bild, das ich während der Fahrt gemalt hatte – ein Kamel, das ich von einer leeren Zigarettenpackung abgezeichnet hatte. Auf meiner Zeichnung saß auf dem ersten Höcker ein Mann, gekleidet wie Lawrence von Arabien, und auf dem zweiten eine gefesselte junge Frau.
»Toll, das Bild«, sagte Ray. »Ich geb dir ein Bonbon dafür.«
Ich hätte ihm das Bild auch umsonst gegeben, brachte aber keinen Ton hervor.
Nach diesem Erlebnis hatte ich immer jede Menge Zeichnungen dabei, wenn wir zu Dickersons fuhren – Bilder, die Jungen gefallen mochten: Astronauten, Cowboys und ein Porträt vom Red-Sox-Lieblingsspieler meines Vaters, Ted Williams.
»Nur noch ein paar Stunden, Mädels«, sagte meine Mutter immer, wenn wir uns über die lange Fahrt beklagten. Doch der unangenehmste Teil der Reise war eigentlich die Ankunft, wenn wir von Mrs Dickerson mit erstaunter und irritierter Miene (das bemerkte ich schon als Kind) empfangen wurden und Limonade, aber nie etwas zu essen bekamen.
In dem ersten Jahr, nachdem Dickersons weggezogen waren, besuchten wir sie in Pennsylvania und besichtigten auf dem Weg die Freiheitsglocke. Später machten wir die Reisen – nach Vermont, Connecticut und wieder nach Vermont – nur, um Dickersons zu besuchen, aber meine Mutter erzählte Val immer, wir seien auf der Durchreise. (Wohin denn?) Unser Besuch dauerte meist etwa eine Stunde, nie länger als zwei.
Dana und ich konnten nichts miteinander anfangen (sie war wild und ungestüm, und ich interessierte mich hauptsächlich für Kunst), aber meine Mutter meinte, wir sollten nach oben gehen und spielen. Ich schlug Dana dann vor, dass sie mir ihre Barbies zeigen sollte; meine Mutter hielt gar nichts von der Barbie, wegen ihrer Figur und der freizügigen Kleider, die Mattel für sie entwarf, und hätte natürlich für so etwas ohnehin kein Geld ausgegeben.
Dana lag offenbar nichts an Puppen, aber Valerie schenkte ihr ständig neue, mitsamt zahllosen Original-Outfits. Die meisten Mädchen bei mir zuhause besaßen nur Barbie-Kleider, die von Müttern und Großmüttern genäht oder gehäkelt oder auf dem Kirchenbasar gekauft worden waren.
Die Original-Outfits trugen alle Namen, die ich aus dem Katalog kannte. Am liebsten mochte ich »Solo im Rampenlicht«, ein trägerloses Abendkleid mit Strass auf dem Volant. Dazu gehörte ein Standmikrofon aus Plastik für Barbies Auftritte in Nachtclubs.
Einmal, als Dana aufs Klo ging, steckte ich das Abendkleid schnell in die Tasche. Dana waren diese Sachen so egal, dass sie es nicht einmal merkte. Aber als wir aufbrachen, legte Ray mir den Arm um die Schulter, raunte mir ins Ohr »Du hast was vergessen« und reichte mir ein sonderbares Päckchen. Es bestand aus mehreren Lagen Toilettenpapier und war mit Klebeband umwickelt. Später im Auto öffnete ich es. Barbies Mikrofon.
Das ganze Jahr über dachte ich an Ray. Ich fragte mich, woher er das gewusst hatte – aber mir war natürlich schon damals klar, dass er über magische Fähigkeiten verfügte. Doch noch mehr beschäftigte mich die Frage, wieso Ray, der so gut aussah und so viel älter war als ich, mir diesen kostbaren Gegenstand gegeben hatte.
Als wir im nächsten Frühjahr zu Dickersons aufbrachen, hatte ich auch ein Geschenk für Ray dabei: eine Mundharmonika mit Perlmutt, die ich ihm von dem Geld kaufte, das ich mit Erdbeerpflücken verdient hatte. Aber Ray – für mich die Hauptattraktion dieser Reise – war irgendwo mit seinem Einrad unterwegs, so dass ich ihn gar nicht zu Gesicht bekam. Während ich oben bei Dana war, unterhielten sich meine Eltern unten mit Valerie über irgendwelche Bekannte von uns, die Val nichts bedeuteten, und meine Mutter erkundigte sich nach dem Stand von Danas religiöser Erziehung. Sie hatte eine Kinderbibel als Geschenk mitgebracht.
»Das ist so eine nette Idee von dir, Connie«, sagte Valerie. »Ich wünschte, ich könnte euch noch Abendessen machen, aber ich habe einen Zeichenkurs.«
»Einen Zeichenkurs, für eine Frau ihres Alters«, sagte meine Mutter zu meinem Vater, als wir nach einem Glas Limonade wieder auf der Heimfahrt waren. Mein Vater saß aufrecht am Steuer und wandte den Blick nicht von der Straße. »Was denkt sie sich?«
»Ich nehme an, dass sie Talent hat«, erwiderte er. Dann, nach einem kurzen Schweigen, fügte er hinzu: »Vielleicht sollte Ruth auch Zeichenstunden bekommen. Sie ist sehr begabt.«
Hinten im Wagen, auf dem Rücksitz – wo wir damals noch nicht angeschnallt waren – empfand ich einen Anflug von Hoffnung, als ich das hörte – wie ein winziger Lichtstrahl, der durch einen Türspalt drang, oder eine leichte Brise an einem drückend heißen Tag. Ich zeichnete für mein Leben gern, was meine Mutter offenbar noch nicht bemerkt hatte.
Sie schwieg. Wieso sollte sie etwas unterstützen, das mich mit Val Dickerson verband? Meine Mutter hielt zwar an der Beziehung zu dieser Frau fest, hatte aber jede Menge Vorbehalte gegen sie.
»Da vorne ist ein Howard Johnson, Mädels«, sagte sie. »Jede von euch kriegt ein Eis. Nur nicht Schokolade, das macht Flecken.«
Als wir später auf dem Parkplatz standen und unser Eis aßen – ich hatte als Einzige Kaffee genommen, alle anderen Erdbeer oder Vanille –, musste ich an ein Bild denken, das bei Dickersons an der Wand hing.
Es handelte sich um ein Poster von einem Maler, der damals sehr beliebt war: Ein dünnes Mädchen mit strähnigen Haaren und riesigen Augen, die das halbe Gesicht einnahmen, war darauf zu sehen. Das Mädchen hielt eine Blume in der Hand, und man hatte beim Betrachten des Bildes das Gefühl, dass dieses Mädchen der einzige Mensch auf der Welt war (und die Blume vermutlich die einzige Blume). Das Mädchen sah so unglaublich einsam aus. Und obwohl ich in einer großen Familie lebte – und wir fünf Schwestern uns drei Zimmer teilen mussten –, kam ich mir genau so vor wie dieses Mädchen.
Meine Mutter behandelte mich nicht merklich anders als meine Schwestern, aber irgendwie spürte ich in meinem Herzen, dass sie für mich nicht dasselbe empfand. Am meisten fiel es mir auf, wenn ich sie im Umgang mit meinen Schwestern erlebte – mit Naomi, deren Haare sie gerne flocht, oder mit Esther, die sie »meine Süße« nannte, oder mit Sarah, deren Kosename »Schneckchen« lautete.
»Hab ich auch so einen Namen?«, fragte ich meine Mutter einmal. Sie sah mich mit leerem Blick an, als ginge es über ihre Kraft, sich noch ein weiteres Kosewort auszudenken.
»Ruth«, antwortete sie. »Das ist doch ein schöner Name.«
Da schaltete sich mein Vater ein: »Ich glaub, ich werd dich ›Bohnenstange‹ nennen«, sagte er.
Ich war anders als meine Schwestern. Und vor allem ganz anders als meine Mutter. Niemand wusste das, aber ich dachte mir seltsame Geschichten aus, und ab und an zeichnete ich sie auch. Diese Bilder waren manchmal so sonderbar und sogar schockierend, dass ich sie in meiner Strumpfschublade versteckte. Aber es gab einen Menschen, dem ich sie zeigte, wenn ich Gelegenheit dazu hatte: Ray Dickerson.
Bei unserem zweiten Besuch in Vermont brachte ich Ray ein Bild von uns beiden in einem Raumschiff mit. Wir trugen Raumanzüge, waren aber zu erkennen, und vor dem Fenster sah man den Saturn. In der Schule hatten wir gerade über Astronauten gesprochen, und man hatte uns von Ham erzählt, dem Schimpansen, der ins All geschossen wurde. Diese Vorstellung verstörte mich, weil meine Lehrerin nichts davon gesagt hatte, dass man den Affen wieder zurückholen wollte. Was ja bedeutete, dass er wohl dazu verurteilt war, um die Erde zu kreisen, bis ihm das Futter ausgehen und nichts außer einem Schimpansenskelett von ihm übrig bleiben würde. Auf meinem Bild war ich halb Mädchen, halb Schimpanse, und auch Ray sah wie ein Schimpanse aus.
»Manchmal fühle ich mich wirklich wie dieser Affe, den sie ins All geschossen haben«, sagte er, als ich ihm das Bild zeigte.
»Aber du wärst nicht so einsam, wenn noch jemand dabei wäre«, erwiderte ich; auf dem Bild waren wir ja auch zu zweit.
Ray schaute mich an. Vielleicht dachte er: Wieso rede ich mit einem kleinen Kind? Er sah aus, als wolle er etwas sagen – diesen Gesichtsausdruck hatte er oft –, blieb aber stumm. Er stieg nur auf sein Einrad und radelte davon. Aber vorher steckte er das Bild in seine Hosentasche. Das war auch typisch für Ray: Er konnte ganz plötzlich verschwinden. Im einen Moment unterhielt man sich prächtig, und im nächsten war er spurlos verschwunden.
Als wir an diesem Nachmittag nach Hause fuhren, sahen wir ihn auf seinem Einrad am Straßenrand. Er bemerkte uns nicht, aber ich erhaschte einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Und mir wurde klar, dass ich diesen Jungen liebte.
Dana
Wo Probleme drohten
Mein Bruder und ich sprachen unsere Eltern mit ihren Vornamen an, Valerie und George. In all den Jahren mit ihnen haben wir sie, soweit ich mich erinnern kann, nicht einmal Mom oder Dad genannt. Das sagt eine ganze Menge aus. Ich weiß nicht, ob ich jemals überhaupt das Gefühl hatte, Eltern zu haben. Jedenfalls waren meine nicht so, wie man sich Eltern normalerweise vorstellt.
Es fühlt sich ziemlich seltsam an, in einer Familie aufzuwachsen, in der die Erwachsenen diejenigen sind, die eigentlich erwachsen werden müssten. Das empfand ich schon als Kind so. Die beiden kamen mir so unzuverlässig vor. Sie waren derartig mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihre Kinder manchmal zu vergessen schienen.
Ich war fünf oder sechs, als George seinen Job als Anzeigenvermittler bei der Zeitung in Concord aufgab, um einen Roman über eine andere Galaxie zu schreiben, in der die Leute keine Kleider trugen. Das war das Einzige aus dem Buch, woran ich mich noch erinnern kann, und es schockierte mich schon als kleines Kind. George hatte die Absicht, ein weltberühmter Autor zu werden, weshalb wir aus New Hampshire – wo er geboren war – wegzogen.
Valeries Vater war gerade gestorben. Ihre Mutter lebte auch nicht mehr, und da Val keine Geschwister hatte, erbte sie das Geld ihres Vaters. Ihr Vater war sein Leben lang Hüttenarbeiter gewesen, und es gab nicht viel zu erben, aber immerhin so viel, dass George beschloss, seinen Job an den Nagel zu hängen, das Haus zu verkaufen und von dem Geld zu leben, bis sich für ihn als Autor der Erfolg einstellen würde. Er hatte die Absicht, nicht nur Schriftsteller, sondern Autor zu werden, wobei ich diesen Unterschied nie verstanden habe.
Unterdessen wohnten wir im alten Haus von Valeries Vater am Stadtrand von Pittsburgh. Ich erinnere mich daran, dass ich mich schon damals fragte, ob George mit seinem Buch je Erfolg haben würde. Er erzählte uns die Handlung des Romans gerne bei langen Autofahrten, wie sie bei uns oft vorkamen – aber ich konnte mich nie darauf konzentrieren, was ich als schlechtes Zeichen deutete. Mein Bruder Ray, der gerne fantastische Romane las, hatte mir ein paar Bücher von J. R. R. Tolkien und C. S. Lewis vorgelesen, und obwohl ich die auch nicht mochte, konnte ich doch eine gute Geschichte von einer sinnlosen unterscheiden – wie George sie sich für seinen Roman ausgedacht hatte.
Sobald ich lesen konnte, verschlang ich jedenfalls Sachbücher, vor allem Biografien über Menschen wie Annie Oakley und George Washington Carver. Und auch Bücher über Tiere und die Natur. Mein Lieblingsbuch aller Zeiten war Ring of Bright Water über zwei Otter. Ich fand es wunderbar, dass es keine Illustrationen, sondern Fotos hatte.
Ich machte mir Sorgen, dass George das ganze Geld ausgeben würde, während wir auf den Erfolg seines Romans warteten. Was sollte aus uns werden, wenn er das Buch nicht verkaufen konnte? Damals war ich in der dritten Klasse, und es stellte sich heraus, dass ich recht behalten sollte. Binnen Kurzem wohnten wir auf einem Campingplatz in Pennsylvania und danach in Vermont in einem Haus ohne fließend Wasser. Ich kann nicht mehr nachvollziehen, wie meine Eltern überhaupt auf die Idee kommen konnten, an diesen Orten zu wohnen. Lange blieben wir jedenfalls nicht dort.
Als George verkündete, er wolle jetzt Songwriter für die Country-and-Western-Szene werden, wohnten wir in dem Haus in Vermont. Er hatte eine Idee für eine romantische Ballade, die er ideal fand für Les Paul und Mary Ford. Allerdings ließen sich die beiden gerade scheiden, als er den Song endlich aufnehmen konnte. Aber auch ohne die gescheiterte Beziehung des Duos gab es einige massive Hindernisse für Georges Plan.
»Musst du nicht Gitarre spielen können oder so, wenn du Songs schreiben willst?«, fragte ich ihn. Er fand, das sei eine gute Idee, und kaufte sich eine Gitarre mitsamt einer Anleitung, mit der man angeblich innerhalb von zwei Wochen Gitarre spielen lernen könne. Ich fand das nicht sehr vielversprechend.
Damals arbeitete man noch mit richtigen Tonbändern, und George richtete sich in der Garage des Miethauses in Connecticut, wohin wir umgezogen waren, ein Tonstudio ein. Ich war mir nicht sicher, was der Hausbesitzer davon halten würde, dass mein Vater ein Loch in die Garagentür sägte, um mehr Licht zu haben – mal ganz abgesehen davon, dass es in der Garage im Winter ziemlich kalt werden würde.
Aber bis dahin würden die Schecks eingetroffen sein, versicherte mir George. Dann könnte er sich ein vernünftiges Studio und anderes Zubehör wie eine Hammondorgel zulegen. Vielleicht würden wir sogar nach Nashville ziehen, sagte er. Das war der wichtigste Ort für Countrymusic.
Ich hielt das für sehr unwahrscheinlich, und ich glaube, Val und mein Bruder sahen das ähnlich, wobei ich von der ganzen Familie am meisten Realitätssinn hatte. Schon als Kind ahnte ich immer, wo Probleme drohten und wo die Wahrheit zu finden war. Wenn die Sonne schien, bedeutete das nicht, dass sie das auch am nächsten Tag tun würde. Es würde Frost und Schnee geben. Wenn es regnete, bedeutete das nicht, dass es keine Dürrezeiten geben würde. Man kann diese Haltung Pessimismus nennen, aber ich begründete sie auf Beobachtungen, nicht auf Einbildungen.
»Dana steht fest auf dem Boden der Tatsachen«, schrieb eine meiner Lehrerinnen in mein Zeugnis. Diese Bemerkung blieb mir in Erinnerung, weil ich sie als nettes Kompliment empfand, aber ich merkte, dass meine Mutter enttäuscht darüber war.
»Willst du nicht mal deine Fantasie einsetzen?«, sagte sie, doch mir lag die Wirklichkeit näher – alles, was ich sehen und berühren konnte.
Ich konnte auch nicht wie mein Vater daran glauben, dass sich das Leben so gestalten würde, wie man es sich wünschte. Und ich war nicht – wie meine Mutter – der Ansicht, dass wir uns nur mit Schönem umgeben sollten. So war das Leben nicht. Das wusste – und akzeptierte – ich schon als Kind.
Obwohl die Jüngste in der Familie, behielt ich die Rechnungen im Auge. Während die anderen Augenwischerei betrieben, überlegte ich mir, wie wir im schlimmsten Falle durchkommen würden. Meiner Erfahrung nach war damit nämlich wesentlich eher zu rechnen als mit dem Geldsegen, auf den George vergeblich hoffte.
Meinen Bruder Ray liebte ich sehr, da zumindest er sich zeitweilig für mich interessierte. Dennoch war mir bewusst, dass ich als Einzige von uns unter dem jeweiligen Dach, das uns gerade schützte, über einen klaren Verstand verfügte.
Von meinen Großeltern habe ich eine meiner Großmütter ein einziges Mal gesehen. Meine Familiengeschichte kannte ich nur in Georges Version: Sein Vater hatte in Stummfilmen mitgespielt und dabei meine Großmutter kennengelernt – die Frau, nach deren Vorbild die Frauenfigur gestaltet worden sei, die man bis zum heutigen Tag zu Beginn jedes Films von Columbia zu sehen bekam. Er sagte, sie sei eine legendäre Hollywood-Schönheit gewesen. Ihretwegen habe es Verkehrsstaus auf den Straßen gegeben, auch als sie schon weit über sechzig war.
Verkehrsstau? Von welchem Verkehr? Meine Großeltern hatten in Vermont gelebt. Wegen einem Zerwürfnis, das mit meiner Mutter zu tun hatte, über das ich jedoch nie etwas Genaueres erfuhr, traf ich meine Großmutter nur ein einziges Mal, als ich fünf oder sechs Jahre alt war, und ich habe sie als ganz gewöhnliche Frau in Erinnerung, die meinen Vater Georgie nannte und uns Hackbraten auftischte.
Mein Vater war ein Schönwettertyp. Für ihn sollte jeder Tag sonnig sein und der Himmel niemals düster. Vater zu sein und Kinder zu haben, fand er schön, aber immer nur so lange, bis er sich ein Projekt für uns ausgedacht hatte, das innerhalb kürzester Zeit wieder in Vergessenheit geriet.
Eine Szene aus unserer Zeit in Vermont: In einem Laden, in dem George Material kaufte, um ein Gehege für die Küken zu bauen, die er mir und meinem Bruder zu Ostern geschenkt hatte – natürlich ohne zu wissen, was wir mit ihnen anfangen sollten, wenn sie größer wurden –, entdeckte er eine Samenmischung für Wiesenblumen im Sonderangebot. Was ihn auf die Idee brachte, dass wir doch den Rasen vor unserem Mietshaus umgraben und dort eine Blumenwiese anlegen könnten.
Zuhause drückte er Ray und mir einen Pappbecher voller Samen in die Hand und sagte, wir sollten sie einfach nach Belieben ausstreuen, damit die Blumen in einem natürlichen Muster wachsen würden. Das Umgraben war inzwischen vergessen. Die Samen sollten auf eigenem Wege in die Erde finden, meinte er, und dort wachsen, wo das Gras verschwunden war.
Ich wusste schon damals, dass auf diese Weise nichts gedeihen würde. Und dass wir auch im Sommer nicht an einem Stand Blumensträuße verkaufen würden, wie George es meiner Mutter verhieß.
Nach der Country-Phase entdeckte George die Fotografie, danach das Puppenspiel. Er meinte, wir sollten mit einem Puppentheater an Schulen auftreten und den Kindern beibringen, wie wichtig gute Ernährung war.
Als Vegetarier und mit ihrem gesunden Lebensstil waren Val und George ihrer Zeit weit voraus. Georges Idee, Saftmaschinen zu verkaufen, wurde kurz darauf von anderen in die Tat umgesetzt. Einmal erstand George von einem Typen, den er in einer Raststätte kennengelernt hatte, eine Joghurtkultur. Damit wollte er Joghurt züchten und ihn dann verkaufen, gesüßt mit Honig aus Vermont (zu der Zeit waren wir gerade wieder im Norden gelandet). Nachdem er mit diesem Vorhaben gescheitert war, kam das Projekt Muschelbude in Maine (obwohl weder Val noch er Meeresfrüchte aßen). Zwischen diesen beiden Unterfangen gab es noch ein paar Erfindungen und – immer wieder – neue Countrysongs.
Als wir in New Hampshire lebten – wo ich im Juli 1950 auf die Welt kam –, hatte mein Vater seine einzige richtige Anstellung. Als wir von dort wegzogen, war ich acht und Ray zwölf. Doch meine Mutter redete noch Jahre danach von dem Haus, in dem wir damals wohnten – es lag an einer unbefestigten Straße, und sie hatten es für fünftausend Dollar in bar gekauft, die sie von ihrem Onkel Ted bekommen hatten. Ted war mit einer Teilhaberschaft an einer Kaugummifabrik zu Geld gekommen.
Vielleicht war es die Erkenntnis, dass jemand durch so etwas wie Kaugummi reich werden – oder doch zumindest jederzeit fünftausend Dollar flüssig haben – konnte, die bei George diese Träume von plötzlichem Ruhm und Reichtum erweckten. Doch ebenso schnell, wie Ted zu dem Geld gekommen war, verlor er auch den größten Teil wieder, weil er laut Bericht meiner Mutter den Gewinn in die Herstellung essbarer Kreide investierte und damit kläglich scheiterte.
Vielleicht fühlte Val sich zu George hingezogen, als sie ihn kennenlernte, weil er sie an diesen Onkel erinnerte. Doch es war nicht leicht zu begreifen, was meine Eltern zusammenhielt. Viel Zeit verbrachten sie jedenfalls nicht miteinander. In meiner deutlichsten Erinnerung an George sehe ich ihn mit seinem Aktenkoffer zur Haustür hinauswandern, unterwegs zu verheißungsvolleren Gefilden oder glitzernden Städten, in denen ihn Ruhm und Reichtum erwarteten.