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Wie die Schweizer
Wirtschaft tickt

Die letzten 50 Jahre, und die nächsten ...
protokolliert von Beat Kappeler

Verlag Neue Zürcher Zeitung

 

Einführung

Erstaunlich, wie drastisch sich Gesellschaft und Wirtschaft in nur 20 oder 30 Jahren verändern und wie wenig wir davon in der Schweiz, in Europa und in der Welt bemerken. Gewohnte Denkfiguren und alte Kämpfe stecken noch in den Köpfen, in den Debatten.

Mein Elternhaus mit Gewerbebetrieb, meine Tätigkeiten als Journalist, als Volkswirtschafter im Sekretariat des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), wieder als Journalist, als ausserordentlicher Professor in Lausanne und als Mitglied der Kommunikationskommission liessen mich seit 1950 in viele Mechaniken des gesellschaftlichen Lebens blicken, in die Motive der Menschen und in das, was dann schliesslich dabei herauskam. Und das ist oft ganz anders, als viele meinen. Wir stecken eben viel zu stark selbst drin.

Ich gehöre zur Babyboomergeneration. Sie hat gewonnen, dank ihren seit dem Aufruhr 1968 erprobten Gesellschaftstechniken, sie hat das Land, die Institutionen, die Köpfe nach ihrer Façon ausgerichtet. Aber manche nun Altgewordene kämpfen diese Kämpfe immer noch, bis zu den Entschuldigungsritualen wegen Zweitem Weltkrieg, Kolonialismus, Ausländerintegration, fehlgeleiteter Sexualität und anderen Schrecken.

Das Neue ist anders, als wir denken!

Das Neue kann auch diese Generation in ihren errungenen Ämtern wiederum, wie ihre Väter der 1950er-Jahre, kaum erkennen, nämlich:

–  eine leidenschaftslose Globalisierung durch das neue, utilitaristische Asien, seinen Aufstieg nicht durch Entwicklungshilfe alten Stils mit Geld, sondern mit Bildung, Weltmarktorientierung und freiem Berufszutritt – im Gegensatz zu Teilen Afrikas und Lateinamerikas;

–  den erreichten «keynesian endpoint» in den alten Industriestaaten, das Ende also des dauernden Ankurbelns von Nachfrage, der Umverteilung, nach welcher heute die Hälfte der Haushalte Geld vom Staat bekommt, was aber die Anbieter von Arbeitsplätzen und Produkten entmündigte, die Staaten Westeuropas ruinierte und nun für Hunderte von Millionen Menschen soziale Unsicherheit schafft, weil Arbeit wie Kapital fehlen und die Versprechen zurückgenommen werden müssen;

–  die Verreglementierung der Lebensgestaltung Einzelner zugunsten von Gruppenrechten der Konsumenten, Mieter, Arbeitnehmer, Umwelt- und Sozialbewegten, Einspruchsberechtigten, Datengeschützten, Verkehrsteilnehmer, Aussenseiter, Agrarbranchen, elektronischen Medien, Tiere, wonach bald «was nicht schon verboten ist, befohlen ist»;

–  das Erfolgsmodell des freien Arbeitsmarktes der Schweiz oder Dänemarks, der die Vollbeschäftigung bewahrte, und wo nicht mehr industrielle Massenausbeutung herrscht, sondern motivierte, qualifizierte Arbeit in Partnerschaften, Teams und Projekten erfolgt;

–  einen offenen Weltmarkt, und damit Weltarbeitsmarkt, der nicht von Superstaaten wie den USA oder der EU beschickt wird, sondern den einzelne Firmen und ihre Belegschaften in den Wertschöpfungsketten bestreiten – wenn die Staaten sie dies mit günstigen Produkt- und Arbeitsmarktregeln tun lassen;

–  eine EU, die vom nützlichen Binnenmarktprojekt der 1950er-Jahre zur Harmonisierungswalze und zum Transferstaat wegen der Fessel des Euro wurde, und etwas völlig anderes als noch die EWG oder EG ist, für die man sich begeistern konnte;

–  eine Schweiz mit gesellschaftlichen Spielregeln, die im Gegensatz zum übrigen Europa «bottom-up» anstatt von politischen Visionen «top-down» bewegt wird und deshalb dynamisch blieb;

–  das dadurch bewirkte Aufrücken der Schweiz zu einem «Weltstaat» mit Weltgang, nicht im Alleingang, zu einer Metropolitanregion wie Südengland, Kalifornien, Australien, Vancouver, Singapur, Shanghai, mit hoch qualifizierten Zuzügern, und als Kopf weltweiter Netze;

–  die Schweiz als erfolgreichen «melting pot», aber nicht mehr von unqualifizierten Zuzügern der 1950er- und 1990er-Jahre, die übrigens in den Arbeitsmarkt gleich gut integriert sind wie Schweizer, sondern heute mit zuwandernden Kadern, die man nicht im alten Stil integrieren muss, die aber Wettbewerb und Wohlstand schaffen;

–  die intellektuelle Dynamik aus den angelsächsischen Ländern, entgegen dem in alten Mentalitäten verharrenden Frankreich, dem früheren Orientierungspunkt vieler Intellektueller, und entgegen Deutschlands Glitterati, die nur in den Kategorien gleich/ungleich, Täter/Opfer, Problem/Staat denken und immer noch historische Schuld wälzen;

–  das Leben mit unausweichlicher Differenz statt Gleichheit in offenen, Welthandel treibenden Ländern und in Einwanderergesellschaften für Kaderleute und Vermögliche.

Ich protokolliere hier, wie dies alles kam, wie es heute läuft und wie die nächste Zukunft laufen kann und soll. Wie die Schweiz tickte, tickt und ticken wird.

Zuerst blicken wir mit ein paar gerafften Zahlen kurz auf das galoppierende Wachstum und den Neuerungsschub seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Ursprung der Wohlstandsgesellschaft nach 1945

Von aussen profitierte die Schweizer Wirtschaft nach dem Krieg durch allgemeine technische Fortschritte, die sie innehatte oder sofort übernahm. Es war nicht nur der intakte Produktionsapparat, der ein ausgehungertes und ausgebombtes Europa beliefern konnte. Die damaligen Techniken der mittleren und grossen Schweizer Firmen zählten zur Hochtechnologie, wie man heute sagen würde. Dazu gehörten: Turbinen, Generatoren, Stromübertragung, Pharmazie, Nahrungsmittel, Bankwesen, Versicherungen, Rückversicherungen, Tourismus.

Das günstige Öl und die einheimische Wasserkraft sicherten die Antriebe und Kalorien des Landes. Der tiefe Frankenkurs und die günstigen Zinsen unterstützten die Exportwelle. Die Handelsdiplomatie brachte dank Europäischer Freihandelsassoziation (EFTA), Allgemeinem Zoll- und Handelsabkommen (GATT)/Word Trade Organisation (WTO) und 1972 mit der Europäischen Union (EU) multilaterale Marktöffnungen zuwege. Hans Schaffner, der Chef der Handelsabteilung, nachmaliger Bundesrat, schuf fast im Alleingang die EFTA als komplementären europäischen Binnenmarkt gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).

Die Volkswirtschaft nahm damals Sätze, die sich wie die heutigen chinesischen Wachstumsraten ausnehmen – plus 7,3 Prozent für 1950, plus 6,5 Prozent in den Jahren 1955 und 1956, sodann plus 7 Prozent für 1960, plus 8 Prozent für 1961, und noch 1970 plus 6,7 Prozent. Auch wenn man die Einwanderung der Italiener, nachher der Spanier und Türken einbezieht, nahm der Wohlstand pro Kopf fast gleich viel zu. Die Reallöhne stiegen nicht so schnell, sodass den Firmen viel Kapital für neue Investitionen und eine schnelle Ausbreitung über den ganzen Erdball verblieb. Wenn heute etwa 1,8 Millionen Arbeitende in Schweizer Firmen weltweit beschäftigt sind, stützt dies auch die Arbeitsplätze im metropolitanen Zentrum Schweiz. Diese nahmen zwischen 1950 und 1970 um die enorme Zahl von 770000 Personen zu. Vor der Ölkrise, nämlich 1970, gab es in der Schweiz genau 104 Arbeitslose.

Schon mehrmals rissen sich die Schweizer Wirtschaftsführer mit kühnen Adaptationen zur Weltwirtschaft hoch. 1876 kam eine ihrer Delegationen geschockt von der Weltausstellung in Philadelphia zurück: Die amerikanische Industrie produzierte nicht mehr Einzelstücke mit aneinandergereihten Facharbeitern, sondern mit Maschinen und in Serie. Innerhalb weniger Jahre stellte sich die Schweizer Wirtschaft darauf um. 1919 schifften sich 200 Industrielle nach den USA ein, um Henry Fords Fliessbänder zu studieren, unter ihnen Oscar Bally, Walter Boveri, Carl Sulzer, Jacob Schmidheiny, Karl H. Gyr und Louis Raichle. Solche technischen Quantensprünge stehen auch heute an. Die Schweiz könnte ohne ihr heutiges Moratorium das rückständige Europa in der Gentechnik überflügeln. Man muss Geschäftsmodelle des Internets wie das iPhone und das iPad von Apple sowie deren Applikationen und das Elektronikbuch Kindle von Amazon entwickeln. Die Schweizer Erfolge mit Doodle oder Tilllate zeigen, dass es geht. Dazu braucht es endlich eine stärkere Softwareindustrie, die heute importabhängig ist; es braucht den Mut zu Gratisdiensten im Netz, die auf Werbeeinnahmen basieren, oder Systeme des Micropayments für Medien und Dienste. Die Verlage müssen ihre Bücher elektronisch verkaufen, wie alle in den USA es schon tun. Alle Einwohner müssen fliessend Englisch können und mit amerikanischen, asiatischen Usanzen vertraut sein.

Diese neuen Techniken warten v. a. auf das, was Schweizer seit je am besten konnten, nämlich diese anzuwenden und mit bestehenden Geschäftsmodellen zu verbinden. Die neuen Techniken erlauben Gründern und neuen Selbstständigen wie vor 50 Jahren, selbst einzusteigen; es braucht nicht mehr die Giganten der Stahlwerke oder Autofabriken; es muss nicht alles hier erfunden werden.

Der Wohlstand kommt nicht von ungefähr

Weitere Wachstumstreiber der 1950er- und 1960er-Jahre bestehen noch immer. Dazu zählt die konsequente Ausrichtung der Handelsdiplomatie auf den Weltmarkt und einen offenen Europamarkt – dort aber nicht auf mehr. Die Übernahme der vielen Einschnürungen im Arbeitsmarkt, Geschäftsleben und Steuerwesen sowie der Einheitswährung Euro würde die Schweiz vom «Weltgang» abhalten, mit dem sie den Wettbewerb mit den Asiaten und den USA heute bestens bestreitet. Der Franken kann von der Schweiz bestimmt werden, damit auch das Zinsniveau, der Aussenkurs und die Konjunkturimpulse.

Der freie Arbeitsmarkt war nach 1945 – und ist es bis heute – eine Trumpfkarte der Schweiz (und Dänemarks). Wenn ein Unternehmer kündigen kann, stellt er leichthin auch ein. Wenn die Lohnnebenkosten zulasten des Arbeiters nicht zu hoch sind, gibt es keine Schwarzarbeit. Wenn der Unternehmer nicht mit hohen Nebenkosten, Beweislastumkehr und Quoten für Einstellungen belastet wird, investiert er hier und nicht anderswo.

Und wenn eine Berufsausübung für den Arbeitenden nicht an immer mehr Diplome gekettet und für den Unternehmenden nicht an immer mehr bürokratische Pflichten und Bewilligungen gebunden wird, geht das Wachstum los und es herrscht Vollbeschäftigung.

In den 1950er-Jahren änderten sich die Wirtschaftsstrukturen eher rascher als heute, aber ohne Verwerfungen und Arbeitslosigkeit, denn die Geschäftstätigkeit war kaum an Bewilligungen gebunden, man fing einfach mal an. Der aufstrebende Dienstesektor und die zunehmende Verwaltung stellten ehemalige Handwerker ohne Diplome ein. Dem Lehrermangel wurde mit halbjährigen Umschulungen solcher Leute abgeholfen. Plötzlich waren Nachbarn neuerdings Versicherungsagenten, Lehrer, Verwaltungsangestellte, Kleinunternehmer. Wer einen Lehrling einstellen oder betreuen wollte und will, konnte und kann dies nach ein paar Kurstagen tun.

Nach ziemlichen Kämpfen wurden in den 1950er-Jahren auch die in der Depression und im Krieg aufgebauten vermeintlichen Sicherungen der Branchen und der Beschäftigung aufgehoben – das Warenhausverbot, das Filialverbot, das Coiffeurverbot, das Schuhfabrikenverbot, Teile des Landwirtschaftsschutzes. All dies stimulierte neue Unternehmungen und damit Arbeitsplätze.

Für meinen eigenen Rückblick auf die Sprungfedern der heutigen Schweiz nach 1945 bieten sich folgende Lupen an:

–  Informationstechniken

–  Produktivität

–  Wirtschaftspolitik

–  Sekretariate und die «objektiven Interessen der Arbeiter»

–  Die Schweiz funktioniert, weil der Verbandsstaat funktioniert.

–  Die Umwelt wurde zur «Frage»

–  Woher wir kommen. Wo wir jetzt stecken.

Kapitel 1

Informationstechniken nach den Sanduhren

An einem Abend, es muss 1953 gewesen sein, nahm mich mein Vater ins Landhaus mit, in das damals beste Hotel und Restaurant Herisaus. In einer Ecke gegen die Decke des Restaurants hing ein kleiner Kasten – und begann bläulich zu flimmern: die Versuchsreihe des Schweizer Fernsehens. Der Raum war in meiner Erinnerung zum Bersten voll, und ich glaube, die Leute waren sehr andächtig.

Das Fernsehen galt bald als Zeichen der Vergnügungssucht und der Amerikanisierung. Im Nebelspalter verfasste der legendäre Herausgeber und Karikaturist Bö das schöne Gedicht:

 

«De Chrischte list es Buech.
Du armenarme Chrischte,
seit en verschrockne Psuech,
häsch du kei Fernsehchischte?»

Fernsehen und Kultur waren zwei verschiedene Dinge. Allerdings waren die hausbackenen Sendungen des Beruferatens und dergleichen viel mehr Kultur, als das, was damals die lokalen und städtischen Kinos boten. Es gab die Revolverküchen, wo Kriminalfilme liefen, und wir Schüler sammelten die Deckel der Persilschachteln, gegen welche man im Dorfkino zwei Mal jährlich Dick und Doof sehen konnte.

In der Pfarrei nahm sich eine ältliche ledige Lehrerin des Mediums an und gab einen Filmkurs in mehreren Folgen. Vor allem wir Jungen der Pfarrei waren sehr interessiert, zahlten die paar Franken Kursgeld und sassen im heissen kleinen Pfarreisaal. Im Kampf mit den enormen Filmrollen, die dauernd gewechselt und eingefädelt werden mussten, lieferte die Lehrerin Beispiele für verblüffende Effekte, Kulissenschieberei und dergleichen mit der naheliegenden Aussage, dass der Film auch gefährlich sein könne und durchschaut werden müsse.

In der Primarschule baute der Lehrer etwa zwei Mal im Jahr einen grossen Radioapparat mit seiner Stofffront auf, um die Schulfunksendungen zu übertragen. In meiner Erinnerung waren es langfädige, langweilige Ausführungen mit sonorer Altherrenstimme zu dümmlichen Themen. Der Lehrer, ein Dialektdichter und selbst ein gelegentlicher Radioautor, war sichtlich unenthusiastisch. Nach den Stunden drehte er den Knopf, und man sprach nicht weiter darüber. Offensichtlich waren es für ihn Pflichtübungen im Schulstoff.

Der Lehrer und die meisten Erwachsenen führten einen erbitterten Kampf gegen die verderblichen Mickey-Mouse-Hefte. Das war ausgesprochener Schund. Wir Kinder Mitte der 1950er-Jahre sahen in diesen Heften, ohne weitere Belehrung, dass die Amerikaner offenbar alle ein Auto hatten, ein Häuschen, einen Kühlschrank, einen Fernseher, dass Geld zum Erfolg zählte und dass man es sofort ausgab, wenn man welches hatte (ausser natürlich Onkel Dagobert). Auch die Partys des Milliardärsclubs von Entenhausen beeindruckten. Man lernte auch das kritische Auge gegenüber der angehimmelten Klassik im Theater, wenn die deutsche Übersetzerin Dr. Erika Fuchs Donald Duck als Laienschauspieler in Ritterrüstung sagen liess: «Weh, welch schröcklich Schicksal dräuet mir.» Das impfte uns viel besser gegen artistisches Gehabe und gegen die Wagnerianer Bayreuths als der Regisseur Christoph Schlingensief, der auf die Bühnen pissen liess. Und das 50 Jahre später!

Solches hatten unsere Pädagogen natürlich im kritischen Auge. Ich nahm es aber unserem Lehrer besonders übel, dass er die geliebten und doch so schweizerischen Globibücher in die gleiche Ecke der Unkultur stellte. Vermutlich war es die Ansicht, dass Wissen über Buchstaben, nicht Bilder gehen müsse. Wir wuchsen in der Buchstabenwelt Gutenbergs auf. 26 Zeichen bildeten die Welt und ihr Wissen genügend ab.

Das Schönschreiben wurde in der Schule zu einer notwendigen Dressur, um sich in dieser Welt verständlich zu machen. Fast alles wurde von Hand geschrieben: Briefe, Firmendokumente, auch Artikel- oder Buchentwürfe. In der zweiten Klasse ging man vom Bleistift zur Tintenfeder über. Das war ein feierlicher Moment. Die Lehrerin ging von Platz zu Platz und füllte aus einer riesigen Tintenflasche mit Ausguss die Tintenfässchen im Pult der Schüler auf. Kugelschreiber kamen erst langsam auf und waren in der Schule verboten.

Die 1950er-Jahre verliefen – aus Sicht des heutigen Internets – musikalisch ebenfalls ärmlich, auch für Wohlhabende. Denn Musik war kostbar und musste gezielt ausgesucht werden. Es gab das Radio, und gelegentliche Konzerte durch lokale Orchester und Chöre musste man sich im Voraus merken, um hinzugehen. Plattenspieler und Tonbandgeräte kamen auf, die Stücke auf Platten und Bändern dauerten aber nicht lange, man musste immer wieder neue auflegen. Die Platten selbst gab es in beschränkter Auswahl in den Musikgeschäften, wozu man bereits nach St. Gallen fahren musste. Und mit der musikalischen Früherziehung in den Schulen dürften heute wohl mehr Kinder als damals in ein Instrument eingeführt werden. Dafür blieben einem damals die paar Musikstücke, die man hörte, die paar Platten, die man hatte, mit starkem Eindruck haften. Aber vielleicht war das auch eher nur jugendliche Empfänglichkeit, die mich dies sagen lässt.

Hingegen singt heute fast niemand mehr, auch nicht die Kinder in den Schulen. Vor einem halben Jahrhundert lernten wir Schüler etwa 50 bis 100 Lieder, welche auch unseren Eltern geläufig waren, und man konnte sofort Musik gemeinsam aufsteigen lassen, fast rauschhaft, zu Hause, an Festen, auf Reisen, in Wirtschaften. Das ist vorbei.

Die kleine literarische Elite des Hauptortes hatte eine Lesemappe mit teuren Zeitschriften abonniert, das Du war drin. Es war eine ehrenvolle Aufgabe, vom Lehrer mit der Riesenmappe in grau meliertem Bürokarton zum nächsten Abonnenten, einem anderen Lehrer, einem Arzt, Chefbeamten oder der Frau des Erziehungssekretärs geschickt zu werden.

Ich kann mich nicht erinnern, im Hauptort irgendwann einmal eine ausländische Zeitung gesehen zu haben, ausser vielleicht am Bahnhofkiosk die italienische Sportzeitung für die zahlreichen Fremdarbeiter des Baus und der Industrie im Ort. Als ich mit 18 Jahren eine Sommerstelle als Putz- und Servierbursche in einem Jesuitenhotel in Paris bekam, lernte ich Le Monde kennen und schnupperte Weltniveau.

Irgendwann begannen mich die Urzeiten zu faszinieren, und ich erfuhr, dass es in Bern eine Landesbibliothek gab. Dieser schrieb ich mit etwa 14 Jahren, ich hätte gerne ein Buch über die Vorfahren des Menschen. Tatsächlich sandten sie mir eines, das ich verschlang und erst noch mit der beigelegten Klebeadresse gratis zurücksenden konnte. Das imponierte mir sehr und war eine wichtige Erfahrung, dass es irgendwo noch viele ungehobene Schätze gab, dass man dazu gelangen konnte und dass es Einrichtungen gab, die einem dabei gerne halfen.

Während der Sekundarschulzeit kamen die Taschenbücher auf, zuerst jene von Rororo, dann von Dtv und andere. Es war eine eigentliche Erlösung – viele Sachgebiete konnte man jetzt billig und kurz kennenlernen. In den Buchhandlungen St. Gallens kaufte ich rasch einige, z. B. etwa 1962 mit 16 Jahren Die Römischen Verträge der EWG als Goldmann-Taschenbuch. Ich weiss noch, wie mich die hochtrabende Juristensprache anzog und abstiess. «Die Hohen Vertragschliessenden Teile» feierten sich da unablässig selbst. Bezeichnend für die damalige Welt der Information aber ist der Aufdruck im Taschenbuch von 1961: «Das Einstellen von Goldmanns Taschenbüchern in Leihbüchereien, Volksbibliotheken, Werkbüchereien und Lesezirkeln ist vom Verlag ausdrücklich untersagt.» Dabei waren wir in Europa noch privilegiert. Als ich 1969 in Tunesien einen Monat in der Société tunisienne d’électricité et de gaz (STEG) arbeitete, besuchte ich die Universitätsbibliothek. Der Zettelkatalog fand in einem Zimmer Platz, und ich sah darin kein Werk, das neuer als die Ausgaben vor 1956 war, welche die Kolonialmacht Frankreich noch geliefert hatte. Da schien mir die Armut grösser gar als die der Bettler, welche die Strassen der Hauptstadt säumten.

Der langen Rede kurzer Sinn: Man kann sich heute in Internetzeiten kaum mehr vorstellen, wie knapp und zufällig Informationen und Wissen für die Jungen waren. Unsere Zeit lag näher an Ueli Bräkers, des «armen Manns im Tockenburg», Ringen um ein paar Einblicke in die Welt als am 21. Jahrhundert der sogenannten Informationsflut.

Elektronische Briefkästen

Ich empfinde übrigens, wie offenbar viele Zeitgenossen, mit denen ich darüber sprach, das Internet mit seiner heutigen Tiefe als so gewohnt und üblich, dass es mir Mühe macht, die erlebten Stufen der letzten 20 Jahre dazu auseinanderzuhalten. Und wenn ich sie dokumentieren müsste, hätte ich so wenig materielle Zeugnisse, etwa Ausdrucke von ersten Homepages, dafür, wie man auf Pfahlbaugrabungen vom damaligen Leben noch findet.

Ende der 1980er-Jahre las man von elektronischen Briefkästen, durch welche man Meldungen und Fakten über die Telefonanschlüsse gewinnen konnte. Ich rief die Hauptnummer der damaligen PTT-Generaldirektion in Bern an (wo also noch Post und Telefonie vereint betrieben wurden) und sagte, ich hätte gerne einen elektronischen Briefkasten. Ich wurde etwa vier Mal weiterverbunden und stiess immer auf grosses Staunen. Nach acht Minuten geriet ich wieder an die erste Rezeptionistin, die sagte: «Dir müesst zo emene Spengler gah.» Irgendwie fand ich später heraus, wo ich mich einklinken musste. Dass es nun Kommunikationskanäle gab, die nicht über das Monopol liefen, war ganz neu. Und das Monopol schlief. Oder es tat, als ob es schliefe, damit es seine Briefsparte nicht mit E-Mails kannibalisieren musste.

Ich abonnierte mich auf Compuserve, wo man sich einwählte, das Rauschen des Weltalls hörte und dann fünf oder sechs Sachen abfragen konnte – die Archive der International Herald Tribune und der NZZ, das Wetter, die Börse und eine Witzseite. Nach 1992 kam die ungeheure Neuerung, dass ich mit meinem ersten Flach-PC zur Weltwoche nach Zürich reiste, wo ein Informatiker ein Progrämmchen einpflanzte, mit welchem ich die Artikel direkt an die Redaktion senden konnte, und zwar im Einwegverkehr. Man musste nicht mehr mit dem Artikel oder mit der Diskette zum Expressschalter der Post rennen. Als ich dann, es muss 1995 gewesen sein, im Schaufenster eines Ladens die Netscapeseiten sah, war das heutige Internet auf verfügbare und wunderbare Weise da. Es war, als ob ich ein Wunderland beträte.

Information auf Metall, Wachs und Schnapsmatrizen

Vorher verarbeitete man die Informationen feinmechanisch. Mit etwa 15 Jahren, 1961, hatte ich eine Sommerstelle bei der Appenzell-Ausserrhodischen Kantonalbank, und zwar in der Adrema-Abteilung. Das war die Wertschriftenverwaltung materieller Art. Die Wertschriften jedes Kunden waren in Blechvierecke gestanzt, heutigen Kreditkarten gleich, und in Blechschublädchen hintereinander eingereiht. Jede Wertschriftenart hatte ein Kärtchen, und zwar für jeden Kunden. Wenn er kaufte oder verkaufte, wurde dies auf einer Papierliste bei uns gemeldet, dann griff man sich das Blechstück, stanzte die Zahl und die Namen der Wertschriften mit einem danebenstehenden Apparat darauf und reihte es wieder in eine der Schachteln des Speichers ein. Wollte man einen Auszug machen, etwa für den Kunden oder für die Dividendenzahlung einer Wertschrift für alle Kunden, dann liess man die Kartenschubladen durch eine Druckstelle rasseln, wo jedes Kärtchen ergriffen, abgedruckt und zurückgestellt wurde. Die Blechkärtchen hatten nämlich «Ritter» oben drauf, die dem Greifer der Maschine anzeigten, welche Kärtchen auszudrucken waren, jene für «Müller» oder für «Dividenden BBC».

Wie alle Schüler in Sommerjobs lernte ich dort industrielle Disziplin, nämlich die unendlich langen Vor- und Nachmittage zu überdauern, von 7.30 Uhr bis 12 Uhr und von 13.30 Uhr bis 18 Uhr. Es gab eine Pause, und der Arbeiter der Adrema, in blauer Berufsschürze, da Maschinist, und nicht in weissem Kittel wie die anderen Bankbeamten, bog dann seinen Kopf vollständig in seine tiefe seitliche Pultschublade, ass dort drin einen Teil seiner Schokoladentafel, weil er sich genierte, vor mir zu essen – und vielleicht auch nicht teilen wollte.

Das Sparheft der Kantonalbank hatte ich seit frühester Kindheit, und an Neujahr leerten wir das Sparkässelchen. Herr Rotach, der Schalterbeamte, trug dann die Einlage säuberlich mit dicker Stahlfeder ins Sparheft ein, errechnete den neuen Saldo, unterschrieb schwungvoll jedes Mal darunter und trocknete die nasse Tinte mit dem Wiegefliessblatt ab. Die Einlage und den Saldo trug er gleichzeitig in ein enormes Buch der Bank selbst auf einem Stehpult neben dem Schalter ein. Sicher war es nach dem Prinzip der doppelten Buchhaltung eingerichtet, und abends mussten die Schalterbeamten die Summen längs und quer errechnen und in eine Hauptabteilung melden, damit die Bank ihrerseits wusste, wie sie stand.

Diese Erinnerung führte mich dazu, in einem Artikel des Jahres 2010 vorzuschlagen, man könnte die Gefahr des Datendiebstahls auf CDs in unseren Schweizer Banken durch ausländische Steuerfahnder vermeiden, wenn man für wichtige Kunden diese einfachen Buchungen auf Papier wieder einführte. Auch sonst lohnt es sich, Dokumente und Notizen analog auf Papier aufzubewahren und nicht zu elektronisieren. Mein Haus birgt daher verschiedene, für Ämter und Persönlichkeiten knusprige Unterlagen, in unendlichen Ablagekästen, Bücherregalen, Kellergestellen, Artikelbeigen gelagert, welche kein Eindringling der Welt, auch keine Polizei, herauszusortieren vermöchte. Desgleichen erstaunt es doch, dass in den USA Banken und andere Firmen wegen «conspiracy» zu riesigen Geldstrafen verurteilt werden, nur weil man ein, zwei E-Mails auf ihren Computern fand, wo Angestellte nicht ganz korrekte Pläne erwogen. Ein kurzes handschriftliches Kärtchen und anschliessend der Schredder wären da besser gewesen.

Übrigens führte die überschiessende Forderung nach Transparenz gegen das Jahr 2000 auch in der Schweiz zu öffentlich zugänglichen Protokollen aller möglichen Kommissionen – Kartellkommission, Kommunikationskommission usw. Doch was die Eiferer nicht voraussahen: Diese Kommissionen notierten danach einfach keine Diskussionen mehr, sondern nur die Beschlüsse, die sowieso bekannt gegeben werden.

Kopieren – nicht so einfach

Im anderen Jahr, 1962 oder 1963, hatte mein Vater mir einen Sommerjob bei der Kantonalen Bauverwaltung besorgt (nicht um mir etwas Gutes zu tun, sondern weil er fand, nach all dem theoretischen Schulzeugs könne richtige Arbeit nicht schaden). Dort musste ich riesige Pläne der Ingenieure und Bauzeichner von ihrem durchsichtigen Pergamentpapier auf normales Papier hinüberkopieren. Im Rohzustand trug dieses Papier eine gelbe Oberfläche, die sich nach etwa einer Minute im Licht verflüchtigte. Wenn man die Pergamentpläne, oft anderthalb Meter breit und lang, auf dieses Fotopapier legte und rasch durch die Maschine zog, zuerst durch einen Lichtbogen, dann durch ein flüssiges Bad, wechselten die nicht vom Licht durchdrungenen Linien des Plans auf dem Papier von gelb zu schwarz, waren also kopiert und gesichert. Doch führte man zu Beginn den Plan und das Papier nur um 1 oder 2 Millimeter schräg in die Maschine, zerriss sie beide, oder sie verrutschten, und die Linien wurden zu blassen Schemen.

War die Operation nach Anfällen von Panik gelungen, musste ich die Papierpläne ausmalen – Mauerkronen zinnober, die Maueranzüge (also die Seitenwände) rosa, die Strassenflächen grün oder blau und die Strassenborde dunkelgrün.

Meine Mutter berichtete von Kopiervorgängen, die nochmals eine Generation zurücklagen. Sie wurde nach der Schule, also etwa 1931, im Büro der grossen Stickereifirma Grauer in Degersheim angestellt. Jeden Morgen trafen die maschinengeschriebenen Bestellungen der Kunden mit der Post ein, und meine Mutter musste diese mit der Schrift nach unten auf einer klebrigen Masse andrücken. Dann konnte sie etwa fünf Mal andere Papiere auf die Masse pressen und so Abzüge davon in die verschiedenen Abteilungen der Firma übermitteln.

 

Die alte analoge Welt und die neue Digitalisierung zeigen sich auch in einfachen Spielzeugen. Ich erhielt Anfang der 1950er-Jahre ein ferngesteuertes Auto – die Ferne bestand aus einem etwa 1,5 Meter langen Spiralröhrchen am Auto, an dessen Ende in meiner Hand eine Kurbel und ein Drücker für die Lenkung waren. Die Kraft und der Lenkungsdruck wurden durch Drähte im Röhrchen übertragen. Das Auto verursachte Aufsehen und wird heute in Antiquariaten teuer verkauft. Heute bekommen die Kinder ferngesteuerte Autos, Flugzeuge und Schiffchen, die drahtlos, mit eigener Batteriekraft und unglaublich schnell reagieren. Wenn man vor zehn Jahren sagte, dass ein Personenwagen ungefähr gleich viel – digitale – Schaltungen habe wie die Mondrakete 1969, dann haben jetzt wohl schon bald diese Spielzeugautos mehr Schaltungen.

Die Welt Gutenbergs bestimmte auch die Wissensübermittlung im Gymnasium, wo ich von 1961 bis 1966 war. Wir hatten in jedem Fach die üblichen Schulbücher, manche waren oft zehn, 20 Jahre alt und von Schülergeneration zu Generation weitergereicht worden, wie die auf der Innenseite aufgeklebten Zettel mit Datumstempel der Schule und die selbst eingetragenen Namen der Schüler zeigten. Dazu aber verfassten die Patres im Gymnasium Friedberg, Gossau, eigene Leitfäden zu Französisch, Philosophie, Deutsch und Musik und druckten diese oft jede Woche auf Schnapsmatrizen oder gar auf Wachsmatrizen. Letztere waren eine unendlich mühsame Angelegenheit. Man nahm das Druckband aus der Schreibmaschine und spannte ein dick mit Wachs beschichtetes Papier ein. Die Buchstaben wurden eingekerbt, falls man fest und gleichmässig anschlug. Bei Fehlern wurde die Stelle mit rosarotem Flüssigwachs ausgefüllt. Man musste dann warten, bis es sich verdickte, um weiterzuschreiben. Wehe, meist verrutschte das dicke Blatt dann aber auf der Walze, weil man es zur Korrektur etwas vor- und dann zurückdrehen musste. Auch im Militärbüro musste ich solche Matrizen füllen, und an der Universität schrieben wir 60-seitige Seminararbeiten auf diesem Wachs vom handschriftlichen Entwurf ab – wochenlang, abends nach den Vorlesungen. Die Wachsblätter wurden auf eine Walze gespannt und über Druckerschwärze abgezogen. Die Schnapsmatrizen waren einfacher herzustellen und beliebt, weil die Blätter wirklich verführerisch nach Alkohol rochen.

Die katholischen Kollegien und die Klosterschule in St. Gallen, die ich besuchte, boten freie Schulwahl, also Alternativen zu den öffentlichen Schulen. Sie kosteten wenig, nur ein paar Hundert Franken im Jahr, weil die Patres sich selbst ausbeuteten. Die Pallottinerpatres fuhren in die umliegenden Pfarreien, um samstags die Beichte zu hören, sonntags das Hochamt zu feiern und finanzierten mit dem Entgelt der Pfarreien die Schule. Wir Schüler putzten die Gebäude und wuschen das Geschirr, denn es gab kein Personal. In den Pausen und an den Wochenenden packten wir die Monatsschrift Ferment, welche dem Orden Finanzen einbrachte, in Versandkartons. Der Lernbetrieb war streng, denn die Patres eiferten den Jesuiten nach. Mittags waren die Schulzimmer geschlossen, man machte Sport oder Musik. Niemand ging um 18.30 Uhr weg, ohne alle schriftlichen Aufgaben abgeliefert zu haben. Wir hatten in den wichtigen Fächern zwei Aufgabenhefte: Eines war beim Pater, der korrigierte, und in das zweite schrieben wir die neuen Aufgaben. Der Lateinlehrer, ein Hüne aus Deutschland, bestimmte, wer aus der Schule flog. Wenn er die Klausuren zurückgab und zu einem Schüler sagte: «Auch Schuster ist ein schöner Beruf», dann trat dieser meistens nach einigen Wochen aus. Keine Rekurse. So lernen heute die Chinesen.

Auch in Fragen der Lebenswelt übten wir das, was verschlampte Lehrer heute elitär nennen: Im Speisesaal mussten wir, 150 16-Jährige, beim Aufstehen den Stuhl gleichzeitig und lautlos mit der rechten Hand hinten wegführen. Essen musste man im Jackett, auch im Sommer. Im Kollegium Friedberg machten wir auch Judo, hatten einen Servierkurs und lernten Tischsitten, in Appenzell autogenes Training.

Auch bewältigten diese Schulen die Begabtenförderung ohne grosse Töne. Im Kollegium Appenzell holte der Chemielehrer die künftigen Medizinstudenten unter uns (35 Maturanden in einer Klasse!) ein halbes Jahr lang gesondert zu sich und nahm den Stoff des ersten Propädeutikums der Uni schon mal mit ihnen durch. In der Klostersekundarschule St. Gallen befahl der Pater Rektor meinen Vater zu sich und sagte, ich müsse Latein nehmen. Er holte mit mir in einem privaten Crashkurs ein Jahr Latein auf, und zwar täglich ab 16 Uhr im Schulsekretariat, wo, wie in einem Taubenschlag, die Schüler, Eltern und Lehrer ein- und ausgingen. So konnte ich ohne Zeitverlust im Herbst ins Gymnasium. Verlangt hat der Rektor nichts, mein Vater gab ihm ein Kistchen Zigarren. Der Geistliche war ein strenger, erfolgreicher Schuldiktator. Der spätere Autor Niklaus Meienberg, der vor mir dort war, nannte ihn «einen schwitzenden Koloss unerlöster Männlichkeit». Aber man lernte in dieser Klosterschule, die im Jahre 730 gegründet worden war, nach Strich und Faden.

Die Computer – vom Einzelstück zum Alltagsgerät

Der PC brachte Mitte der 1980er-Jahre die grosse Revolution in der Hardware. Zuerst diente er einfach als etwas bessere Schreibmaschine, er konnte speichern, korrigieren, drucken, was alles schon eine unendliche Erleichterung darstellte. Die Prospekte und Inserate, welche dafür warben, zeigten abwechselnd immer eine attraktive Frau und einen jungen Mann am PC, während die andere Person danebenstand und irgendwie mithalf. Es galt nämlich, die eingespielte klare Rollentrennung aufzuheben: dass die Frau als Sekretärin einfach nur tippte und der Mann alles im Kopf hatte und diktierte. Die Technik vermischte nun diese Rollen. Ohne grosse feministische Theorien kapierten dies die PC-Hersteller. Sie konnten die Apparate nur verkaufen, wenn dabei auch die hierarchische Bedienung abgeschafft wurde.

Vorher aber, an der Universität Genf, wo ich ab 1966 lernte, waren Computer noch sagenhafte Grossmaschinen, die streng verschlossen als Einzelstücke im Keller eines naturwissenschaftlichen Instituts summten. Ich wollte ihnen näherkommen und besuchte 1967 einen Programmierkurs, um die damals notwendige Computersprache zu lernen. Aber die abendlichen einstündigen Kurslektionen auf abgewetzten Holzbänken in der Ecole de Médecine blieben eine Trockenübung. Ein Assistent schrieb mit Kreide und mit dem Rücken zu uns unablässig wirre Formeln an die Wandtafel. Weit und breit kein Computer, dieses Interface schreckte nur ab.

Gutenbergs Welt dominierte. Für ihre Vorlesungen hatten manche Professoren ein Skript herausgegeben oder eines autorisiert, das von fleissigen früheren Studenten gemacht worden war. Diese Skripts erjagte und kaufte man fiebrig von Vorgängern. Die Unterlagen waren entsprechend zerblättert, vollgekritzelt und bemalt. Viele Vorlesungen aber mussten laufend mitgeschrieben werden, weil die Professoren an den Examina auf neue Lieblingsgebiete stiessen. Vor den Examina verglichen wir untereinander unsere Notizen und ergänzten sie. Faulere Kollegen standen tagelang am Fotokopierapparat und verschafften sich diese arrondierten Notizen. Das kostete damals schon 50 Rappen pro Kopie, aber dafür waren sie wunderlich feucht und rochen gut.

Die Bibliothek am hochstehenden Institut de hautes études internationales (heute HEID) der Genfer Universität war ausserordentlich gut bestückt – die wichtigsten Ökonomierevues der Welt fanden sich da, zurückgehend bis in die 1940er-Jahre, die Entscheide des Gerichtshofs in Den Haag, neuere Fachbücher, fast alle in Englisch. Unsere Professoren kamen manchmal mit den Fotokopien von Büchern oder Zeitschriften aus den USA zurück, die in Europa nicht erhältlich waren. Diese Kopien wurden dann gebunden und kamen ins Gestell. Die Bibliothek war eine Präsenzbibliothek, alles durfte zwar selbst entnommen, musste aber immer dort konsultiert werden. Ein Mitstudent, der bei IOS, der reichen Spekulationsfirma gegenüber an der Rue de Lausanne, arbeitete und der einen weissen Bentley wie einen blauen Jaguar fuhr, war nie in der Bibliothek, lieferte aber gute Arbeiten ab. «Der lässt sie schreiben», war die Meinung, doch als wir einmal in seinem teuren Appartement an der Avenue De-Budé eingeladen waren, sahen wir, dass er sich einen grossen Teil der Bibliothek einfach selbst gekauft hatte.

Die Bibliothek der UNO erweiterte das damalige Bücherangebot in Genf gewaltig. Für eine Seminararbeit über den Südsudan konnte ich dort alle Ausgaben der Times auf Jahre zurück konsultieren. Allerdings folgte die Bibliothek dem minimalistischen Rhythmus internationaler Riesenorganisationen, wo die Ruhezeiten des Personals wichtiger waren als die Lieferungen an die Leser. Man musste zwei Mal zu präziser Minute morgens und nachmittags die Bestellzettel abgeben, und etwa vier Stunden später kam das Buch, meist aber erst am folgenden Tag.

Für den Entscheid zum Studienort und zum Studienfach stand einem Ende der 1960er-Jahre nur knappe Auskunft zur Verfügung. Man kannte einen älteren Studenten oder einen Professor und befragte ihn. Man schrieb eine Universität um Auskunft an und erhielt vielleicht drei Wochen später dürre Lehrpläne. Auf den Universitätssekretariaten lagen ebenso dünne Prospektchen anderer und weiterführender Ausbildungsstätten auf. Vor allem über ausländische Universitäten, die mich interessierten, z. B. jene Westberlins oder die London School of Economics (LSE), war man wenig auf dem Laufenden, und auch gestandene Akademiker im Bekanntenkreis konnten nicht weiterhelfen. Sie selbst gehörten der Krisen- und Kriegsgeneration an und hatten meist nur in der Schweiz studiert. Man meldete sich daher brieflich an und fuhr im Zug hin. Dort fand man einfach vor, was war und machte es – oder auch nicht.

Berliner Studentenrevolution – im Kopf erstarrt

Ich entschied mich im Herbst 1970 für die Freie Universität (FU) in Westberlin, weil dort offenbar politisch viel lief und weil ich Konzentrationsforschung machen wollte. Damals vergrösserten sich die Giganten wie ITT, IBM, GE, Siemens, BBC und BASF enorm, und deren Macht beschäftigte Wissenschaft wie Medien. Ihre Verbindungen zu Südafrika, Lateinamerika oder zur Rüstung riefen Verschwörungstheorien hervor. Ihre Marktbeherrschung erschien bedrohlich. Professor Helmut Arndt und Assistenzprofessor Jörg Huffschmid hatten in Berlin dazu schon publiziert.

Schon die erste Vorlesungsstunde an der FU ernüchterte mich aber sehr. Die 68er-Bewegung war in Berlin doktrinär geworden. Falls ein Professor überhaupt noch erschien, wurde er gleich zu Beginn niedergeschrien, einer der Studentenführer zum Diskussionsleiter ernannt, und dann wurde der ganze Marxismus heruntergebetet. Ich verstand nichts, zog mich für drei Wochen in mein Zimmer zurück und las die drei Bände des Kapital von vorne bis hinten. Eine gewisse Eleganz kann man dem Text nicht absprechen: Die Unterscheidung Marx’ von Gebrauchswert und Tauschwert, dann deren Anwendung auf die Arbeit selbst, seine Diskussion des Einflusses der Produktivität auf Wachstum und Krisen, die Egalisierung der Profitrate unter vollkommener Konkurrenz und damit die Allokation des Kapitals an den richtigen Ort durch den Markt sowie der Weltmarkt, das alles beeindruckte mich. Aber die hämische kleinliche Art, wie Marx andersdenkende Ökonomen heruntermachte, war auf die studentischen – und generell auf die linken – Diskutanten übergesprungen. Sie hatte ja schon die Sitten der Leninschen Kaderpartei vor und nach 1917 verdorben. Die Unerbittlichkeit der Diskussionen spitzte sich enthüllend zu, als einer der Wortführer einmal einen Genossen in der Vollversammlung abputzte, indem er sagte: «Du irrst, denn hier steht geschrieben», und auf sein Exemplar des Kapital zeigte. Ehrfürchtig wurde auch herumgeboten, einer der studentischen Grosskopferten habe ein neues Exemplar des Kapital kaufen müssen, weil das alte zerblättert sei.

Die Sturheit und Rechthaberei führte dazu, dass sich die Bewegung in Maoisten, Stalinisten und DDR-Fans, Trotzkisten, Anarchisten, Sozialdemokraten und Spartakisten aufsplitterte. Alle diese K-Gruppen (für kommunistisch hielten sie sich alle) zogen eigene Schulungsseminare ab, und am 1. Mai paradierten sie getrennt durch die Strassen, um zu messen, wer den grössten Aufmarsch hatte. Pflicht war auch Basisarbeit, die aber nicht darin bestand, den Armen zu helfen, sondern morgens vor den Fabriken Flugblätter zu verteilen. Da lasen dann die Arbeiter, Vorarbeiter und Angestellten, wie schlecht es ihnen ging.

Vor allem die Krisentheorie wurde ausgewalzt und das baldige Ende des kapitalistischen Systems angekündigt. Die aus heutiger Sicht fast unmerkliche kleine Konjunkturdelle 1966/67 wirkte damals nach den Superwachstumsjahren wie ein Fanal. Von strammen Marxisten wurde die unwahrscheinliche Theorie aufgestellt, dass die Unternehmer die Krise leichthin selbst veranstalteten, um die Erfolge der Arbeiter zurückzustutzen.

Ernest Mandel, der belgische Trotzkist, hatte grossen Zulauf. Der gefährliche Revolutionär, der in der Schweiz sogar Redeverbot erhielt, trat in Berlin als behaglicher 50-Jähriger in Strickjäckchen und Krawatte auf – ein fast extraterrestrischer Anblick inmitten der betont ungepflegten, bärtigen Jungmänner. Statt «massenhaft» sagte er immer «massale» Kapitalvernichtung oder «massale» Produktion, was ebenfalls pittoresk war. Doch seine Vorträge waren intelligent und boten nicht einfach Propaganda. Ironischerweise kam die grosse Krise dann 1973 (da war ich längst wieder in der Schweiz), aber sie kam nicht wegen des tendenziellen Falls der Profitrate in den Metropolen, sondern weil die Söhne der Wüste das Öl verteuerten.

Die Quellen in der alten Informationswelt

Nach dem Studium wollte ich, wie seit meinem 18. Jahr gewünscht, Journalist werden. Aber wo fand man die besten Quellen? Ich ging 1970 für einige Tage nach Basel, Zürich und Bern, fragte mich zu Wirtschaftsarchiv, Zentral- und Landesbibliothek durch und entschied mich dann für Bern. Dort waren nicht nur die Landesbibliothek – heute in Nationalbibliothek umbenannt –, sondern auch die Bundesverwaltung, das Parlament sowie die Sekretariate vieler Verbände. Ausserdem führte jedes Bundesamt eine eigene Bibliothek, welche manchmal auch mit internationalen Quellen dotiert war, etwa jene des damaligen Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA). Dort fand man fast alles, was die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris an Studien und Statistiken ausstiess, aber auch das Statistische Amt mit UNO-Quellen und statistischen Jahrbüchern anderer Staaten. In einem Keller des volkswirtschaftlichen Instituts der Universität Bern fanden sich die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften aus den USA, viele Jahre zurückreichend. Die Informationen über die Welt und die Schweiz lagerten auf diesen wenigen Gestellen, lokal und analog, und nur dort. Man radelte also kreuz und quer durch die Bundesstadt, um diese Quellen einzusehen. Vergass man, eine Zahl abzuschreiben, musste man nochmals hin. Dort, wo ein Kopierapparat vorhanden war, musste man sich mit den Sekretärinnen und Hütern der Bände gutstellen, und dann zeigten sie einem, wie es ging. Wollte man bezahlen, ging das meist nicht, weil keine Abrechnungssysteme für solche Einnahmen des Bundes bestanden. Auch gut. In der Landesbibliothek musste ich 1971 erst eine Unterschriftenaktion der Benutzer starten, damit ein allen zugänglicher Kopierapparat aufgestellt wurde.

Bundesdruckschriften musste man bei der Eidgenössischen Drucksachen- und Materialzentrale (EDMZ) bestellen oder selbst am Schalter abholen. Dieser lag draussen in Bümpliz. Laufende Gesetzgebungen waren schwierig zu erfassen. Die Botschaften des Bundesrates verkaufte die EDMZ, die noch zwischen den Räten pendelnden Geschäfte konnte man auf der Bundeskanzlei auf meterbreiten Fahnen abholen, welche die Versionen der zwei Räte und die Minderheitsanträge ausbreiteten. Die neuesten Protokolle der Ratsdiskussionen kamen nur vierteljährlich gedruckt heraus, heute sind sie oft schon am Abend der Debatte im Internet. Damals leistete der Ratskorrespondent der NZZ täglich ausführlichste Berichterstattungen über die Debatten, die als aktuelle Dokumentation reichen mussten, wobei seine Sätze immer vom Allgemeinen in die Wir-Form übergingen: «Opposition erwuchs der Vorlage vom Fraktionschef der FDP, wir können doch nicht zulassen, dass hier stillschweigend neue Abgaben eingeführt werden c» oder ähnlich.

Solche Stellungnahmen, Partei- und Verbandsmeinungen holte man auch in den Berner Zentralsekretariaten ein, meist persönlich am Schalter, weil man vorher ja gar nicht wissen konnte, was dort alles vorhanden war. Viele Quellen waren deshalb eher zufällig, und sie wurden als ausdrücklicher Gnadenerweis vertraulich verabreicht. Besonders Bundesstellen, falls durch missmutige Berner besetzt, waren in den 1970er- und 1980er-Jahren oft indigniert über die Zumutung, etwas herausgeben zu müssen.

Natürlich konnte man sich auch beim Bund auf das Bundesblatt abonnieren. Dies umfasste die Sammlung der gültigen Gesetze und die laufenden Veröffentlichungen von Botschaften und Verwaltungsbeschlüssen. Die Sendungen kamen zwei Mal in der Woche per Post. Man reihte sie dann in die vielen roten kleinen Ordner ein. Doch immer bohrte ein leises Bangen, dass man auch ja keine Sendung verlegt hatte. Man konnte der papierenen Gesetzessammlung im eigenen Gestell so nicht ganz trauen.

Wie das Wissen der Welt anzapfen?