Wer erschoss Rosendo García?
Aus dem Spanischen
von Manfred Heckhorn
Originaltitel: ¿Quién mató a Rosendo?, Ediciones de la Flor, Buenos Aires 1986.
Diese Ausgabe basiert auf der 1993 erschienenen deutschen
Übersetzung mit dem Titel Wer erschoss Rosendo G.?
Ein politischer Kriminalfall aus Argentinien (Rotpunktverlag).
Für die vorliegende Ausgabe wurde der Übersetzungstext
überarbeitet und der erläuternde Anhang korrigiert und erweitert.
© 1983 Ediciones de la Flor
© 2012 Rotpunktverlag, Zürich,
Umschlagbild: Silvia Simonato, Buenos Aires
Chronologie und Erklärungen: Manfred Heckhorn und Sarah Wendle
E-Book ISBN 978-3-85869-518-5
1. Auflage 2012
In Erinnerung an
Domingo Blajaquis
und Juan Zalazar
Dieses Buch besteht aus einer Reihe von Beiträgen, die ursprünglich Mitte 1968 in der Gewerkschafts-Wochenzeitung Semanario CGT veröffentlicht worden waren. Sie spielten in der damals beginnenden Schlacht der rebellischen Fraktion der CGT gegen den Vandorismus eine gewisse Rolle, die ich nicht übertreiben möchte. Im Vordergrund steht der Tod eines sympathischen Maulhelden und Glücksritters mit dem Namen Rosendo García, das eigentliche Thema aber ist das Drama der peronistischen Gewerkschaftsbewegung seit 1955, und die natürlichen Adressaten sind die Arbeiter meines Landes.
Der rücksichtslose Karrierismus der Gewerkschaftsbosse, beispielhaft verkörpert von Augusto Timoteo Vandor, findet seinen Widerpart in dem hartnäckigen Kampf, den Hunderte von militanten Arbeitern über ein Jahrzehnt lang im Schatten geführt haben. Ihnen, ihrem Erinnerungsvermögen, ihrem Einsatz für eine bessere Zukunft verdankt dieses Buch vor allem sein Zustandekommen.
Bei dem sogenannten Schusswechsel in der Pizzeria La Real im Stadtteil Avellaneda wurden am 13. Mai 1966 neben Rosendo zwei weitere Männer hinterrücks erschossen. Der eine, der Grieche Blajaquis, war im Gegensatz zu Rosendo ein integrer, aufrichtiger Mensch, ein echter Held seiner Klasse. Der andere, Zalazar, war in seiner Einfachheit, mit seiner tief sitzenden Schwermut ein Spiegelbild der trostlosen Lage der Arbeiter schaft seines Landes. Für die Zeitungen, für die Polizei, für die Richter haben diese beiden Männer keine Geschichte, über sie gibt es nur Aktenvermerke. Sie sind weder Schriftstellern noch Poeten bekannt. Sie waren, wie so viele andere Namenlose, verfolgt, vergessen und bis zuletzt nicht unterzukriegen. Die Gerechtigkeit und die Ehrerbietung, die man ihnen schuldig wäre, lassen sich nicht in diese Zeilen pressen. Eines Tages wird die Größe ihrer Taten gerühmt werden.
Die Veröffentlichung meiner Beiträge im Semanario CGT erntete viel Kritik, insbesondere vonseiten gewisser dem Peronismus verbundener Intellektueller. Ihrer Meinung nach bestand die Gefahr, dass die Anklage gegen einen Flügel der Gewerkschaften von der Propaganda des Regimes gegen die gesamte Arbeiterbewegung instrumentalisiert werden würde. Es wurden Beispiele zitiert: Fünf Tage nach dem Vorfall in Avellaneda hatte La Prensa einen Leitartikel mit dem Titel »Sie unter sich« gebracht, welcher von jenem gewohnheitsmäßigen, geradezu lächerlichen Hass gegen die Arbeiterklasse als solche zeugte. Eine ganze Serie von späteren Leitartikeln jedoch, zum Beispiel die vom 17. Mai 1967 und vom 20. März 1968, bezeugten nichts weiter als die Ungeduld dieser Zeitung angesichts der Stagnation des Gerichtsverfahrens und ihr zu Recht geäußertes Begehren, man möge die Wahrheit herausfinden und die Schuldigen bestrafen. Ich war also in Gefahr, mit La Prensa einer Meinung zu sein. Eine schlimme Sache.
Der Verlauf der Ereignisse hat solche Befürchtungen dann rasch zerstreut. Denn kaum hatte die vorliegende Recherche den Fall gründlich aufgeklärt, verflüchtigte sich bei La Prensa schon das Verlangen nach Gerechtigkeit und ihre Leitartikel widmeten sich fortan dem Kampf gegen die Zecken und Wanzen oder tiefschürfenden Reflexionen über den Schlendrian der »zwölf Männer, die versuchen, eine Lampe zu montieren« – wo doch dreihundert Deppen ausreichen, eine Zeitung zu machen.
Das Schweigen, das meine Artikelserie hervorrief (mit Ausnahme eines Beitrages in Primera Plana), beweist, dass das tatsächliche Interesse dieser Art von Journalismus darin bestand, jenes Mysterium aufrechtzuerhalten, das die Differenzen, die »sie unter sich« womöglich haben könnten, verwischte. Als sich herausstellte, dass »sie unter sich« eben nicht nur ein paar »der vormaligen Tyrannei ergebene Gewerkschaftsführer« waren, sondern die Polizei, die Richter, das ganze Regime, da wanderte die unangenehme Geschichte ins Archiv.
Es gab immer noch einen kleinen Einwand. Dieser war so formuliert: Vandor war, mit all seinen Irrtümern und Fehlern, dennoch ein Arbeiterführer, die Schießerei im La Real war eine unglückselige Episode.
Wenn jemand dieses Buch als einen simplen Kriminalroman lesen will, dann ist das seine Sache. Ich glaube nicht, dass ein so komplexer Vorfall wie das Massaker in Avellaneda sich zufällig ereignet hat. War es geplant? Als es sich ereignete, spielten jedenfalls alle oder fast alle Faktoren, die für den Vandorismus charakteristisch sind, mit: eine gangsterhafte Organisation, McCarthyismus (»Das sind Trotzkisten!«), ein Opportunismus, welcher es erlaubte, den aufsteigenden Führer in den eigenen Reihen kaltzumachen. Auf jeder Ebene des Herrschaftsapparates wird Straffreiheit ausgehandelt, die Beteiligten halten zusammen, ihr Schweigen bricht erst bei Interessengegensätzen, der Vorfall wird dazu ausgenützt, um den gegnerischen Gewerkschaftsflügel platt zu drücken. Vor allem aber spricht die Zusammensetzung der angegriffenen Gruppe, zu der ausschließlich Männer der militanten Basis gehörten, für sich.
Die Ermordung von Blajaquis und Zalazar stand damals in einem ganz eindeutigen Zusammenhang mit den zwischen der Metallarbeitergewerkschaft Unión Obrera Metalúrgica und den Unternehmerverbänden abgestimmten Entlassungen von Aktivisten aus den Fabriken, mit dem organisierten illegalen Lotteriespiel in den Betrieben, mit dem lukrativen Schrotthandel, den die Fabrikanten gefügigen Gewerkschaftsbossen ermöglichten, mit Firmenschließungen, die mittels Bestechung von Betriebsräten abgewickelt, und mit Betriebsratswahlen, die in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsministerium je nachdem gefälscht oder annulliert wurden. Der Vandorismus erscheint so in seinem wahren Licht: als ein Instrument der Oligarchie innerhalb der Arbeiterklasse, welche er lediglich in den Augen der Einfältigen oder Böswilligen in irgendeiner Form repräsentierte.
Es blieb noch ein letztes Argument: Vandor war damals politisch so gut wie am Ende, er konnte in keiner Fabrik mehr eine Wahl gewinnen, sich mit ihm zu beschäftigen hieße, ihn größer zu machen, als er war. Dieser naive Einwand unterschlug einen wesentlichen Punkt, nämlich den, dass Vandors Macht zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr von seiner Verankerung in der Arbeiterschaft abhing, sondern von der Unterstützung durch die Regierung und von den wechselnden Taktiken Peróns. Ohne sein Gremium zu mobilisieren, ohne einen realen Akt der Opposition hatte Vandor Ende 1968 bereits seinen ganzen Einfluss wiedergewonnen, zog über vierzig Gewerkschaften in eine Kampagne der »Einheit« hinein und war schon 1969 wiederum das Haupthindernis für eine unabhängige und kämpferische Gewerkschaftspolitik.
Bei der Rekonstruktion der Ereignisse, die ich in diesem Buch erzähle, halfen mir die Überlebenden Francisco Alonso, Francisco Granato, Raimundo und Rolando Villaflor sowie deren Strafverteidiger, Norberto Liffschitz. Die Recherche an sich war kurz und fand im Zuge der Veröffentlichung der Beiträge statt. Als am 16. Mai 1968 der erste erschien, kannten wir die Namen der acht Beteiligten noch nicht, die sich »in Luft aufgelöst« hatten und die die Polizei im Verlaufe von zwei Jahren nicht hatte identifizieren können (inzwischen sind schon drei Jahre vergangen). Neun Tage später hatte ich eine Unterredung mit Norberto Imbelloni, einem Mitglied der vandoristischen Gruppe, die ich auf Tonband aufnahm. In den folgenden Nummern von CGT forderte ich Woche für Woche die andern Angehörigen dieser Gruppe auf, sich zu melden und die Wahrheit zu sagen. Ich benannte sie mit ihren Initialen. Es war nicht mein Anliegen, sie einer Justiz auszuliefern, von der ich nicht viel halte, sondern ich wollte ihnen, da sie sich selbst als Gewerkschafter bezeichneten, die Gelegenheit geben, ihre Rechtfertigung in der Zeitung der Arbeiter vorzubringen. Keiner von ihnen nahm dieses Angebot wahr. Sollte ich mich bei irgendeinem geirrt haben – was ich nicht glaube –, dann war das nicht meine Schuld. Es gibt nicht einen Satz in meinem ganzen Bericht, der sich nicht auf Augenzeugenberichte stützte oder auf Auszüge aus den Gerichtsakten.
Andererseits wollte ich mir die Mühe sparen, dem Richter, Dr. Llobet Fortuny, das Tonband und die Tatortskizze mit den handschriftlichen Eintragungen von Imbelloni zu übergeben, zwei eindeutige Beweisstücke. Zum einen deshalb, weil das nicht meine Aufgabe war. Zum andern war ich im Besitz einer fotokopierten Akte des Falles. Diese ist auf jeder einzelnen ihrer fünfhundert Seiten nichts anderes als ein niederschmetternder Beweis für die Komplizenschaft des ganzen Systems mit den Mördern im La Real von Avellaneda.
Dem Bericht über die Ereignisse, wie er im Semanario CGT erschienen ist, habe ich ein Kapitel hinzugefügt, das die vorhandene Beweislage zusammenfasst. Darüber hinaus noch ein weiteres über die Gewerkschaftsbewegung und den Vandorismus, als notwendigen, wenn auch immer noch unvollständigen Rahmen.
So hat sich die Sache zugetragen.
Siehe Anhang, Seite 178.
Diese Packmaschine musste repariert werden, damit die Firma Conen weiterhin ihre Seife verpacken, die Drogerien sie verkaufen, die Tornquist-Gruppe die Dividende einstreichen und Raimundo Villaflor seinen puchero essen konnte, so wie er es an diesem Mittag des 13. Mai 1966 tat.
Er kannte diesen ehernen Kreislauf, denn schließlich hatte er sich dafür entschieden. Vielleicht hatte aber auch sein Vater, Aníbal Clemente Villaflor, der am 17. Oktober 1945 mit daran beteiligt war, auf der Plaza de Mayo die mächtigsten Gewerkschaften von Avellaneda zu versammeln, und der zwei Jahre später Bürgermeister geworden war, für ihn entschieden.
Wahrscheinlich hatte Raimundo Villaflor zum ersten Mal auf der Industrieschule die Wahl gehabt. Er war im fünften Jahr abgegangen, als noch zwei Jahre bis zum Abschluss als Techniker fehlten. Womöglich wollte er gar nicht Techniker werden, so wie sein Vater seinerzeit nicht Bürgermeister hatte werden wollen. Aber nein, erklärt er, es war purer Schlendrian. Damals haben wir alles gratis gehabt: Bücher, Schuluniform, Bus und Straßenbahn.
Mit vierzehn hatte er als Lehrling bei Corrado begonnen, mit sechzehn war er zur Baseler Limitada gewechselt. Dort wurden Eisenbahnwaggons und Laufkräne hergestellt. Er war Monteursgeselle, als Perón gestürzt wurde und die Militärkommissare die Betriebsräte von Amts wegen nominierten. Bei der Baseler wurde als Betriebsratsvorsitzender Raimundo Villaflor eingesetzt. Er war gerade zweiundzwanzig Jahre alt.
Weil ich noch ein so junger Bursche, aber trotzdem schon lange im Betrieb war, dachten sie wohl, ich würde mich in nichts einmischen. Gut, ich habe die Fabrik dann für sie »organisiert« und ihnen einen Streik gemacht.
In seinem Haus in der Calle Pasteur 600 war Raimundo Villaflor an diesem Freitag, dem Dreizehnten, mit dem Essen fertig. Er war inzwischen elf Jahre älter, seine Frau Alicia spülte das Geschirr, seine Tochter Chela war in der Schule.
Er überflog die Zeitung. Es stand auch damals nicht viel anderes darin als heute: 300 Luftangriffe auf Vietnam, Erhöhung der Telefontarife, Streiks in Tucumán, der Bau des Chocón-Staudammes. Der Präsident (Illia) reist nach Chubut, der zukünftige Präsident (Onganía) geht nach Entre Ríos auf die Jagd. Der Dollar steigt auf über 190 Pesos, das Thermometer nur auf 15 Grad.
»Wissen Sie, wie viele Generäle es in der argentinischen Armee gibt?«, fragt in Washington Senator Fulbright, Vorsitzender der Kommission für Auslandangelegenheiten des Senats.
»Nein, mein Herr«, antwortet Verteidigungsminister Robert McNamara.
»Ich habe gehört, dass es in der argentinischen Armee mehr Generäle geben soll als in der nordamerikanischen. Kann das sein?«
»Schon möglich. Doch bleiben Sie beim Thema, Herr Vorsitzender.«
Obwohl es so viele Generäle gab, kannte Raimundo Villaflor nicht einen. Einmal jedoch telefonierte der Sekretär des Generals Gallo mit ihm. Er sagte, ich solle den Streik abbrechen, falls nicht, würde der ganze Betriebsrat, ich vorneweg, eingesperrt werden. Ich sagte ihm, wenn er den Streik beenden wolle, dann solle er doch vorbeikommen. Er antwortete, wir sollten sofort ins Gewerkschaftshaus kommen. Da ist dann die Unternehmerkommission hingefahren, und wir sind auch hingefahren, aber nicht zusammen, wir wollten nicht mit denen in einem Bus fahren. Dort stellte man uns vor, und sofort wollten sie uns kleinkriegen.
Ein Hauptmann brüllte sie an, wollte sie zusammenstauchen. Villaflor wurde kühn und schrie lauter als er: Vielleicht sei er es gewohnt, in den Kasernen Befehle zu erteilen, uns könne er aber noch lange nichts befehlen. Uns könne kein General, kein Oberst und kein was auch immer herumkommandieren, denn wir seien Arbeiter, und er solle uns gefälligst anständig behandeln. Wenn die Unternehmer wollten, dass der Streik aufhöre, dann sollten sie bitteschön die überfälligen Wochenlöhne bezahlen, denn das sei der Grund für den Streik. Und außerdem brülle er wohl herum und leiste es sich, unverschämtes Zeug daherzureden, weil er vermutlich keine Ahnung habe, was arbeiten sei. Ihm blieb die Spucke weg, und wir haben damals gewonnen. Wirklich, gewonnen haben wir.
Doch dann kam 56 der große Metallerstreik: Die Leute waren sauer, sie wollten kämpfen. Die Vertrauensleutegremien traten zusammen, und alle Vertrauensleute beschlossen zu streiken. Doch dann, auf den Kongressen, da gab es Delegierte aus den Großbetrieben, die wollten nicht recht. Einer dieser Delegierten aus den Großbetrieben beim Kongress der Metallarbeiterunion, Region Avellaneda, war ein versierter Redner, der eine laue, zurückhaltende Position vertrat. Er verdiente sich seine ersten gewerkschaftlichen Sporen, vertrat die Siam Automotores und hieß Rosendo García. Villaflor kann sich nur noch vage an ihn erinnern.
Mitten in den Kongress hinein platzten zwei Mannschaftswagen der Polizei und der Armee, angeführt von einem Offizier, der uns zur Schnecke machen wollte. Also, wie üblich glaubte der Kerl, er sei in einer Kaserne, und drohte uns, er werde uns mit Schüssen auseinanderjagen, uns einbuchten und uns das Fell über die Ohren ziehen. So lange bis ihm dann doch einer antwortete: Warum verduften Sie nicht zu der Hure, die Sie geboren hat? Und da waren dann alle mit dabei: Hau ab, du Schlächter, du Sohn einer wer weiß was, und er musste abziehen. Er musste abziehen oder uns alle erschießen. Doch auf einige hatte es doch Eindruck gemacht, und sie vertraten dann Positionen, die nicht die waren, die in den Betriebsversammlungen festgelegt worden waren, oder sie brachten Vorwände ein, von wegen Sitzstreik, es gäbe Gesetze, die uns schützten und Pipapo. Sie hatten die Hosen voll. Da sind dann viele von uns aus den kleinen Werkstätten aufgesprungen und haben denen gesagt, dass es hier nicht darum gehe zu zeigen, wie viel Schiss man habe, sondern darum, was in den Betrieben beschlossen worden sei. Es wurde für den Generalstreik gestimmt. Und wir haben uns gut geschlagen und haben fünfundvierzig Tage ausgehalten. Ja, es heißt, das war Vandor. Aber hier in Avellaneda war Vandor ein Unbekannter. Selbst Rosendo kannte fast niemand. Der Generalstreik hier, der war die Sache von Curra, von Bellón, von Álvarez, vom verstorbenen Fernández, von Rincón, von Isotti. Fast alle diese Leute sind verschwunden.
Als das dreißigköpfige Streikkomitee gebildet wurde, war Raimundo das jüngste Mitglied. Er sollte die Verbindung zur schwierigsten Fabrik halten, der Ferrum, direkt neben der Gendarmerie gelegen. Außerdem war er zuständig für Tamet, für Sánchez y Gurmendi und für Gálvez. Die Polizei suchte ihn, doch niemand verdächtigte diesen Jungen, der, die Jacke über dem Arm, herumschlenderte und einen Apfel aß. Kommissar Plomer, vom Zweiten Polizeirevier in Lanús, kam ihm schließlich auf die Spur. Man durchsuchte seine Wohnung, aber da war er schon am Dock Sur. Als man ihn am Dock Sur suchte, war er schon in Berazategui. Am Ende wurden alle außer ihm verhaftet.
Ich erinnere mich, es war in der Calle Catamarca, in Ost-Lanús. Wir waren neunundzwanzig und hatten gerade Plenum, als die Polente kam, mit Lastwagen, eine ganze Brigade. Ein paar von uns sprangen über eine Mauer, aber sie landeten in einem Hühnerstall. Und einer brach sich ein Bein. Wer glatt landete, das war ich. Dann haben sie angefangen zu schießen, sogar mit Karabinern. Ich sprang über drei Zäune, bevor ich die Straße erreichte. Mit mir türmte ein Genosse, der stark rauchte, und er rannte schon nicht mehr, trottete nur noch, und als ich gerade über den letzten Zaun setzen wollte, da sausten zwei Kugeln in eine Wand neben uns, und der Kollege blieb stehen. Doch ich sprang rüber, raste hinter einer Straßenbahn her und erwischte sie, obwohl ich völlig am Ende war. Später habe ich dann meine Jacke ausgezogen und bin zurückgegangen. Sie mussten alle auf den Polizeilastwagen steigen. Es gab einen Auflauf, und die Polizei erzählte den Leuten, sie wären Diebe. Ganz schön riesig: eine Bande von neunundzwanzig Dieben. Sie riefen: »Wir sind keine Diebe, wir sind Arbeiter!« Aber sie wurden abtransportiert.
Das Streikkomitee in Avellaneda bestand auf einmal nur noch aus diesem dunkeläugigen Jungen von mittelgroßer Statur. Ihm an die Fersen heftete sich in jenen Tagen fast immer ein aufgeweckter, stets gut gelaunter Junge: sein Bruder Rolando, drei Jahre jünger, der sich später voller Nostalgie und Bewunderung an jene Zeit erinnern sollte:
»Was wir durchgemacht haben, mein lieber Gott. Wir haben in den Bächen Frösche gefangen und tagein, tagaus Lauch gegessen, erinnerst du dich noch daran, Pelusa?«
Raimundo erinnert sich wohl. In Quilmes war die Polizei hinter ihm her, er musste aus einem fahrenden Zug springen. Er musste umziehen und agitierte weiter. Als das landesweite Plenum den Streik abbrach, kehrte er zu seiner Fabrik zurück und setzte sich zu den Streikposten auf den Bürgersteig. Die Belegschaft umringte ihn, bevor sie die Arbeit wieder aufnahm. Er erklärte seinen Kollegen, dass es jetzt darum ginge, sich für die Verhafteten einzusetzen.
Trotz so vieler Streiktage waren die Leute nicht gebrochen. Es gab Not, das ja, aber die Leute waren nicht gebrochen. In der Fabrik drin aber wartete schon der Kommissar Plomer auf mich. Die ganze Nacht hatte er auf mich gewartet, er war wie mein schwarzer Schatten, genau wie dieser Polizist, der Jean Valjean in Die Elenden verfolgt, wie hieß der nochmal? Mit einem Auto kamen noch zwei, die hatten Maschinengewehre dabei, und da war ich auch schon gefangen. Vierzehn Tage in völliger Isolation in Lanús, das waren damals diese heißen Tage mit vierzig Grad Celsius, ich hab in diesem Loch sieben Kilo abgenommen. Danach zehn Tage in Olmos. Als mich dann ein Beamter freiließ, sagte er zu mir: »Ich hoffe, Sie hier nie wieder zu sehen.« Ich hab ihm geantwortet: »Bei jedem Streik, den?s gibt, werden Sie wieder mit uns zu tun haben.«
War es der Mühe wert gewesen? Raimundo Villaflor verabschiedete sich von seiner Frau und schnappte sich den Beutel mit den Sandwiches: Um zwei würde er bei Conen antreten und acht Stunden am Stück durchziehen. Er ging vor bis zur Avenida Mitre, wo er die Linie 8 – die Rote – nahm, mit der er bis nach Piñeyro fahren und gegenüber der Wollfabrik aussteigen würde. Als Angestellter der Abteilung Wartung und Reparatur bei Conen, die schon 1883 eine Kerzenfabrik gewesen war und heute 500 Arbeiter in drei Schichten beschäftigte, mit drei Mechanikern pro Schicht, reparierte Raimundo an der Packmaschine herum, bis diese endlich aufhörte, den Karton zu knautschen. Danach machte er sich an die Seifenpressen, an die Mahlwerke, an irgendein Einzelstück. Es war seine erste feste Arbeit seit zehn Jahren, seit jenem Streik.
Als er aus Olmos entlassen wurde, war er arbeitslos und auf einer schwarzen Liste registriert. Seitdem hatte er unzählige Werkstätten durchlaufen. Stets war nach zwei Tagen alles vorbei: So lange dauerte es, bis die Informationen vom Unternehmerverband und der Polizei eintrafen.
Jahre habe ich auf der Walz zugebracht, als Gelegenheitsarbeiter. Für einen Facharbeiter ist das schlimm. Ich kannte mich an allen möglichen Maschinen aus, an der Drehbank, an der Schleifmaschine, an der Hobelmaschine, an der Fräse. Als wir damals den Streik verloren haben, da haben die Chefs einen Haufen Leute rausgeworfen. Sie konnten es sich leisten, wählerisch zu sein, sie verlangten den Gesellenbrief. Ich war neu damals, ich kannte mich mit den gefälschten Briefen und so weiter noch nicht so aus. Es war eine ewige Wanderschaft, eine Riesenmenge von Leuten war da auf Achse. Man gab uns keine Arbeit, man verfolgte uns, nie bekamen wir einen Fuß auf den Boden. Und so mancher von uns setzte sich gleich in Szene als Aktivist, kaum dass er wo eingestellt war. Das war eben diese Sturheit, diese Unerfahrenheit von uns Kerlen. Wir waren in Rage, und wir blieben in Rage, nie kühlte sich die Sache ab.
Mit der Zeit hielt jeder Job zwei oder drei Monate. Die Informationen sickerten allmählich langsamer durch. Wo er jedoch nie wieder hingehen konnte, das war in die Gewerkschaft.
Es ist nicht zu fassen, aber dort wurden wir noch mehr verfolgt als bei den Chefs. Keiner von uns, die wir den Streik in Avellaneda angeführt hatten, konnte je wieder in die Gewerkschaft zurück. Die war zu einer richtigen Mafia verkommen. Sogar die unabhängigen Lotteriebuden verschwanden, man musste dafür Provision abdrücken. Die Gewerkschaftsbosse trieben Schrotthandel mit den Unternehmern, unter dem Vorwand des Kommunismus warfen sie kämpferische Arbeiter aus der Gewerkschaft und aus den Betrieben, bereicherten sich und scharten bezahlte Killer um sich. Von da an habe ich dann schon von Vandor reden hören.
Der gewerkschaftliche Weg war verbaut, also organisierte sich Raimundo politisch. 1958 lernte er einen dicken, freundlichen, kurzsichtigen Mann kennen, der stets einen riesigen Hut trug. Dieser Mann – er wurde sehr bewundert und verehrt – hatte viele Namen: »der Alte«, »Mingo«, »der Grieche«, »der Chemiker«. Sein wahrer Name war Domingo Blajaquis, einer der vergessenen Toten des 13. Mai 1966. Der Einfluss, den er auf Raimundo und seine Freunde gehabt hatte, war enorm.
Er kurierte uns von all den Flausen, die wir im Kopf hatten. Zum Beispiel, dass wir allein deshalb schon Peronisten wären, einfach weil wir bei den Peronisten eingeschrieben seien, statt zu begreifen, dass der Peronismus eine Bewegung sei, ähnlich den Bewegungen anderer Völker, die für ihre Befreiung kämpften. Er war da ganz klar, er war schon immer ein Revolutionär gewesen, er hatte schon immer ein klares Konzept von der Aufgabe der Arbeiterklasse gehabt. Und er erklärte uns die Gründe, warum wir verloren hatten, die Rolle des Imperialismus, die Rolle der Oligarchie und die Rolle der Bürokratie innerhalb des Peronismus, denen ihre Sonntagsredenschwingerei. Wir lernten die Bedeutung der Befreiungsbewegungen in der ganzen Welt kennen, lernten, warum auch wir zu einer Befreiungsbewegung werden mussten. Wenn man einmal die Idee der Revolution in sich aufgesogen hat, lässt man sie nie wieder los.
Sie erlebten die ganze Entwicklung der peronistischen Gewerkschaftsbewegung mit, und das war hart für sie: die Pakte, die Wahlen, die Krisen, die unverzeihbaren Verrätereien.
Doppelter Verrat, denn wir konnten einfach nicht verstehen, wie Leute, die als Kämpfer mit politischen Positionen in Führungsstellungen gekommen waren, wie Vandor zum Beispiel, wie die dann zu Bürokraten werden konnten und diese Positionen aufgaben, es sich bequem einrichteten, Gewerkschaftsbosse wurden. So begann der Kniefall der Bewegung, der offen propagierte Verrat, der Moder der Bürokratie, der totale Niedergang der Solidarität. In Misiones zum Beispiel wurde das Zuckerrohr nicht mehr geschnitten, in Tucumán litt man Hunger, Volksküchen wurden eingeführt, und diese Kerle zeigten nicht das geringste Zeichen von Mitgefühl. Im Gegenteil, als die Tucumaner dann radikalere Kampfmethoden anwandten, sagten die doch, das wären Extremisten, das wären Kommunisten. Plötzlich waren die ganz Mahatma Gandhi. Befreiungsbewegung? Undenkbar! Es wurde alles ignoriert und ein widerlicher Chauvinismus praktiziert. Diejenigen, die darauf hinwiesen, dass der Peronismus Teil der Befreiungsbewegungen sei, dass er keine isolierte Bewegung sei, dass er im Bunde mit allen Befreiungsbewegungen der Welt stünde, die kamen auf eine schwarze Liste.
Bei den 62 Organisationen waren wir in vorderster Linie mit dabei, und wir wussten, dass manche andere auch ganz vorn mit dabei waren, weil sie nämlich von hinten mit Spießen getrieben wurden. Für uns ging es nicht darum, Leute auszutauschen, sondern Haltungen, es ging darum, einen echten Klassenstandpunkt einzunehmen.
Das waren die Ideen, die Raimundo und seine Freunde im Mai 1966 vertraten. Es sind die Ideen, die sie auch heute vertreten. Doch in jenen Tagen wurde das Land von heftigen politischen Auseinandersetzungen erschüttert. Die Regierung Illia lag in ihren letzten Zügen. Einer der Tiefschläge vor dem sich abzeichnenden K.o. war die Reaktion auf den Gesetzesentwurf zur Reform des Kündigungsgesetzes, den das Parlament verabschiedet hatte und den die Arbeiter massenhaft unterstützten. Die Schlagzeilen der Zeitungen bliesen zum Angriff auf diesen ersten Teilerfolg gegen das nach 1955 geschaffene restriktive Arbeitsrecht. Im Namen der Industrie-Union brandmarkte ein Dr. Oneto Gaona den Gesetzesentwurf als »den rückschrittlichsten, den es im Lande je gab«. Die Assoziation Christlicher Unternehmer führte in ihren Taten vor, dass die Unternehmer, ob christlich oder nicht christlich, stets zur reaktionärsten Lösung jeglichen Streites neigen. Die Frente Anticomunista Latinoamericano verlangte nach dem Veto des Präsidenten »zum Schutz der Freiheit und der nationalen Sicherheit, die von den Imperialisten in Moskau und Peking bedroht werden«. Die CGE, die einst aus den Reihen des Peronismus hervorgegangene Unternehmerorganisation, stimmte mit dem Partido de la Revolución Libertadora, mit der Sociedad Rural, mit der Börse, mit der Handelskammer, den Unternehmervereinigungen, -bünden und -verbänden darin überein, dass es legitim sei, die Leute weiterhin nach altem Brauch zu entlassen, auf die Art, wie Raimundo, seine Freunde und Zehntausende von Arbeitern seit 1955 entlassen worden waren.
Abends um zehn wusch Raimundo Villaflor seine ölverschmierten Hände, zog seinen blauen Überzieher aus, einen gestreiften Anzug an und machte sich auf den Weg, um sich mit Rolando, mit Blajaquis und vier weiteren Mitgliedern seiner Aktivistengruppe zu treffen. Sie wollten eine Solidaritätsveranstaltung zur Unterstützung der tucumanischen Zuckerrohrschneider und der Reform des Gesetzes Nummer 17 229 organisieren.
Er traf sie an der Ecke des Automobilclubs. Sie gingen die Avenida Mitre hinauf, die zwei Stunden später im Polizeibericht folgendermaßen beschrieben wurde: »Sie ist eine Hauptverkehrsader und bedeutende Einkaufsstraße mitten im Zentrum des Ortes, die von mehreren Buslinien, die diesen Vorort mit dem Zentrum der Hauptstadt und den umliegenden Gemeinden verbinden, in beiden Richtungen befahren wird. Zu den Bussen kommen noch die Privatautos.«
Unter Letzteren befanden sich an diesem Abend die Wagen des Gewerkschaftsfunktionärs Vandor, des Gewerkschaftsfunktionärs Izetta, des Gewerkschaftsfunktionärs Castillo, des Gewerkschaftsfunktionärs Safi und gut zwanzig weiterer motorisierter Gewerkschafter, die geschniegelt und gestriegelt im Roma Hähnchen gegessen hatten und sich dann ins La Real begaben, um Cognac und Whisky zu trinken.
Nicht zu vergessen der des verblichenen Rosendo García.