DAS BETRIEBSSYSTEM ERNEUERN –
ALLES ÜBER DIE PIRATENPARTEI
ALLES ÜBER DIE PIRATENPARTEI
IMPRESSUM
Appelius, Stefan/Fuhrer, Armin:
Das Betriebssystem erneuern – Alles über die Piratenpartei
1. Auflage — Berlin: Berlin Story Verlag 2012
ISBN 978-3-86368-709-0
Redaktionsschluss: 17. Mai 2012
(Rücktritt Semken, Altmaier Umweltminister)
Alle Rechte vorbehalten.
© Berlin Story Verlag
Alles über Berlin GmbH
Unter den Linden 40, 10117 Berlin
Tel.: (030) 51 73 63 08
Fax: (030) 51 73 63 06
, E-Mail:
Lektorat: Gabriele Dietz
Gestaltungsentwurf: Till Kaposty-Bliss
Umschlag und Satz: Norman Bösch
Die Jubelszenen, die seit der Berlin-Wahl am 18. September 2011 bei jedem Urnengang in einem Bundesland über die Bildschirme flackern, entwickeln sich allmählich zur Normalität. Erst nahmen sie die Hauptstadt, dann das Saarland und Schleswig-Holstein und schließlich Nordrhein-Westfalen. Nachdem die Piratenpartei fünf Jahre lang eher unbeachtet blieb, schaffte sie binnen sieben Monaten den Sprung in vier Landtage, darunter den wichtigsten in Düsseldorf. Wer an Rhein und Ruhr souverän die Fünfprozenthürde überspringt, hat gute Chancen, bei den Bundestagtagswahl im September 2013 in den Bundestag einzuziehen. Das rasante Auftauchen der Piratenpartei ist die politische Sensation der vergangenen Jahre. Erstmals seit Beginn der Achtziger, als die Grünen die politische Bühne erklommen, scheint sich mit den Piraten eine völlig neue politische Kraft zu etablieren. Aber sind die Piraten wirklich gekommen, um zu bleiben? Oder sind sie doch nur eine politische Eintagsfliege wie verschiedene andere Parteien zuvor?
Dieses Buch versucht, das Phänomen Piratenpartei zu ergründen. Was bedeutet es, wenn immer wieder behauptet wird, dass die »Internetpartei« aus »den Tiefen des Netzes« kommt? Was meinen Piraten, wenn sie sagen, sie machten »Politik aus Notwehr«? Warum fühlen sie sich in der Lebenswelt Internet von der »analogen Welt« angegriffen? Ist die Partei tatsächlich eine Art politischer Arm der digitalen Revolution, die unser aller Leben rapide verändert, deren Rückwirkungen auf die Gesellschaft aber von der etablierten Politik jahrelang sträflich vernachlässigt wurde? Wer waren die jungen Leute, die 2006 diese neue Partei gründeten? Was wollten sie damals, was wollen sie heute?
Spannende Fragen, zweifellos. Aber für die Zukunft wichtiger ist es, Antworten darauf zu finden, wohin die Reise der Piraten gehen wird. In welche Richtung entwickelt sich die Partei? Wie positioniert sie sich im Parteienspektrum? Ist sie eher links, liberal oder doch libertinär? Oder passen diese Kategorien des althergebrachten Parteiensystems auf die Piraten, die eine Partei neuen Typs sein möchten, gar nicht mehr? Und überhaupt: Ist sie nicht ohnehin nur eine Einthemenpartei, die ihre Forderungen wie eine drastische Reform des Urheberrechts und ein legales kostenloses Herunterladen von Musik und Filmen aus dem Internet propagiert und sich um die wirklich wichtigen Fragen, vor denen die Gesellschaft steht, nicht kümmert? Wieso gibt es einen so erbärmlich niedrigen Frauenanteil auf dem Piratenschiff? Und schließlich: Was bedeuten diese merkwürdigen Begriffe wie Liquid Democracy und LiquidFeedback eigentlich?
All diesen Fragen versucht dieses Buch nachzugehen. Eine endgültige Antwort ist in vielen Fällen zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, denn die Piraten befinden sich in einem stürmischen Prozess der Selbstfindung – mit offenem Ausgang. Der Druck von außen, vor allem von den Medien, ist immens, und er wächst immer weiter. Doch waren sich die Mitglieder der ersten Stunde noch nicht darüber im Klaren, wohin sie wollten, weil sie wichtige Themen wie das der Wirtschafts- und Sozialpolitik, an dem sich Schicksale von Parteien entscheiden, gar nicht erst anpackten, so ist der Prozess der Entscheidungsfindung seit dem ersten großen Wahlerfolg bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September 2011 nur noch schwieriger geworden. Seitdem strömen der Partei in Scharen neue Mitglieder zu, über deren politische Haltung praktisch nichts bekannt ist. Es gibt keinerlei Kenntnisse des Sozialprofils der Mitglieder, weil die Piraten solche Daten nicht erheben. So werden erst die nächsten Jahre zeigen, welches Profil sich die Piraten geben werden und wie die Partei sich ins politische Spektrum einordnen lässt. Eine wichtige Wegmarke wird zweifellos die für Herbst 2013 geplante Bundestagswahl sein, denn ohne ein umfassendes Wahlprogramm werden die Piraten wohl kaum Chancen haben, in den Bundestag einzuziehen. Dann wird es nicht mehr ausreichen, einfach neu und spannend zu sein, dann wollen die Menschen wissen, für welche Inhalte die Piraten stehen. Bei allen Widersprüchen innerhalb der Partei: Wenigstens in diesem Punkt dürfte inzwischen weitgehende Einigkeit herrschen.
Die Autoren dieses Buches sind ihren Fragen dort nachgegangen, wo man am ehesten auf Antworten hoffen kann: direkt in der Partei. Sie waren auf Parteitagen und bei Stammtischen (den regelmäßigen Treffen von Piraten in der analogen Welt); sie verfolgten Diskussionen auf den Foren der Piraten im Internet, sie tummelten sich mit ihnen bei Twitter, sie beschäftigten sich mit Programmen und Konzepten. Aber vor allem führten sie zahlreiche Gespräche mit Parteimitgliedern – mit Funktionären, Mandatsträgern, Mitgliedern an der Basis, Wahlkämpfern. So versuchten sie, die Seele der Piratenpartei auszuleuchten, zumindest so weit, wie das angesichts des Zustands der Partei zwischen Herbst 2011 und Frühjahr 2012 möglich war. Aber gerade das macht ja die Piraten aus: das Unfertige, das manchmal naiv erscheinende Auftreten, die grundsätzlichen Diskussionen, die Versuche, eine Partei neuen Typs und nicht weniger als eine neue Form der Demokratie zu schaffen. Also die Tatsache, dass die Piraten nicht eingefahrene Wege einschlagen wie die etablierten Parteien, dass sie die Chance haben, etwas Neues zu schaffen, das vielleicht nicht völlig anders, aber doch besser ist als das Hergebrachte. Oder am Ende auch ganz einfach an den selbst gesteckten Zielen, am hohen eigenen Anspruch und am Wähler scheitern. Ziel dieses Buches ist, diesen Ist-Zustand darzustellen. Es könnte für alle, die mit den Piraten in Berührung kommen, interessant sein: für Wähler, Journalisten, Politiker anderer Parteien und nicht zu vergessen eine ständig wachsende Gruppe: die Piraten selbst.
Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt ihr keine Macht mehr.« Was an eine Sequenz aus Star Wars erinnert, nennt sich Unabhängigkeitserklärung des Internets. Verfasst von dem Internetpionier John Perry Barlow und veröffentlicht am 8. Februar 1996, gab diese Erklärung wohl tatsächlich die Meinung und die Besorgnis der zu diesem Zeitpunkt noch überschaubaren, aber zugleich schon weltweit vernetzten Internetgemeinde wieder. Konkret richtete sie sich gegen Versuche der Administration von US-Präsident Bill Clinton, die Zensur im Netz auszubauen, doch der Text hatte eine allgemeine Bedeutung und griff beispielsweise auch die Regierungen Chinas und Deutschlands an. Niemand hatte Berry ermächtigt, für die internationale Netzgemeinde zu sprechen, wie er selbst wortreich eingestand. Gleichwohl ist dieser Text heute durchaus als eine Erklärung von allgemeiner Gültigkeit anerkannt.
Der Vorgang zeigt: Es gibt keine Autorität im Internet, keine Regierung der digitalen Welt. Die internationale Netzgemeinde erscheint wie ein Schwarm von Fischen, die sich, ohne auf irgendein erkennbares Zeichen zu reagieren, plötzlich in eine Richtung bewegen. Die Piratenpartei versucht, wie solch ein Schwarm zu funktionieren, mit einer starken Basis und unter Verzicht auf Hierarchien. Sie spricht daher auch von Schwarmintelligenz, die besser zur Lösung von Problemen geeignet sei als die Entscheidungsfindung mit Delegierten und gewählten Führungen mit echter Leitungsfunktion. Barlows Erklärung zeigt zudem noch etwas anderes. Schon in der Frühzeit des Internets fühlte sich die im Entstehen befindliche globale Netzgemeinde durch die analoge Welt bedroht. Sie fürchtete, dass deren Regeln und Gesetze in ihre Welt übertragen werden könnten. Sie aber wollte nach ihren eigenen Regeln leben, und das bedeutete vor allem: in möglichst größter Freiheit.
Daran hat sich bis heute nichts geändert, und das Auftauchen der Piratenpartei ist der beste Ausdruck dafür. Die Piratenpartei ist die Politiksensation des Jahres seit sie in mehrere Landtage eingezogen ist, hat sie gute Chancen, sich als neue Kraft zu etablieren. Sie ist Ausdruck und Folge neuer, umfassender Entwicklungen, die tief in das Leben der Menschen hineinwirken. So wie die SPD und ihre Abspaltungen einst die Antwort der Arbeiterschaft auf die Industrielle Revolution mit ihren dramatischen sozialen Folgen waren, und so wie die Grünen die Sorgen vieler Menschen hinsichtlich der Zerstörung der Umwelt aufnahmen und transportierten, so ist die Piratenpartei Ausdruck einer gesellschaftlichen Eruption, die umfassenden Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit hat: die digitale Revolution, das Eindringen von Computer und Internet ins Leben der Menschen.
Wir erleben heute eine globale Revolution, die nicht mehr mit Waffengewalt ausgefochten wird; es gibt keinen Revolutionsschlager wie die Marseillaise, keinen Sturm auf das Winterpalais wie während der russischen Novemberrevolution 1917 und keine Abdankung eines Kaisers wie im Deutschland des Jahres 1918. Es gibt keinen Lenin, Robespierre und keine Rosa Luxemburg; es gibt nicht einmal einen Mahatma Gandhi, der die Menschen zum friedlichen Widerstand aufruft. Es gibt nur eine anonyme, ständige wachsende Masse von Individuen, die von keinem Führer geleitet wird, sondern sich dennoch in eine Richtung bewegt: die der weltweiten Vernetzung.
Doch die digitale Revolution wird die Menschheit vielleicht stärker verändern als alle anderen Revolutionen der Weltgeschichte zuvor. Denn sie ist eine technische, eine politische, eine gesellschaftliche und eine mentale zugleich und somit weit mehr als die politischen oder technischen Revolutionen der Vergangenheit. Die einzige Revolution, die ihr in der Bedeutung gleichgestellt ist, ist die industrielle, denn auch sie veränderte Technik, Politik, Gesellschaft und Denken – allerdings nicht gleichzeitig, sondern in zeitlicher Folge. Während die Menschen damals erschöpft von einem Zwölfstundentag in der Fabrik in ihr kärgliches Zuhause zurückkehrten und schließlich als Revolutionäre die Paläste der Fürsten, Könige und Kaiser stürmten, kommt die digitale Revolution auf stillem Wege zu uns, bis vor wenigen Jahren unmerklich für diejenigen, die sich nicht in der digitalen Welt aufgehalten haben. Es ist eine Revolution, die im Büro stattfindet, zu Hause auf dem Sofa oder am Badestrand, wenn man mit seinem Smartphone im Netz surft.
Technisch, politisch, gesellschaftlich erleben wir eine Umwälzung in einem Tempo, das im wahrsten Sinne des Wortes in der Geschichte der Menschheit nur mit einem kurzen Mausklick gleichzusetzen ist. Vor allem aber stellt der Siegeszug des Internets noch auf einem anderen Gebiet eine Revolution dar: dem der Informationsverbreitung. Das Internet ermöglicht den Zugriff auf das globale Wissen der Menschheit, und das lediglich mit wenigen Klicks am heimischen Computer. Regionale Grenzen gibt es nicht mehr, nur die Sprache hindert eine uneingeschränkte Nutzung des geistigen Schatzes, den die Menschheit in Jahrtausenden angehäuft hat. Und das Internet spielt zunehmend eine Rolle in direkten politischen Auseinandersetzungen. Regierungen, beispielsweise in Diktaturen wie in China, versuchen, Oppositionsbildungen im Netz zu unterbinden, in demokratischen Rechtsstaaten findet eine Art Kulturkampf um das Urheberrecht statt.
Deutschland zählt zwar nicht zu den absoluten digitalen Spitzenreitern, aber auch hierzulande war und ist der Siegeszug des Internets nicht aufzuhalten. Laut der jährlich erhobenen ARD/ZDF-Online-Studie ist die Zahl der Internetnutzer von 1997 mit 6,5 Prozent (4,1 Millionen) über 2004 mit 55,3 Prozent (35,7 Millionen) im Jahr 2011 auf 73,3 Prozent (51,7 Millionen) gestiegen. Längst nicht alle nutzen das Internet täglich, doch die Entwicklung dahin ist nicht mehr aufzuhalten.
Die wachsende Bedeutung des Internets für das alltägliche Leben birgt ein Problem, das die Politik bislang noch nicht einmal ansatzweise erkannt hat. In Deutschland bildet sich ein digitales Prekariat heraus – Menschen, die nicht nur große Vorbehalte gegenüber dem Internet haben, sondern völlig außerhalb der digitalen Welt stehen. Zwar steigt der Anteil sogenannter kompetenter Nutzer, also solcher Menschen, die sich im Internet einigermaßen auskennen und es häufig nutzen, rasant an (alleine von 2009 zu 2010 nach einer Studie der »Initiative D 21« von 26 auf 37 Prozent); im darauffolgenden Jahr lag der Anteil der Nutzer laut dieser Studie bereits bei 74,7 Prozent. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass noch immer mehr als 15 Millionen keinen Bezug zur Netzwelt haben. Für die »Offline-Unterschicht« – unter ihnen viele ältere Menschen – bedeutet diese Entwicklung, dass sie weiter abgehängt wird. In den nachwachsenden Generationen strebt die Zahl derjenigen, die sich wie selbstverständlich im Netz tummeln, allmählich gegen 100 Prozent.
Marc Prensky, ein US-amerikanischer Ökonom und Pädagoge, hat drei Kategorien von Internetnutzern ausgemacht: die Digital Natives (die mit dem Internet aufwachsen und sich ein Leben ohne nicht vorstellen können), die Digital Immigrants (die zwar ohne Netz aufgewachsen sind, sich aber in die Online-Welt zumindest teilweise integriert haben) und die Digital Analphabets (die nichts mit dem Internet im Sinn haben und oft nicht einmal mit grundlegenden Begriffen wie Website etwas anfangen können). Oder, wie Prensky es ausdrückt: Während die einen mit der digitalen Muttersprache aufgewachsen sind, sprechen die anderen, die in die digitale Welt einwandern mussten, lebenslang einen »digitalen Akzent«. Zudem unterscheiden Natives nicht mehr zwischen on- und offline, während Immigrants aufgrund ihrer Lebenserfahrung noch eine Trennlinie zwischen beiden Welten ziehen.
Interessant für die Zukunft sind naturgemäß in erster Linie die Digital Natives, also die ab Anfang der Achtzigerjahre Geborenen. Ihre Art zu denken und zu handeln, zu diskutieren und zu entscheiden, zu kommunizieren und zu konsumieren, übt schon heute einen rasant wachsenden Einfluss auf die Wirtschaft aus. Die Tatsache, dass das Internet eine Mitmachkultur hervorbringt, hinterlässt längst Spuren auch in der realen Welt. Große und kleine Unternehmen müssen sich anpassen, sei es technisch, sei es in der Art, wie sie den Digital Natives gegenübertreten. Welches Potenzial diese neue Entwicklung birgt, zeigt der unglaubliche Aufstieg von Internet-Giganten wie Google oder Facebook. Auch die Arbeitswelt verändert sich durch die Verbreitung des Internets und das Hineinwachsen der Natives – ein Prozess, der schon mal zu Kulturschocks auf beiden Seiten führen kann.
Und die Politik? Die schläft. Oder sie tat es zumindest bis vor Kurzem. Heute ist sie dabei aufzuwachen, ein Prozess, der bekanntermaßen grausam sein kann. Doch die Politik macht auch Schritte in die virtuelle Welt. Der damalige US-Präsidentschaftskandidat Barack Obama hat im Jahr 2008 als Erster das Internet wirklich aktiv und äußerst erfolgreich zur Mobilisierung von Wählern eingesetzt. Auch in Deutschland mühen sich die Parteien, Politik und Netz zu verbinden; sie riskieren einen Blick auf die Möglichkeiten des Netzes. Und stellen fest: Es ist höchste Zeit, aufzustehen! Die Chancen jedoch, die das Internet bietet, haben im großen Ausmaß bislang nur die Piraten erkannt.
Keine Frage: Die etablierten Parteien werden nachziehen (müssen), auch sie werden Tools wie LiquidFeedback, Mailinglisten, Pads und vieles mehr nutzen (müssen), wenn sie zukünftig noch größere Massen von Wählern ansprechen wollen. Dann wird es den Piraten ergehen wie zuvor den Grünen mit der Umweltproblematik – sie werden ihr Alleinstellungsmerkmal Internet verlieren. Aber es wird einen Unterschied geben: Die aufgeschreckten Parteien werden rasch nachziehen. Die Jahre währende Phase, in der die Grünen sich als mehr oder weniger einzige Partei der Ökokämpfer etablieren konnten, wird den Piraten für ihren Parteibildungsprozess nicht zugebilligt werden. Die jungen, internetaffinen Leute, die es in allen Parteien gibt, die aber bisher ein unbeachtetes Schattendasein fristeten, werden Auftrieb bekommen. Und siehe da: Ausgerechnet die häufig als rückständig verschriene CSU forderte Anfang 2012 auf einem eigens einberufenen Internetkongress ein Internetministerium. Man erinnere sich: Auch der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bildete nach der Tschernobyl-Katastrophe erstmals in Deutschland ein Bundesumweltministerium, um den Grünen so drei Jahre nach ihrem Einzug in den Bundestag das Wasser abzugraben.
Das Internet ist eine Sphäre, der man sich fasziniert von ihren Möglichkeiten nähern sollte, ohne die Gefahren, die von ihm ausgehen, zu unterschlagen. Die Politik tut gut daran, das nicht zu vergessen. Doch während die Piratenpartei zwar auf Probleme wie den Datenschutz aufmerksam macht, ansonsten aber für ein »freies Internet« (oder das, was sie darunter versteht) kämpft, verschanzt sich die etablierte Politik häufig noch hinter einer Firewall gegen das Vordringen der digitalen Welt. Sie hat sich mühsam daran gewöhnt, mit dem Netz zu leben, aber nicht in ihm.
Das Internet führt zu einer Explosion von Wissen und Informationen jedwelcher Art. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Die digitale Revolution ist zugleich auch eine der Information. In demokratischen Rechtsstaaten wird dies als Chance, aber auch als Gefahr gesehen. Was »dürfen« Bürger wissen, um sich ein Bild staatlichen Handelns machen zu können? Wie transparent müssen sich der Staat und seine Einrichtungen machen? Diktaturen haben weitaus größere Probleme mit der freien Zugänglichkeit von Wissen, und das mit gutem Grund. Informationen verbreiten sich im Internet rasend schnell – und sie sind eine Bedrohung für Machthaber. Wissen ist Macht, heute mehr denn je.
Es ist kein Zufall, dass der Beginn der Befreiung des Menschen aus der geistigen Unmündigkeit mit der Erfindung des Buchdrucks zusammenfällt. Ruhte das Wissen zuvor in den Bibliotheken der katholischen Klöster, so verbreitete es sich von nun an stetig in die Welt. Bis 1450, als Johannes Gutenberg den Buchdruck erfand, wurden Bücher von Mönchen abgeschrieben und vervielfältigt. Das war nicht nur sehr mühselig, sondern es verhinderte auch, dass sich der Inhalt der Werke verbreiten konnte. Es war eine Kommunikation des One to One. Gutenberg ermöglichte eine Kommunikation des One to Many. Mit der Fortentwicklung der technischen Möglichkeiten und dem Entstehen massenwirksamer Zeitungen, später auch des Rundfunks und des Fernsehens, entstand die Kommunikation des One to All. Doch ein Problem blieb bestehen, bis in unsere Tage hinein: Immer war es ein Herausgeber, ein Journalist, ein Autor, der sich an die Leser wandte. Eine wirkliche gegenseitige Kommunikation entstand nicht, und schon gar nicht eine, die sogar auf ein zentrales Medium wie eine Zeitung verzichten konnte.
Das änderte sich erst mit dem Internet. Nun ist eine Kommunikation des All to All möglich. Jeder kann sich mit jedem austauschen. Das und die Möglichkeit, im Netz Informationen bisher unbekannten Ausmaßes bereitzustellen, sorgt für die weltweite Explosion des Wissenstransfers. Nicht zuletzt ermöglicht das Internet auch neue Formen von Bürgerbeteiligung in der Politik. Zugleich üben Meinungen und Stimmungen in der digitalen Welt einen immer größeren Druck auf die Meinungsbildung in der analogen Welt aus.
In Deutschland wie in allen demokratischen Staaten wird sich das Verhältnis zwischen Internet und etablierter Politik zwangsläufig verändern. Denn das Internet wird noch viel weiter in unsere Lebenswelt eindringen als heute, wahrscheinlich weiter, als wir es uns vorstellen können. Allein ein kurzer Blick in das geheime Labor X von Google macht das klar: Dort werden neben Autos, die von Robotern gelenkt werden, auch Kühlschränke entwickelt, die fehlende Lebensmittel automatisch nachbestellen. Und wie prognostizierte Eric Schmidt, der Verwaltungsratschef von Google, auf der Digital-Life-Design-Konferenz des Burda-Verlags 2011? Der Mensch werde niemals allein, niemals gelangweilt sein, und er werde alle Informationen und Kontakte mit einem Fingertipp zur Hand haben. Niemals allein, niemals gelangweilt? Das klingt wie Fluch und Segen, wie Hölle und Paradies zugleich, aber es wird Teil der Zukunft sein. Auch die Politik muss sich auf solche Entwicklungen einstellen.
Schließlich stellen sich auch Fragen wie die, welchen Einfluss auf unser Leben Konzernen wie Google oder Facebook zugebilligt werden darf und wie der Einzelne seine persönlichen Daten vor ihnen schützen kann. Sicher, Google ist ein nützliches Werkzeug, eine wichtige Waffe der digitalen Informationsrevolution; und Facebook spielt inzwischen eine Rolle, die weit über die privater Kommunikation unter verlinkten »Freunden« hinausgeht. Für Datenschützer aber ist Google ein Krake, und Facebook gilt seinen Kritikern geradezu als Quasi-Stasi – mit dem Unterschied, dass es beim Sammeln von persönlichen Informationen viel erfolgreicher ist, als es sich der Geheimdienst der untergegangenen DDR jemals erträumen konnte.
Politik muss auf diese Herausforderungen reagieren. Die Nutzung des Internets birgt zahlreiche Konflikte, aber es geht nicht mehr um die Frage, ob es sich durchsetzt, sondern um die Frage, wie Politik und Gesellschaft diese Konflikte, hinter denen unterschiedliche Interessen stehen, auszugleichen vermögen. Der Aufstieg der Piratenpartei ist Ausdruck dieser Konflikte. Dass sie selbst diesen Konflikt in ihrem Namen und ihrem eigenen Selbstverständnis trägt, ist den allermeisten Piraten vielleicht gar nicht bewusst. Sie nehmen für sich in Anspruch, »Politik aus Notwehr« zu machen, da sie sich durch die etablierte Politik in ihrer Lebenswelt angegriffen fühlen. »Pirat« bedeutet aber genau das Gegenteil. Der Begriff entstammt dem Griechischen peiratés, und bedeutet Angreifer. Und genau so sehen die etablierte Politik und große Teile der Gesellschaft die Partei – als einen Angreifer, der althergebrachte Gewohnheiten und Rechte attackiert und die virtuelle der realen Welt überstülpen will.
sowie eine Aufschlüsselung nach Alter:
sowie:
Prensky hat später seine eigene These dahingehend erweitert, dass die Grenze zwischen den Immigrants und den Natives umso stärker verschwimmt, desto mehr das Netz zum Alltag wird.
Die Sache ging ganz flott über die Bühne. Gerade einmal vier Stunden nahmen sich die 53 Anwesenden Zeit, um eine neue politische Partei ins Leben zu rufen. Am 10. September 2006, einem sonnigen Spätsommersonntag, traf man sich in der C-Base im Berliner Bezirk Mitte an der Jannowitzbrücke, unweit des Alexanderplatzes. Der Ort war gut gewählt, handelte es sich dabei doch um einen beliebten und traditionsreichen Treffpunkt der Nerd-Szene. »Das war ein verrücktes Gefühl an diesem Gründungssontag in der C-Base. Da war ich vorher noch nicht gewesen. Ich hab nur gedacht, verdammt, das ist der richtige Ort, um unsere Partei zu gründen. Ein Ort, wo Platinen an der Wand hängen, da fühlt man sich wie zu Hause«, sagt Jahre später Lars Hohl, eines der Gründungsmitglieder. Dabei standen die Betreiber der C-Base der Sache eher skeptisch gegenüber, weil sie keine politischen Veranstaltung in ihren Räumen wollten. »Es hat Fingerspitzengefühl gebraucht, um die Leute von der C-Base zu überzeugen«, erinnert sich einer der Initiatoren des Treffen, Christof Leng.
Das C-Base liegt direkt an der Spree. Man muss durch zwei Hinterhöfe und dann in einer Toreinfahrt rechts die Stahltür öffnen. Hinter dieser Tür betritt man eine andere Welt: Zuerst befindet man sich in einer Art Röhre, so als würde man in ein Raumschiff hineingehen. Die ganze C-Base ist wie eine riesige Raumstation, von Science-Fiction-Freaks liebevoll gestaltet. Vom Erdgeschoss aus gibt es einen Zugang zum Spreeufer. Hier unten herrscht Clubatmosphäre, berlinisch-alternativ. Wirklich spannend wird es erst im Keller, der über eine Wendeltreppe zu erreichen ist. Doch in den größten Raum hier kommt man nicht als Normalsterblicher, sondern nur als Mitglied. Dort unten, ganz hinten, sitzen die Computerfreaks. Und hier, an einem Tischchen in einer Nische, wo etwa ein Dutzend Leute Platz finden, trafen sich in den ersten knapp drei Jahren ihres Bestehens die Berliner Piraten. Der Tisch reichte damals völlig aus. Seitdem die Partei immer größer wird, ist die C-Base kein offizieller Treffpunkt mehr. Diese Funktion hat jetzt das »Kinski«, ein Club in Neukölln. Doch auch heute noch kommen viele Piraten nicht nur aus Berlin gern in die Location am Fluss.
2006 allerdings, vor der Parteigründung, bat der Vermieter darum, den Tagungsort erst möglichst spät bekannt zu geben, denn er befürchtete eine »Infiltration von Rechten«. »Wir hatten damals aber auch das Beispiel der Berliner FDP vor Augen«, erklärt Jens Seipenbusch, Gründungsmitglied und späterer Bundesvorsitzender der Piraten. Jahre zuvor hatten Studenten versucht, den Landesverband der Liberalen in der Hauptstadt komplett umzudrehen. »Persönlich aber hatte ich keine Hinweise darauf, dass Rechtsextreme oder andere versuchen könnten, uns zu übernehmen«, so Seipenbusch. Vorsichtshalber erkundigte er sich trotzdem vor der Versammlung beim Bundeswahlleiter, ob auf eine öffentliche Einladung verzichtet werden könne.
Die ganze Sache war gut vorbereitet. Seipenbusch und Leng waren von Anfang an die treibenden Kräfte. Leng, der zuvor schon in der Friedensbewegung aktiv gewesen war, fand es spannend, als er von der Gründung der schwedischen Piratenpartei auf heise.online las. »Was mir imponierte, war, dass diese Leute in die Offensive gingen und sich nicht länger in die Defensive drängen lassen wollten.« Als Jens Seipenbusch von der Gründung der Piratenpartei in Schweden erfuhr, war seine erste Idee, die Domaine Piratenpartei.de im Internet zu reservieren. Aber das hatte schon der Informatikstudent Christian Weiske aus Leipzig getan. Die beiden kannten sich nicht, und Weiske ist auch schon lange nicht mehr dabei, aber er kann für sich in Anspruch nehmen, der allererste Pirat in Deutschland gewesen zu sein – bevor die Partei überhaupt existierte. Auch wenn er nicht die Mitgliedsnummer 1 hat.
Im Laufe des Sommers verständigten sich einige Interessierte über ein Forum, das über die Piratenpartei-Seite lief. Schließlich entstand der Gedanke, sich persönlich zu kennenzulernen. Am 14./15. August 2006 fand ein erstes Treffen in Darmstadt statt, in den Räumen der Technischen Universität, wo Leng arbeitete. Dabei waren zwölf Leute, darunter auch eine junge Frau – Lengs damalige Freundin und spätere Frau. »Das war eine ganz ulkige Situation, denn wir kannten uns ja bis dahin nur online und unter unseren Pseudonymen«, so Leng. An diesem Wochenende wurden die Satzung und das Parteiprogramm diskutiert und vorbereitet – gleichzeitig lief das auch über das Piraten-Wiki, einer eigens im Internet geschalteten Seite, auf der sich die Interessenten verständigen konnten. Bis auf Leng hatte keiner der Anwesenden sich bisher politisch betätigt.
Besonderes Kopfzerbrechen machte die Satzung, denn damit kannte sich keiner der Anwesenden aus. Man schaute sich die Satzungen der anderen Parteien an – und empfand sie als abschreckend lang. Jens Seipenbusch hatte über derlei technische Fragen mehrfach mit dem zuständigen Mitarbeiter des Bundeswahlleiters gesprochen. Das half weiter. Das Programm hatten vor allem Seipenbusch, Leng und zwei oder drei weitere Anwesende zuvor erarbeitet.
Diese Schritte waren am Tag der Parteigründung, dem 10. September 2006 in der C-Base in Berlin schon erledigt. Es kam noch zu weiteren Treffen, und der Diskussionprozess über das Programm wie auch über die Satzung lief auf der Wiki-Seite weiter. Von Anfang wurden Entscheidungen also im Prinzip schon genauso getroffen wie noch heute: im Netz und bei analogen Treffen, und zwar so, dass sich beides gegenseitig ergänzen konnte und den Parteigründungsprozess beschleunigte. Das letzte Vorbereitungstreffen fand noch am Vorabend der Gründungsversammlung im Pratergarten in Prenzlauer Berg statt. »Kaum jemand kannte den anderen. Das war sozusagen eine Sternfahrt von Leuten aus ganz Deutschland. Jemand hatte eine Piratenfahne mitgebracht«, erinnert sich Matthias Mehldau.
Bei der Gründung in Berlin war das Programm kaum noch umstritten. »Es war schon zuvor alles ausdiskutiert, eben auch mit Hilfe des Internets«, sagt Andreas Baum, der fünf Jahre später erster Vorsitzender einer Piratenfraktion in einem Landesparlament werden sollte. Schon in der Einladung hatten die Initiatoren um Jens Seipenbusch vermerkt, dass offene Diskussionen aus Zeitgründen nicht möglich seien. Es könne nur über zuvor eingereichte Änderungswünsche für das Programm diskutiert werden. Das Gleiche galt für die Satzung. Tatsächlich weist das Gründungsprotokoll keine größeren Diskussionen aus. Meistens ging es um Formulierungen. Andere Debatten wie die, ob die Piraten eine »weiche« oder eine »harte« Themenpartei sein wollten, sind heute kaum mehr nachvollziehbar; die 52 stimmberechtigten Anwesenden entschieden sich für »weich«. Am Ende der Diskussion wurde das Programm einstimmig angenommen.
Auch die Wahl des Bundesvorstands verlief reibungslos und überwiegend mit großen Mehrheiten. 50 von 52 Anwesenden wählten den Informatiker Christof Leng zum ersten Parteivorsitzenden; sein Stellvertreter Jens Seipenbusch erhielt 44 Stimmen. Die beiden waren die wichtigsten Köpfe in den Wochen vor der Gründung gewesen, und so war es weitgehend unstrittig, dass sie an der Spitze stehen würden. Allerdings: Keiner von beiden riss sich darum, Vorsitzender zu werden, denn schon damals war klar, dass das Amt viel Arbeit mit sich bringen würde. Zum Politischen Geschäftsführer wurde Jan Huwald gewählt, zum Schatzmeister Peter Böhn, zum Generalsekretär (mit knapper Mehrheit) Stefan Lamprecht.
Leng blieb bis Mai 2007 Vorsitzender. Er forscht heute an der TU Darmstadt zu Peer-to-Peer-Netzen und ist Präsidiumsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Informatik. Für die Piraten ist er noch heute aktiv. Seipenbusch entwickelte sich zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Gründerjahre. Er war von 2007/08 sowie 2009-2011 Vorsitzender, 2008/09 stellvertretender Vorsitzender der Partei.
»Das Treffen in der C-Base war sehr konstruktiv«, erinnert sich Andreas Baum, »aber auch extrem anstrengend.« Man habe gemerkt, dass alle Versammelten ernsthaft »etwas Konkretes machen wollten«. Die Anwesenden müssen in der Tat sehr straff gearbeitet haben in den vier Stunden, in denen das Piratenschiff flottgemacht wurde. Gesprochen wurde über viele Themen, neben Programm und Satzung zum Beispiel über das Parteilogo und den Namen. Eine Frage war, ob die Partei sich Piratenpartei Deutschland, Piratenpartei Deutschlands oder einfach nur Piratenpartei nennen sollten. Man entschied sich schließlich für die dritte Variante. Die Parteifarbe Orange wurde von Lengs Freundin vorgeschlagen. Sie sollte an die »orangene Revolution« anknüpfen, die damals gerade in der Ukraine stattfand und in Deutschland auf großes Interesse stieß.
Damals, so Baum, hätten sich in der C-Base fast nur klassische Nerds eingefunden, Frauen seien nur sehr wenige dabei gewesen. Für den Vorstand kandierten neun Männer, im Durchschnitt 32,2 Jahre alt. Fünf kamen aus dem IT-Bereich, drei waren Geisteswissenschaftler. Ein Kandidat gab bei der Berufsbezeichnung »selbstständig« an. Von den wenigen anwesenden Frauen, deren genaue Zahl sich heute nicht mehr ermitteln lässt,, kandidierte keine für einen Posten im Vorstand. Politisch betrachtet, kamen die Mitglieder der ersten Stunde vor allem von den Grünen oder waren Liberale. »Freiheit stand bei uns ja im Mittelpunkt«, so Baum. Konservative waren nicht dabei. »Es war eine ganz neue, spannende Mischung. Idealisten und Pragmatiker zugleich«, schwärmt Baum. Daran, an einer historischen Gründungsveranstaltung teilgenommen zu haben, habe er damals nicht gedacht. Im Februar 2012 wirkt Andreas Baum bei einem kurzen Rückblick aber selbst erstaunt: »Es ist doch Wahnsinn, dass zwischen diesem Tag und unserem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus nur fünf Jahre liegen.«
Doch erste Probleme taten sich für die kleine neue Partei schon sehr bald auf. Hatte sie aufgrund des Internets keine Schwierigkeiten, die interne Kommunikation aufrecht zu erhalten, so stellte sich schnell heraus, dass der Anfangselan bei einigen der ersten Mitglieder nicht weit über den Gründungstag hinaus reichte. Besonders bitter: Das galt auch für einige der Mitglieder des gerade gewählten Vorstandes.
»Bei der Wahl gab es nach meiner Erinnerung genauso viele Bewerber wie freie Positionen. Und dann war ich plötzlich Mitglied in diesem Bundesvorstand«, so Matthias Mehldau. Bald zeigte sich aber, dass viele der Gründungspiraten eher ein politisches Segel setzten wollten, als dass sie wirklich daran dachten, handfeste politische Arbeit zu machen. »Der Einzug in die Parlamente war gar nicht unser Ziel, wir wollten nur den anderen Parteien Anstöße für neue Denkprozesse geben«, erläutert Gründungsmitglied Lars Hohl seine eigene Motivation und die anderer Anwesender. Man habe die Parteigründung als »ein Stilmittel des gesellschaftlichen Aufschreis verstanden«. Mehldau ergänzt: »Mich hat das Getue der Profilneurotiker im Gründungsvorstand gestört. Ich weiß noch, wie ich dachte: O mein Gott, die meinen das richtig ernst mit dem Parteistrukturaufbau. Und, ich bin ganz ehrlich, ich hatte den Arbeitsaufwand unterschätzt.« Er trat schon nach zwei, drei Monaten wieder von seinem Amt zurück wie viele andere Gründungsvorstandsmitglieder auch. Mehldau: »Die meisten von denen, die diese Piratenpartei angezettelt haben, waren sehr schnell wieder draußen. So ist das, wenn Nerds anfangen, Parteiarbeit zu machen.« Christof Leng ist begeistert über die Entwicklung der Partei seit ihrer Gründung. Mit Blick auf die ersten Erfolge bei den Landtagswahlen in Berlin und im Frühjahr 2012 sagt er mehr als fünf Jahre später: »Ich hätte anfangs selbst nicht geglaubt, dass es funktioniert. Momentan bin ich ganz fasziniert, was sich aus unserer lustigen Idee entwickelt hat.«
Zwei Tage nach der Gründung gab die neue Partei ihre erste Pressemitteilung heraus. Darin wurde betont, dass sie dem »zündenden Beispiel« der schwedischen Piratpartiet folge. »Die primären Ziele dieser Bewegung sind die Freiheit des Wissens und der Kultur und die Wahrung der Privatsphäre«, hieß es. Die deutsche Partei habe sich zudem den Leitsatz »gläserner Staat statt gläserner Bürger« auf die Fahnen geschrieben, um die Transparenz politischer Prozesse und staatlicher Verwaltung einzufordern. Mit Stolz wurde zudem erwähnt, dass erstmalig in der Geschichte Deutschlands sich die Vorbereitung einer Parteigründung vorwiegend im Internet unter den Augen der Öffentlichkeit abgespielt habe. Als Hauptthemen wurden eine Reform des Urheberrechts und des Patentwesens genannt. »Diese politisch bisher wenig beachteten Themenfelder haben dennoch eine wichtige Gemeinsamkeit: sie betreffen jeden Bürger, jetzt und in der Zukunft. Dies zu vermitteln wird eine der wichtigsten Aufgaben der politischen Arbeit der Piraten sein.«
Die deutschen Piraten (10. September 2006) waren damit nach den schwedischen (1. Januar 2006) und den österreichischen (31. Juli 2006) die dritte Piratenpartei, die sich in Europa gründete. Nach dem durchaus selbstbewussten Start ging es jedoch zunächst schleppend voran. Vorstandsmitglieder legten ihr Amt nieder, als sie feststellten, dass mit ihrem neuen Job viel Arbeit verbunden war. Auch strömten keineswegs neue Mitglieder in Scharen in die Partei. Als die Piraten Ende Dezember 2006 ein bundesweites Treffen in Berlin einberiefen, war die Zahl der Mitglieder gerade einmal auf 360 gestiegen, am ersten Jahrestag der Gründung waren es 537. Eine Massenbewegung war das nicht; es schien nicht so, als hätten viele Menschen auf die Gründung dieser neuen Partei gewartet oder würden ihre Themen als immens wichtig ansehen. Immerhin bildeten sich bald die ersten Landesverbände, bis Mitte 2009 in jedem Bundesland.
Acht Landesverbände wurden innerhalb der ersten 15 Monate des Bestehens der Partei gegründet, drei im Jahre 2008, die letzten fünf im Sommer 2009 – kurz nach der Europawahl, bei der die Partei mit 0,9 Prozent einen Achtungserfolg erzielt hatte und einen Mitgliederansturm aufgrund der Debatte um das Zugangserschwernisgesetz erlebte.
Der Anfang war mühevoll, nicht nur Vorständler wie Parteichef Christof Leng warfen alsbald das Handtuch, auch Mitglieder an der Basis wie Andreas Baum zogen sich schnell wieder zurück. »Ich bin nach der Gründung eine ganze Weile nicht mehr zu den Stammtischen gegangen«, erinnert er sich. Auch bei der Gründung des Berliner Landesverbandes war er nicht dabei. Die regelmäßigen Stammtische in der C-Base waren gemütliche kleine Runden, daran änderte sich längere Zeit nichts. Zum Landesparteitag 2008 fanden sich ganze zwölf Mitglieder ein. Man saß gemütlich im »Kinski« in Berlin-Neukölln um einen Tisch. Nach einer halben Stunde war der Parteitag beendet.
Die Gründungen der Landesverbände verliefen – wenig erstaunlich – recht ähnlich. Zunächst mussten sich ein paar engagierte Mitglieder finden, die den Prozess anstießen. Man rief im Internet auf der Piratenwebsite und anderen Chatrooms Interessierte auf, sich zu beteiligen, bestimmte einen Ort, organisierte alles Notwendige. Die Baden-Württemberger trafen sich im Karlsruher Gewerkschaftshaus, die Hessen im Frankfurter Club Voltaire, einem traditionsreichen Treffpunkt der 68er. Stimmberechtigt waren auf den Treffen nur Mitglieder, aber wie händeringend die junge Partei nach neuen Mitstreitern suchte, zeigten Ankündigungen, auf denen teilweise ausdrücklich die Möglichkeit für Interessierte vermerkt war, auf der Versammlung der Partei beizutreten und nach Begleichung des Mitgliedsbeitrags sofort für einen Posten zu kandidieren. Auf den Gründungstreffen selbst wurden ein Vorstand gewählt und die Grundsätze der Landespartei festgelegt. Dafür reichten für gewöhnlich wenige Stunden aus. Die Teilnehmerzahl lag durchschnittlich zwischen 20 und 40. Mit 56 kaum höher war die Zahl der angereisten Mitglieder auf dem ersten Bundesparteitag.
Als exemplarisch für die Vorbereitungsphase, die Gründung sowie auch die Phase bis in die stürmische Zeit von Herbst 2011 bis Frühjahr 2012 kann der Landesverband Saarland gelten. Jürgen Kammer war 2008 im Netz auf die Piratenpartei aufmerksam geworden und hatte ihren Weg seitdem verfolgt. Selbst tätig wurde er nicht – er wartete ab, bis etwas geschah. Im Frühjahr 2009, als die »Zensursula«-Debatte tobte, tat sich etwas. Im Internet wurde aufgerufen zu einem Stammtisch in einem mexikanischen Restaurant in Saarbrücken. Kammer ging ein paar Wochen lang zu den Treffen und war begeistert. Er war vorher der typische Wechselwähler gewesen. »Ich war immer auf der Suche nach dem kleinsten Übel.« Knapp 20 Leute trafen sich von nun an regelmäßig, in erster Linie Studenten, allerdings nicht nur aus dem Informatikstudiengang. »Mit meinen 47 Jahren war ich damals einer der Ältesten«, erinnert Kammer sich. Nach einigen Wochen fassten die Stammtischler den Entschluss, einen Landesverband der Partei zu gründen. Am 24. Juni 2009 schließlich gründeten 37 Mitglieder die Saar-Piraten, Kammer selbst war eine Woche zuvor in die Partei eingetreten. »Es gab so eine Art Aufbruchstimmung. Man hatte das Gefühl, bei etwas Neuem dabei zu sein«, sagt er.
Das Neue war indes so neu, dass die Piraten auf die Teilnahme an der kurz nach der Gründung anstehenden Landtagswahl im Saarland verzichten mussten. Aber zur Bundestagswahl, die gerade einmal drei Monate später, im September 2009, anstand, trat die Partei, die ja praktisch nur auf dem Papier existierte, an. Kammer fand sich nach sechs Wochen Mitgliedschaft auf Platz vier der Landesliste wieder. Mit dem Einzug in den Bundestag rechnete niemand, aber rund 20 Leute machten sich engagiert daran, einen Wahlkampf zu gestalten. »Das war natürlich nicht leicht, wir hatten weder Geld noch Infomaterial«, so Kammer. Folglich waren die Saar-Piraten auf die 1,4 bis 1,9 Prozent in den Wahlkreisen errungenen Stimmen geradezu stolz. Das Ergebnis lag nur knapp unter dem Bundesdurchschnitt. Bis zum Herbst 2011 aber ging es an der Saar nur schleppend voran. Bis zur Berliner Wahl hatte der kleine Landesverband gerade einmal 80 Mitglieder. Damit war nicht viel zu stemmen, und so gestaltete sich auch die Gründung von Kreisverbänden schwierig. Erst mit dem Boom, der auf die Berlin-Wahl folgte, kamen genug Mitglieder zusammen, um sich an die Gründung von Kreisverbänden machen zu können. Im Frühjahr 2012 existierten fünf.
Wie im Saarland verliefen auch die Gründungstreffen in den anderen Bundesländern zumeist harmonisch. Normalerweise wurden sie, wie beispielsweise in Baden-Württemberg, auf einem Vorbereitungstreffen der Initiatoren geplant. Auch der IRC-Chat, ein Chatroom im Internet, der auch schon bei der Gründung der Bundespartei eine wichtige Rolle gespielt hatte, wurde intensiv genutzt.
Bis auf lokaler Ebene mit der Gründung von Kreisverbänden begonnen wurde, dauerte es noch eine Weile. Das hatte zunächst einen piratenspezifischen Grund: Eigentlich war die Organisation über Kreis- und Ortsverbände verpönt. Die Mitglieder sollten sich auf der untersten Ebene in sogenannten Crews organisieren. Sie bestehen im Durchschnitt aus bis zu zehn Mitgliedern, an ihrer Spitze steht ein Kapitän. Er leitet die Treffen und vertritt die Crew nach außen, ohne jedoch wirkliche Machtbefugnisse zu besitzen. Die Crews treffen sich regelmäßig, diskutieren, bereiten Veranstaltungen vor und vieles mehr. Zwar gibt es sie heute noch immer, aber der Verzicht auf eine Struktur, wie sie die anderen Parteien auch haben, ließ sich nicht durchhalten. Das hat einen ganz einfachen Grund: Die Mitgliederzahl der Partei ist so stark angewachsen, dass eine Organisation auf der Crew-Ebene längst nicht mehr ausreicht. Es gibt zwar Basis-Piraten, die sich gegen diese Erkenntnis zur Wehr setzen, doch wird sich die flächendeckende Gründung von Kreis- und Ortsverbänden kaum verhindern lassen, wenn die Partei schlagkräftig sein will.
So entstanden im Boom-Jahr 2009 eine ganze Reihe von Kreisverbänden, beispielsweise im brandenburgischen Cottbus kurz vor der Europawahl im Juni. Die Cottbusser Parteigründer waren vor allem Studenten, die sich schon eine Weile vorher regelmäßig zu einem Stammtisch getroffen hatten. Damals habe unter ihnen eine regelrechte Aufbruchsstimmung geherrscht, erinnert sich Matthias Ostrowski, einer der Mitgründer. »Schluss mit dem Meckern, wir tun was.« Neben den klassischen Themen setzten sich die Cottbuser Piraten damals auch für den Erhalt der örtlichen Straßenbahn ein. Obwohl die örtliche Presse die Entstehung der neuen Partei weitgehend ignorierte, gelang es aus dem Stand, bei der Bundestagswahl 2009 fast vier Prozent der Stimmen zu erreichen. Ein Ergebnis, das doppelt so hoch lag wie im Bundesdurchschnitt.
Gestritten wurde aber dennoch. Es ging vor allem um eine Frage, die noch Jahre später die Piraten beschäftigt und schon auf der Gründungsversammlung in Berlin eine Rolle gespielt hatte: Soll sich die Partei auf Themen wie Urheberrecht und Datenschutz konzentrieren. oder soll sie sich breiter aufstellen? Im September und Oktober 2007 führte der Bundesvorstand dazu eine Befragung unter den Mitgliedern durch. Von 700 damals zur Partei gehörenden Piraten beteiligten sich allerdings nur 86. Mindestens so problematisch wie das geringe Interesse war das Ergebnis: Es zeigte eine in dieser Frage zerrissene Partei. 37 Mitglieder sprachen sich für eine »Themenpartei« aus, die sich nur für bestimmte Politikfelder engagieren solle, genauso viel aber auch für eine »Allgemeine Partei«.
Am 27. Januar 2008 machte die Piratenpartei einen wichtigen Schritt: Sie nahm erstmals an einer Landtagswahl teil – es war die zweite Wahlteilnahme weltweit (nach den schwedischen Reichstagswahlen), wie das Piraten-Wiki, die Website der Partei, stolz vermerkt. Das Ergebnis von 0,3 Prozent entsprach in etwa den Erwartungen. Enttäuschender war, dass es den Bayern-Piraten acht Monate später nicht gelang, die nötigen Unterschriften für die Zulassung zur Landtagswahl zu sammeln. Bei den vorgezogenen Neuwahlen in Hessen im darauffolgenden Jahr erzielte die Partei ein Ergebnis von 0,5 Prozent. Zwischenzeitlich hatten sie bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg eher ernüchternde 0,2 Prozent erreicht.
Doch dann kam Ursula von der Leyen. Mit ihrem mit großem Propagandaaufwand angekündigten Plan, Kinderpornoseiten im Internet zu sperren statt zu löschen, löste sie Empörung in der Netzgemeinde aus, weil viele grundsätzlich die Freiheit des Internets in Gefahr sahen. Die Partei erlebte einen ersten großen Zulauf, binnen weniger Monate strömten ihr Tausende neue Mitglieder zu. Das machte sich auch bei den Europawahlen vom 7. Juni 2009, bei denen sie 0,9 Prozent erhielt, bemerkbar. Dieses Ergebnis konnte sie bei den sächsischen Landtagswahlen vom 30. August 2009 mit 1,9 Prozent verdoppeln. Ein erster wirklicher Achtungserfolg gelang den Piraten schließlich bei der Bundestagwahl vom 27. September 2009, bei der sie auf 2,0 Prozent kam. Das ließ die politische Konkurrenz das erste Mal wirklich aufhorchen.
Nach dem Boom 2009 war 2010 indes ein Jahr der Ernüchterung. Mit großem Selbstbewusstsein traten die Piraten bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai an. Erklärtes Ziel war das Überspringen der Fünfprozenthürde und damit der erste Einzug in einen Landtag. Am Ende wurden es an den Hoffnungen gemessen enttäuschende 1,6 Prozent, was aber immerhin mehr als 116 000 Wählerstimmen bedeutete. In der Partei wurde das Ergebnis jedoch eindeutig als Rückschlag aufgenommen.
2010 war noch aus einem anderen Grunde das bislang schwierigste Jahr in der Geschichte der Piraten. Der im Mai auf dem Parteitag in Bingen gewählte neue Vorstand unter Jens Seipenbusch war zerstritten. Vor allem der Parteichef und Vorstandsmitglied Christopher Lauer gerieten immer wieder aneinander. Seipenbusch verzichtete daher im Mai 2011 in Heidenheim auf eine erneute Kandidatur, Lauer, der seit seiner Wahl ins Berliner Abgeordnetenhaus vier Monate später den Medien zu Unrecht als »heimlicher Vorsitzender« gilt, kandidierte zwar, aber wurde nicht gewählt. Die von Seipenbusch favorisierten Vorstandsmitglieder Sebastian Nerz und Bernd Schlömer wurden zum Vorsitzenden und zum Stellvertreter gewählt.
Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2011, bei dem die Piraten 8,9 Prozent der Stimmen erhielten, wurde zum ersten großen Coup der Partei. Bis wenige Wochen vor dem Urnengang hatte niemand mit ihrem Einzug ins Landesparlament gerechnet. Die Piraten hatte eine Landesliste mit nur 15 Bewerbern aufgestellt – genau so viele, wie dann tatsächlich ins Abgeordnetenhaus einzogen. Das stellt den Landesverband vor Probleme, denn es gibt für den Fall, dass einer der Abgeordneten ausfällt oder beispielsweise für den Bundestag kandidieren möchte, keinen Ersatz. Auf der kommunalen Ebene konnten die Berliner Piraten nicht einmal alle ihre Mandate in den Bezirksparlamenten wahrnehmen, so überraschend gut waren ihre Ergebnisse.
Der bundesweite Durchbruch gelang schließlich mit der saarländischen Landtagswahl und dem Einzug in den Landtag mit 7,4 Prozent bei der Wahl am 25. März 2012 – ein Erfolg, der von den Medien bundesweit als Sensation aufgefasst wurde, hatten doch die Saar-Piraten damit den Beweis angetreten, dass die Partei auch in einem Flächenland erfolgreich Wähler mobilisieren kann. Der Erfolg hatte sicher auch damit zu tun, dass der Landesverband im Vergleich zu anderen als sehr gut organisiert gilt. Die für die Zulassung zur Wahl notwendigen je 300 Stimmen in den drei Wahlkreisen waren binnen 72 Stunden gesammelt, der Landesparteitag 48 Stunden nach dem Bekanntwerden der Neuwahlen angesetzt worden. Der Wahlkampf, für den die Partei ganze 300 000 Euro zur Verfügung hatte, lebte vom großen Engagement der Mitglieder.