DAS BETRIEBSSYSTEM ERNEUERN –
ALLES ÜBER DIE PIRATENPARTEI
ALLES ÜBER DIE PIRATENPARTEI
IMPRESSUM
Appelius, Stefan/Fuhrer, Armin:
Das Betriebssystem erneuern – Alles über die Piratenpartei
1. Auflage — Berlin: Berlin Story Verlag 2012
ISBN 978-3-86368-714-4
Redaktionsschluss: 17. Mai 2012
(Rücktritt Semken, Altmaier Umweltminister)
Alle Rechte vorbehalten.
© Berlin Story Verlag
Alles über Berlin GmbH
Unter den Linden 40, 10117 Berlin
Tel.: (030) 51 73 63 08
Fax: (030) 51 73 63 06
, E-Mail:
Lektorat: Gabriele Dietz
Gestaltungsentwurf: Till Kaposty-Bliss
Umschlag und Satz: Norman Bösch
Die Jubelszenen, die seit der Berlin-Wahl am 18. September 2011 bei jedem Urnengang in einem Bundesland über die Bildschirme flackern, entwickeln sich allmählich zur Normalität. Erst nahmen sie die Hauptstadt, dann das Saarland und Schleswig-Holstein und schließlich Nordrhein-Westfalen. Nachdem die Piratenpartei fünf Jahre lang eher unbeachtet blieb, schaffte sie binnen sieben Monaten den Sprung in vier Landtage, darunter den wichtigsten in Düsseldorf. Wer an Rhein und Ruhr souverän die Fünfprozenthürde überspringt, hat gute Chancen, bei den Bundestagtagswahl im September 2013 in den Bundestag einzuziehen. Das rasante Auftauchen der Piratenpartei ist die politische Sensation der vergangenen Jahre. Erstmals seit Beginn der Achtziger, als die Grünen die politische Bühne erklommen, scheint sich mit den Piraten eine völlig neue politische Kraft zu etablieren. Aber sind die Piraten wirklich gekommen, um zu bleiben? Oder sind sie doch nur eine politische Eintagsfliege wie verschiedene andere Parteien zuvor?
Dieses Buch versucht, das Phänomen Piratenpartei zu ergründen. Was bedeutet es, wenn immer wieder behauptet wird, dass die »Internetpartei« aus »den Tiefen des Netzes« kommt? Was meinen Piraten, wenn sie sagen, sie machten »Politik aus Notwehr«? Warum fühlen sie sich in der Lebenswelt Internet von der »analogen Welt« angegriffen? Ist die Partei tatsächlich eine Art politischer Arm der digitalen Revolution, die unser aller Leben rapide verändert, deren Rückwirkungen auf die Gesellschaft aber von der etablierten Politik jahrelang sträflich vernachlässigt wurde? Wer waren die jungen Leute, die 2006 diese neue Partei gründeten? Was wollten sie damals, was wollen sie heute?
Spannende Fragen, zweifellos. Aber für die Zukunft wichtiger ist es, Antworten darauf zu finden, wohin die Reise der Piraten gehen wird. In welche Richtung entwickelt sich die Partei? Wie positioniert sie sich im Parteienspektrum? Ist sie eher links, liberal oder doch libertinär? Oder passen diese Kategorien des althergebrachten Parteiensystems auf die Piraten, die eine Partei neuen Typs sein möchten, gar nicht mehr? Und überhaupt: Ist sie nicht ohnehin nur eine Einthemenpartei, die ihre Forderungen wie eine drastische Reform des Urheberrechts und ein legales kostenloses Herunterladen von Musik und Filmen aus dem Internet propagiert und sich um die wirklich wichtigen Fragen, vor denen die Gesellschaft steht, nicht kümmert? Wieso gibt es einen so erbärmlich niedrigen Frauenanteil auf dem Piratenschiff? Und schließlich: Was bedeuten diese merkwürdigen Begriffe wie Liquid Democracy und LiquidFeedback eigentlich?
All diesen Fragen versucht dieses Buch nachzugehen. Eine endgültige Antwort ist in vielen Fällen zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, denn die Piraten befinden sich in einem stürmischen Prozess der Selbstfindung – mit offenem Ausgang. Der Druck von außen, vor allem von den Medien, ist immens, und er wächst immer weiter. Doch waren sich die Mitglieder der ersten Stunde noch nicht darüber im Klaren, wohin sie wollten, weil sie wichtige Themen wie das der Wirtschafts- und Sozialpolitik, an dem sich Schicksale von Parteien entscheiden, gar nicht erst anpackten, so ist der Prozess der Entscheidungsfindung seit dem ersten großen Wahlerfolg bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September 2011 nur noch schwieriger geworden. Seitdem strömen der Partei in Scharen neue Mitglieder zu, über deren politische Haltung praktisch nichts bekannt ist. Es gibt keinerlei Kenntnisse des Sozialprofils der Mitglieder, weil die Piraten solche Daten nicht erheben. So werden erst die nächsten Jahre zeigen, welches Profil sich die Piraten geben werden und wie die Partei sich ins politische Spektrum einordnen lässt. Eine wichtige Wegmarke wird zweifellos die für Herbst 2013 geplante Bundestagswahl sein, denn ohne ein umfassendes Wahlprogramm werden die Piraten wohl kaum Chancen haben, in den Bundestag einzuziehen. Dann wird es nicht mehr ausreichen, einfach neu und spannend zu sein, dann wollen die Menschen wissen, für welche Inhalte die Piraten stehen. Bei allen Widersprüchen innerhalb der Partei: Wenigstens in diesem Punkt dürfte inzwischen weitgehende Einigkeit herrschen.
Die Autoren dieses Buches sind ihren Fragen dort nachgegangen, wo man am ehesten auf Antworten hoffen kann: direkt in der Partei. Sie waren auf Parteitagen und bei Stammtischen (den regelmäßigen Treffen von Piraten in der analogen Welt); sie verfolgten Diskussionen auf den Foren der Piraten im Internet, sie tummelten sich mit ihnen bei Twitter, sie beschäftigten sich mit Programmen und Konzepten. Aber vor allem führten sie zahlreiche Gespräche mit Parteimitgliedern – mit Funktionären, Mandatsträgern, Mitgliedern an der Basis, Wahlkämpfern. So versuchten sie, die Seele der Piratenpartei auszuleuchten, zumindest so weit, wie das angesichts des Zustands der Partei zwischen Herbst 2011 und Frühjahr 2012 möglich war. Aber gerade das macht ja die Piraten aus: das Unfertige, das manchmal naiv erscheinende Auftreten, die grundsätzlichen Diskussionen, die Versuche, eine Partei neuen Typs und nicht weniger als eine neue Form der Demokratie zu schaffen. Also die Tatsache, dass die Piraten nicht eingefahrene Wege einschlagen wie die etablierten Parteien, dass sie die Chance haben, etwas Neues zu schaffen, das vielleicht nicht völlig anders, aber doch besser ist als das Hergebrachte. Oder am Ende auch ganz einfach an den selbst gesteckten Zielen, am hohen eigenen Anspruch und am Wähler scheitern. Ziel dieses Buches ist, diesen Ist-Zustand darzustellen. Es könnte für alle, die mit den Piraten in Berührung kommen, interessant sein: für Wähler, Journalisten, Politiker anderer Parteien und nicht zu vergessen eine ständig wachsende Gruppe: die Piraten selbst.
Sind die Piraten ein Kurzzeit-Phänomen, oder können sie sich dauerhaft auf der politischen Bühne behaupten? Die Beantwortung dieser Frage hängt unter anderem von der Entwicklung der Partei selbst ab, vielleicht auch von der Reaktion der politischen Konkurrenz. Eines aber, ein Punkt, den Kritiker oft übersehen, spricht eindeutig für die These von der Überlebensfähigkeit: Die Piraten haben, anders als andere Parteien, die sich vergeblich um einen Platz in den Parlamenten bemühten oder bemühen, einen eigenständigen Hintergrund. Sie sind mehr als eine typische Protestpartei. Sie kommen aus der Tiefe des Internets, auch wenn sie nie eine reine Netzpartei waren. Aber sie bilden das Leben zumindest eines Teils der Bevölkerung ab, der sich im Netz zu Hause fühlt und dort einen großen Teil seiner Freizeit verbringt, wenn er nicht sogar dort ihr Geld verdient.
Die Menschen, die sich in der Piratenpartei zusammengefunden haben, fühlen sich in ihrer Netzwelt bedroht von einer Politik, die ihrer Ansicht nach ihre Belange nicht nur nicht versteht, sondern die Regeln der analogen Welt der digitalen überstülpen will. Deswegen behaupten Piraten auch häufig, sie machten »Politik aus Notwehr«. Diese Gewissheit, eigenes Terrain, eine eigene Lebenswelt zu verteidigen, versetzt sie in die Lage, eine starke und nachhaltige Überzeugungskraft zu entwickeln. Da es der Partei gelingt, dies auf ganz spezifische Weise mit dem Thema »Transparenz« in der Politik und der Verteidigung der Bürgerrechte – eigentlich eine klassische Aufgabe linksliberaler Parteien – zu verbinden, erreicht sie eine größere Tiefe und Überzeugungskraft als Gruppierungen, die sich als reine Protestparteien aufgrund eines bestimmten gesellschaftlichen Missstands formiert haben und praktisch immer wieder nach einer Zeit verschwinden.
So wie die Piraten heute versuchen, eine neu entstandene Welt mit der bestehenden zu verlinken und die Interessen ihrer Klientel zu verteidigen, stehen sie durchaus in einer historischen Tradition mit drei der vier politischen Gruppierungen, die seit Jahrzehnten in Deutschland die politische Agenda bestimmen: den Liberalen, den Sozialdemokraten und den Grünen. So wie diese drei Parteien zum politischen Arm der Bewegungen wurden, aus denen sie erwachsen sind, so könnte sich diese Entwicklung bei den Piraten nun wiederholen. Sie könnten eine vergleichbare Rolle einnehmen wie die drei genannten Parteien früher bei der Beantwortung neuer politischer, sozialer und technischer Entwicklungen.
Der Liberalismus war die Antwort auf zwei Bestrebungen im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts, die eine ganze Weile zusammenarbeiteten, bis Otto von Bismarck die eine gegen die andere ausspielte. Es ging einerseits um das Streben nach einer verfassungsgemäßen Politik, also die Bemühungen, die Territorialherren in den zahlreichen deutschen Staaten an Verfassungen und Parlamente zu binden. Und es ging andererseits um den Wunsch nach einem Zusammenschluss aller Deutschen in einem Reich. Letzteres gelang schließlich mit der Reichsgründung 1871, wenn auch unter weitgehender Preisgabe des ersten Ziels. Der Liberalismus aber zog jahrzehntelang aus diesen zwei Bestrebungen seine ganze Kraft und war weit mehr als eine kurzzeitige Modeerscheinung. Sein Niedergang hat mehrere Gründe, die nur zum Teil den verschiedenen liberalen Parteien, die es in der deutschen Geschichte gab, vorgeworfen werden können und die viel weiter zurückliegen als die Fehler der Führungsgenerationen seit den FDP-Parteichefs Wolfgang Gerhardt und Guido Westerwelle.