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DAS BETRIEBSSYSTEM ERNEUERN –
ALLES ÜBER DIE PIRATENPARTEI

STEFAN APPELIUS | ARMIN FUHRER

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ALLES ÜBER DIE PIRATENPARTEI

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IMPRESSUM

VORWORT

Die Jubelszenen, die seit der Berlin-Wahl am 18. September 2011 bei jedem Urnengang in einem Bundesland über die Bildschirme flackern, entwickeln sich allmählich zur Normalität. Erst nahmen sie die Hauptstadt, dann das Saarland und Schleswig-Holstein und schließlich Nordrhein-Westfalen. Nachdem die Piratenpartei fünf Jahre lang eher unbeachtet blieb, schaffte sie binnen sieben Monaten den Sprung in vier Landtage, darunter den wichtigsten in Düsseldorf. Wer an Rhein und Ruhr souverän die Fünfprozenthürde überspringt, hat gute Chancen, bei den Bundestagtagswahl im September 2013 in den Bundestag einzuziehen. Das rasante Auftauchen der Piratenpartei ist die politische Sensation der vergangenen Jahre. Erstmals seit Beginn der Achtziger, als die Grünen die politische Bühne erklommen, scheint sich mit den Piraten eine völlig neue politische Kraft zu etablieren. Aber sind die Piraten wirklich gekommen, um zu bleiben? Oder sind sie doch nur eine politische Eintagsfliege wie verschiedene andere Parteien zuvor?

Dieses Buch versucht, das Phänomen Piratenpartei zu ergründen. Was bedeutet es, wenn immer wieder behauptet wird, dass die »Internetpartei« aus »den Tiefen des Netzes« kommt? Was meinen Piraten, wenn sie sagen, sie machten »Politik aus Notwehr«? Warum fühlen sie sich in der Lebenswelt Internet von der »analogen Welt« angegriffen? Ist die Partei tatsächlich eine Art politischer Arm der digitalen Revolution, die unser aller Leben rapide verändert, deren Rückwirkungen auf die Gesellschaft aber von der etablierten Politik jahrelang sträflich vernachlässigt wurde? Wer waren die jungen Leute, die 2006 diese neue Partei gründeten? Was wollten sie damals, was wollen sie heute?

Spannende Fragen, zweifellos. Aber für die Zukunft wichtiger ist es, Antworten darauf zu finden, wohin die Reise der Piraten gehen wird. In welche Richtung entwickelt sich die Partei? Wie positioniert sie sich im Parteienspektrum? Ist sie eher links, liberal oder doch libertinär? Oder passen diese Kategorien des althergebrachten Parteiensystems auf die Piraten, die eine Partei neuen Typs sein möchten, gar nicht mehr? Und überhaupt: Ist sie nicht ohnehin nur eine Einthemenpartei, die ihre Forderungen wie eine drastische Reform des Urheberrechts und ein legales kostenloses Herunterladen von Musik und Filmen aus dem Internet propagiert und sich um die wirklich wichtigen Fragen, vor denen die Gesellschaft steht, nicht kümmert? Wieso gibt es einen so erbärmlich niedrigen Frauenanteil auf dem Piratenschiff? Und schließlich: Was bedeuten diese merkwürdigen Begriffe wie Liquid Democracy und LiquidFeedback eigentlich?

All diesen Fragen versucht dieses Buch nachzugehen. Eine endgültige Antwort ist in vielen Fällen zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, denn die Piraten befinden sich in einem stürmischen Prozess der Selbstfindung – mit offenem Ausgang. Der Druck von außen, vor allem von den Medien, ist immens, und er wächst immer weiter. Doch waren sich die Mitglieder der ersten Stunde noch nicht darüber im Klaren, wohin sie wollten, weil sie wichtige Themen wie das der Wirtschafts- und Sozialpolitik, an dem sich Schicksale von Parteien entscheiden, gar nicht erst anpackten, so ist der Prozess der Entscheidungsfindung seit dem ersten großen Wahlerfolg bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September 2011 nur noch schwieriger geworden. Seitdem strömen der Partei in Scharen neue Mitglieder zu, über deren politische Haltung praktisch nichts bekannt ist. Es gibt keinerlei Kenntnisse des Sozialprofils der Mitglieder, weil die Piraten solche Daten nicht erheben. So werden erst die nächsten Jahre zeigen, welches Profil sich die Piraten geben werden und wie die Partei sich ins politische Spektrum einordnen lässt. Eine wichtige Wegmarke wird zweifellos die für Herbst 2013 geplante Bundestagswahl sein, denn ohne ein umfassendes Wahlprogramm werden die Piraten wohl kaum Chancen haben, in den Bundestag einzuziehen. Dann wird es nicht mehr ausreichen, einfach neu und spannend zu sein, dann wollen die Menschen wissen, für welche Inhalte die Piraten stehen. Bei allen Widersprüchen innerhalb der Partei: Wenigstens in diesem Punkt dürfte inzwischen weitgehende Einigkeit herrschen.

Die Autoren dieses Buches sind ihren Fragen dort nachgegangen, wo man am ehesten auf Antworten hoffen kann: direkt in der Partei. Sie waren auf Parteitagen und bei Stammtischen (den regelmäßigen Treffen von Piraten in der analogen Welt); sie verfolgten Diskussionen auf den Foren der Piraten im Internet, sie tummelten sich mit ihnen bei Twitter, sie beschäftigten sich mit Programmen und Konzepten. Aber vor allem führten sie zahlreiche Gespräche mit Parteimitgliedern – mit Funktionären, Mandatsträgern, Mitgliedern an der Basis, Wahlkämpfern. So versuchten sie, die Seele der Piratenpartei auszuleuchten, zumindest so weit, wie das angesichts des Zustands der Partei zwischen Herbst 2011 und Frühjahr 2012 möglich war. Aber gerade das macht ja die Piraten aus: das Unfertige, das manchmal naiv erscheinende Auftreten, die grundsätzlichen Diskussionen, die Versuche, eine Partei neuen Typs und nicht weniger als eine neue Form der Demokratie zu schaffen. Also die Tatsache, dass die Piraten nicht eingefahrene Wege einschlagen wie die etablierten Parteien, dass sie die Chance haben, etwas Neues zu schaffen, das vielleicht nicht völlig anders, aber doch besser ist als das Hergebrachte. Oder am Ende auch ganz einfach an den selbst gesteckten Zielen, am hohen eigenen Anspruch und am Wähler scheitern. Ziel dieses Buches ist, diesen Ist-Zustand darzustellen. Es könnte für alle, die mit den Piraten in Berührung kommen, interessant sein: für Wähler, Journalisten, Politiker anderer Parteien und nicht zu vergessen eine ständig wachsende Gruppe: die Piraten selbst.

PIRATEN IN DEN LÄNDERN

 

BERLIN UND DIE ANDEREN

Gibt es sie, die Vormachtstellung der Berliner Piraten gegenüber den anderen Landesverbänden? Existiert das oft beschworene innerparteiliche Nord-Süd-Gefälle der Landesverbände tatsächlich. und wenn ja, wie wirkt es sich aus? Fest steht bisher nur, dass das mediale Erscheinungsbild der Piraten zwischen Berlin und Baden-Württemberg unterschiedlicher kaum sein könnte – mit der Einschränkung, dass der enorme Mitgliederzulauf – das ungesunde Wachstum – seit der Berliner Abgeordnetenhauswahl zu Annäherungen und einer in Teilen beginnenden Verwischung geführt hat.

Deutlich erkennbar ist aber auch, dass sich die politischen Vorstellungen und die Auseinandersetzungen mit bestimmten Sachfragen nicht von den wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen in den verschiedenen Bundesländern trennen lassen. In einer strukturschwachen ländlichen Region ist die Piratenpartei mit anderen Problemen konfrontiert als in jenen Teilen der Republik, in denen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise bisher noch nicht alle anderen Themen dominieren. Diese Unterschiede machen sich – gefühlt – auch in der Mitgliederstruktur bemerkbar. In der medialen Wahrnehmung der Piratenpartei, die sich allzu oft auf die Berliner Sichtweise stützt, werden diese Unterschiede bisher kaum wahrgenommen. Sie sind aber für das Verständnis der Partei und bei der Einschätzung ihrer politischen Entwicklungspotentiale von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

 

DIE ERSTEN IM PARLAMENT

DIE FRAKTION IM BERLINER ABGEORDNETENHAUS

Der Jubel war unbeschreiblich an jenem Abend des 18. September kurz nach 18 Uhr. Eine Mischung aus Euphorie und Fassungslosigkeit machte sich breit in der Kreuzberger Szene-Location »Ritter Butzke«. So zumindest nahmen anwesende Journalisten die Horde vorwiegend verschwitzter junger Männer wahr, die sich Piraten nannten und eine riesige Überraschung feierten. Gerade waren die ersten Prognosen zur Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus über die Bildschirme geflackert, und sie ließen keinen Zweifel daran, dass die Piraten das Landesparlament geentert hatten. »Geil« entfuhr es dem damaligen Bundesvorsitzenden Sebastian Nerz. Spitzenkandidat Andreas Baum wünschte den Anwesenden eine »geile Party« und ließ sich dann fortzerren zu einer Tour durch die Medien. Alle wollten ihn sprechen, ausfragen, vorstellen. Endlich mal ein neues, junges sympathisches Gesicht, das war viel interessanter als die ewig gleichen Leute von SPD, CDU, Linken und Grünen. Von der FDP, die an diesem Abend auf 1,8 Prozent abstürzte, war ohnehin keine Rede mehr.

Andreas Baum hatte sich am späten Nachmittag auf zum Abgeordnetenhaus gemacht. Über seine Gefühle hielt er seine Mitwelt per Twitter auf dem Laufenden. »zittert. Aber sonst geht es mir wie immer. Also ganz gut :)«, postete er von unterwegs. Kurz vor 18 Uhr stellte er fest: »nein, ich habe keine prognose mehr«. Nach der Bekanntgabe schilderte er dann kurz den Trubel der Medien: »jetzt wird an mir gezerrt. Das hatte ich so alles nicht bestellt! :) aber noch ist alles gut, ausser schlechtem netzempfang«. Später dann: »ich nehme das grad wie einen film wahr jetzt zdf« und »ich werd verrückt«, bevor er sich dann im Ritter Butzke ankündigte, um nun endlich auch feiern zu können.

Schon bald folgte das erste Aufwachen für die Politneulinge. Sie hetzten atemlos hin und her und wurden gehetzt von den Medien. Keiner der neuen Abgeordneten hatte bis wenige Wochen vor der Wahl damit gerechnet, dass er jemals im Abgeordnetenhaus sitzen würde. Doch ausscheiden, alles hinwerfen, das war seit der ersten Wahlprognose klar, konnte niemand. Die Piraten hatten nur 15 Kandidaten für die Landesliste gewählt, genauso so viele, wie die Wähler schließlich auch ins Abgeordnetenhaus schickten. Wenn einer sein Mandat abgibt, steht kein Nachrücker bereit, sein Platz bleibt leer. Streitigkeiten untereinander, Ärger mit den Ex-Abgeordneten der FDP, die ihre Büros nicht für die anrückenden Piraten freimachten, klassische Anfängerfehler wie der Versuch der 19-jährigen Susanne Graf, ihren Lebensgefährten für einige Monate als Mitarbeiter einzustellen, sorgten für hämische Kommentare der anderen Parteien und Medien. Ein Fest für die Bild-Zeitung war es, als der 24-jährige Simon Weiß wenige Wochen nach der Wahl ein Foto von sich twitterte, auf dem er sich scheinbar Kokain in die Nase zieht – in Wahrheit war es Salz, und Weiß hatte das Ganze nur simuliert.

Gleichwohl richteten sich in den ersten Wochen nach ihrem Auftauchen im Abgeordnetenhaus die Scheinwerfer grell auf die neue Partei. Die hatte ja auch laut getönt, sie wollen vieles anders machen, vor allem transparenter. Das wollte man nun sehen, und so drängelten sich zahllose Journalisten in den ersten offenen Fraktionssitzungen, schrieben viele und lange Artikel und fanden das alles unglaublich spannend. Das große Interesse ließ allerdings schon bald nach, es zeigte sich schnell, dass eine Fraktionssitzung im Normalfall sehr ermüdend und unspektakulär ist. Am Selbstbewusstsein der Piraten kratzte das keineswegs. Bei der Ausschreibung von Stellen für Fraktionsmitarbeiter stellte man den Bewerbern in Aussicht, dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben werde. Das mit der Geschichte kam dann allerdings sehr stockend in Fahrt, denn die Fraktion tat sich unendlich schwer damit, ihre Mitarbeiter auszuwählen. Die Folge war, dass es bis ins neue Jahr hinein dauerte, bis sich die Piraten endlich mit eigenen Sachthemen einmischen konnten.