Nora Roberts

Blüte der Tage

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Evelin Sudakowa-Blasberg

Zum Autor

Die amerikanische Bestsellerautorin Nora Roberts, geboren in Silver Spring, Maryland, erhielt für ihre Romane internationale Auszeichnungen, und sie war eine der ersten, die in die »Romance Writer’s Hall of Fame« aufgenommen wurde. Inzwischen hat sie mehr als 100 Romane verfasst, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden. Mit ihren Liebes- und Gesellschaftsromanen avancierte sie zu einer der meistverkauften Autorinnen weltweit.

»Erinnerung des Herzens«
»Hafen der Träume«
»Gezeiten der Liebe«
»Insel der Sehnsucht«
»Tief im Herzen«
»Verborgene Gefühle«
»Nächtliches Schweigen«
»Sehnsucht der Unschuldigen«

Epilog

»Amelia.« Stella zitterte trotz der trockenen Kleidung und des Kognaks, auf den Roz bestanden hatte. »Das ist ihr Name. Er stand auf der Glastür geschrieben, kurz bevor sie verschwand. Sie wollte den Kindern nichts tun. Sie war auf mich wütend und wollte die Kinder vor mir beschützen. Sie ist geisteskrank.«

»Bist du in Ordnung?«, fragte Logan, der besorgt vor ihr kauerte. »Ganz sicher?«

Sie nickte, trank aber vorsichtshalber noch einen Schluck Kognak. »Es wird eine Weile dauern, bis ich mich von dem Schock erholt habe, aber doch, ja. Sonst ist alles okay.«

»Ich hatte noch nie solche Angst.« Hayley blickte in Richtung des Treppenhauses. »Bist du sicher, dass alle Kinder in Sicherheit sind?«

»Sie würde ihnen niemals wehtun«, sagte Stella und legte beruhigend die Hand auf Hayleys Arm. »Irgendetwas hat ihr das Herz gebrochen und ihren Geist zerstört. Aber Kinder sind ihre große und wahrscheinlich einzige Freude.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Mitch, der erregt auf und ab ging. »Aber ich finde das absolut faszinierend und völlig verrückt. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen ...« Er schüttelte den Kopf. »Sobald mein Buch fertig ist, werde ich mit der Erforschung Ihrer Familiengeschichte beginnen. Suchen Sie schon einmal alle Dokumente und Unterlagen zusammen, derer Sie habhaft werden können.«

Unvermittelt blieb er stehen und starrte Roz an. »Ich fasse es nicht. Ich habe es gesehen, aber ich kann es einfach nicht begreifen. Eine ... Ich werde es, mangels besseren Wissens, eine Wesenheit nennen. Eine Wesenheit war in diesem Raum. Der Raum war abgeschirmt, quasi versiegelt.« Abwesend rieb er sich die Schulter, mit der er gegen die granitharte Luft geprallt war.

»Freut mich, dass wir Ihnen gleich bei Ihrem ersten Besuch so eine eindrucksvolle Vorstellung bieten konnten«, sagte Roz, während sie ihm Kaffee nachschenkte.

»Sie sind ja erstaunlich gelassen«, erwiderte er.

»Von uns allen lebe ich schon am längsten mit ihr zusammen.«

»Wie das?«, fragte Mitch.

»Weil dies mein Haus ist.« Sie sah müde und blass aus, doch in ihren Augen funkelte Kampfeswillen. »Ob die Geisterfrau hier herumspukt oder nicht, dies ist und bleibt mein Haus.« Sie nahm einen Schluck Kognak. »Aber ich gebe zu, was heute Abend hier geschehen ist, hat auch mich schwer erschüttert. So etwas habe ich noch nie erlebt.«

»Wenn ich mit der Arbeit beginne, möchte ich von allen Anwesenden erfahren, was sie gesehen haben.« Mitch warf einen Blick in die Runde. »So detailliert wie möglich.«

»Kein Problem.«

»Stella sollte sich jetzt besser hinlegen«, sagte Logan.

»Nein, nein«, wehrte sie ab. »Mir geht es gut.« Sie warf einen Blick auf das Babyfon. »Ich habe das Gefühl, dass die Geschehnisse des heutigen Abends eine Veränderung bewirkt haben. In ihr. In mir. Die Träume, die blaue Dahlie, alles hängt damit zusammen.«

»Blaue Dahlie?«, unterbrach Mitch, doch Stella schüttelte den Kopf.

»Das werde ich Ihnen ein andermal erklären. Aber ich glaube nicht, dass ich die Träume weiterhin haben werde. Ich glaube, sie wird die Blume in Ruhe wachsen lassen, weil ich ihr etwas klar machen konnte. Und ich weiß, dass mir das nur gelungen ist, weil ich sie von Mutter zu Mutter angesprochen habe.«

»Meine Kinder sind in diesem Haus aufgewachsen«, gab Roz zu bedenken. »Doch sie hat nie versucht, mir den Zugang zu ihnen zu verwehren.«

»Sie haben auch nicht, als Ihre Söhne noch klein waren, beschlossen, wieder heiraten«, erwiderte Stella und beobachtete, wie Logan zusammenzuckte.

»Hast du da nicht ein paar Zwischenschritte vergessen?« , fragte er.

Sie lächelte erschöpft. »Wenn ja, dann waren sie wohl nicht wichtig. Zurück zur Harper-Braut: Vielleicht wurde sie von ihrem Gatten oder ihrem Liebsten im Stich gelassen, als sie schwanger war, oder vielleicht ... Ach, ich weiß nicht. Ich kann im Moment nicht klar denken.«

»Das geht uns allen so. So, und jetzt bringe ich Sie ins Bett«, sagte Roz entschlossen und stand auf. »Sie sind nämlich ganz schön blass um die Nase.« Sie wandte sich an ihre Gäste. »Ich bin in ein paar Minuten wieder zurück. Harper?«

Harper verstand den Hinweis und sprang auf. »Ich hole uns frische Drinks. Wem darf ich was anbieten?«

Folgsam ließ sich Stella von Roz nach oben begleiten. Sie war in der Tat noch recht wacklig auf den Beinen. »Ich bin wirklich ziemlich müde«, sagte sie. »Aber den Weg ins Bett schaffe ich schon allein.«

»Nach einem solchen Erlebnis braucht man ein wenig Fürsorge. Logan würde das sicher gern übernehmen, aber ich denke, im Moment ist eine Frau dafür besser geeignet. Hopp, Zähneputzen und ab ins Bett«, sagte Roz, während sie das Federbett aufschüttelte.

Stella zog sich den Schlafanzug an, schminkte sich ab, putzte sich die Zähne und sah dann noch ein letztes Mal nach ihren Kindern. »Ich hatte solche Angst um meine Söhne«, sagte sie, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte.

»Sie waren stärker als die Geisterfrau.«

»Ich war noch nie so fertig. Nicht einmal...« Sie schlüpfte ins Bett. »Als Kevin verunglückte, hatte ich keine Chance. Ich konnte ihn nicht zurückholen oder um ihn kämpfen, auch wenn ich alles dafür gegeben hätte.«

»Und heute konnten Sie etwas tun. Frauen, zumindest Frauen wie wir, geben niemals auf. Ruhen Sie sich jetzt aus, Stella. Bevor ich zu Bett gehe, werde ich noch einmal nach Ihnen und Ihren Jungs sehen. Soll ich das Licht anlassen?«

»Nein, machen Sie es ruhig aus. Danke für alles, Roz.«

»Wir sind unten, wenn Sie etwas brauchen.«

Als Stella in der Dunkelheit lag, lauschte sie in die Stille, wartete. Aber sie hörte nichts, außer dem Geräusch ihres Atems.

Für heute Nacht – wenigstens für heute Nacht – war der Spuk vorbei.

Sie schloss die Augen und glitt sacht in den Schlaf über.

Einen Schlaf ohne Träume.

 

Sie rechnete damit, dass Logan am nächsten Tag im Gartencenter vorbeikäme. Doch er kam nicht. Also nahm sie an, er würde sie nach der Arbeit zu Hause besuchen. Auch das geschah nicht.

Er rief auch nicht an.

Offenbar brauchte er etwas Abstand, dachte sie. Von ihr, von dem Haus, von allem. Wie sollte sie ihm das auch verübeln?

Bei dem verzweifelten Versuch, zu den Jungen und danach zu ihr zu gelangen, hatte er sich die Hände blutig aufgeschlagen. Er würde alles für sie und ihre Kinder riskieren, und mehr brauchte Stella nicht zu wissen über diesen Mann, den sie zu lieben und zu respektieren gelernt hatte.

Den sie gut genug kannte, um ihm bedingungslos zu vertrauen. Den sie genug liebte, um zu warten, bis er zu ihr käme.

Und als ihre Kinder im Bett waren und am Himmel der Mond aufging, hörte sie das Brummen seines Pickups in der Einfahrt.

Diesmal zögerte sie nicht, sondern stürmte zur Haustür, um ihn in Empfang zu nehmen.

»Ich bin froh, dass du da bist.« Sie schlang die Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. »So unsagbar froh. Wir müssen reden.«

»Erst musst du kurz mit rauskommen. Ich habe im Wagen etwas für dich.«

»Kann das nicht warten?« Sie trat einen Schritt zurück, um ihn ansehen zu können. »Ich würde vorher gern einige Dinge klären. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob mein Gestammel gestern Abend irgendeinen Sinn ergeben hat.«

»Oh, für mich schon.« Er packte sie an der Hand und zog sie nach draußen. »Nachdem du mich erst mal zu Tode erschreckt hast, sagtest du, wenn ich mich recht entsinne, du würdest mich heiraten. Aufgrund der äußeren Umstände konnte ich nicht genauer nachfragen. Aber bevor du mich jetzt in Grund und Boden quasselst, möchte ich dir etwas geben.«

»Du willst also nicht hören, dass ich dich liebe.«

»Hm, dafür könnte ich etwas Zeit erübrigen.« Mühelos hob er sie hoch und trug sie zum Lastwagen. »Wirst du Ordnung in mein Leben bringen, Rotschopf?«

»Ich werde es versuchen. Und du? Wirst du mein Leben durcheinander bringen?«

»Zweifellos.« Langsam ließ er sie wieder zu Boden.

»Das war ein gewaltiges Gewitter gestern Abend – in jeder Beziehung«, sagte sie, ihre Wange gegen die seine schmiegend. »Nun ist es vorbei.«

»Es werden andere kommen.« Er ergriff ihre Hände, küsste beide und sah Stella dann schweigend an. Seine Augen schimmerten im Mondlicht.

»Ich liebe dich, Stella. Ich werde dich glücklich machen, selbst wenn du dich immer wieder maßlos über mich ärgern wirst. Und die Jungen ... Gestern Abend, als ich nicht zu ihnen konnte ...«

»Ich weiß.« Zärtlich hob sie seine Hände an die Lippen und küsste die aufgeschürften, geschwollenen Knöchel. »Irgendwann, wenn sie älter sind, werden sie begreifen, was für ein Glück sie hatten, zwei so wunderbare Männer als Väter gehabt zu haben. Und auch ich kann mich glücklich schätzen, zwei so wunderbare Männer getroffen zu haben, die ich liebe und die mich lieben.«

»Das dachte ich mir schon, als ich mich in dich verliebte.«

»Wann war das?«

»Auf der Fahrt nach Graceland.«

»He, du verschwendest wirklich keine Zeit.«

»Damals hast du mir auch von deinem Traum erzählt.«

Ihr Herz flatterte. »Der Garten. Die blaue Dahlie.«

»Und als du dann wieder diesen Traum hattest und mir von ihm erzählt hast ... nun ja, da begann ich nachzudenken. Also habe ich Harper gefragt, ob er mir so etwas ...«, er griff in das Fahrerhaus des Wagens und holte einen Blumentopf mit einer Pflanze heraus, » ... züchten kann.«

»Eine Dahlie«, flüsterte sie. »Eine blaue Dahlie.«

»Sie muss noch wachsen. Aber er ist sich ziemlich sicher, dass sie blau blühen wird. Der Junge hat ordentlich was auf dem Kasten.«

Tränen brannten in ihren Augen, ihre Stimme zitterte. »Ich wollte sie ausgraben, Logan. Die Geisterfrau drängte mich, es zu tun, und es schien mir, als hätte sie Recht. Ich hatte die Dahlie dort nicht gepflanzt; so schön sie auch war, sie war nicht in meinem Plan enthalten. Also grub ich sie aus, und als ich das tat, zerfiel sie zu Staub. Ich war so dumm.«

»Wir beide, du und ich, werden stattdessen diese Dahlie einpflanzen. Und dann werden wir vier rund um die Dahlie einen Garten anlegen. Gefällt dir der Vorschlag?«

Mit beiden Händen umfasste sie sein Gesicht. »Sehr.« »Gut. Harper hat nämlich wie ein Irrer herumgetüftelt, um ein tiefes, echtes Blau zu erreichen. Jetzt müssen wir nur noch abwarten, bis sie blüht.«

»Du hast Recht.« Sie lächelte. »Warten wir einfach ab.«

»Harper hat den Namen für die Neuzüchtung mir überlassen. Ich werde sie Stellas Traum nennen.«

Ihr Herz wurde weit, spiegelte sich schimmernd in ihren Augen. »Ich habe mich in dir getäuscht, Logan. Du bist absolut perfekt.«

Sie drückte den Blumentopf an sich, als wäre er ein Kind, ein unendlich kostbares, neugeborenes Kind. Dann nahm sie Logans Hand und spazierte mit ihm in den in Mondlicht getauchten Garten hinaus.

Im Haus, in den nach Blumen duftenden Räumen, streifte auch jemand herum. Und weinte.

Erstes Kapitel

Southfield, Michigan, September 2001

 

Sie hatte die Sahnesoße anbrennen lassen. Stella würde sich immer an dieses kleine, ärgerliche Detail erinnern, wie sie sich auch an das Donnergrollen des nahenden Gewitters und an das Gezanke ihrer Kinder, das aus dem Wohnzimmer zu ihr drang, erinnern würde.

Ebenso an den beißenden Geruch, an das jähe Schrillen des Rauchmelders und an ihre mechanischen Handbewegungen, mit denen sie die Pfanne vom Herd genommen und ins Waschbecken gestellt hatte.

Sie war keine begnadete, aber dennoch gute Köchin. Für dieses Willkommensmenü hatte sie »Huhn Alfredo« geplant, eines von Kevins Lieblingsgerichten. Dazu gab es Feldsalat, selbst gemachtes Pesto und frisches, knuspriges Weißbrot.

In der ordentlichen Küche ihres hübschen Vorstadthauses hatte sie all ihre Zutaten bereitgestellt und das Kochbuch mit dem Plastikeinband auf einen Ständer gelegt.

Über der frisch gewaschenen Hose und dem T-Shirt trug sie eine marineblaue Schürze, und die wilden roten Locken waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, um sie aus dem Gesicht zu haben.

Eigentlich hatte sie schon eher mit dem Kochen beginnen wollen, doch im Gartencenter, wo sie arbeitete, war die Hölle los gewesen. Sämtliche Herbstblumen waren reduziert worden, und bei dem warmen Wetter waren die Kunden in Scharen herbeigeströmt.

Normalerweise machte ihr das nichts aus. Sie liebte ihre Arbeit als Geschäftsführerin der Gärtnerei. Es tat ihr gut, wieder berufstätig zu sein, inzwischen Vollzeit, da Gavin zur Schule ging und Luke alt genug für eine Spielgruppe war. Kaum zu glauben, dass Gavin bereits ein Schulkind war.

Kevin und sie sollten sich etwas aktiver um ein drittes Kind bemühen. Vielleicht heute Abend, dachte sie lächelnd. Wenn die Willkommensfeier in die letzte und sehr private Phase eintreten würde.

Als sie die Zutaten abwog, hörte sie nebenan ein Krachen und gleich darauf lautes Geheul. Ich muss masochistisch veranlagt sein, dachte sie, während sie alles stehen und liegen ließ und hinausstürmte. Wie kann ich an ein weiteres Baby denken, wenn mich meine zwei Söhne schon fast um den Verstand bringen?

Sie betrat das Wohnzimmer, und da waren sie. Ihre kleinen Engel. Der blonde Gavin saß mit Unschuldsmiene, aber mutwillig funkelnden Augen da und ließ zwei Matchboxautos zusammenstoßen, während Luke, der von ihr den roten Lockenschopf geerbt hatte, brüllend vor seinen verstreut herumliegenden Holzklötzchen stand.

Auch ohne nachzufragen, wusste sie sofort, was geschehen war. Luke hatte gebaut; Gavin hatte zerstört.

Das war in diesem Haus eine Art Gesetzmäßigkeit.

»Gavin. Warum?« Sie hob Luke hoch und klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. »Ist gut, Schatz. Du kannst etwas Neues bauen.«

»Will mein Haus! Mein Haus!«

»Es war ein Unfall«, behauptete Gavin, doch das verräterische Funkeln blieb in seinen Augen und hätte Stella fast ein Lachen entlockt. »Das Auto hat es umgefahren.«

»Das glaube ich dir gern – nachdem du mit dem Auto auf das Haus gezielt hast. Warum kannst du nicht brav spielen? Er hat dich doch nicht gestört.«

»Ich habe gespielt. Er ist nur ein Baby.«

»Das ist richtig.« Unter ihrem eindringlichen Blick schlug Gavin die Augen nieder. »Und wenn du dich ebenfalls wie ein Baby benehmen willst, so kannst du das in deinem Zimmer tun. Allein.«

»Es war ein dummes Haus.«

»Nei-hein! Mom.« Luke legte die kleinen Hände um ihr Gesicht und sah sie mit riesigen, von Tränen überfließenden Augen an. »Es war schön.«

»Ich bin mir sicher, du kannst sogar ein noch schöneres bauen. Gut? Gavin, lass ihn in Ruhe. Ich meine es ernst. Ich bin in der Küche beschäftigt, und Daddy kommt bald nach Hause. Oder willst du gleich an Daddys erstem Tag bestraft werden?«

»Nein. Aber ich weiß nicht, was ich spielen soll.«

»Du Armer. Wirklich ein Jammer, dass du keine Spielsachen hast.« Sie setzte Luke ab. »Bau dir ein neues Haus, Luke. Und du ärgerst ihn nicht, Gavin. Wenn ich noch einmal hereinkommen muss, werde ich nicht so freundlich sein.«

»Ich möchte rausgehen!«, maulte Gavin.

»Bei dem Regen geht das nicht. Wir müssen alle drinnen bleiben, also benimm dich.«

Gereizt kehrte sie zu ihrem Kochbuch zurück und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Automatisch schaltete sie den Küchenfernseher an. Gott, sie vermisste Kevin. Die Jungen waren den ganzen Nachmittag über quengelig gewesen, und sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. In den vier Tagen ohne Kevin hatte sie sich wie eine Irre abgestrampelt und sich um das Haus, die Jungen und ihren Job gekümmert.

Wenn Kevin zu Hause war, half er im Haushalt mit, beteiligte sich an der Erziehung ihrer Söhne und spielte mit ihnen. Wäre er jetzt hier, könnte er mit den Jungen spielen – und ihre Streitigkeiten schlichten –, während sie kochte.

Oder besser noch, er würde kochen und sie mit den Jungen spielen.

Sie vermisste seinen Geruch, wenn er hinter sie trat, sich zu ihr hinunterbeugte und seine Wange an ihrer Wange rieb. Sie vermisste es, sich nachts im Bett an ihn zu schmiegen und im Dunkeln über Zukunftspläne zu reden oder über irgendeinen Streich oder eine neue Wortschöpfung der Jungen zu lachen.

Herrgott, mahnte sie sich. Man könnte meinen, er sei vier Jahre und nicht nur vier Tage fort gewesen.

Während sie die Sahnesoße umrührte und aus dem Fenster in das stürmische Treiben hinausblickte, hörte sie mit halbem Ohr zu, wie Gavin seinen Bruder zu überreden versuchte, einen Wolkenkratzer zu bauen, den sie dann beide umwerfen könnten.

Nach seiner Beförderung würde Kevin nicht mehr so häufig unterwegs sein, überlegte sie. Bald, sehr bald. Er hatte hart gearbeitet und stand nun kurz davor. Das zusätzliche Geld könnten sie gut brauchen, vor allem, wenn sie noch ein Kind bekämen – diesmal vielleicht ein Mädchen.

Dank der bevorstehenden Beförderung und ihrem Wiedereinstieg ins Berufsleben könnten sie nächsten Sommer mit den Jungen irgendwohin fahren. Vielleicht nach Disney World. Oh, das würde ihnen gefallen. Selbst wenn sie schwanger wäre, könnten sie das bewerkstelligen. Sie hatte im Lauf der Zeit etwas Geld für die Urlaubskasse gehortet – und auch für die Autokasse, um irgendwann einen neuen Wagen zu kaufen.

Als sie die Jungen nebenan lachen hörte, entspannte sie sich wieder. In Wahrheit hatte sie keinen Grund zur Klage. Ihr Leben war vollkommen, genauso, wie sie es sich immer erträumt hatte. Sie war mit einem wunderbaren Mann verheiratet, in den sie sich gleich bei der ersten Begegnung Hals über Kopf verliebt hatte. Kevin Rothchild mit seinem zögernden, süßen Lächeln.

Sie hatten zwei hübsche Söhne, ein schönes Haus in einer guten Gegend, erfüllende Berufe, gemeinsame Zukunftspläne. Und wenn sie sich liebten, herrschte immer noch dieselbe Leidenschaft wie am Anfang ihrer Beziehung.

Lächelnd malte sie sich seine Reaktion aus, wenn sie heute Abend, sobald die Kinder im Bett wären, in die neue sexy Reizwäsche schlüpfen würde, die sie während seiner Abwesenheit erstanden hatte.

Ein wenig Wein, Kerzenlicht und dann ...

Als nebenan ein neuerliches Krachen ertönte, verdrehte sie die Augen. Diesmal folgte darauf jedoch kein Geheul, sondern begeisterter Jubel.

»Mom! Mom!« Freudestrahlend kam Luke in die Küche gerannt. »Wir haben das ganze Hochhaus umgeschmissen. Kriegen wir Kekse?«

»Nein, nicht so kurz vor dem Abendessen.«

»Bitte, bitte, bitte, bitte

Er zerrte an ihrer Hose, versuchte, an ihrem Bein hochzuklettern. Stella legte den Kochlöffel aus der Hand und schob Luke vom Herd weg. »Keine Kekse vor dem Abendessen, Luke.«

»Wir verhungern!« Gavin stürmte herein, in jeder Hand ein Matchboxauto. »Wieso können wir nicht essen, wenn wir Hunger haben? Warum müssen wir überhaupt das doofe Hühnchen essen?«

»Darum.« Als Kind hatte sie diese Antwort immer gehasst, doch inzwischen hatte sie deren praktischen Nutzen erkannt.

»Wenn dein Vater nach Hause kommt, werden wir alle zusammen essen.« Sie hoffte nur, seine Maschine würde keine Verspätung haben. »Ihr könnt euch einen Apfel teilen.«

Sie holte aus der Obstschüssel auf der Theke einen Apfel heraus und schnappte sich ein Messer.

»Ich mag meinen Apfel geschält«, verlangte Gavin.

»Dazu habe ich jetzt keine Zeit.« Mit energischen Bewegungen rührte sie die Soße um. »Außerdem ist die Schale gesund.«

»Krieg ich was zu trinken?« Luke zerrte erneut an ihrer Hose. »Ich hab Durst.«

»O Gott. Gebt mir fünf Minuten, gut? Fünf Minuten. Geht rüber und baut irgendetwas. Danach könnt ihr geschälte Apfelschnitze und Saft haben.«

Ein tiefes Donnergrollen ertönte, was Gavin zum Anlass nahm, wie wild herumzuhüpfen und zu kreischen: »Erdbeben! Erdbeben!«

»Das ist kein Erdbeben.«

Mit ausgestreckten Armen lief er einmal im Kreis herum und rannte dann unter weiteren »Erdbeben!«-Rufen hinaus.

Luke stürmte ihm nach und schrie gleichfalls: »Erdbeben! Erdbeben!«

Stella presste die Hand an die Schläfen. Der Lärm war kaum auszuhalten, aber zumindest waren die beiden nun beschäftigt, und sie konnte sich wieder um das Essen kümmern.

Sie ging an den Herd zurück und lauschte ohne großes Interesse den Kurznachrichten im Fernsehen.

Die Meldung sickerte durch ihre Kopfschmerzen hindurch. Langsam drehte sie sich zu dem Fernsehgerät um.

»Flugzeugabsturz auf dem Inlandflug von Lansing nach Detroit, Michigan. An Bord waren zehn Passagiere ...«

Der Rührlöffel fiel ihr aus der Hand. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

Kevin. Kevin.

Die Kinder kreischten vor Schreck, als ein lauter Donnerschlag die Luft erzittern ließ. Stellas Welt zerfiel in Scherben, und sie sank ohnmächtig auf den Küchenboden.

 

Sie kamen, um ihr mitzuteilen, dass Kevin tot sei. Fremde Menschen mit ernsten Mienen. Sie konnte es nicht verstehen, konnte es nicht glauben. Obwohl sie es in dem Moment gewusst hatte, als aus dem kleinen Küchenfernsehgerät die Stimme des Reporters an ihr Ohr gedrungen war.

Kevin konnte nicht tot sein. Er war jung und gesund. Gleich würde er nach Hause kommen, und sie würden zusammen »Huhn Alfredo« essen.

Die Soße hatte sie anbrennen lassen. Der Rauch hatte das Schrillen des Rauchmelders ausgelöst, und in dem hübschen Haus hatte nur noch Chaos geherrscht.

Die fremden Männer rieten ihr, die Kinder zur Nachbarin zu schicken, damit sie Stella alles in Ruhe erklären könnten.

Aber wie sollte das Unmögliche, das Undenkbare erklärbar sein?

Ein Fehler. Das Gewitter, ein Blitz, und alles hatte sich für immer verändert. Nur ein Augenblick, und der Mann, den sie liebte, der Vater ihrer Kinder, lebte nicht mehr.

Gibt es jemanden, den Sie anrufen möchten?

Wen außer Kevin sollte sie anrufen? Er war ihre Familie, ihr Freund, ihr Leben.

Sie redeten über Details, die kaum zu ihr hindurchdrangen, über Ansprüche, Rechtsberatung. Sie sprachen Stella ihr Beileid aus.

Dann gingen sie, und sie blieb allein in dem Haus zurück, das Kevin und sie gekauft hatten, als sie mit Luke schwanger gewesen war. Das Haus, das sie sich gemeinsam erspart und gestrichen und eingerichtet hatten. Das Haus mit dem Garten, den sie selbst gestaltet hatte.

Das Gewitter war vorbei, es herrschte wieder Stille. War es jemals so still gewesen? Sie konnte ihren eigenen Herzschlag hören, das Summen der sich einschaltenden Heizung, das Tröpfeln des Regens aus der Dachrinne.

Und dann nahm sie ihr eigenes Wehklagen wahr, als sie in der Diele vor der Haustür zusammenbrach. Seitlich zusammengerollt, die angezogenen Knie an die Brust gedrückt, lag sie da. Sie weinte nicht, noch nicht. Ihre Tränen waren in ihrem Inneren zu einem harten, heißen Knoten verdichtet. Der Schmerz war zu groß, um weinen zu können. Sie konnte nur daliegen und diese hohen klagenden Laute ausstoßen.

Es war dunkel, als sie sich schwankend und zitternd auf die Beine kämpfte. Kevin. Kevin. Ihr Innerstes schrie seinen Namen wieder und wieder.

Sie musste ihre Kinder abholen. Sie musste ihnen erzählen, was geschehen war.

O Gott! O Gott, wie sollte sie ihnen das beibringen?

Sie öffnete die Haustür und trat in die kalte Dunkelheit hinaus. Achtlos ließ sie die Tür hinter sich offen, ging zwischen den Chrysanthemen und Astern hindurch, vorbei an den glänzend grünen Blättern der Azaleen, die Kevin und sie an einem schönen Frühlingstag eingepflanzt hatten.

Wie eine Blinde überquerte sie die Straße, ging durch Pfützen hindurch und weiter über nasses Gras auf die Verandalaterne ihrer Nachbarin zu.

Wie hieß ihre Nachbarin überhaupt? Komisch, sie kannte sie schon seit vier Jahren. Sie hatten sich zu einer Fahrgemeinschaft zusammengeschlossen, und manchmal gingen sie zusammen einkaufen. Aber sie konnte sich nicht erinnern ...

Ah, natürlich. Diane. Diane und Adam Perkins mit ihren Kindern Jessie und Wyatt. Nette Familie, dachte sie gleichgültig. Eine nette, normale Familie. Erst vor wenigen Wochen hatten sie zusammen gegrillt. Kevin hatte Hühnchen besorgt. Er grillte für sein Leben gern. Sie hatten einen guten Wein getrunken, Spaß gehabt und die Kinder hatten gespielt. Wyatt war hingefallen und hatte sich das Knie aufgeschrammt.

Natürlich erinnerte sie sich.

Dennoch stand sie nun vor der Haustür und wusste nicht recht, weshalb sie hier war.

Ihre Kinder. Natürlich, sie war wegen ihrer Kinder gekommen. Sie musste ihnen sagen ...

Nicht daran denken. Sie schlang die Arme um sich und wiegte sich hin und her. Denk jetzt nicht daran. Wenn du daran denkst, wirst du zerbrechen. In eine Million Teile zersplittern, die man nie wieder zusammenfügen kann.

Ihre Kinder brauchten sie. Brauchten sie jetzt. Hatten nur noch sie.

Sie kämpfte den heißen, harten Knoten zurück und klingelte.

Sie nahm Diane wie durch einen Schleier wahr. Verwackelt, mit unscharfen Konturen. Hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne. Fühlte ihre Arme, die sich stützend und mitfühlend um sie legten.

Aber dein Mann ist nicht tot, dachte Stella. Dein Leben ist nicht vorbei. Deine Welt ist noch dieselbe wie gestern. Du hast keine Ahnung. Keine Ahnung.

Als sie merkte, wie sie zu zittern begann, wich sie zurück. »Nicht jetzt, bitte. Ich kann nicht. Ich muss die Jungen abholen.«

»Ich kann mit dir kommen.« Unter Tränen streckte Diane die Hand aus und strich ihr über das Haar. »Soll ich mit dir kommen? Bei dir bleiben?«

»Nein. Nicht jetzt. Ich muss ... die Jungen.«

»Ich werde sie holen. Komm doch rein, Stella.«

Sie schüttelte nur den Kopf.

»Nun gut. Die Kinder sind im Spielzimmer. Ich werde sie dir bringen. Stella, wenn ich irgendetwas für dich tun kann – du brauchst nur anzurufen. Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid.«

Reglos stand sie in der Dunkelheit, starrte blicklos in die erleuchtete Diele und wartete.

Sie vernahm die Protestschreie, die Beschwerden, danach das Getrappel von Schritten. Und dann standen ihre Jungen vor ihr – Gavin mit dem blonden Haar seines Vaters, Luke mit dem Mund seines Vaters.

»Wir wollen noch nicht gehen«, teilte Gavin ihr mit. »Wir machen gerade ein Spiel. Dürfen wir das zu Ende spielen?«

»Nein. Wir müssen nach Hause.«

»Aber ich gewinne. Das ist nicht fair und –«

»Gavin. Wir müssen gehen.«

»Ist Daddy gekommen?«

Sie blickte zu Luke hinunter, in sein glückliches, unschuldiges Gesicht, und brach fast zusammen. »Nein.« Rasch hob sie ihn hoch und küsste ihn zart auf den Mund, der so sehr Kevins Mund glich. »Gehen wir.«

Mit Luke auf dem Arm und Gavin an der Hand machte sie sich auf den Rückweg zu ihrem leeren Haus.

»Daddy würde mich fertig spielen lassen«, jammerte Gavin, den Tränen nahe. »Ich will zu Daddy.«

»Ich weiß. Ich auch.«

»Kriegen wir einen Hund?«, wollte Luke wissen und drehte mit den Händen ihr Gesicht zu sich herum. »Können wir Daddy fragen? Kriegen wir einen Hund wie Jessie und Wyatt?«

»Lass uns ein andermal darüber reden.«

»Ich will zu Daddy«, wiederholte Gavin nun etwas schriller.

Er weiß Bescheid, dachte Stella. Er spürt, dass etwas nicht stimmt. Dass etwas Schlimmes passiert ist. Ich muss es den Kindern sagen. Jetzt.

»Setzen wir uns ins Wohnzimmer.« Behutsam, ganz behutsam schloss sie die Tür hinter sich und trug Luke zum Sofa. Sie nahm ihn auf den Schoß und legte Gavin den Arm um die Schulter.

»Ein Hund wäre so schön«, plapperte Luke weiter. »Ich will mich auch immer um ihn kümmern. Wann kommt Daddy?«

»Er kann nicht kommen.«

»Muss er noch in der anderen Stadt bleiben?«

»Er ...« Gott, hilf mir. Steh mir bei. »Es gab einen Unfall. Daddy hatte einen Unfall.«

»So was wie ein Autounfall?«, fragte Luke. Doch Gavin sagte nichts, sah sie nur unentwegt an.

»Es war ein sehr schlimmer Unfall. Daddy ist jetzt im Himmel.«

»Aber danach muss er wiederkommen.«

»Das kann er nicht. Er kann nicht mehr nach Hause kommen. Er muss jetzt im Himmel bleiben.«

»Er muss aber zurückkommen!« Gavin wollte weglaufen, doch sie hielt ihn fest. »Ich will, dass er jetzt zurückkommt.«

»Das würde ich mir auch wünschen, mein Liebling. Aber er kann nicht mehr kommen, sosehr wir das auch wollen.«

Lukes Lippen zitterten. »Ist er böse auf uns?«

»Nein. Nein, nein, nein, mein Schatz. Nein.« Sie presste das Gesicht an sein Haar. Ihr Magen krampfte sich zusammen und ihr Herz pochte wie eine schmerzende Wunde. »Er ist nicht böse auf uns. Er liebt uns. Er wird uns immer lieben.«

»Er ist tot«, stieß Gavin wütend hervor. Doch gleich darauf verzog er das Gesicht, und er war nur noch ein kleiner Junge, der in den Armen seiner Mutter weinte.

Sie hielt beide Kinder an sich gedrückt, bis sie eingeschlafen waren, und trug sie dann in ihr Ehebett, damit keiner von ihnen dreien allein aufwachte. Vorsichtig zog sie ihnen die Schuhe aus und deckte sie zu.

Als sie wie eine Schlafwandlerin durch das Haus wanderte, Türen absperrte und Fenster schloss, ließ sie das Licht brennen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alles sicher war, schloss sie sich im Badezimmer ein. Sie ließ sich ein heißes Bad einlaufen, das den ganzen Raum mit feuchten Dampfschwaden erfüllte.

Erst als sie in die Wanne stieg und in das heiße Wasser eintauchte, ließ sie es zu, dass der Knoten sich löste. Am ganzen Leib zitternd, saß sie in dem heißen Wasser und weinte. Weinte und weinte.

 

Sie überlebte es. Man riet ihr zu Beruhigungsmitteln, doch sie wollte ihre Gefühle nicht unterdrücken. Außerdem brauchte sie allein schon wegen der Kinder einen klaren Kopf.

Die Bestattung verlief in einem schlichten Rahmen. Kevin hätte es so gewollt. Stella kümmerte sich um jede Einzelheit für seinen Gedenkgottesdienst – die Musik, die Blumen, die Fotos. Für seine Asche, die sie über dem See verstreuen wollte, wählte sie eine silberne Urne. An diesem See hatte er an einem Sommernachmittag in einem gemieteten Ruderboot um ihre Hand angehalten.

Bei der Trauerfeier trug sie schwarz – eine Witwe von einunddreißig Jahren, mit zwei kleinen Jungen, einer Hypothek und einem Herzen, das in tausend Stücke zersprungenen war, sodass sie sich fragte, ob sie für den Rest ihres Lebens die Splitter in ihrer Seele fühlen würde.

Sie umhegte ihre Kinder und machte für sie alle Termine bei einem auf Trauerarbeit spezialisierten Therapeuten.

Aufgaben. Mit Aufgaben konnte sie umgehen. Solange es etwas Konkretes zu tun gab, hielt sie durch. War stark.

Freunde kamen, zeigten ihr Mitgefühl, trockneten Geschirr und Tränen. Sie war ihnen eher dankbar für die Ablenkung als für die Anteilnahme. Für sie gab es keinen Trost.

Ihr Vater und seine Frau, die aus Memphis anreisten, waren ihr jedoch eine Stütze. Jolene, die Frau ihres Vaters, umsorgte und bemutterte sie, wohingegen ihre eigene Mutter sich darüber beschwerte, dass sie sich mit dieser Person im selben Zimmer aufhalten musste.

Nach der Trauerfeier, als die Freunde gegangen waren und ihr Vater und Jolene nach einem innigen und tränenreichen Abschied den Heimflug angetreten hatten, zog sie das schwarze Kleid aus.

Sie stopfte es in einen Beutel für die Altkleidersammlung. Sie wollte es nie wieder sehen.

Ihre Mutter blieb. Stella hatte sie darum gebeten. Unter solch tragischen Umständen hatte sie ein Anrecht auf ihre Mutter. Welche Reibereien es auch immer zwischen ihnen gegeben hatte und nach wie vor gab, angesichts des Todes waren sie unbedeutend.

Als sie in die Küche kam, kochte ihre Mutter gerade Kaffee. Stella war dankbar, dass ihr jemand diese kleinen Aufgaben abnahm. Spontan ging Sie zu Carla hinüber und küsste sie auf die Wange.

»Danke. Ich kann keinen Tee mehr sehen.«

»Kein Wunder. Jedes Mal, wenn ich dieser Person den Rücken kehrte, hat sie ihren verdammten Tee gekocht.«

»Jolene wollte nur behilflich sein, und wahrscheinlich hätte ich vorher gar keinen Kaffee vertragen.«

Carla drehte sich zu ihr um. Sie war eine schlanke Frau mit kurzem blondem Haar. Seit Jahren bekämpfte sie die Spuren der Zeit mit regelmäßigen Besuchen bei einem Chirurgen. Skalpell und Injektionen hatten zwar einige Jahre weggewischt, ließen sie jedoch, wie Stella fand, unnatürlich und hart aussehen.

»Immer ergreifst du für sie Partei.«

»Das stimmt nicht, Mom.« Müde setzte sich Stella an den Küchentisch. Jetzt gab es keine Ablenkungen mehr, wurde ihr bewusst. Keine Aufgaben, in die sie sich flüchten könnte.

Wie sollte sie die Nacht nur überstehen?

»Ich sehe nicht ein, weshalb ich sie tolerieren soll.«

»Es tut mir Leid, wenn du dich unwohl gefühlt hast.

Aber ich fand Jolene sehr lieb. Dad und sie sind seit, ach, seit fünfundzwanzig Jahren oder so verheiratet. Allmählich solltest du dich daran gewöhnt haben.«

»Ich kann ihr komisches Gesicht und diese näselnde Stimme einfach nicht ertragen. Na ja, Wohnwagenpöbel eben.«

Stella öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Jolene kam weder aus einer Wohnwagensiedlung, noch war sie Pöbel. Aber was nutzte es, wenn sie das klarstellte? Oder ihre Mutter daran erinnerte, dass sie es war, die die Scheidung gewollt und danach noch zweimal geheiratet hatte?

»Nun, jetzt ist sie ja weg«, lenkte Stella ein.

»Stimmt, die sind wir Gott sei Dank los.«

Stella holte tief Luft. Kein Streit, mahnte sie sich. Ich habe keine Kraft zum Streiten.

»Die Kinder schlafen. Sie waren völlig erschöpft. Morgen... Nun ja, morgen sehen wir weiter. Wahrscheinlich wird mein Leben auf diese Art weitergehen. Von einem Tag auf den anderen.« Sie senkte den Kopf, schloss die Augen. »Ich denke noch immer, dass alles nur ein böser Traum ist und ich jeden Moment aufwachen werde. Und dann wird Kevin da sein. Ich ... ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Ich ertrage nicht einmal den Gedanken daran.«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Mom, ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll.«

»Er hatte doch eine Versicherung, nicht wahr?«, fragte Carla, während sie ihr eine Tasse Kaffee hinstellte.

Entgeistert starrte Stella ihre Mutter an. »Wie bitte?«

»Eine Lebensversicherung. Er hat doch sicher vorgesorgt.«

»Ja, aber –«

»Du solltest einen Anwalt wegen einer Klage gegen die Fluggesellschaft zurate ziehen. Dich mit den praktischen Dingen befassen.« Sie setzte sich mit einer Tasse Kaffee zu Stella an den Tisch. »Das kannst du sowieso am besten.«

»Mom.« Sie redete so langsam, als würde sie aus einer fremden Sprache übersetzen. »Kevin ist tot.«

»Das weiß ich, Stella, und es tut mir Leid.« Flüchtig tätschelte sie Stellas Hand. »Ich habe ja auch alles stehen und liegen lassen, um dir beizustehen, nicht wahr?«

»Ja.« Sie musste sich das vergegenwärtigen. Es anerkennen.

»Was ist das nur für eine verfluchte Welt, in der ein Mann seines Alters einfach so stirbt? Sinnlose Verschwendung. Ich werde das nie begreifen.«

Stella zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Tränen ab. »Ich auch nicht.«

»Ich mochte ihn. Tatsache ist aber, dass du jetzt in einer schwierigen Lage bist. Eine Witwe mit zwei kleinen Söhnen. Auf so etwas wird sich kaum ein Mann einlassen, das kannst du mir glauben.«

»Herrgott, Mom! Ich will keinen anderen Mann!«

»Warte es ab«, erwiderte Carla ungerührt. »Aber sieh zu, dass der Nächste Geld hat. Mach nicht dieselben Fehler wie ich. Du hast deinen Gatten verloren, und das ist hart. Verdammt hart. Aber Frauen verlieren jeden Tag ihre Ehemänner. Besser, ihn so wie du zu verlieren, als durch Scheidung.«

Der Schmerz in Stellas Innerem war zu scharf, um Trauer auszudrücken, zu kalt, um Zorn zu empfinden. »Mom, heute war Kevins Trauerfeier. Seine Asche befindet sich in einer gottverdammten Urne in meinem Schlafzimmer.«

»Du wolltest meine Hilfe.« Sie deutete mit dem Kaffeelöffel auf Stella. »Und ich versuche, dir diese Hilfe zu geben. Du wirst die Fluggesellschaft verklagen, dich um ein solides finanzielles Polster bemühen. Und um Himmels willen keinen Versager heiraten, so wie mir das immer passiert. Du kannst dir nicht vorstellen, dass eine Scheidung ein schwerer Schlag ist, was? Tja, schließlich hast du das noch nie durchgemacht. Ich schon. Zweimal. Du weißt es noch nicht, aber jetzt steht mir das dritte Mal bevor. Ich bin mit diesem Idioten fertig. Du hast keine Ahnung, was ich mit ihm durchgemacht habe. Er ist nicht nur ein rücksichtsloses, großmäuliges Arschloch, sondern er betrügt mich auch.«

Seufzend stand sie auf, schnitt sich ein Stück Kuchen ab und nahm wieder Platz. »Wenn er meint, dass ich das dulde, hat er sich gründlich getäuscht. Ha, ich würde zu gern sein dummes Gesicht sehen, wenn er die Scheidungspapiere erhält. Heute.«

»Tut mir Leid, dass deine dritte Ehe nicht funktioniert hat«, sagte Stella steif. »Aber es fällt mir schwer, Mitleid zu empfinden, da sowohl deine Ehen als auch deine Scheidungen deine eigenen Entscheidungen waren. Mein Mann ist tot. Und das war ganz bestimmt nicht meine Entscheidung.«

»Denkst du, ich will das alles noch einmal durchmachen? Denkst du etwa, es macht mir nichts aus, wenn ich zu dir komme, um dir beizustehen, und dann dieses Flittchen deines Vaters vorgesetzt kriege?«

»Sie ist seine Ehefrau, die sich dir gegenüber immer korrekt verhalten hat.«

»Nach außen hin.« Carla schob sich einen Bissen Kuchen in den Mund. »Glaubst du, du bist die Einzige, die Probleme hat? Und Kummer? Man schüttelt das nicht mehr so einfach ab, wenn man auf die fünfzig zugeht und plötzlich allein leben muss.«

»Die fünfzig hast du ja bereits überstanden, Mom, und die Scheidung war, wie gesagt, dein eigener Wunsch.«

Wütend kniff Carla die Augen zusammen. »Dein Ton gefällt mir nicht, Stella. Das muss ich mir nicht bieten lassen.«

»Nein, das musst du nicht. In der Tat wäre es vermutlich für uns beide das Beste, wenn du abreist. Sofort. Es war eine schlechte Idee, dich zum Bleiben aufzufordern. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«

»Wenn du willst, dass ich gehe, bitte sehr!« Carla stand auf. »Dann werde ich eben wieder nach Hause fahren. Du warst schon immer ein undankbares Geschöpf, das mir nichts als Ärger bereitet hat. Falls du mal wieder eine Schulter zum Ausheulen brauchst, dann wende dich an deine provinzielle Stiefmutter.«

»Das werde ich tun«, murmelte Stella, während Carla aus der Küche rauschte. »Sehr gern sogar.«

Sie stand auf, um ihre Tasse zum Spülbecken zu bringen. Statt die Tasse ins Becken zu stellen, ließ sie sie, einem inneren Drang folgend, einfach hineinfallen. Am liebsten hätte sie alles um sich herum kaputtgeschlagen, wie das Schicksal auch sie zerstört und gebrochen hatte.

Den Rand des Spülbeckens umklammernd, betete sie, dass ihre Mutter so schnell wie möglich packen und abreisen würde. Sie wollte sie nicht mehr hier haben. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, ihre Mutter könnte ihr Trost bieten? Ihr Verhältnis hatte sich nicht verändert, war so kalt wie eh und je. Es gab keine Verbindung, keine Gemeinsamkeit.

Und sie hätte, weiß Gott, des Trostes bedurft. Vor allem für diese eine Nacht. Morgen war ein neuer Tag, den sie irgendwie überstehen würde. Aber heute Nacht wäre sie gern im Arm gehalten und getröstet worden.

Mit zitternden Fingern sammelte sie die Scherben aus dem Spülbecken und warf sie weinend in den Mülleimer. Dann ging sie zum Telefon und bestellte für ihre Mutter ein Taxi.

Sie wechselten kein Wort mehr miteinander. Stella fand, so sei es am besten. Nachdem sie hinter ihrer Mutter die Tür geschlossen hatte, lehnte sie sich dagegen und lauschte dem abfahrenden Taxi.

Danach sah sie nach ihren Söhnen, zog die Bettdecken zurecht und küsste jeden sanft auf die Stirn.

Ihre Söhne waren nun alles, was sie hatte. Und sie war alles, was ihre Söhne hatten.

Sie würde eine bessere Mutter werden, schwor sie sich. Geduldiger. Nie, nie würde sie ihre Söhne im Stich lassen. Nie weggehen, wenn ihre Söhne sie brauchten.

Und, bei Gott, wann immer sie des Trostes bedurften, würde sie da sein. Egal, warum. Egal, wann.

»Ihr steht für mich an erster Stelle«, flüsterte sie. »Ihr werdet immer an erster Stelle stehen.«

Im Schlafzimmer zog sie sich aus und nahm Kevins alten Flanellmorgenmantel aus dem Schrank. Sie zog ihn über, hüllte sich in diesen vertrauten, herzzerbrechenden Duft.

Eng zusammengerollt lag sie auf dem Bett, schloss die Augen und betete, dass diese Nacht vorüberginge.