Österreich ist schön-oder?

Christoph Braendle (Hg.)

ÖSTERREICH IST SCHÖN, ODER?

Eingewandert aus der Schweiz

Federschwert

Christoph Braendle (Hg.)

ÖSTERREICH IST SCHÖN, ODER?

Eingewandert aus der Schweiz

Czernin Verlag, Wien

Braendle, Christoph (Hg.): Österreich ist schön, oder? Eingewandert
aus der Schweiz / Christoph Braendle (Hg.)
Wien: Czernin Verlag 2012
ISBN: 978-3-7076-0359-0

© 2012 Czernin Verlags GmbH, Wien
Umschlaggestaltung: sensomatic
Lektorat: Eva Steffen
Produktion:
ISBN Epub: 978-3-7076-0359-0
ISBN PDF: 978-3-7076-0372-9
ISBN Print: 978-3-7076-0352-1

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

Prolog

Diese Geschichte handelt von einem Musiker namens M., der einst nach Wien kam, um hierzubleiben, und den man nach dem Ende seiner irdischen Existenz in ein Armengrab gab, das er mit anderen zu teilen hatte.

Allerdings spielt die Geschichte nicht in einem fernen Damals und nicht in den Bereichen des Historischen, sondern in der Vorgegenwart und im Jetzt, und sie handelt nicht von einem musikalischen Genie, sondern von einem Spielmann und Musikanten, der zwar auch über ein beachtliches Repertoire verfügte, aber unfähig war, damit Geld und Besitztümer zu erwerben. Statt zu brillieren, soff er, und statt zu komponieren, fand er sich lieber in einem schlichten Lied, dessen Refrain nun wirklich jeder kennt:

Oh, du lieber Augustin / Augustin, Augustin / Oh, du lieber Augustin / Alles ist hin!

Das Lied erzählt von einer bitteren, schlimmen Zeit: Schicksalsschwer und wie Glockenschläge dröhnen die Worte, um ein Unheil nicht nur zu verkünden, sondern um es zu besiegeln. Wuchtige schwarze Moll-Akkorde, möchte man meinen, und man fürchtet, dass unser M. ein trüber Mensch gewesen sein muss, ein dem Tragischen Zuneigender oder ein armer Tropf. Zum Glück liegt man mit beidem falsch. Das Lied ist leicht, hell und fröhlich und in Dur, und genauso hell, leicht und fröhlich war unser M.

So ist auch das eine leichte, fröhliche Geschichte über Musik und über einen Musikanten, der früh begriff, dass man in Wien den Tod nicht fürchtet, weil man das Leben nicht ernst zu nehmen beliebt.

Als wir M. besuchten, war Wien bitterkalt. Zentralfriedhof. Sektor 36, Reihe 25, Platz 97. Das Armenfeld wirkt ungepflegt. Ein paar starre Krähen hocken in kleinen Gruppen auf dem hart gefrorenen Schnee. Die Monumente berühmter Kollegen grüßen herüber zum letzten Lager unseres M., das er im Laufe der Zeit mit anderen Mittellosen teilen wird, bis sie dereinst zu viert im schmalen Schacht zu ruhen haben werden. M. wird es recht sein, er war nie gern allein. Das Grab ist bar jeden Blumenschmucks, aber es gibt immerhin ein Holztäfelchen mit seinem Namen drauf. Noch kann man ihn lesen, noch steht das Täfelchen, aber es neigt sich schon sehr und wird wohl bald von den Unbilden der Witterung vernichtet worden sein.

Rock ist weg, Stock ist weg / Augustin liegt im Dreck. / Oh, du lieber Augustin / Alles ist hin!

M. war zu Fuß nach Wien gekommen. Er wird über die Hütteldorfer und die Mariahilfer Straße stadteinwärts spaziert sein, und es ist gut möglich, dass er für diesen im Vergleich zur übrigen Reise nichtigen Rest Wochen oder Monate verschwendet hat. Er war in Begleitung einer Ratte, mit der er redete. Er plauderte gerne mit Fremden, erzählte, dass er Schweizer sei und ein normales Leben geführt habe, samt Ehefrau, fünf Kindern, Beruf und allem, was der Bürgersinn verlangt.

Aber dann habe er Dummheiten gemacht und Geld unterschlagen. Er sei zuerst im Gefängnis gelandet und nachher beim Zirkus, als Tierbändiger und musikalischer Clown. Nein, Verwandtschaft habe er keine mehr. Man habe ihn verstoßen. In Salzburg sei mit dem Zirkus letzte Station gewesen. Nachher habe er es auch dort nicht mehr ausgehalten. Zu anstrengend, zu viele Regeln, zu wenig Freiheit. Die Freiheit war ihm das Wichtigste. Seine Freiheit. Er war in seiner bürgerlichen Existenz krachend gescheitert, er weigerte sich, an irgendeine Art von Lohnarbeit auch nur zu denken, und schwor sich und allen, die es hören wollten, dass er bis ans Ende seiner Tage ohne eine Verpflichtung zu bleiben gedenke. Aber als Mann mit vielen musikalischen Talenten nahm er an, in Wien am besten aufgehoben zu sein, weil, wenn es um Musik geht, sich nichts mit Wien vergleichen lässt. M. wurde Straßenmusikant.

Wahrscheinlich hielt er sich für einen späten Nachfahren des lieben Augustin, jedenfalls bildete er den Bodensatz des Musiklebens und befand sich zeitlebens in größtmöglicher Äquidistanz zur Hochkultur. Vielleicht ist es gerade ein Zuviel an Hochkultur in dieser Stadt, das einen wie M. so besonders machte. Jedenfalls wirkte er wie ein Paradiesvogel im Grau eines Taubenschlags.

Zu jener Zeit hatte sich Wien vom großen Krieg noch nicht wirklich erholt, die Wiener fühlten sich von der Geschichte verlassen und von der Gegenwart verraten, sie schmollten dumpf und düster vor sich hin oder leisteten gegen die Moderne Widerstand, indem sie sich dem Morbiden ergaben und der Melancholie:

Und selbst das reiche Wien / Hin ist’s wie Augustin. / Weint mit mir im gleichen Sinn / Alles ist hin!

Da kam einer wie M. gerade recht. Er war ein Lebendiger, ein Provokateur. Er spielte ein sperriges Instrument, die Teufelsgeige, auch Bumbass genannt, welche nicht feine Melodien erzeugt, sondern Lärm, und die man in abgelegenen Gebirgstälern verwendet, um böse Geister zu vertreiben. M. erkannte, dass es in Wien zu viele üble Geister gibt. Er benützte, was ihm in die Finger kam, um ihrer Herr zu werden. Er spielte auch die Maultrommel und die Trompete, er schlug Löffel aneinander und jegliches Küchengeschirr. »G’schamster Diener, mein Arsch ist kein Wiener«, war ein Stehsatz von M., wenn er auf der Kärntner Straße, dem Graben, beim Stock im Eisen und vor dem Stephansdom spielte, solange die Polizei nicht einschritt; er hielt den Hut hin und sammelte Geld, um es nächtens allein oder mit Freunden zu vertrinken. Er fand Bewunderer, die ebenfalls gegen die Muffigkeiten und Verkrustungen ihrer Stadt aufbegehrten und in M. einen Verbündeten vermuteten. Er trug immer schwarze Militärstiefel, dazu schwarze Spitzeristrümpfe, einen kurzen Rock, ein schwarzes Leibchen und ein Seeräubertuch auf dem Kopf. Er war radikal, er schockierte und ging weiter als alle anderen. Wer ihn näher kannte, wusste allerdings, dass er ein schüchterner Mensch war, solange man ihn mit seinem Bier in Ruhe ließ. Natürlich fanden sich Leute, die ihn anzustacheln und mit Schnaps abzufüllen verstanden, bis er sich zu exhibitionieren und sein Zumpferl herumzuzeigen begann. Gelächter, Schenkelklopfen: Ein Nackerter kommt gut an in Wien!

Er war der Narr, über den man lachte, und er landete in manchen Gruben, aus denen er jedes Mal herausstieg, weil er Schutzengel hatte. Schließlich kennt die Welthauptstadt der Musik zwar Gesetze gegen die Landstreicherei, aber keine, die das Musikmachen prinzipiell verbieten, wenigstens am Tage nicht und im Besonderen nicht, solange man nicht die öffentliche Ordnung stört. Die Behörden ließen M. also meistens gewähren. So nett kann Wien nämlich sein.

M. schlief, wo es ging, solange es sich nicht um ein Obdachlosenheim handelte. Dafür war er sich eindeutig zu gut. Ich sah ihn oft in jener Zeit. Ja, M. ging es blendend in Wien. Er war beliebt. Er hatte eine Lebensgefährtin, eine schwarze Hündin namens Senta. Er sah auf eine verschmitzte Art gut aus und immer besser, je älter er wurde. Bald gab es in seinem Mund keine Zähne mehr, aber trotzdem lachte er fröhlich und viel. Er wurde porträtiert, karikiert und in einer Radiosendung als Anarchist gefeiert. Ein Szenefriseur verpasste ihm gratis die verwegensten Frisuren. Es war fast schon eine Ehre, von ihm angeschnorrt zu werden. Am meisten freute ihn allerdings, dass er in seinen Stammkneipen nicht um Bier betteln musste, sondern stets ein frisch Gezapftes auf dem Tresen fand, wenn er und seine Senta ihre Runden mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks absolvierten. Vor allem verfügte er ganz offiziell über die Erlaubnis, seinen Schlafsack in eine Bretterbude hinter Hübners Kursalon am Stadtpark zu legen.

Inzwischen spielte er nicht mehr nur auf der Straße, sondern in Kneipen und auf Hochzeiten, Begräbnissen und bei Ausstellungen jeglicher Art. Trotz alledem darf man M.s Beiträge zur Wiener Musikgeschichte mit Fug als völlig sinn- und nutzlos bezeichnen. Er hat keinen Stil erfunden und keine neue Wiener Schule begründet, aber vielleicht war er ein lebendes Zeichen dafür, dass man auffallen und sich über die Regeln hinwegsetzen muss, wenn man anerkannt werden will und etwas zu erreichen gedenkt. Ehrgeiz entwickelte er trotzdem nicht, obwohl der ihn weit hätte bringen können. Inzwischen hatte sich nämlich herumgesprochen, dass man in Wien nicht mehr nur mit Klassik, sondern mit fast allem überleben kann, das Wohl- und Missklang erzeugt. Der Weg vom Stephansdom zur Staatsoper führte nun durch ein Potpourri der Musikstile und nicht mehr bloß durch Strauss, Strauss, Strauss, ein bisschen Schubert und dann wieder Strauss.

So wurde M. alt, und er wurde müde. Hübners Kursalon wechselte die Besitzer, die neuen stellten M. auf die Straße. Von da an ging es steil bergab mit ihm. Er besaß nichts mehr, was er nicht auf oder unter seinen Kleidern hätte tragen können. Du weißt gar nicht, sagte er einmal, wie viele Musikinstrumente mir von sogenannten Kollegen schon gestohlen worden sind. Der Wahrheit näher kam, dass er vieles ganz einfach verlor. Am Ende stand er dort, wo er sich am Anfang befunden hatte. Er fühlte sich verstoßen und verlassen und mutterseelenallein. Nur noch Senta kannte er. Sie war seine Gefährtin, sein Instrument, seine Stütze und Zuversicht, aber auch sie konnte nicht verhindern, dass sich die rasante Talfahrt fortsetzte bis zu einem Punkt, da er nur noch ein Wrack war, ein körperliches Wrack, ein seelisches Wrack, ein lebendigen Leibes Verwesender, der so sehr gestunken hat, dass man ihn in seinen Lieblingslokalen auf einen Stuhl verbannte, den man vor den Eingang stellen musste, weil er alle Räume mit seinen Ausdünstungen verpestete.

Geld ist weg, Mädel ist weg / alles weg, alles weg. / Oh, du lieber Augustin / alles ist hin.

M. kam ins Spital, er starb, bald war er tot. Als man ihn begrub, war Wien bitterkalt seit vielen Wochen. Und doch versammelten sich fünfzig Leute, weil ein Musiker in die Erde kam, der zwar von auswärts, nämlich der Schweiz, hergezogen, aber dennoch irgendwie berühmt war und auch einen Ruf hatte, wenn auch nicht den besten.

Die fünfzig Trauergäste glichen den starren Krähen, die hier und da in kleinen Gruppen auf dem Schnee hockten, sie waren schwarz gekleidet, aber nicht, um die Trauer zu zelebrieren, sondern weil sie immer schwarz gekleidet sind, und sie trugen ihre schwarzen Sonnenbrillen nicht, weil das Licht besonders hell oder der Schnee besonders grell gewesen wäre, sondern weil sie immer Sonnenbrillen tragen, vor allem nachts. Es war ein Publikum, dessen Wach- und Lebenszeiten sich vor allem in die Stunden zwischen Mitternacht und Morgendämmerung zusammendrängen; und es war der letzte Auftritt und Abgang des Musikers M. Die Gemeinde Wien, erzählt Doris, hat sich wirklich Mühe gegeben und ein Blumenbukett zur Verfügung gestellt. Doris ist einer der wenigen Engel, die sich bis ganz zum Schluss um M. gekümmert haben. Es ist alles sehr würdig abgelaufen, sagt sie, sehr ergreifend, sehr schön.

Zehn Jahre muss das her sein, sagt Bane, der so etwas wie ein Schutzgott der Nachtschwärmer ist. Wirklich schon so lange? Zehn Jahre? Ich habe lange nicht mehr an M. gedacht, aber jetzt … Er springt mir geradewegs vor die Augen. Er war ein guter Mensch, der M., aber dass es schon so lange her ist, dass wir ihn begraben haben! Und es steigen ihm, wie all den anderen, mit denen wir über M. sprechen, Tränen in die Augen, der Rührung vielleicht oder der Freude, dass es M. gelungen ist, aus der Pestgrube des Vergessens herauszusteigen ans Licht und in die Erinnerung.

Wir haben uns, fährt Doris fort, nachher ins Gasthaus gegenüber vom Haupteingang des Zentralfriedhofs gesetzt, wir haben Bier und Magenbitter getrunken auf M., und irgendwann hat einer zu singen angefangen, und dann haben wir all die wunderbar makabren Heurigenlieder gesungen, die den Tod versüßen:

Augustin, Augustin / Leg nur ins Grab dich hin! / Oh, du lieber Augustin / Alles ist hin!

Babett Arens

Geboren 1959 in München, aufgewachsen in der Nähe von Zürich. Ausbildung an der Schauspielakademie in Zürich. Erstes Engagement am Theater Basel. Danach am Schauspielhaus Zürich und am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1991 in Wien am Volkstheater – zeitweise auch am Burgtheater und im Schauspielhaus. 2001 bis 2005 am Schauspiel Frankfurt. Diverse Auftritte vor allem in Schweizer Filmen, zuletzt Giulias Verschwinden von Christoph Schaub. Seit 2009 ist Babett Arens auch als Regisseurin tätig.

Lieblingsort: Kaiserau bei Admont

Zum ersten Mal kam ich 1989 mit einem Gastspiel nach Wien. Ich wollte kaum glauben, dass eine deutschsprachige Stadt so schön sein kann, man also hier im Gegensatz zu anderen schönen Städten wie Paris, London oder Lissabon tatsächlich die Möglichkeit hat, in seiner Muttersprache zu arbeiten, was für den Schauspielberuf nicht unwesentlich ist. Als zwei Jahre später das Angebot kam, am Volkstheater zu spielen, sagte ich sofort zu. Diese erste Produktion war allerdings fürchterlich – die Regisseurin wurde ausgetauscht, und mir stellte man frei auch zu gehen. Normalerweise wäre ich dieser Aufforderung nachgekommen, weil ich mich mit der Regisseurin solidarisch fühlte und die Kollegen als sehr unflexibel und unfair empfand. Ich lief einen Tag durch die Stadt, um mir klar zu werden, wie ich mich nun verhalten solle. Irgendwann – nach zahlreichen Kaffeehausbesuchen und verheulten, ratsuchenden Gesprächen mit Kollegen, die ich aus früheren Zeiten kannte –, beschloss ich, mich nicht aus Wien vertreiben zu lassen. Ich stand die Produktion mit einem neuen Regisseur durch, und es wurde wider Erwarten eine ganz akzeptable Vorstellung, sodass ich anschließend noch über Jahre am Volkstheater weiterarbeitete und schließlich ganz nach Wien übersiedelte.

Obwohl ich die Stadt zu meiner Lebensstadt erkor, dauerte es lange (und es dauert noch immer), bis ich gewisse Gepflogenheiten zu verstehen begann. So dachte ich wahrlich, der Portier des Volkstheaters, ein sehr freundlicher älterer Herr, mache sich über mich lustig, wenn er mich jeden Tag mit »Küss die Hand, gnä Frau« begrüßte. Eine Zeit lang nahm ich das hin, aber irgendwann wurde es mir zu blöd, und ich blaffte ihn an, er solle es ein für allemal unterlassen, mich mit »gnä Frau« anzusprechen. Ich sei keine gnä Frau und wolle mir auch unter keinen Umständen die Hand küssen lassen, wozu er übrigens nie Anstalten machte. Obwohl ich jetzt – mit einer Unterbrechung von vier Jahren – seit beinahe zwanzig Jahren hier lebe, gibt es immer noch Redensarten und Umgangsformen, die auf mich befremdlich wirken. So bin ich nach wie vor relativ unempfänglich für den berühmten Wiener Schmäh – wir Schweizer haben in gewissen Dingen wahrscheinlich einen anderen, sicher etwas schwerfälligeren Humor, und uns ist eine gewisse penetrante Genauigkeit und »Rechtschaffenheit« eigen. Vor Kurzem sah ich einen Dokumentarfilm über den Schweizer Autor Peter Bichsel. Eine solche Bedächtigkeit und penible Genauigkeit wäre für einen österreichischen Autor wohl unvorstellbar. Eine Lieblingsstadt von Bichsel war Paris, obwohl er noch niemals einen Fuß in diese Stadt gesetzt hatte, aus Angst, sie könnte seiner Traumvorstellung nicht gewachsen sein. Der Schweizer Filmemacher Eric Bergkraut hat Bichsel überredet, mit ihm im Zug nach Paris zu fahren. Bichsel willigte zwar wider Erwarten ein – verließ aber niemals den Gare de l’Est, in welchem sich auch sein Hotelzimmer befand. Dieses Zimmer und die kleine Bar gegenüber des Bahnhofs sollten – abgesehen von einem kleinen Ausflug zu einem von Rilke beschriebenen Karussell, welches sich im Jardin de Luxembourg befand – seine einzigen Berührungspunkte mit Paris bilden.

So stur kann nur ein Schweizer sein! Das hat im Fall von Bichsel sicherlich nichts mit mangelnder Neugierde zu tun – im Gegenteil –, man spürt im Laufe dieses Films, wie sehr er sich auf diese paar hundert Quadratmeter Paris einlässt. Er hängt stundenlang aus dem Fenster und schaut. Dann sitzt er auf seinem Bett und sinniert über die Welt, und man gewinnt das Gefühl, dieser Mensch könne einfach keinen falschen Gedanken haben, so konsequent und aufrecht wie der ist!

Ja, diese Aufrichtigkeit kann natürlich – wenn sie nicht gerade von einem Dichter wie Bichsel stammt, der ja Gott sei Dank auch einen skurrilen Humor hat –, auch zu einer kultivierten Langeweile führen.

Überhaupt kann man anhand der Dichter den Unterschied zwischen Schweizern und Österreichern gut erkennen. Diese hartnäckige Wahrheitssuche auch in der Sprache ist bei vielen Schweizer Autoren zu finden, so z. B. auch bei meinem Lieblingsautor Thomas Hürlimann. Die österreichischen Autoren scheinen mir dagegen, bei aller Kritik, die sie äußern – was sie übrigens viel mehr tun als die Schweizer Autoren –, verspielter, theatralischer, sinnlicher und katholischer zu sein.

Nicht umsonst möchte jeder Schauspieler nach Wien. Hier wird er geachtet, bewundert und geliebt. In meinem Fall war das allerdings nicht der Grund, hierherzukommen: Ich fühlte mich anfangs fast überrumpelt von so viel Zuneigung (welche sich leider etwas gelegt hat, was mir natürlich auch wieder nicht recht ist).

Jetzt lebe ich schon seit bald zwanzig Jahren hier, und es fehlen mir eigentlich nur der Migros und mein Wahlrecht. Ich finde es wirklich skandalös, dass ich nach so vielen Jahren, in denen ich mehr oder weniger Steuern gezahlt habe und den aus Österreich stammenden Vater meines in einem österreichischen Krankenhaus zur Welt gebrachten Sohnes geheiratet habe, nach wie vor hier mein Kreuzerl (Chrüzli) nicht abgeben darf. Seit meiner Heirat könnte ich das zwar tun, müsste mich aber im Gegenzug von meinem kostbaren Schweizer Pass trennen. Aus unerfindlichen Gründen sperrt sich da immer etwas in mir! Da scheint noch immer eine Spur Patriotismus in mir zu wabern. Stolz kann man auf diesen Pass nämlich wahrlich nicht sein. Nach der Wahl kürzlich in der Schweiz (Eidgenössische Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer) überlege ich zum ersten Mal ernsthaft, den Schweizer Pass abzugeben.

Max Bühlmann

Geboren 1956 in Rickenbach, Kanton Luzern. Lebt seit 20 Jahren in Wien.

Ausstellungen: 1998, Zürich Kunsthof: Die Malerkapelle. 2001, Remise Bludenz. 2006, Luzern Kunstpanorama: Weiße Galerie, black Box, gelbe Skulptur und rotes Büro. 2007, Korea: 9dragonheads. 2010, Bratislava: nähe – ferne, kuratiert von Peter Lindner.

Werke in öffentlichen Sammlungen: Kunstmuseen Luzern, Kanton Luzern, Stadt Luzern, Zürich, Stadt Zürich, Neuchâtel, Solothurn, Österreichische Nationalbank, Gemeinde Wien, Republik Österreich.

Max Bühlmann weist mit den hier abgedruckten Fotografien auf das Bildgesicht einer durch architektonische Unschärfen gefährdeten Stadt hin.

Lieblingsort: Gumpoldskirchen

Anne-Caroline Cosendai

Geboren 1975 in Payerne im Kanton Waadt. Sie lebte bis 2001 in Cudrefin und absolvierte 2006 ihren »Master in Science« in Biologie in Neuchâtel.

Anne-Caroline Cosendai kam nach Wien, um ihre Dissertation zu schreiben, die sie 2010 abschloss: »Geographical parthenogenesis – a case study on evolution, reproduction and genetic diversity of Ranunculus kuepferi«.

Der Beitrag zu diesem Buch entstand ursprünglich auf Französisch.

Lieblingsort: Hm, schwer … Viele Orte, Kaffeehäuser oder Wanderwege in und um Wien herum. Der Kahlenberg mit dem schönen Blick, der Donauturm, das Belvedere, der Botanische Garten, das Palmenhaus. Die Natur in der Stadt. Steinhof. Vielleicht am liebsten die Terrasse des Instituts für Botanik mit Blick auf das Belvedere und den Botanischen Garten: schönste Sonnenauf- und -untergänge.

Als ich nach Wien gekommen bin, Anfang Jänner 2006, war alles ein bisschen chaotisch. Ich hatte noch keine Wohnung oder einen anderen Ort, an dem ich hätte unterkommen können, also war ich die erste Woche in einer Jugendherberge. Wiener haben mir kaum geholfen, die anderen Ausländer haben mir Tipps gegeben, wo ich eine Wohnung finden kann. Ich habe gar nicht gewusst, wo ich anfangen soll, und die Sprachbarriere (ich komme aus der Gegend von Neuchâtel) kam noch dazu, schlimmer als ich dachte. Natürlich konnte ich mich auf Deutsch verständigen, aber so vertraut mit der Sprache war ich noch nicht. Vor meiner Abreise, in der Schweiz, hatte ich so viel zu erledigen und ich hätte auch gar nicht gewusst, wie ich von dort aus hätte suchen können. Dann: Wo suchen? Mit welchen Mitteln? Wie soll ich die Annoncen lesen, was bedeutet Ablöse? Was ist ein befristeter Vertrag, was ist eine WG? All diese Ausdrücke, die nur in einem bestimmten Land so heißen …

Eine große Überraschung für mich war dann die Reaktion der anderen: Normalerweise würden die Österreicher in die Schweiz gehen, um dort zu studieren, und ich bin nach Wien gekommen, um eine Diss zu schreiben? Das war für die Leute völlig unlogisch, obwohl Wien eine große und berühmte – die erste deutsche – Universität mit langer Tradition hat. Viele spätere Nobelpreisträger haben dort studiert. Aber das wusste ich alles nicht, als ich angekommen bin. Jetzt bin ich stolz, dass ich dort an der Uni war, wo Schrödinger, Freud und andere berühmte Wissenschaftler studiert haben.

Albtraum Administration: Das Krankenversicherungssystem ist – zumindest bis man sich auskennt – ein ziemlich großes Thema. Wenn alles gut geht, ist das natürlich kein Problem, aber wenn man krank wird, fangen die Probleme an. Während meiner Diss bin ich Diabetikerin (Typ I, Insulintherapie) geworden. Eine chronische Krankheit, die häufige Arztbesuche und eine konstante Überwachung erfordert. Man muss alle zwei Monate zum Arzt gehen, rechtzeitig Teststreifen, Nadeln, Insulin und andere Medikamente besorgen. Das alles kann problematisch werden. Letzthin habe ich den Arbeitgeber gewechselt und bin fast gleichzeitig umgezogen. Der Arbeitgeber meldete mich falsch bei der Versicherung. Obwohl ich das rechtzeitig richtiggestellt habe, hat die Versicherung dann trotzdem meine Daten durcheinandergebracht und auch meine neue Adresse nicht gespeichert. E-Cards, Teststreifen, Rechnungen – alles ist dann an die falsche Adresse gegangen, ohne dass sie das einmal überprüft hätten. Es war wirklich schwierig, das alles wieder in Ordnung zu bringen. Was ich bei der Versicherung erlebt habe, ist kaum zu glauben.

Sich mit Wienern anzufreunden ist nicht so leicht. Die Wiener halten am Anfang Distanz, aber mit Geduld und Mühe kommt man dann doch zu guten Freundschaften. Und wenn man einmal einen Freund gewonnen hat, dann hat man ihn für das ganze Leben. Wiener sind treue Freunde und sehr großzügig. Ich bin stolz darauf, ein paar Wiener Freunde zu haben und zu wissen, dass das auch noch lange so bleiben wird.

Pierre El-Doueihi

1976 in Lausanne als Kind einer Schweizer Mutter und eines libanesischen Vaters geboren. Klavierunterricht in der Schweiz, anschließend in Deutschland bei Roberto Szidon. 1995 bis 2003 Studium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien bei Michael Krist.

Pierre El-Doueihis zahlreiche Auftritte, darunter mehrere im Rundfunk und im Fernsehen, haben ihn durch Europa und in den Libanon geführt. Er lebt und arbeitet derzeit in Wien.

Lieblingsort: Mattsee im Salzburger Seenland

Doppeldeutigkeit: Alles oder fast alles im Prozess meines Ankommens in Wien war zwiespältig. Ziemlich bald kam ich darauf, dass diese Doppeldeutigkeit nicht so bald aufhören würde! Soll das heißen, dass der leicht pejorative Sinn des Wortes zum dominanten Zeichen meiner neuen Niederlassung in Wien werden würde? Weit davon entfernt, zum Glück.

Schon meine Gründe, nach Wien zu kommen, waren zwiespältig. Ich ging, von einem wohlwollenden Schicksal gesegnet, einer vielversprechenden und aussichtsreichen Zukunft entgegen (vor allem jener, dass ich eines Tages in die Schweiz zurückkehren würde), so zog ich frei von jedem Zwang und mit der Unbeschwertheit eines 19-Jährigen einfach los, um aufregende Abenteuer zu erleben. Ich kam in Wien an: befreit, oder zumindest davon überzeugt. Frei! Na ja … Von allen Illusionen, die sich der Mensch schafft, ist jene von der Freiheit gewiss die verhängnisvollste. Was ist aus dieser Freiheit zu machen? Zu welchem Zweck ist sie da? An der Schwelle der Verwirklichung wurde mein Wünschen plötzlich verschwommen und mehrdeutig, es verflüchtigte sich … mitsamt der aufregenden Abenteuer.

Begegnungen zuerst. Ich bin Schweizer, man begegnet mir mit Höflichkeit, Neugier, immer wieder mit einer gewissen Bewunderung im Blick. (»Er ist Schweizer, hast du gewusst, Liebling? Was für ein schönes Land! Und reich! Die Schweizer haben gut daran getan, ihre Neutralität zu bewahren …«) Man lädt mich ein, man befragt mich zu meinem Land, meiner Region, die ich liebe, weil, wie Sie wissen müssen, das Genfer Becken meine Wiege ist, dort bin ich geboren und aufgewachsen, ich liebe es so wie ein Sohn seine Mutter. Ich kann es nicht genug preisen, und zwar so sehr, dass sogar Kritik (die wirklich selten ist!) wie versteckte Komplimente wirkt.

Auch da: Doppeldeutigkeit. Wenn ich es so sehr liebe, wieso bin ich weggezogen?

Man will meinen Namen wissen, immerhin ist das normal, schließlich bin ich Pianist und Solist. Wo wird man mich nächstens hören können? So sage ich ihn. Sage ihn stolz und mit Freude und mit der für Menschen aus dem Orient üblichen Großzügigkeit, denen der Name einer Person für die Identitätsbildung ausschlaggebend und eine heilige Essenz ist (bis hin zu dem Punkt, dass etwa der Name Gottes – und das müssen Sie einem Orientalen nun wirklich nicht beibringen – während Jahrtausenden nicht ausgesprochen werden durfte; außer vom Höchsten Priester, und das nur einmal im Jahr und nur in allergrößter Heimlichkeit).

So sage ich also meinen Namen: El-Doueihi. Man schaut mich immer überrascht an, meistens auch ein bisschen verlegen, manchmal sogar entgeistert. El-Dou… was? Ah, das ist … exotisch! Aber das ist nicht wirklich Schweizerisch, nicht wahr (mit leicht irritierter Intonation)? Nein, ist es nicht. Aber, gnädige Frau, wieso werden Sie blass, sind Sie vielleicht krank?

Sie müssen nämlich wissen, dass ich auch Libanese bin. Ah! Sagt man nicht, dass der Libanon die Schweiz des Nahen Ostens war? Ja, man hat das gesagt, und ja, er war es auch. Uff! Ich bin also in einem gewissen Sinn Doppelschweizer. Wer bietet mehr?

Es nützt nichts. Zwiespältig der Blick des anderen auf mich. Das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen muss, Libanese zu sein, als würde das mit dem Bild des Schweizers, das mein Gesprächspartner eben noch hatte, nicht zusammenpassen. Wie die Gegenwart eines Bettlers auf den Stufen des Hotels Imperial.

Wie jede Stadt mit Ausstrahlung ist auch Wien nicht frei von dieser Zweideutigkeit Fremden gegenüber, die sie in so großer Zahl anzieht. Trotzdem bleibt Wien für mich die Stadt, die anders ist, aus einer anderen Zeit, einer anderen Lebensart, die die Welt anders sieht. »Wien ist anders«: Ich habe diesen inhaltsleeren Satz lange für eine Plattitüde gehalten. Allerdings glaube ich inzwischen, dass der Erfinder des Slogans gar nicht wusste, wie recht er hat und wie sehr er die Stadt auf den Punkt bringt.

Hier bin ich ein anderer geworden. Das ist es, was ich Wien schulde.

Aber ich schulde es auch anderen, einem Malerfreund aus der Romandie zum Beispiel, der mir Wien näher gebracht und erzählt hat, wie Wien war, bevor ich hier eintraf. Vielleicht werde ich das eines Tages einem jungen Landsmann weitergeben können in bester Art und Weise: zwiespältig.

(Übersetzt aus dem Französischen vom Herausgeber)