LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe in der Originalsprache: Éric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran. Hrsg. von Ernst Kemmner. Stuttgart: Reclam, 2003 [u.ö.]. (Universal-Bibliothek. 9118.)
2007, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart ISBN 978-3-15-015393-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-960074-1
www.reclam.de
1. Erstinformation zum Werk
2. Inhalt
3. Personen
4. Struktur und Erzähltechnik
5. Interpretation
6. Autor und Zeit
7. Rezeption
8. Dossier pédagogique
9. Lektüretipps
Anmerkungen
»Es gibt Texte, die man so selbstverständlich in sich trägt, daß man sich nicht einmal ihrer Wichtigkeit bewußt ist. Sie schreiben sich wie von selbst nieder, es ist wie wenn man ein- und ausatmet. Man atmet sie eher aus, als daß man sie bewußt verfaßt.«1 Mit diesen Worten spielt Éric-Emmanuel Schmitt auf die Entstehung seines Erfolgswerks Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran an, mit dessen Veröffentlichung im Jahre 2001 und mit dessen Übersetzung ins Deutsche 2003 er schlagartig berühmt wurde.
Nach eigener Aussage hat er den Text in wenigen Tagen niedergeschrieben, um damit seinem Freund, dem Schauspieler Bruno Abraham-Kremer einen Gefallen zu tun. Dieser hatte kurz zuvor Ostanatolien und Sufiklöster besucht und dabei den Drehtanz der Derwische kennen gelernt. Die Freunde waren anlässlich eines Besuchs von Abraham-Kremer bei Schmitt in seinem Haus in Irland auf die Mythen der islamischen Tradition zu sprechen gekommen. In diesem Gespräch war auch ihre Beziehung zu ihren jeweiligen Großvätern, vor allem die Nähe zu ihnen und die Liebe, die ihnen zuteil wurde, ein Thema. Dies sollte sich bei der Abfassung der Erzählung dann in der Figur Monsieur Ibrahims niederschlagen.
Eine Woche nach der Trennung von Abraham-Kremer war der versprochene Text ganz unvorhergesehen bereits fertig und fand die spontane Billigung durch den Freund. Er lag zunächst in der Fassung eines Monologs für die Bühne vor, mit Erstaufführungsrecht für Abraham-Kremer. Dabei sollte es nach Überzeugung Schmitts auch bleiben. Während Schmitt den Text für nicht gewichtig genug hielt, um als Erzählung veröffentlicht zu werden, unter anderem deshalb, weil er ihm keine Anstrengung abverlangt hatte, zeigten Familie, Freunde und sein Verlag regelrechte Begeisterung für den Text. Der nachfolgende durchschlagende Erfolg sollte Letzteren Recht geben. Für den Autor ergab sich daraus folgende Erkenntnis: »Das, was einem wie selbstverständlich zufällt, taugt oft mehr als das, was man sich unter viel Mühe abringt. Der Künstler muß sich eingestehen, daß gewisse Dinge ihm eben leicht fallen. Das hat mich die Erzählung Monsieur Ibrahim und ihre Erfolgsgeschichte gelehrt.«2
Schmitt wählte nach eigener Darstellung als Schauplatz der Handlung bewusst die Pariser Rue Bleue, zum einen, weil er selbst einmal dort gewohnt hatte, zum anderen, weil dort eine starke ethnische und religiöse Durchmischung vorliegt, die hohe Anforderungen an die Toleranz gegenüber Andersdenkenden stellt: »in der Rue Bleue […] lebte eine klare jüdische Mehrheit, einige Christen und Moslems. Die Bewohner teilten nicht nur die Straße, sondern das Alltagsleben, die Lebensfreude, die Sorgen […] Freundschaften oder Neigungen entstanden zwischen Menschen, die ein wenig von überall her kamen, einer jeweils anderen geographischen oder geistigen Heimat entstammten. In diesem Viertel der einfachen Leute […] hatte ich das Gefühl, an einem Ort […] zu sein, wo Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinandertrafen, füreinander Interesse zeigten, über ihre Unterschiede lachen konnten.«3
Wie Schmitt darlegt, lag ihm daran, eine friedvolle Geschichte über die Brüderlichkeit zu schreiben, die im Gegensatz stand zu unüberwindlich scheinenden Konflikten, wie zum Beispiel dem zwischen Israelis und Palästinensern. Sie sei unter anderem sein Beitrag dazu, dass man besser zwischen Islam und Islamismus unterscheiden lerne. Darüber hinaus erfülle es ihn mit Stolz, dass Friedensbefürworter in Israel die Theaterfassung von Monsieur Ibrahim im selben Theater abwechselnd an einem Abend auf Arabisch, am nächsten auf Hebräisch aufführten.
selbstverständlich: naturellement
einatmen: ici: inspirer
ausatmen: ici: expirer
etw. verfassen: rédiger qc
Entstehung: la genèse
Erfolgswerk: le succès
schlagartig: tout d’un coup; d’un jour à l’autre
Ostanatolien: l’Anatolie (f.) de l’Est
Sufikloster: une sorte de monastère où l’on pratique le soufisme
Drehtanz: une danse où l’on tourne sur soi-même
Derwisch: le derviche
Mythos: le mythe
Nähe: la proximité
sich in etw. niederschlagen: se retrouver dans qc
spontan: de façon spontanée
Billigung: l’approbation (f.)
Erstaufführungsrecht: le droit de présenter qc pour la première fois
durchschlagend: énorme
Durchmischung: le métissage; le mélange
Anforderung: l’exigence (f.)
Moslem/Muslimin: le musulman / la musulmane
Alltagsleben: le quotidien; la vie quotidienne
Lebensfreude: la joie de vivre
Neigung: ici: la sympathie; l’affection (f.)
einem Ort entstammen: être originaire d’un lieu
unüberwindlich: insurmontable
Israeli: un Israélien / une Israélienne
Palästinenser/Paläsinenserin: un Palestinien / une Palestinienne
Friedensbefürworter/Friedensbefürworterin: le/la pacifiste
Theaterfassung: la version théâtrale
abwechselnd: tour à tour
auf Hebräisch: en hébreu
Der elfjährige Jude Moïse alias Momo (Kurzform für Mohammed) lebt ohne Mutter mit seinem Vater in der Rue Bleue in Paris. Dieser ist ein unterbeschäftigter Rechtsanwalt, kümmert sich wenig um seinen Sohn und bürdet ihm die ganze Hausarbeit auf. Auf der anderen Seite hält er ihm stets seinen Bruder Popol, der bei der Mutter lebt, als leuchtendes Beispiel vor, dem es nachzueifern gelte.
Moïse hat wenige Schulkameraden und beginnt bereits mit elf Jahren, die Prostituierten des Viertels aufzusuchen, die ihn in die körperliche Liebe einführen. Zu jener Zeit macht er auch die Bekanntschaft von Monsieur Ibrahim, einem alten Araber und Gemischtwarenhändler. Dieser übt auf den Jungen eine gewisse Faszination aus. Trotzdem klaut Moïse Waren aus dessen Laden, um Geld zu sparen und seine galanten Eskapaden zu finanzieren, nicht ahnend, dass Ibrahim längst gemerkt hat, dass Moïse oder Momo, wie Ibrahim ihn nennt, ihn bestiehlt.
Mit der Zeit schließen die beiden Freundschaft und Ibrahim wird zur wichtigsten Bezugsperson für Moïse. Nach und nach ersetzt er den Vater, der seinen Sohn immer öfter allein lässt und vernachlässigt. Der Alte berät ihn und bringt ihm beispielsweise bei, dass ein Lächeln und Freundlichkeit gewissermaßen Türöffner zu den Menschen sein können. Er schafft es, Moïse größeres Selbstvertrauen zu vermitteln und ihm seinen Schatz an Lebenserfahrung zugänglich zu machen. Gemeinsam brechen die beiden zur Erkundung einiger touristischer Viertel von Paris auf.
Eines Tages verliert Moïses Vater seine Arbeitsstelle in der Kanzlei zu und zu vertuschen