Aktiv nach einem Sinn im Leben suchen, in jeder Lebenssituation das Positive sehen und Kraft aus ihr schöpfen – das sind die Grundgedanken Viktor E. Frankls Logotherapie. Diese kann helfen, kreativer Mitgestalter des eigenen Schicksals zu werden und zu einem glückenden Leben vorzustoßen. Der „Wille zum Sinn“, der dem Menschen inne wohnt, muss immer wieder neu entdeckt und mobilisiert werden, um – trotz schwieriger Verhältnisse – zu Problemlösungen und zu einer inneren Zufriedenheit zu gelangen. Elisabeth Lukas, die „Meisterschülerin Frankls“, leitet im vorliegenden Buch an Hand von vielen berührenden Fallbeispielen an, wie man durch einen Wechsel der Perspektiven und durch innovative Handlungen sein seelisches Gleichgewicht zurück gewinnen und der Zukunft einen hoffnungsvollen Ausblick abringen kann.
Mit einer kompakten Einführung in die Logotherapie und einer tiefsinnigen Betrachtung des Evolutionsgedankens, die zu überraschenden Schlussfolgerungen führt.
Elisabeth Lukas
Heute ist der erste Tag vom
Rest deines Lebens
Schritte zu einer erfüllten Existenz
(Ein einführender Überblick)
Am 2. September 1997 starb der österreichische Psychiater und Neurologe Viktor E. Frankl in Wien im Alter von 92 Jahren. Sein Tod löste international ein starkes Echo in der Fachwelt aus. War er doch einer der letzten großen Gründerväter psychotherapeutischer Denkrichtungen, nämlich der Logotherapie und Existenzanalyse, und eine weltweit berühmte Persönlichkeit: Überlebender von vier Konzentrationslagern, Würdenträger hoher medizinischer Ehrungen, darunter von 29 Ehrendoktoraten. Mit ihm ging eine Ära zu Ende, die, was die Disziplinen der Psychotherapie und Psychiatrie betrifft, mit Genialität, Menschenkenntnis, Intuition und Weisheit zu tun hatte und weniger mit Verfahrenstechnik, künstlichem Setting und statistischer Effizienzkontrolle. So hat zum Beispiel Frankls Buch „Man's Search for Meaning“, das in den USA in Millionenauflage erschienen ist, mehr Menschen in seelischen Nöten geholfen, als er während seiner 25 Dienstjahre als Chef der Neurologischen Abteilung der Poliklinik in Wien in seinen Sprechstunden behandeln hat können. Gemäß einer Umfrage der „New York Times“ vom November 1991 über „The book that made the most difference in people's lives“, an der Tausende Leser teilgenommen hatten, wurde Frankls Buch unter den ersten zehn der hilfreichsten und einflussreichsten Bücher genannt, und zwar an neunter Stelle. (An erster Stelle stand die Bibel.)
Will man die Essenz des logotherapeutischen Gedankengutes kurz darstellen, muss man eine Auswahl treffen, denn es hat viele Facetten. Eine „Ursprungsfacette“ ist sicherlich der Widerspruch zu reduzierenden und einengenden Interpretationen des Menschseins. Frankl ist schon als junger Arzt gegen die Thesen seines frühen Mentors Sigmund Freud aufgestanden, wonach traumatisch durchlebte Kindheiten oder unterdrückte Triebimpulse den Menschen ein Leben lang steuern würden. Ebenso meldete er Bedenken gegen die Thesen Alfred Adlers an, wonach der stärkste Motor menschlichen Handelns im Bemühen um die Kompensation tief sitzender Minderwertigkeitsgefühle zu sehen wäre. Nach der Trennung von Adler entwickelte Frankl seine eigene Anthropologie, deren Kernaussage lautet: dem Menschen eignet eine existentielle (= spezifisch humane) Dimension, die ihn von den anderen Lebewesen unterscheidet, und in die die Befunde aus dem biopsychischen Raum nicht übertragbar sind. Frankl nannte sie die geistige oder „noetische“ Dimension (vom griechischen Wort Nous = Geist). Fortan konzentrierten sich seine Forschungen auf die Fruchtbarmachung dieser geistigen Dimension des Menschen zur Linderung und Überwindung seelischer Störungen.
Bald zeigte sich, dass allein das Herantragen seiner anthropologischen Konzepte an die Patienten bereits heilsam wirkt. Wir Menschen leben in Bildern, die wir uns von uns selbst, von unseren Mitmenschen, von der Welt und ggf. von Gott konstruieren. (Was allerdings nicht bedeutet, dass es hinter unseren Konstrukten keine wahren Sachverhalte gäbe.) Sind unsere Bilder mit negativen Erwartungen, Entwertungen und Verzerrungen besetzt, geht es uns nicht gut. Wir mögen uns und andere nicht, wir fürchten „Gott und die Welt“, und wir empfinden das Leben als kontinuierliche Last. Sind die Bilder im Gegensatz dazu optimistisch und daseinsbejahend, freuen wir uns öfter und es fällt uns leichter, über manch alltäglichen Kummer hinwegzukommen.
Frankl entwarf in seinen Vorträgen und Schriften das Bild des freien Menschen, der sich zu allen Umständen und Gegebenheiten noch innerlich einstellen oder verhalten kann auf eine von ihm gewählte Weise - selbst zu seinen genetischen Veranlagungen und zu seinen milieubedingten Prägungen. Der, ausgestattet mit einer „Trotzmacht des Geistes“, seinen Triebimpulsen, Minderwertigkeitsgefühlen, Frustrationen etc. nicht unterliegen muss, weil er sich geistig darüber zu stellen vermag.
„Es gibt Determinismus innerhalb der psychologischen Dimension, und es gibt Freiheit innerhalb der noetischen Dimension, die als die Dimension der spezifisch menschlichen Phänomene zu definieren wäre ... So ist denn Freiheit eines der menschlichen Phänomene. Sie ist aber auch ein allzu menschliches Phänomen. Menschliche Freiheit ist endliche Freiheit. Der Mensch ist nicht frei von Bedingungen, sondern nur frei, zu ihnen Stellung zu nehmen. Aber sie bestimmen ihn nicht eindeutig. Denn letzten Endes liegt es an ihm, zu bestimmen, ob er den Bedingungen unterliegt, ob er sich ihnen unterwirft. Es gibt nämlich einen Spielraum, innerhalb dessen er sich über sie hinaus erheben kann, womit er ja in die menschliche Dimension überhaupt erst sich aufschwingt“ (aus: V. E. Frankl, „Der Wille zum Sinn“, Piper, München, 3. Aufl. 1996, S. 156).
Den Aspekt der menschlichen Freiheit verband Frankl mit der Kehrseite desselben Aspekts, nämlich mit der menschlichen Verantwortlichkeit. Verantwortung wofür? Nun, für die jeweils sinnvollste Wahl unter den gegebenen Umständen, für den personalen Beitrag zum „Gelingen des Ganzen“.
Hier wird die Anthropologie Frankls mit psychologischen Gesichtspunkten angereichert. Ihnen zufolge ist der Mensch ein sinnorientiertes Wesen, dem ein unauslöschlicher „Wille zum Sinn“ innewohnt. Dieser Wille bricht in der Pubertät - mit dem vollen Erwachen der menschlichen Geisteskraft - als vehemente Sinn- und Identitätssuche durch und begleitet den erwachsenen Menschen als primäre Handlungsmotivation auf all seinen Wegen. Er veranlasst ihn, sich mit Engagement und notfalls Opferbereitschaft wichtigen Aufgaben zu widmen, geliebten Mitmenschen zu dienen, Werke seiner Zuneigung zu schaffen und sich auf Gebieten seines Interesses zu betätigen. Der im Innersten des Menschen verankerte „Wille zum Sinn“ verblasst auch nicht im Alter, sondern stimuliert bis zuletzt zur Ausschau nach zwar schrumpfenden doch immer noch verbleibenden Restmöglichkeiten, Schönes zu erleben, Gutes zu tun und Nützliches einzubringen. Soweit die Skizze der gesunden und mündigen Persönlichkeit. Sie erntet als (unbeabsichtigten) Nebeneffekt mit hoher Wahrscheinlichkeit glückliche Stunden, vorzeigbaren Erfolg, ein stabiles Selbstbewusstsein und insgesamt die Zufriedenheit mit einem erfüllten Leben.
Dazu konträr wird in der Logotherapie der „Modus der neurotischen Existenz“ definiert, womit wir zur Facette der Krankheitsätiologie in der Seelenheilkunde überwechseln. Der psychisch - nicht psychotisch! - Kranke verfehlt seine Sinnorientierung. Entweder strebt er direkt und krampfhaft nach Lust, Macht, Anerkennung, Zuwendung und sonstigen Eigenvorteilen, was ihn alsbald scheitern lässt, oder er flüchtet panikartig vor Unlust, Versagen, Beschämung und anderen dräuenden Unannehmlichkeiten, was ihn isoliert und schwächt. Der neurotisch verfangene, ängstliche Patient kreist mit seinen Gedanken und Gefühlen um sich selbst und seine Befindlichkeit, statt sich mutig und selbstvergessen zur Welt zu öffnen und sein Bestes in sie hineinzuverströmen. Er will sich schützen, statt Werte aufzubauen, er zittert ums Geliebtwerden statt sich liebend zu verschenken. Seine Egozentrik ist die Falle, in die er hineintappt. Und sein verlorenes Urvertrauen, auf Grund dessen er ständig um sich selbst besorgt ist, lässt diese endgültig zuschnappen.
Frankl hat sich nicht mit Spekulationen aufgehalten, was solch seelisch Kranken das Urvertrauen geraubt haben mag. Er war sich bewusst, wie eng die konstitutionell-endogenen Faktoren mit den sozial-exogenen Faktoren beim Werdegang eines Menschen vernetzt sind, und betonte immer wieder, dass noch ein dritter Faktor mitspielt: die Selbstgestaltungskraft des Menschen. Keiner wird nur „gemacht“, jeder macht auch etwas aus sich. Von vorrangiger Bedeutung für ihn waren vielmehr die Methoden zur Rückgewinnung des Urvertrauens und das therapeutische Geleit zu einem sinnorientierten Lebensstil.
Mit dem Thema „Methoden“ gelangen wir ins eigentliche psychotherapeutische Einsatzgebiet der Logotherapie. Da gibt es den genialen Methodenkomplex der „Paradoxen Intention“, der leider häufig mit den ein Vierteljahrhundert später populär gewordenen paradoxen Interventionen aus der Verhaltenstherapie verwechselt wird, z. B. mit der „Symptomverschreibung“. Die Methode der „Paradoxen Intention“ hat aber ein besonderes Charakteristikum: sie mobilisiert Selbstdistanzierungskräfte im Menschen wie Humor, Mut, Phantasie und spielerische Einwilligung in die gewaltigste „Trumpfkarte der Angst“, indem der Patient angeleitet wird, sich auf übertriebene Weise just dasjenige innig zu wünschen, was er am meisten fürchtet. Der „lächerliche“ Wunsch, z. B. von den Kollegen derart schallend ausgelacht zu werden, dass die Wände des Büros vor lauter Schallwellen wackeln, hebt die „lächerliche“ Angst vor einer Blamage aus ihren Angeln. Die Methode ist vielfach variabel und hochgradig erfolgreich, insbesondere bei Angst- und Zwangssyndromen. Letztere, die bekanntlich äußerst schwierig zu heilen sind, weil sie auf einem grundsätzlich perfektionistischen Streben aufruhen, welches verbissen verteidigt wird, sind fast nur über die Einübung von extrem gegenläufigen - eben paradoxen - Intentionen zu sprengen. Der Ordnungsfanatiker etwa, der es wagt, spaßeshalber mit dem absoluten Chaos Freundschaft zu schließen, und demgemäß zum Beweis seiner Freundschaft die Utensilien auf seinem Schreibtisch wild durcheinander rührt, hat seine Krankheit schon fast besiegt.
Ferner gibt es den Methodenkomplex der „Dereflexion“, der auf den ersten Blick in seiner Bedeutung leicht unterschätzt wird. Da jedoch zahlreiche moderne seelische Störungsformen mit starken Hyperreflexionen (Frankl), also mit einem permanenten gedanklichen Kreisen um das eigene Wohlbefinden, einhergehen, wenn nicht gar auf sie zurückgehen, ist die „Dereflexion“ ihr angemessenes Gegengewicht schlechthin. Sie intensiviert die Fähigkeit des Patienten zur Selbsttranszendenz, das heißt, in einer interessiert-liebenden Zuwendung zu Wertobjekten/subjekten seiner Umwelt über sich selbst hinauszufühlen und hinauszudenken, und zieht dadurch seine krankmachende Aufmerksamkeit von der eigenen Befindlichkeit ab, die sich - unbeachtet - erholt. Die Problemgruppen blockierter oder pervertierter Sexualität, gestörter autonomer Bewegungsabläufe, gestörter Schlafrhythmen und allgemein psychogener und psychosomatischer Erkrankungen bis hin zum gestörten Selbstwertgefühl bedürfen dringend solch dereflektorischer Aufmerksamkeitskorrekturen, da sie geradezu aufblühen, solange sie im Brennpunkt der Konzentration eines Patienten festgehalten werden. Er strampelt dann wie der Tausendfüßler in der Fabel, der sich aussichtslos verheddert, solange er den Gehvorgang seiner vielen Beinchen rational überwachen will. Ebenso sind seelisches Wohlbefinden und biologische Rhythmen vorrangig Beiprodukte sinnvoller Lebensführung und nicht per se willentlich erzielbar.
„Es ist wohl verständlich, dass so etwas wie Lebenssinn nicht ärztlich verordnet werden kann. Es gehört nicht zu den Aufgaben des Arztes, dem Leben des Patienten Sinn zu geben; aber es mag sehr wohl eine Aufgabe des Arztes sein, im Wege einer Existenzanalyse den Patienten instand zu setzen, im Leben einen Sinn zu finden, und ich halte eben dafür, dass der Sinn jeweils zu finden ist, also nicht mehr oder weniger willkürlich in etwas hineingelegt werden kann ... Niemand Geringerer als Wertheimer schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er von einem der jeweiligen Situation innewohnenden Forderungscharakter, ja von dem objektiven Charakter dieser Forderung spricht“ (aus: V. E. Frankl, „Ärztliche Seelsorge“, Deuticke, Wien, 10. Aufl. 1982, S. 236).
Der umfassendste Methodenkomplex der Logotherapie besteht in einer Palette von größtenteils philosophischen Hilfen zur „Einstellungsmodulation“. Logotherapie ist ein zutiefst philosophisches Gedankengut. Bei der „Einstellungsmodulation“ wird nun von der alten Weisheit profitiert, dass weniger unsere Bedingungen über die Qualität unseres Lebens entscheiden, als vielmehr unsere Einstellungen zu diesen Bedingungen. Wer sagt: „Der Autounfall hat mein Leben ruiniert, weil ich meinen rechten Arm verloren habe und nie mehr so schön zeichnen und malen werde können wie früher“, dessen Lebensfreude und Leidbewältigung ist erheblich geringer als die eines anderen, der sagt: „Bei meinem Autounfall habe ich enormes Glück gehabt, denn ich hätte sterben können. Ich habe zwar meinen rechten Arm eingebüßt, aber inzwischen kann ich mit der Prothese schon wieder erstaunlich gut schreiben.“
Die diversen einstellungsmodulierenden Argumentationsweisen der Logotherapie, allen voran der von Frankl favorisierte „Sokratische Dialog“, helfen Patienten, die Perspektiven zu wechseln, aus denen heraus sie Ereignisse oder Sachverhalte interpretieren. Helfen, sie so zu wechseln, dass die betrachteten Inhalte in sinnvolleres und zustimmungswürdigeres Licht getaucht sind. Dabei bleibt die Affinität von Sinn und Wahrheit streng gewahrt. Es geht nicht um beschönigende Sinndeutungen oder gar Sinnsurrogate, sondern um echte Sinnfindung in der jeweiligen Situation. Wie aber gelingt Sinnfindung? Überlegen wir, wie „Findung“ überhaupt gelingt. Wie findet jemand eine Stecknadel auf dem Teppichboden seines Wohnzimmers? Die Antwort ist einfach:
1. Indem er sucht. Ohne Suche kommt es kaum zu einer „Findung“. (Seelisch kranke Menschen haben oft die Suche aufgegeben oder suchen das Falsche, z. B. Betäubung im Alkohol statt sinnvolle Lösungen ihrer Probleme, weshalb die Sinnsuche bei ihnen neu entfacht werden muss.)
2. Indem er, wenn nötig, die Suchlandschaft erweitert. Im Gleichnis gesprochen, die Stecknadel nicht bloß unter dem Tisch, sondern auch unter den Sesseln sucht. (Seelisch kranke Menschen suchen oft bloß im Alteingeschliffenen und Ausgeschöpften, statt ihren Aktionsradius auszudehnen, weshalb sie inspiriert werden müssen, die Sinnsuche mit dem Wagnis des Unbekannten zu paaren.)
3. Indem die Stecknadel tatsächlich im Wohnzimmer vorhanden ist. Ohne ihr „Dasein“ würde ja die emsigste Suche nichts nützen. (Seelisch kranke Menschen zweifeln oft am Sinn einer Suche nach Sinn und suchen folglich „auf Sparflamme“, ohne Einsatz ihrer gesamten Potentiale. Ihnen muss glaubhaft verdeutlicht werden, dass es keine noch so düster erscheinende Lebenssituation gibt, die nicht doch eine Sinnmöglichkeit böte.)
Zum dritten und in der Vermittlung kompliziertesten Punkt hat Frankl ein weltanschauliches Gebäude entworfen, das in seiner brillanten „Metaklinischen Pathodizee“ (= Abhandlung der Frage nach dem Sinn des Leidens) gipfelt. Ein paar erläuternde Worte dazu:
Sinn spiegelt sich im evidenten, unhinterfragten Empfinden von uns Menschen als Affirmation von Sein (Frankl: als „Schrittmacher von Sein“) wider. Wenn etwas unserer Beurteilung nach Sinn hat, dann ist es gut, schön, prima ..., dass es da ist. Wenn etwas unserer Meinung nach Sinn hätte, dann sollte es geschehen; dann wäre es wert, verwirklicht zu werden. Die Kennzeichnung „sinnvoll“ besagt, dass es nicht gleichgültig ist, ob das damit Gekennzeichnete besteht oder nicht, sondern dass sein Bestehen seiner Verwerfung ausdrücklich vorzuziehen ist.
Nun enthält die Schöpfung aber eine unbestreitbar tragische Komponente, wie sie in den alten Mythen als „Abfall der Engel“, „Vertreibung aus dem Paradies“, „Zerbrechen der Ureins“ etc. symbolisiert worden ist. Sie zeigt sich im aggressiven Naturprinzip des Fressens und Gefressenwerdens, im „Schatten“ des Menschen (C. G. Jung), in der Sterblichkeit.
„Das Leiden hat nicht nur ethische Dignität - es hat auch metaphysische Relevanz. Das Leiden macht den Menschen hellsichtig und die Welt durchsichtig. Das Sein wird transparent hinein in eine metaphysische Dimensionalität. Das Sein wird durchsichtig: der Mensch durchschaut es, es eröffnen sich ihm, dem Leidenden, Durchblicke auf den Grund. Vor den Abgrund gestellt, sieht der Mensch in die Tiefe, und wessen er auf dem Grunde des Abgrunds gewahr wird, das ist die tragische Struktur des Daseins. Was sich ihm erschließt, das ist: dass menschliches Sein zutiefst und zuletzt Passion ist - dass es das Wesen des Menschen ist, ein leidender zu sein: Homo patiens“ (aus: V. E. Frankl, „Logotherapie und Existenzanalyse“, PVU, Weinheim, 3. Aufl. 1998, S. 136/137).
Eine Affirmation dieser tragischen Komponente ist für uns schlichtweg undenkbar. Das bedeutet, dass sich ein möglicher Sinn jener tragischen Komponente menschlichem Begreifen entzieht.
Hier hakt Frankl ein, indem er die Sinnsuche angesichts der „tragischen Trias von Leid, Schuld und Tod“ umdirigiert - die Stecknadel befindet sich gleichsam in einer Sondernische des Wohnzimmers, nämlich im Raum unserer eigenen Antworten auf die uns widerfahrenden Tragödien. Wohl gibt es keine (willkürliche) Sinn-Gebung, aber es gibt eine Sinnvolle-Antwort-Gebung durch den Betroffenen selbst. Auch und gerade auf das Sinnwidrige und scheinbar Sinnlose in unserer Welt können und sollen wir uns die sinnvollsten Antworten abringen, deren wir fähig sind, damit die Tragik wenigstens zum Anlass für Positives, Hoffnungsvolles und Heilendes wird, was sie rückwirkend mit Sinn durchflutet.
Ein grandioses Beispiel dafür ist der in den Selbsthilfegruppen verwaister Eltern diskutierte und stets einleuchtende Gedanke, dass die toten Kinder nicht zum Anlass elterlicher Katastrophen degradiert werden dürfen, sondern Quellen elterlicher Freude bleiben mögen, und dass die verwaisten Eltern daher die Aufgabe haben, ihre verlorenen Kinder in lieber Erinnerung zu behalten, aber dennoch ihr eigenes Leben aufrecht und engagiert weiterzuführen. Analog kann begangene Schuld sinnvollerweise zum Anlass für innere Wandlung werden, oder schwere Krankheit zum Impuls, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden bzw. sich dem Wesentlichen zu widmen, usw. Auf die desperateste Situation ist noch eine heroische Reaktion möglich, wie Frankl in seiner „Rolle“ als ehemaliger KZ-Häftling bezeugt hat.
Weil nun eine tragische Komponente die Schöpfung durchweht, sind sämtliche sinnvolle Antworten darauf, die kranken und seelisch Not leidenden Menschen nahe gelegt werden können, auf Überwindung durch Befriedung ausgerichtet. In der Logotherapie geht es nicht um die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern um diesen Frieden mit sich, mit der Vergangenheit, mit den Mitmenschen, ggf. mit Gott. Das Finden der Stecknadel in der Metapher ist sozusagen immer ein Stück Entschärfung ihrer Spitze: die Liebe hebt sie vom Boden auf, um potentiell Schmerzen in der Welt zu reduzieren. Jeder Sinn, der erfüllt wird, macht unsere Welt menschenwürdiger und lebbarer für alle. Um beim Beispiel der verwaisten Eltern zu bleiben: jener Ingenieur, der einst begonnen hat, das Notrufsäulennetz an deutschen Autobahnen zu entwerfen, war ein trauernder Vater. Sein Sohn war bei einem Verkehrsunfall verblutet, weil nicht rasch genug ärztliche Hilfe zur Stelle gewesen war. Der Vater holte aus seiner Trauer die Kraft und Initiative heraus, sein technisches Wissen zur Verhütung ähnlicher Schicksalsschläge einzusetzen. Dadurch hat er nicht nur zahllose ihm unbekannte Menschenleben gerettet, er hat auch sich selbst vor einem Erstarren im Trauma gerettet.
Friede ist nur zu haben über eine „Transformation des Leides in eine menschliche Leistung“ (Frankl), nie aber über ein bloßes Ausagieren des Schmerzes oder gar über einen (auto-)aggressiven Rundumschlag, der die Sinnwidrigkeit des ganzen Geschehens noch vergrößert. Zu dieser Thematik enthält die Logotherapie eine Reihe von konstruktiven Frustrationsbewältigungseinsichten, die sich genau so gut zu krisenpräventiven Zwecken anwenden lassen. Eine Fallgeschichte möge das Gesagte verdeutlichen.
Eine 39jährige Patientin suchte logotherapeutische Hilfe wegen ihrer Angst vor Ohnmachtsanfällen unter Stress. Sie wurde zwar selten ohnmächtig, kaum einmal im Jahr, aber die Angst davor überfiel sie häufig, vor allem im Geschäft, wo sie als leitende Verkäuferin tätig war, und drückte ihr die Brust ab. Medizinisch war nie eine Ursache ihrer Ohnmachtsanfälle entdeckt worden. Es hatte jedoch ein schwerwiegendes Auslöseereignis in ihrer Kindheit gegeben. Sie hatte einen Lieblingsonkel gehabt, in dessen Sommerhaus sie ihre Ferienzeiten hatte verbringen dürfen, was sie mit äußerst glücklichen Erinnerungen verband. Als sie zehn Jahre alt war, teilte man ihr schonend mit, dass der Onkel gestorben war, ohne dass man ihr sagte, wie er gestorben war. Als sie in den Ferien darauf wieder mit den Kindern aus dem Dorf ihres Onkels spielte, wiesen diese - ahnungslos ihrer Unaufgeklärtheit - auf den Ast eines hohen Baumes vor dem Sommerhaus und erklärten ihr, daran habe der Onkel gehangen. Sie fiel in Ohnmacht. Seither bestand die belastende Verknüpfung von Stressfaktoren und labilem Vegetativum bei der Patientin und jagte ihre Erwartungsängste in die Höhe.
Logotherapeutisch wurde die Patientin zunächst mit mehreren Einstellungsmodulationen gestützt. Sie gewann folgende „tragbare“, weil sinnvolle Einstellung
a) zum Lieblingsonkel: „Er war gut zu mir und ich verdanke ihm wunderbare Zeiten. Der Arme muss am Ende seines Lebens sehr verzweifelt oder depressiv gewesen sein, aber das löscht keine von unseren herrlichen gemeinsamen Stunden aus. Im Gegenteil, seine liebevolle Beschäftigung mit mir, seiner kleinen Nichte, ist unter diesen Umständen besonders hoch einzuschätzen. Was er mir geschenkt hat, bleibt in der Schatztruhe meines Lebens für immer geborgen; es möge bei weitem überwiegen, was vielleicht an seinen Vorhaben misslungen ist ...“
b) zu den Dorfkindern: „Sie waren Kinder und wussten nicht, welchen Schock sie mir bereiteten. Sie wollten mir nichts Böses antun, sondern waren wahrscheinlich selber von der Tragödie bewegt, weshalb es sie drängte, darüber zu sprechen. Ich kann daraus etwas Wichtiges für meinen Beruf entnehmen. Wie schnell ist unwillentlich und unwissentlich falsch gehandelt! Es braucht Behutsamkeit im Kontakt mit Menschen, und Einfühlungsvermögen. Ich werde dies für mich persönlich beherzigen und künftig noch sorgfältiger als bisher darauf achten, wie ich mit meinen Mitmenschen kommuniziere.“
Nach diesem inneren Akt des „Friedensschlusses“ wurde die Patientin instruiert, ihre Ohnmachtsanfälle paradox zu intendieren, indem sie sich täglich augenzwinkernd ein „ausgedehntes, kleines Ohnmachtsschläfchen am Arbeitsplatz“ wünschte, um sich „mitten im Verkaufsstress elegant aus der Affäre zu ziehen“. Das heißt, sie lernte, ihren Ängsten mit Bravour „ins Gesicht zu lachen“, anstatt sich ihnen zitternd und bangend auszuliefern. Es trat keine Ohnmacht mehr auf, und ihre Lebensangst verwandelte sich alsbald in gelassene, ruhige Lebenszufriedenheit.
Die Logotherapie Viktor E. Frankls kann relativ kurzfristig und dennoch lang anhaltend helfen, was sie für die Nöte der kommenden Generationen, die mit knapper werdenden Ressourcen und blasser werdenden Orientierungsmaßstäben werden rechnen müssen, außerordentlich interessant macht. Die in diesem Buch gesammelten Praxiserfahrungen und Fallstudien mögen dies belegen.
Das Telefon klingelte, eine Frau aus Berlin wollte mich sprechen. „Frau Doktor“, sagte sie zu mir, „ich leide so sehr unter meiner Substanzlosigkeit, alles Schöne in meinem Leben verdränge ich, und beim Umgang mit anderen Menschen regrediere ich ..., was soll ich dagegen tun?“ Ich wusste nichts über diese Frau, doch ein bestimmter Verdacht stieg in mir auf. „Haben Sie vielleicht ein psychologisches Fachbuch gelesen?“ Prompt bestätigte sie meine Annahme. Die Frau war 50 Jahre alt, eine ehemalige Lehrerin, verheiratet, hatte einen Sohn großgezogen und „hing jetzt ein bisschen in der Luft“. In den vor Jahren aufgegebenen Beruf kam sie nicht mehr hinein, der Sohn war ihrem erzieherischen Aufgabenbereich entwachsen, und die Ehe hatte inzwischen an Attraktivität eingebüßt. Es war eine ganz normale Lebenskrise, wie sie auftreten kann und gemeistert werden muss, indem man sich neue Lebensinhalte sucht und adäquate persönliche Ziele steckt.
Aber die Frau hatte Hilfe bei psychologischer Lektüre gesucht und dabei Beschreibungen von abwegigen Veranlagungen und Infantilismen gefunden, die sie in Angst und Schrecken versetzt hatten. Je mehr sie sich daraufhin selbst zu beobachten begonnen hatte, desto besser hatte alles scheinbar auf ihre eigene Situation gepasst. Sie hatte sich noch mehr Bücher beschafft und hatte immer weitere Abnormitäten bei sich selber festgestellt, bis sie völlig verunsichert war und nicht mehr aus noch ein wusste; deshalb ihr Hilferuf an mich: „Was soll ich tun?“
Mein Rat konnte nur lauten: „Stellen Sie Ihre psychologischen Bücher vorläufig in den hintersten Winkel Ihrer Wohnung, und vergessen Sie, was Sie gelesen haben! Kümmern Sie sich nicht um Substanzlosigkeit, Regression und sonstige Schreckensworte, und hören Sie auf, sich selbst zu beobachten! Viel gescheiter ist es, wenn Sie darangehen, Ihr Leben konstruktiv zu gestalten, denn bedenken Sie: Heute ist der erste Tag vom Rest Ihres Lebens. Es steht allein in Ihrem Ermessen, was Sie aus diesem „Rest“ machen; ja, ob sie ihn mit sinnvollen Aufgaben füllen und vielleicht sogar zum schönsten und reifsten Abschnitt Ihres Lebens werden lassen. Sehen Sie sich ein wenig um, in der Außenwelt, im Bekanntenkreis, überall werden Sie gebraucht, wenn Sie nur bereit sind, sich in einem Akt der Nächstenliebe zu öffnen. Im schulischen Bereich, im musischen Bereich, überall gibt es Einsatzmöglichkeiten, die Sie beglücken würden, wenn Sie nur hinsehen und den Blick vom zerstörerischen Wühlen im eigenen Ich lösen!“
Der Frau gelang es offenbar, meinen Rat zu befolgen, denn sie rief noch ein zweites Mal an - zu keinem anderen Zweck, als um sich zu bedanken.
Von psychologischer Literatur geht eine kräftige Suggestionswirkung aus, weil sie über Phänomene berichtet, die jeder allzu gut aus eigener Erfahrung kennt: über die heimlichen Wünsche und Sehnsüchte, über die Träume und Illusionen, über die seelischen Schwächen und Nöte, über Enttäuschung, Hass, Wut und Angst. Noch um ein Vielfaches stärker aber sind die suggestiven Einflüsse von Mensch zu Mensch bzw. von Therapeut zu Patient. Eine Mutter erzählte mir folgende recht anschauliche Episode:
Als ihr Sohn noch klein war, musste sie einmal zum Arzt gehen und nahm den Jungen mit, da sie ihn nicht allein zu Hause lassen konnte. Nachdem der Arzt die Mutter versorgt hatte, erlaubte er sich mit dem Jungen einen Scherz, indem er ihm einen Finger verband und mit ernster Miene erklärte, der Kleine sei jetzt auch krank wie seine Mutter, und müsse deshalb ebenso ärztlich behandelt werden. Als die Mutter mit ihrem Sohn nach Hause kam, wollte sie ihm den Verband vom Finger abnehmen, aber der kleine Kerl weigerte sich, behauptete steif und fest, er sei wirklich krank, und verlangte, zu Bett gebracht zu werden. Unschlüssig, was sie tun solle, legte ihn die Mutter nieder und nahm an, es werde ihm sowieso bald langweilig werden. Doch als sie ein wenig später nachsehen kam, hatte der Junge über 38° Fieber, und sie musste tatsächlich den Kinderarzt holen, der, ohne eine spezielle Diagnose stellen zu können, fiebersenkende Zäpfchen verschrieb. Am nächsten Tag war wieder alles in Ordnung.
Das Beispiel macht die Kraft der Suggestion deutlich, die nicht nur auf Kinder wirkt. Ich habe zahlreiche Erwachsene erlebt, die ähnlich wie dieser Junge auf einen Krankheitskurs festgelegt waren und alsbald in eine echte Krankheit hineingeschlittert sind. Derjenige, der ihnen als Auslöser sozusagen den Pseudoverband um den Finger gewickelt hat, ist leider nicht selten ein Psychologe oder Psychotherapeut gewesen. Viktor E. Frankl hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „iatrogenen Neurosen“ geprägt, mit denen seelische Störungen gemeint sind, die einzig dadurch hervorgerufen werden, dass jemand von einem Fachmann bzw. einer Fachfrau als „auffällig“ etikettiert worden ist.
Das Sprichwort: „Wo viel Licht ist, ist viel Schatten“ besagt allerdings, dass dort, wo viel Schatten ist, auch ein starkes Licht sein muss. Die Suggestion ist, in den richtigen Händen und im richtigen Augenblick eingesetzt, ein Heilmittel und kann sehr fruchtbar ins therapeutische Geschehen eingebaut werden. Analog hat die psychologische Fachliteratur die immense bibliotherapeutische Chance, ihre Leser im Positiven gegen nihilistische und resignative Strömungen der Zeit zu impfen.
Die Wissenschaften der Psychologie und Psychotherapie dokumentieren Charakteristika unserer Gesellschaft, aber auch deren Leitbilder. Deshalb sind sie nicht ausschließlich dazu da, um Symptome aufzuzeigen, sondern darüber hinaus aufgerufen, Therapie zu leisten. Dies kann nicht durch eine ständige Bespiegelung der gegenwärtigen Massenfrustrationen und Krisenfelder geschehen, sondern muss durch die Darstellung von Problemlösungen und gangbaren Auswegen erfolgen. Unter den Botschaften einer verantwortungsbewussten Psychologie jedenfalls überwiegen die sinnvollen Möglichkeiten des Menschenlebens vor seinen emotionalen Entgleisungen.