Thomas Enger
Vergiftet
Ein Henning-Juul-Roman
Aus dem Norwegischen
von Günther Frauenlob
und Maike Dörries
PROLOG
Jockes Harley steht bereits da.
Tore Pulli parkt und nimmt den Motorradhelm ab. Der Kies knirscht, als er den Fuß auf den Boden stellt. Die Fenster der stillgelegten Fabrik starren blind ins Dunkel. Die Stille ist dicht und unangenehm.
Pulli hängt den Helm an den Lenker und geht zur Tür. Die Scharniere kreischen, als er sie öffnet. Pulli geht hinein, zögert.
»Jocke?«
Seine Stimme wird von den Wänden zurückgeworfen. Die Sohlen seiner Stiefel klatschen laut auf den Boden. Langsam gewöhnen seine Augen sich an das Dunkel, aber vor sich sieht er nur nackten Boden und kahle Wände, Holzbalken und mit Spinnweben behangene Säulen. Der Oktoberwind pfeift durch die zerbrochenen Scheiben. Man sieht seinen Atem.
Fast wie in alten Tagen, denkt Pulli, geht weiter in den Raum hinein und spürt die Anspannung vor der Konfrontation. Das Adrenalin pumpt durch seinen Körper, ein Gefühl, das er nicht mag.
Sein Blick wird von etwas angezogen, das weiter hinten in den Schatten auf dem Boden liegt. Vorsichtig nähert er sich. Der stechende Geruch von Urin und Metall schlägt ihm entgegen. Er tritt auf etwas Glitschiges und muss einen Ausfallschritt zur Seite machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er holt das Handy heraus und leuchtet damit auf den Boden.
Dann sieht er, in was er getreten ist.
Vor ihm liegt ein Mensch. Der Rücken der blutigen Lederjacke ist übersät von Einstichen. Über dem Kragen der Jacke leuchtet das Weiß des kahl rasierten Schädels mit den Tätowierungen.
Er kennt diese Tätowierungen. Nur Joachim Brolenius hat sich Go to hell auf den Hinterkopf tätowieren lassen.
Sein Handy geht aus.
Pulli blickt sich rasch um, lauscht, hört aber nur die Stille. Die Fabrik wirkt verlassen, abgesehen von Jocke, dem Mann, den Pulli aus ganzem Herzen hasst, den er aber trotzdem um keinen Preis der Welt tot sehen wollte.
Jedenfalls noch nicht.
Er beugt sich nach unten, packt die Lederjacke und dreht den schweren Körper um. Das Gesicht ist verzerrt und blutverschmiert, der Mund steht offen. Pulli legt zwei Finger an die Halsschlagader, zieht die Hand jedoch sofort wieder zurück. Der Hals ist warm, aber weich und irgendwie locker, wie ein nasser, aufgeschnittener Schwamm.
Dann sieht er etwas am Boden liegen. Einen Schlagring.
Seinen eigenen Schlagring?
Wie zum Henker ist der hierhergekommen?
Eine grausame Erkenntnis kommt ihm. Das anberaumte Treffen war weithin bekannt, und viele haben ihn losfahren sehen. Sie alle wussten, dass sein Schlagring an der Wand in seinem Büro hing. Er blickt nach unten und sieht das Blut an seinen Händen, an Kleidern und Schuhen.
Jemand hat ihn in eine Falle gelockt, und er ist wie ein Trottel hineingetappt.
Pulli will den Schlagring aufheben und weglaufen, bleibt dann aber stehen. Du hast die Leiche berührt, denkt er. Deine Fingerabdrücke sind auf Jockes Lederjacke. Mach die Sache nicht noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist.
Er holt wieder sein Handy hervor. Wählt mit blutigen Fingern die Nummer des Notrufs. Du kennst die Wahrheit, sagt er zu sich selbst. Sag die Wahrheit, dann geht alles gut.
Du hast nichts zu befürchten.