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Über das Buch

England, 1911. Hester führt mit ihrem Ehemann, dem Pfarrer Albert Canning, ein glückliches und frommes Leben in ihrem Landhaus in dem kleinen Dorf Cold Ash Holt. Doch als sich die Schwüle des Sommers über den Ort zu legen beginnt, wird das Glück der Cannings unwiederbringlich zerstört. Zuerst tritt Cat, ein neues Dienstmädchen mit dunkler Vergangenheit, in das Leben des jungen Ehepaares. Kurz darauf nehmen die Cannings Robin Durrant, einen jungen Fotografen und Theosophen, bei sich auf. Schon bald muss Hester erfahren, wie schmal der Grat zwischen Liebe, Leidenschaft und Verrat ist. Am Ende des Sommers geschieht ein grausames Verbrechen, dessen wahrer Hergang hundert Jahre im Verborgenen bleibt – bis die Journalistin Leah Hickson auf zwei geheimnisvolle Briefe stößt. Ihre Recherchen führen sie nach Cold Ash Holt, in das ehemalige Haus der Cannings. Dort wird Leah nicht nur mit den dunklen Geheimnissen einer versunkenen Zeit konfrontiert, sondern muss sich auch den Gespenstern ihrer eigenen Vergangenheit stellen.

Über die Autorin

Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im ländlichen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Nachdem sie einige Zeit in London und Venedig verbracht hat, lebt Katherine Webb jetzt in der Nähe von Bath, England. Ihr Debüt Das geheime Vermächtnis war ein internationaler Erfolg und eroberte auch in Deutschland die Bestsellerlisten. Das Haus der vergessenen Träume ist der zweite Roman der Autorin.

KATHERINE WEBB

Das Haus
der vergessenen Träume

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Volk

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel The Unseen bei Orion Books, an imprint of the Orion Publishing Group Ltd, London
Herzlichen Dank an den Rudolf Steiner Verlag für die freundliche Genehmigung der Verwendung des Zitats auf Seite 5: Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2003.
Deutsche Erstausgabe 11/2012
Copyright © Katherine Webb 2011
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion | Angelika Lieke
Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv | Ami Smithson/Cabin London unter Verwendung
eines Fotos von © Thomas Szadziuk/Trevillion Images
Satz | Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-08591-9
V006
www.diana-verlag.de

Geburt ist nur ein Schlaf und ein Vergessen.
Die mit uns aufsteigt, als des Lebens Stern,
die Seele: hatte Heimat einst besessen
Woanders – kommt von fern …

William Wordsworth, Ode: Ahnungen der Unsterblichkeit
durch Erinnerungen an die frühste Kindheit
(Übersetzung Wolfgang Breitwieser)

… sollten wir tatsächlich bewiesen haben, dass auf
der Oberfläche dieses Planeten eine Population existiert, welche so zahlreich wie die Menschheit sein könnte,
auf ihre eigene, seltsame Art ihrem eigenen, seltsamen
Leben nachgeht und von uns nur durch gewisse Unter-
schiede in den Schwingungen getrennt wird …

Sir Arthur Conan Doyle, The Coming of the Fairies

In jeder Pflanze, in jedem Tier empfindet [der Mensch] außer der physischen Gestalt noch die lebenerfüllte
Geistgestalt.

Rudolf Steiner, Theosophie

1

14. Mai 1911

Liebste Amelia,

einen herrlichen Frühlingsmorgen haben wir an diesem überaus aufregenden Tag. Das neue Dienstmädchen kommt heute – Cat Morley. Ich muss gestehen, dass ich ein wenig nervös bin, denn immerhin eilt ihr ein gewisser Ruf voraus, doch sie kann nicht durch und durch schlecht sein, dessen bin ich gewiss. Albert war ganz und gar nicht sicher, ob man sie anstellen sollte, aber es ist mir gelungen, ihn mittels zweier Argumente zu überzeugen, nämlich: dass es ein löblicher Akt christlicher Nächstenliebe wäre, wenn wir sie nehmen, da sie gewiss niemand sonst einstellen wird; und dass sie ihres schlechten Leumunds wegen nur einen geringen Lohn erwarten kann und somit eine hauswirtschaftlich sinnvolle Aufwendung wäre. Wir verdoppeln damit unser Hauspersonal, haben jedoch kaum mehr Ausgaben! Ich habe eine Art Empfehlungsschreiben aus der Broughton Street erhalten – von der Hausdame, Mrs. Heddingly – mit einer Liste der Tätigkeiten, die dem Mädchen bereits vertraut sind. Weiter legt sie mir darin dringend nahe, ihr »dem Allgemeinwohl zuliebe« das Lesen nicht zu gestatten. Ich weiß nicht recht, was sie damit meint, halte es jedoch grundsätzlich für klug, Ratschläge von Eingeweihten zu befolgen. Mrs. Heddingly berichtet mir zudem von einem merkwürdigen Gerücht über das Mädchen. Es ist mir ein Rätsel, weshalb sie es überhaupt erwähnt, und ich kann dahinter nur eine gewisse Freude an Klatsch und Tratsch vermuten: Offenbar gibt die Identität von Cats Vater Anlass zu allerhand Spekulationen, und da ihr Teint und das Haar so dunkel seien, habe man schon flüstern hören, er könnte ein Neger gewesen sein. Nachdem sich diese Geschichte herumgesprochen hatte, nannte das restliche Personal in der Broughton Street sie wohl nur noch »Black Cat«. Nun, ich bin sicher, dass die Mutter des Mädchens, so einfach ihre Verhältnisse auch gewesen sein mögen, nicht so tief gesunken sein kann, es sei denn, sie wäre Opfer eines abscheulichen Verbrechens geworden. Und dass ihre arme Tochter einen derart mit Unglück behafteten Spitznamen tragen soll, erscheint mir nicht recht. Schwarze Katze, nein wirklich – ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie fortan nicht mehr so genannt wird.

Trotz leichter Nervosität muss ich gestehen, dass ich mich auch auf ihre Ankunft freue. Nicht zuletzt wegen der Wollmäuse unter den Betten, die inzwischen beinahe so groß wie Äpfel sind! Es ist Monate her, dass die gute Mrs. Bell sich tief genug bücken konnte, um dort Ordnung zu schaffen. Das ganze Haus muss einmal gründlich in Ordnung gebracht werden. Doch es wird mir auch eine Freude sein, mich einem von Gottes Geschöpfen anzunehmen, das in die Irre geleitet wurde und beinahe dem Verderben anheimgefallen wäre. Hier wird sie ein gottgefälliges Zuhause finden, Vergebung und die Chance, sich durch harte Arbeit und ein anständiges Leben dem Herrn anzubefehlen. In diesem Bestreben soll sie von mir jeglichen Beistand erfahren, ja, ich werde sie unter meine Fittiche nehmen, sie wird mein Projekt – stell Dir nur vor! Welch eine Gelegenheit, einen Menschen wahrhaft zu läutern und auf den rechten Weg zurückzuführen. Gewiss wird sie sich glücklich schätzen – sie erhält eine wunderbare Chance, sich reinzuwaschen. Befleckt kommt sie zu uns, doch schon bald wird sie in frisch poliertem Glanz erstrahlen.

Und solch ein Unternehmen ist sicherlich die beste Vorbereitung auf die Mutterschaft. Denn worin sonst bestünde die Aufgabe einer Mutter, als darin, ihre Kinder zu gottesfürchtigen, achtbaren und tugendhaften Menschen heranzuziehen? Ich sehe ja, wie gut Du Deine Sache mit meiner Nichte und meinem Neffen machst, der lieben Ellie und dem kleinen John, und ich bewundere Deine sanfte Art, sie anzuleiten. Beunruhige Dich nicht weiter wegen John und seiner Steinschleuder. Gewiss wird er bald aus dieser gewalttätigen Phase herauswachsen: Das Wesen eines Jungen ist – nach Gottes Willen – nun einmal kriegerischer als das eines Mädchens. Da steht es nur zu erwarten, dass er Triebe verspürt, die Du und ich nicht verstehen können. Wie sehr ich mich darauf freue, selbst kleine Seelen zu hegen und reifen zu lassen.

Amelia, bitte verzeih, dass ich Dich noch einmal darum bitte, aber leider hat Dein letzter Brief mich weiter im Dunkeln gelassen, was das fragliche Thema angeht. Musst Du denn gar so vage sein, meine Liebe? Ich weiß, dass es sich über solche Dinge nicht leicht spricht und man das am liebsten ganz vermeiden möchte, wenn es denn irgendwie geht. Aber ich benötige Deinen Rat so dringend, und wenn ich mich nicht an meine Schwester um Hilfe wenden kann, an wen, bitte schön, sollte ich mich dann wenden? Albert ist ein mustergültiger Ehemann und stets freundlich und zärtlich zu mir – jede Nacht, wenn wir uns zur Ruhe begeben, drückt er mir einen Kuss aufs Haar und lobt mich als gute Ehefrau und liebliches Wesen. Doch danach schläft er sofort ein, und ich kann nur daliegen und mich fragen, was um alles in der Welt ich falsch mache, oder tun müsste, oder auch nur versuchen sollte. Würdest Du mir bitte in ganz deutlichen Worten erläutern, wie ich mich zu verhalten habe und wie diese »Vereinigung« unserer Körper, von der Du schriebst, genau vonstattengeht? Albert ist ein so wunderbarer Ehemann – ich kann nur davon ausgehen, dass ich meine ehelichen Pflichten nicht richtig erfülle und dies der Grund für … nun ja, dafür ist, dass ich noch nicht froher Erwartung bin. Bitte, liebe Amelia, werde konkret.

Nun gut, ich sollte diesen Brief jetzt beenden. Die Sonne steht hoch am Himmel, und die Vögel singen aus vollen Kehlen. Ich werde den Brief unterwegs zu meinem Besuch bei der armen Mrs. Duff aufgeben, die nicht solche Schwierigkeiten hat wie ich und seit der Geburt ihres sechsten Kindes – schon wieder ein Junge! – mit einer furchtbaren Infektion daniederliegt. Und dann, nach dem Mittagessen, sollte Cat Morley mit dem Zug um drei Uhr fünfzehn eintreffen. Cat – wie schroff das klingt. Ob es ihr wohl gefallen würde, Kitty genannt zu werden? Schreibe mir bald, liebste und beste Schwester.

Herzlichst
Deine Hester

2011

Als Leah dem Mann, der ihr Leben verändern sollte, zum ersten Mal begegnete, lag er bäuchlings auf einem Stahltisch. Von seiner Kleidung war nur noch hier und da ein Fetzen übrig, schlammfarben und glitschig-feucht – die untere Hälfte eines Hosenbeins, die Schultern seiner Jacke. Sie fror um seinetwillen, und seine Nacktheit machte sie ein wenig verlegen. Sein Kopf war von ihr abgewandt, das Gesicht halb an den Tisch gepresst, sodass sie nur die dunklen, steifen Strähnen seines Haars und ein perfektes, wächsernes Ohr sehen konnte. Leahs Haut kribbelte – sie kam sich vor wie eine Voyeurin. Als schliefe er nur und könnte sich jeden Moment regen, den Kopf heben und sie ansehen, geweckt von den Geräuschen ihrer Schritte und ihres Atems in diesem makellosen Ohr.

»Du wirst dich doch nicht übergeben, oder?« Ryans Stimme riss sie aus ihrer Trance. Sie schluckte und schüttelte den Kopf. Ryan grinste ein wenig boshaft.

»Wer ist er? War er?«, fragte sie und räusperte sich. Betont gelassen verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Wenn wir das wüssten, hätte ich dich nicht den weiten Weg bis nach Belgien kommen lassen.« Ryan zuckte unbekümmert mit den Schultern. Er trug einen weißen Kittel wie ein Arzt, aber seiner war schmuddelig, fleckig und nicht zugeknöpft, sodass darunter eine zerrissene Jeans und ein abgewetzter Ledergürtel zum Vorschein kamen.

»Siehst du zum ersten Mal eine Leiche?«, fragte Peter in seiner ruhigen, französisch gefärbten Sprechweise. Er leitete das Institut für Archäologie.

»Ja.« Leah nickte.

»Ist immer eine seltsame Erfahrung. Ein so alter Leichnam stinkt wenigstens nicht. Na ja, jedenfalls nicht so schlimm«, bemerkte er. Leah wurde bewusst, dass sie schon die ganze Zeit durch den Mund atmete, weil sie mit dem Schlimmsten rechnete. Vorsichtig sog sie jetzt die Luft durch die Nase ein. Ein feuchter, etwas herber Geruch hing im Raum, wie nasses Laub im Januar.

Sie suchte in ihrer Tasche herum und holte Notizblock und Stift heraus.

»Wo, sagtest du, wurde er gefunden?«, fragte sie Ryan.

»Im Garten hinter einem Haus in der Nähe von Zonnebeke, nordöstlich von Ypres. Eine Madame Bichet hat ein Grab für ihren Hund ausgehoben.« Ryan hielt inne und tat so, als müsse er in seinen Aufzeichnungen nachsehen. »Er hieß André, soweit ich weiß.« Er verzog den Mund, und sein schiefes Grinsen ging Leah unter die Haut. Sie zog nur eine Augenbraue hoch und sah ihn stumm an. Unter den grellen Lichtleisten wirkte seine Haut blass, und er hatte Ringe unter den Augen. Aber er ist immer noch schön, dachte sie hilflos. Immer noch so schön. »Da gräbt man ein Grab und stößt dabei auf ein anderes. Sie hat ihm mit dem Spaten fast den rechten Arm abgetrennt – schau, da.« Vorsichtig deutete er auf den Unterarm des Toten. Die fahle Haut war aufgeplatzt und gab den Blick auf faseriges, braunes Fleisch frei. Leah schluckte schwer, und ihr wurde ein wenig schwindelig.

»Wird die Britische Kriegsgräberfürsorge ihn denn nicht identifizieren? Warum habt ihr mich angerufen?«

»So viele tote Soldaten werden jedes Jahr gefunden – fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig. Wir geben uns Mühe, aber wenn es keine Regimentsabzeichen, keine Erkennungsmarken oder besonderen Ausrüstungsgegenstände gibt, haben wir einfach nicht die Mittel, der Sache weiter nachzugehen«, erklärte Peter.

»Er bekommt eine hübsche Beerdigung und ein weißes Kreuz auf sein Grab, aber sie werden eben nicht wissen, welchen Namen sie darauf schreiben sollen«, sagte Ryan.

»Eine hübsche Beerdigung?«, wiederholte Leah. »Du bist respektlos, Ryan. Warst du schon immer.«

»Ich weiß. Ich bin unmöglich, nicht?« Wieder grinste er fröhlich.

»Also, wenn ihr überhaupt keine Anhaltspunkte habt, warum meint ihr dann, ich könnte euch weiterhelfen?« Leah richtete die Frage an Peter.

»Na ja …«, begann Peter, doch Ryan schnitt ihm das Wort ab.

»Möchtest du ihn denn nicht erst mal von Angesicht zu Angesicht kennenlernen? Er ist bemerkenswert gut erhalten – offenbar ist das hintere Ende des Gartens das ganze Jahr über durchweicht, das Grundstück endet an einem Bach. Soll sehr idyllisch sein. Komm schon – du hast doch keine Angst vor einem archäologischen Fund, oder?«

»Ryan, warum musst du so …« Leah gab es auf und sprach den Satz nicht zu Ende. Sie strich sich das Haar hinter die Ohren, verschränkte erneut die Arme schützend vor der Brust und ging um den Tisch herum zur anderen Seite.

Das Gesicht des Toten war ein wenig zerknittert, als hätte er es beim Schlafen fest auf ein Kissen aus grober Erde gebettet. Eine Falte verlief von einer Augenhöhle zum Mundwinkel. Seine Oberlippe beschrieb noch eine lange, elegant geschwungene Kurve, und darüber war eine Spur von Bartstoppeln zu erkennen. Die Unterlippe und die Kieferpartie hatten sich zu einer matschigen Masse zersetzt, die Leah nicht allzu genau betrachten mochte. Auch die Nase war zerfallen, platt gedrückt, gallertartig. Sie sah aus, als könnte man sie mit einer leichten Handbewegung ganz abstreifen. Doch seine Stirn und die Augenpartie waren vollkommen erhalten. Eine durchweichte Locke fiel ihm störrisch ins Gesicht. Seine Stirn war faltenfrei, vielleicht, weil er so jung gewesen war, oder weil die Haut mit Wasser vollgesogen und leicht aufgequollen war. Er musste ein attraktiver Mann gewesen sein. Sie konnte ihn beinahe vor sich sehen – wenn sie ihren Blick ein wenig verschwimmen ließ, die schrecklichen Verletzungen ausblendete, die unnatürliche Hautfarbe und den unmenschlichen Geruch. Die geschlossenen Augen des Mannes ließen winzige schwarze Wimpern erkennen, säuberlich aneinandergereiht, genau so, wie sie sein sollten. Wie sie am Tag seines Todes vor fast hundert Jahren gewesen waren. Die Lider hatten einen seidigen Schimmer wie leicht verdorbenes Fleisch. Waren sie vollständig geschlossen? Leah beugte sich hinab und runzelte die Stirn. Jetzt sah es aus, als wären sie einen Spalt weit geöffnet. Nur ein kleines bisschen. Wie bei manchen Menschen, wenn sie tief schliefen und träumten. Sie beugte sich noch weiter hinab und hörte ihren Herzschlag, der das Summen der Lichtleisten übertönte. Würde sie eine leichte Bewegung seiner Augen hinter den geschlossenen Lidern wahrnehmen? Konnte das Letzte, was er gesehen hatte, noch da sein, vorwurfsvoll auf seine Netzhaut tätowiert? Sie hielt den Atem an.

»Buh!«, machte Ryan dicht an ihrem Ohr. Leah fuhr zusammen und schnappte hörbar nach Luft.

»Idiot!«, fauchte sie ihn an, wandte sich abrupt ab und marschierte durch die schweren Schwingtüren nach draußen. Es ärgerte sie, wie leicht sie aus der Fassung zu bringen war.

Mit schnellen Schritten stieg sie zwei Treppen hinauf und folgte dem Duft von Pommes frites und Kaffee zur Cafeteria der Fakultät. Als sie sich einen Pappbecher Kaffee einschenkte, stellte sie fest, dass ihre Hände zitterten. Sie ließ sich auf einen Kunststoffstuhl am Fenster sinken und starrte in die Landschaft hinaus. Flach und grau und braun, genau wie England bei ihrer Abreise. Eine ordentliche Reihe grellbunter Krokusse, die einen Fußweg säumte, hob die Eintönigkeit und Farblosigkeit der übrigen Aussicht noch hervor. Auch ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe war farblos – fahle Haut, blasse Lippen, aschblondes Haar. Selbst der Tote im Keller hat mehr Farbe, dachte sie trübselig. Belgien. Auf einmal sehnte sie sich danach, an einem anderen Ort zu sein, egal wo, nur nicht hier. Irgendwo, wo strahlender Sonnenschein der Landschaft Konturen verlieh und sie wärmte bis in die Knochen. Warum, um alles in der Welt, hatte sie überhaupt eingewilligt hierherzukommen? Aber sie kannte ja die Antwort. Weil Ryan sie darum gebeten hatte.

Als wäre er direkt aus ihren Gedanken herausgetreten, stand er plötzlich vor ihr und setzte sich schließlich mit gerunzelten Brauen ihr gegenüber.

»Hör mal, es tut mir leid, okay?«, sagte er zerknirscht. »Dich hier zu haben ist für mich auch nicht einfach, weißt du? Du machst mich nervös.«

»Warum bin ich überhaupt hier, Ryan?«, fragte Leah.

»Ich glaube, dass da eine großartige Story für dich drin sein könnte – wirklich. Der verlorene Soldat, all die Jahre lang namenlos und unbeweint …«

»Du weißt doch gar nicht, ob jemand um ihn geweint hat oder nicht.«

»Da hast du recht. Dann eben unentdeckt. Und ich weiß, du findest, dass ich damit respektlos umgehe, aber das stimmt nicht. Muss ein verdammt elender Tod gewesen sein, und ich finde, der arme Kerl verdient ein wenig Beachtung. Meinst du nicht?«

Leah beäugte ihn argwöhnisch, doch er schien es ernst zu meinen. Sein Haar war ein ganzes Stück gewachsen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Es fiel in ungezähmten braunen Locken um sein Gesicht, passend zu den drei oder vier Tage alten Bartstoppeln an seinem Kinn. Seine Augen hatten die Farbe von dunklem Honig. Leah bemühte sich, nicht allzu tief hineinzuschauen.

»Warum ich?«, fragte sie.

»Warum nicht du?«, erwiderte er. »Ich kenne nun mal nicht so viele freie Journalisten.« Er betrachtete eine Weile seine Hände und zupfte an einem ungepflegten Daumennagel herum, dessen Nagelhaut ohnehin schon gerötet war. Leahs Finger zuckten aus alter Gewohnheit, ihn davon abzuhalten.

»Das ist alles?«, bohrte sie nach.

Ryan machte ein finsteres Gesicht und sog kurz und gereizt die Luft ein. »Nein, das ist nicht alles. Was willst du von mir hören, Leah? Dass ich dich sehen wollte? Na schön – bitte sehr«, sagte er schroff.

Leah verzog die Lippen zu einem kleinen, kühlen Lächeln. »Du konntest deine Gefühle noch nie besonders gut ausdrücken.«

»Ich habe kaum eine Chance bekommen, es zu lernen, so plötzlich hast du mich verlassen.«

»Ich hatte einen verdammt guten Grund dafür, das weißt du ganz genau«, erwiderte sie.

»Warum bist du dann gekommen, wenn ich ein solcher Albtraum bin und du mich nicht sehen willst?«

»Ich habe nie behauptet …« Leah seufzte. »Ich weiß selbst nicht so richtig, warum ich hergekommen bin. Ich hatte seit zehn Monaten keine gute Idee für eine Story. Ich habe seit weiß Gott wann nichts Lesenswertes mehr geschrieben. Ich dachte, du hättest vielleicht tatsächlich etwas, womit ich arbeiten kann, aber ein unidentifizierter Soldat? Worüber sollte ich denn da berichten – über die Arbeit, die ihr für die Britische Kriegsgräberfürsorge leistet? Darüber, was mit diesen Männern passiert, wenn ihr sie ausgebuddelt habt? Das ist natürlich eine gute Sache, aber es käme ein ziemlich trockener …«

»Na ja, es gibt da schon so etwas wie einen Anhaltspunkt«, sagte Ryan. Er beugte sich zu ihr vor und schenkte ihr wieder sein zufriedenes, jungenhaftes Grinsen.

»Was meinst du damit? Peter hat doch gesagt …«

»Ich wollte es dir ja gerade erzählen, als du unten davongestürmt bist.«

»Also, was habt ihr?«

»Geh heute Abend mit mir essen, dann zeige ich es dir«, entgegnete er.

»Warum sagst du mir nicht einfach jetzt, was es ist?«

»Ein Abendessen würde viel mehr Spaß machen.«

»Nein. Hör zu, Ryan, ich finde, wir beide sollten nicht … zu viel Zeit miteinander verbringen. Nicht so.«

»Ach, komm schon, Leah. Was soll daran so schlimm sein? Wir kennen uns doch wirklich lange genug.«

»Offenbar kannten wir uns aber nicht so gut, wie wir dachten«, sagte sie und blickte auf. Wut blitzte in ihren Augen auf, und sie sah, wie er zusammenzuckte.

»Bitte … geh nur heute Abend mit mir essen«, sagte er sanfter. Leah kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter und verzog das Gesicht über den schalen, bitteren Geschmack.

»Auf Wiedersehen, Ryan. Ich würde gern behaupten, dass es mich gefreut hätte, dich wiederzusehen.« Sie stand auf.

»Warte, Leah! Willst du nicht mal wissen, was wir bei ihm gefunden haben? Ich sage es dir – und dann kannst du entscheiden, ob du bleiben willst oder nicht. Leah! Er hatte Briefe bei sich – sie haben fast hundert Jahre im Erdboden überstanden! Kannst du dir das vorstellen? Und es sind auch keine gewöhnlichen Briefe«, rief Ryan ihr nach. Leah blieb stehen. Da war es plötzlich, dieses winzige Funkeln, das Aufschimmern von Neugier, das sie stets empfand, ehe sie sich daranmachte, eine Story zu verfolgen. Langsam drehte sie sich wieder zu Ryan um.