Glendel
und die Prinzessin des Lichts
Oder: Warum die Sonne täglich auf- und untergeht
Textautor: Mareile Kurtz
Bildautor: Claus Rudolph
Überarbeitung, Korrekturen und Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag
Published by Null Papier Verlag, Deutschland
Copyright © 2012 by Null Papier Verlag
1. Auflage, ISBN 978-3-95418-146-9
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Mareile Kurtz wurde am 29.08.1983 in Ostercappeln geboren. Nach Stationen in Ravensburg, Aalen, Hamburg, Offenburg, Los Angeles und München arbeitet die Diplom-Medienbetriebswirtin heute als Kultur-Redakteurin, Freie Texterin, Lektorin und Buch-Autorin in ihrer Wahl-Heimat Stuttgart. Bekannt wurde Mareile Kurtz, als sie im November 2010 die augenzwinkernde Kurzgeschichten-Sammlung »Pfui Spinne, Watte, Knopf!« veröffentlichte und prompt ein enormes Medienecho erntete: Die Autorin schaffte es u. a. in die Grazia und auf die Titelseite der Hamburger MoPo und war zu Gast in TV-Talkshows wie der NDR Talkshow, Plasberg Persönlich und MTV Home. »Mit Glendel und die Prinzessin des Lichts oder: Warum die Sonne täglich auf- und untergeht« wagt sich Mareile Kurtz nun in neue Gefilde vor, um einer weiteren Leidenschaft eine Chance zu geben. Denn das Herz der passionierten Journalistin schlägt nicht nur für Geschichten und Anekdoten aus dem realen Leben, sondern ebenso sehr für Märchen und Fantastisches.
Mit seinen Bildern kann er festhalten, was sich nicht festhalten lässt, die Zeit, das Wachsen, das Werden und Altern. Mit der Fotografie kann er vor dem endgültigen Tode des Vergessens bewahren…
So kann er erinnern, an das, was der Mensch vergisst, vergessen will. Schonungslos sein, entlarven, vergöttern, von den besten Seiten zeigen, sogar von Seiten, die es gar nicht gibt. Kann eine andere Welt erschaffen, eine die nie existierte und eine die nie existieren wird und erst durch die Fotografie entsteht.
Die Vorstellung wandelt sich erst im Moment der Realisation in die scheinbare Wirklichkeit; durch den Auslöser wird das Bild verewigt, in diesem Ausdruck.
Für Thilo und Rike
von eurer persönlichen Elfe und Tante Mareile.
Ich wünsche euch ein Leben voller unmöglicher Träume, wilder Fantasien
und aufregender Abenteuer!
Nach einer Idee von
Sabine Nania, Sabine Feldorean und Claus Rudolph
(Die Bildgeschichte und der Ablauf)
Gewidmet dem Licht der Ewigkeit
Es war nicht nur einmal. Denn die Prinzessin, von der ich euch heute erzählen möchte, lebt immer noch. Und zwar auf einer hellen Lichtung mitten im Wald. Im Nuriawald, um genau zu sein… Von diesem Wald habt ihr noch nie zuvor gehört? Das ist kein Wunder! Schließlich ist der Nuriawald ein geheimer Wald und befindet sich an einem so weit entfernten Ort, dass die Menschen ihn kaum erreichen können. Nur wenige Auserwählte haben den Nuriawald bisher betreten. Warum? Nun, ja. Der Nuriawald ist ein Naturwunder, wie es kein Zweites gibt. Er ist ein Paradies aus majestätisch rauschenden Bäumen, betörend duftenden Blumen und leise plätschernden Bächen, in dem es immer blüht und immer Sommer ist.
Und weil viele Menschen solche Naturwunder nicht zu schätzen wissen und sie achtlos kaputt machen, wird nur denjenigen Einlass gewährt, denen die Natur wirklich am Herzen liegt. Außerdem kann man den Weg nur finden, wenn man an Zauberei glaubt. Und wer tut das heutzutage schon? – Abgesehen von euch, natürlich.
Im Nuriawald leben sämtliche Fabelwesen dieser Welt. Zum Beispiel ich! Gestatten, dass ich mich kurz vorstelle? Mein Name ist Glendel. Ich bin eine Waldfee, geboren im Apfelblütenzeitalter und mein Zuhause ist eine lila leuchtende Seerose. Wenn ich will kann ich mich zwar so groß wie einen Menschen zaubern, doch das kostet mich sehr viel Kraft und deswegen bin ich für gewöhnlich sehr, sehr klein.
Die Seerosenblüte ist die perfekte Wohnung für mich. Sie ist gerade groß genug, dass ich alle Viere von mir strecken- und mich nach Herzenslust in dem kuschelweichen Blütenstaub räkeln kann. Nachts benutze ich die zarten Blätter als Bettdecke und wenn ich mal keine Lust zu fliegen habe, hole ich mein Holzpaddel heraus und unternehme eine Spazierfahrt über den Teich. Um ehrlich zu sein kommt das recht häufig vor. Die anderen Elfen halten mich deswegen für faul. Manchmal nennen sie mich sogar »Pummelfee«, was ich – nebenbei bemerkt – ziemlich frech finde! Gut, ich habe zwar ein paar Kilo mehr auf den Rippen als die anderen Elfen, doch die Jüngste bin ich mit meinen 777 Jahren auch nicht mehr und ein bisschen Komfort und Gemütlichkeit wird da doch wohl auch einer Elfe erlaubt sein! – Andererseits… wenn ich es mir recht überlege… ob das Alter bei meinem Gewicht wirklich eine Rolle spielt? Immerhin bin ich unsterblich. Vielleicht sollte ich einfach mehr fliegen und weniger von dem süßen Nektar… Aber genug von mir! Eigentlich wollte ich ja von etwas ganz anderem erzählen. Nämlich von der Prinzessin auf der Waldlichtung.
Ihr Name ist Jade und Jade lebt, wie ihr schon wisst, auch heute noch. Doch die Geschichte, die ich selbst miterlebt habe und die ich euch nun erzählen möchte, hat sich schon vor vielen hundert Jahren ereignet. Zu einer Zeit, als die Tiere des Nuriawaldes noch nicht sprechen konnten und Sonne und Mond ihre Positionen noch binnen weniger Sekunden tauschten. Die Geschehnisse, von denen ich euch jetzt berichten werde, sind der Grund dafür, warum die Menschen der heutigen Welt Morgenröte und Dämmerung erleben dürfen. Sie sind der Grund dafür, warum die Sonne täglich auf- und untergeht.
Wie alle Prinzessinnen war und ist Jade wunderschön und tugendhaft. Und zugleich eine ganz und gar ungewöhnliche Prinzessin: diamantenbesetzte Kronen und prächtige Schlösser bedeuten ihr nichts. Jade besitzt alle Schätze der Natur. Und so lebte sie seit jeher auf einer hellen Lichtung mitten im Nuriawald, schlief auf einem weichem Bett aus Moos und trug statt kostbaren Gewändern federleichte Kleider und zarte Schnürschuhe. So ließ es sich schließlich viel besser herumtollen, auf hohe Bäume klettern und durch dicht bewachsene Wälder und saftige Wiesen streifen – was Jade regelmäßig machte.
Sobald sie sich versichert hatte, dass es allen Tieren und Pflanzen gut ging, kehrte Jade zu ihrer Lichtung zurück, schaukelte auf einer Blumenranke, summte dabei eine fröhliche Melodie und ließ sich die Nase von den Sonnenstrahlen kitzeln. Eben ganz so, wie es sich für eine besondere Prinzessin wie sie gehörte. Denn Jade ist eine Prinzessin… des Lichts.
Was bitteschön denn eine Prinzessin des Lichts ist? Eine gute Frage! Denn Prinzessin Jade, also unser aller Prinzessin des Lichts, hat eine sehr wichtige Aufgabe. Sie gibt allen Tieren und Pflanzen ihre Seele: »Das Licht des Lebens«. Singende Vögel, duftende Blumen, tanzende Schmetterlinge – all das sind Zauberwerke, die die Menschen einzig der Prinzessin des Lichts verdanken. Diese Naturwunder gibt es nur, weil Jade seit Anbeginn der Zeit das Licht des Lebens verteilt und weil man Licht nicht anfassen kann und es somit ziemlich schwierig für Jade geworden wäre, das Licht des Lebens mit bloßen Händen zu lenken, hatte Mutter Natur ihr einen gläsernen Kristall gegeben. Und mit Hilfe dieses Kristalls konnte Jade das Licht des Lebens bündeln und einzelne Strahlen an jedes Ziel schicken. Wollte sie zum Beispiel einem neugeborenen Rehkitz das Licht des Lebens einhauchen, musste Jade nur an dieses Rehkitz denken und den gläsernen Kristall vor ihr Herz halten – und schon schoss ein blendend heller Lichtstrahl zu eben jenem Rehkitz und verlieh ihm seine Seele.
Wenn wir Waldelfen gerade in der Nähe waren, flogen wir manchmal mit Jades Lichtstrahlen um die Wette, doch ich habe es lange Zeit nicht geschafft, einen davon zu überholen (was selbstverständlich nichts mit meinem Gewicht zu tun hat!). Dafür bin ich einmal aus Versehen in einen Lichtstrahl hineingeflattert und habe danach ein halbes Jahr lang geleuchtet. Wenn ihr das nächste Mal einen funkelnden Punkt durch die Nacht schwirren seht, urteilt also nicht zu schnell: Das könnte zwar ein Glühwürmchen sein, doch genauso gut ist es möglich, dass es sich dabei um eine unachtsame Elfe wie mich handelt, die zuvor in einen von Jades Strahlen geflogen ist. Doch das nur am Rande. Kommen wir zurück zur Geschichte und zur Prinzessin des Lichts.
Jade trug die Seelen aller Waldbewohner in ihrem Inneren und wenn ein Tier oder eine Pflanze starb, floss das Lebenslicht zurück zu ihr, damit Jade es an das nächste neugeborene Wesen weitergeben konnte.
So wollte es Mutter Natur. So funktionierte der ewige Kreislauf des Lebens.
Außer Jade gab es noch drei andere Zauberwesen, die sich gemeinsam mit Jade um den Kreislauf des Lebens kümmerten. Da war die Sonne. Viele Menschen glauben, dass die Sonne nur ein gigantisch großer Stern sei, der wie zufällig auf die Erde scheint. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Gleichzeitig ist die Sonne nämlich auch noch die Königin des Lichts. Und weil sie das ist, versorgt sie seit Anbeginn der Zeit nicht nur unseren Planeten mit Energie, sondern alle Planeten unseres Sonnensystems. Und Jade war, wenn man so will, ihre Stellvertreterin auf Erden.
Und weil es dort, wo Licht ist, immer auch Schatten gibt, waren da noch der Mond, der König der Dunkelheit, und Orphea, die Prinzessin der Dunkelheit. Prinzessin Orphea und der Mond standen im gleichen Verhältnis zueinander wie Prinzessin Jade und die Sonne: Der Mond sorgte für die Nacht im Universum und positionierte die Sterne an den richtigen Stellen, während Orphea über die irdische Dunkelheit wachte und sämtliche Schatten für den kommenden Tag erschuf. Und genau wie Orpheas Lebenskraft an die Dunkelheit gebunden war, erblühte auch Jade nur bei Sonnenlicht zu vollem Leben.
Obwohl Prinzessin Jade und Prinzessin Orphea viel gemeinsam hatten und beide im Nuriawald lebten, hatten sie sich noch nie gesehen, geschweige denn, miteinander unterhalten. Der Grund dafür war, dass es zu dieser Zeit noch keine Sonnenauf- und Untergänge gab. Die Nacht brach innerhalb weniger Sekunden über die Welt herein und wenn das passierte, sank Prinzessin Jade sofort kraftlos nieder und schlief ein. Sobald der Tag begann, konnte hingegen Orphea ihre Gemächer nicht mehr verlassen, weil sie sich im Sonnenlicht auflöste wie ein Schatten, auf den man ein Licht richtet. Ein Treffen der beiden Prinzessinnen war also unmöglich – trotzdem sehnte sich Jade nach Orphea.
So sehr Jade ihr Leben mit den Tieren des Waldes auch liebte – manchmal fühlte sie sich sehr einsam. Zwar besaß Jade einige hübsche Puppen, die sie einmal bei einem ihrer Streifzüge auf einer zerschlissenen Picknickdecke unter einer Trauerweise gefunden hatte und mit denen es sich prima spielen ließ, doch sprechen konnten die Puppen selbstverständlich nicht. Genauso wenig wie die Tiere des Waldes. Und auch ich und die anderen Elfen hatten nur wenig Zeit, um die Prinzessin des Lichts zu besuchen. Unser Alltag besteht darin, Blütenstaub zu sammeln und die Waldbewohner damit zum Niesen zu bringen oder ihnen andere harmlose Streiche zu spielen. Außerdem brauchen wir Waldelfen viel Schlaf… oder, sagen wir mal so: Ich brauche jede Menge Schlaf. Wie es bei den anderen Elfen ist, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht so genau… aber das ist ja auch nicht so wichtig.
Weil sie sich oft alleine fühlte, entbrannte in Jade jedenfalls der Wunsch, Orphea irgendwann, irgendwie, irgendwo zu treffen. Ein Wunsch, der von Tag zu Tag heftiger in ihrem Herzen loderte und zu einem unwiderstehlichen Verlangen heranwuchs. Ein Wunsch, den Jade lieber nicht hätte haben sollen. Denn dieser Wunsch barg eine große Gefahr in sich.
Den Tag, an dem Jade gegen eines der strengsten Gesetze des Nuriawalds verstieß, werde ich nie vergessen. Es war ein recht warmer Tag und so hatte ich mich schon nachmittags in meine schattige Seerosenblüte gekuschelt, um mich ein wenig zu erholen und abzukühlen. Von weitem konnte ich Jades samtene Stimme hören. Sie schaukelte wie immer auf ihrer Blumenranke und summte ein Lied – anders als sonst verzauberte mich die Melodie aber nicht, sondern drückte mir das Herz zusammen. Die Melodie klang traurig. Als Jade dann auch noch mitten im Lied zu singen aufhörte und laut aufschluchzte bekam ich sogar einen richtigen Schreck und flatterte beunruhigt zu ihrer Lichtung hinüber.
Dort kniete sich die Prinzessin des Lichts gerade ins Gras und setzte sich eine ihrer Puppen auf den Schoß. »Ach, meine kleine Elvira. Jetzt wird alles gut. Bald bin ich nicht mehr allein. Denn nun kann ich endlich mit dir sprechen…«, sagte Jade und streichelte der Puppe liebevoll über die rotbraunen Plastiklocken. Und dann passierte etwas, das mich so sehr irritierte, dass ich kurz vergaß, mit den Flügeln zu schlagen. Die Puppe bewegte sich! Ganz von allein! Ja, wirklich! Plötzlich schüttelte sie ihr Köpfchen und schaute Jade mit großen fragenden Augen an.
»Wo… wo bin ich?« – »Du bist im Nuriawald, kleine Elvira. Herzlich Willkommen auf der Welt. Ich bin Jade, Prinzessin des Lichts, und habe dir soeben das Licht des Lebens eingehaucht. Nun hast du eine Seele und bist lebendig. Und das Beste ist: Weil du im Körper einer Puppe und nicht in dem eines Tieres bist, kannst du sogar sprechen.« – »Waaaas? Das darfst du nicht, Jade!«, entfuhr es mir. Jade blickte überrascht zu mir hoch. »Glendel! Was machst du denn hier?« – »Aufpassen, dass du keinen Unsinn machst!«, schimpfte ich. »Du darfst doch einer Puppe nicht das Licht des Lebens geben! Die Seelen sind für die Tiere und Pflanzen bestimmt. Irgendwem fehlt jetzt eine Seele!« Jade wedelte mich mit der rechten Hand weg, als sei ich ein giftiges Insekt. »Lass mich, Glendel!« – »Wer ist das?«, fragte Elvira, die mich grinsend beobachtete. »Ach, das ist nur eine neunmalkluge Pummelfee, die ständig Anweisungen und gute Ratschläge verteilt, obwohl sie ihre Finger selbst nicht vom Blumennektar lassen kann!« – »Also, ich darf doch sehr bitten!« Jade musste unwillkürlich kichern. »Ach, Glendel. Mach dir doch nicht immer so viele Sorgen! Vor allem nicht um mich. Ich weiß schon, was ich tue.« – »Wie du meinst. Du musst ja selbst wissen, was du mit deinem Lebenslicht anstellst. Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«, entgegnete ich, setzte mich beleidigt auf einen Ast und drehte Jade den Rücken zu.