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Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: Heilige Narren, Montage von Ulrich Holbein
eBook-Bearbeitung: Sina Ramezan Pour
Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2
 
ISBN: 978-3-8438-264-2
 
www.marixverlag.de

Vorsicht vor Religion und Humor!

Weltweit im Vormarsch: Gottesstaaten als Motor, Fungesellschaften als Arabeske! Die einen schwingen Moralkeule und Weihrauchfaß, die andern Tanzbein und Fliegenklatsche. Die einen beten und verbieten zu viel, frommer als nötig; die andern lachen und meckern zu laut, so blasphemisch wie möglich. Aus jedem Massenmedium predigen und blödeln sie hervor: Unselige Päpste maßregeln die viel zu profane Welt, und unverdaulichen Entertainern ist nichts heilig. Beide müssen pausenlos missionieren und karikieren. Beide bedrängen die Menschheit mit dubiösen Bibeln und suspekten Pointen und lassen sie nie in Ruhe – wie indezent! Frechheit! Macht man das? Knöpfen Sie sich zu bis zur Kragenborte! Ja nicht mitsingen und mitblödeln! Lassen Sie sich nicht dauernd kreuzigen, und lachen Sie sich nicht ständig tot! Kaufen Sie Horror-Priestern und Terror-Clowns nichts ab! Je normaler der Mensch, desto lieber want er seine Mitbrüder vor gewissen Auswüchsen. Jede der 6000 USA-Sekten kann ein noch so absurdes Weltbild austüfteln und verballhornen – 1200 zahlende Mitglieder finden sich für jeglichen Spirit-Stuß. Wehret den Indizien und Anfängen im Keim! Nicht, daß es im Gebälk plötzlich unstatthaft knistert! Nicht, daß sich was einschleicht! Sobald Narren an den Grundpfeilern sägen und nagen – seid zur Not Stützen der Gesellschaft! 4 Mill. US-Bürger nahmen Anwälte und Therapeuten, weil sie von Aliens geschädigt wurden! Deshalb fordern wir:

Minderheitenschutz für Normale!

Wer wollte nicht mal ein bißchen normal sein dürfen? Wonnen der Gewöhnlichkeit – wo seid ihr?

Merke: Die Normalität des Menschen ist unantastbar!

Lassen Sie sich nie Ihre Normalität mit Füßen treten! Zum Glück trifft man im Leben relativ viele Normalbürger. Noch bilden sie in ihren Tiefgaragen und Flachdachbungalows ein gesundes Unterfutter, ein verläßliches Gegengift gegen unverantwortlichen Nonsens! Kein Bruttosozialprodukt treibt es lang ohne beständigen Nachschub an Normalbürgern. Andererseits: Normalbürger sind oft auch keine Patentlösung. Im Gegenteil.

Absurdistan & Narragonien total

Narr zu sein, muß nicht jedem Betroffenen schaden – Hauptsache, am Aschermittwoch ist alles vorbei.

Doch in Rom und Venedig ließen die Narren am Schluß ihre Larven einfach drauf und wollten zum Business nicht zurückfinden. Zu Ostern und Nikolaus verebbte manchmal das Remmidemmi immer noch nicht. Saufkumpane bevölkerten derbfröhlich humpenschwingend jedes Mittelalter plus Barock und alle folgenden Zeitläufte und kreisten mit Weinkrug und mitgrölenden Sittenwächtern um die goldensten aller Stuten, Kälber, Stiere und Ochsen, um Götze Bauch. »Stultorum infinitus est numerus!« (Eccl 1,15) Mohren, Pagen, Fußknechte schwenkten burgundisches Banner, schleppten die reichbestickten Azurmantelschleppen von Spottkönig, Narrenpapst und Narrenmutter, vornweg Herolde, berittene Garden, Vögte, Falkoniere, die dank Waffenverbot lediglich mit Holz-Imitaten fuchtelten. Rügegerichte fällten lachsalvenauslösende Urteile. Bischofsstäbe mündeten in Narrenköpfe – keine Kanzel ohne Falltür! Narren bekamen Bartverbot, und Kleriker – Maskenverbot! Schelmenzünfte verbrannten als Weihrauch – Schuhsohlen. Olle Weiblein krähten: »I’d Muetter bi vom Antichrist!« Watschenfänger bekamen im Drommetenschall Versöhnungs-Bonbonnieren gereicht. Roßärzte, Riemer, Sattler stempelten auf freigelegte Hinterbacken: »So sag mir du au, wer du bist!« Auf Schaukissen wurden – Kotwürste präsentiert. Vorzeigepaare mit Eselsohren führten einen Actus carnalis vor, kreisende Becken, wie später auf Love Parades, auf denen dann leider der Knalleffekt fehlte, daß auch moribunde Uralt-Pärchen solch Ehestandsrambazamba und Kopulierruckizucki öffentlich vorführten. Endlich Mittelalter pur, katholische Prozessionen, von Karnevalsumzügen imitiert, eine einzige jahrhundertelange,

quietschbunt verfilmbare, karnevalistische Farbenpracht und Massenorgie.

Dann aber kam der neutralgraue Aschermittwoch der Neuzeit und zog sich hin, und schon sahen punktuelle Mittelalterreste und Gotikzitate wie Richterrobe, Talarträger, Dalai Lamas, Saudis allesamt wie Kostümrummel aus. Vatikangestalten, wenn sie in ihren Domen und Kathedralen von Kondomen und Gott redeten und sangen, sahen hierbei aus wie todernste Narrhallesen, was wahnsinnig stilbrüchig, hülsenhaft und närrisch rüberkam, als wandelnde Selbstparodie.

Unfreiwilliger Humor toppte immer verrückter den knapp noch freiwilligen Humor. Genauso: Karlheinz aus Wuppertal, der gern in den Jemen fuhr, pfropfte sich einen Turban auf, der aber seine banale Identität nicht ernstlich aufpeppen half. Entweder versteckt sich am Rosenmontag in jedem Vermögensberater sein wahreres Selbst, und das will grölen, rülpsen und foppen, oder andersherum: Geborene Witzereißer halten 333 Tage im Jahr die rauslaßbare Sau streng unter Verschluß. In summa: Das 20. Jahrhundert zog auf Jahrtausende humaner Farbenfreude eine technizistisch-kommunistisch neutralgraue Alufolie, kein Wunder, daß nun Milliarden Armbanduhr-Araber, PKW-Chinesen und Dosenkost-Russen verstärkt nach Kaiser, Sultan und Zar brüllen. Bevor gummibunt vergoldetes Königtum bei abschmelzenden Polkappen die zentralgeheizte freie Welt fortspült, bitte schnell noch die Relation zwischen Pigmentstörungen und Demokratie erforschen! Fragt sich nur, wie im Gegenzug bunte Diktaturen ihre Kostümfilmhaftigkeit loswerden wollen.

Narrologie für Fortgeschrittene

Experten unterscheiden Munaficun und Madschdubun, genauer: einerseits Nach- und Vorbeter, Mitläufer, Uneinweihbare, Hyliker, Muggels, kurz: Normalbürger, andererseits Übergeschnappte, von Dschinnen besessene Derwische, Sufi-Narren. Hinzu kommen Scheiche, Schelme und Spinner, und nicht zuletzt Oberspinner und viele andere Sorten, Typen, Leute und Menschen. Einerseits lassen sich Clowns, Chefs, Freaks, Guys, Snobs, Stars, Tramps, Wracks unterscheiden, andererseits Bettler, Boten, Bräute, Dandys, Denker, Dulder, Gurus, Gaukler, Huren, Kuppler, Lesben, Macher, Maler, Magier, Musen, Mönche, Mörder, Nonnen, Päpste, Pilger, Popfreaks, Prinzen, Scheiche, Schwuchteln, Staatschefs, Sammler, Softies, Spinner, Stifter, Stripper, Yogis und nicht zuletzt Baumnarren, Beichtväter, Bildhauer, Blutsäufer, Dorfdeppen, Einsiedel, Fischprediger, Gutmenschen, Großmäuler, Lustmolche, Knastbrüder, Kunstmaler, Mondnarren, Moonwalker, Schauspieler, Schwarzdenker, Stadtnarren, Türhüter, Tonsetzer, Totmacher, Weinfreunde, Wortführer, Ulknudeln, Umwerter und Zuchthäusler.

Alle diese Abenteurer, Alchimisten, Blödelbarden, Busenwunder, Casanovas, Dadasophen, Dao-Dichter, Dschungelhelden, Eingeweihte, Eigenbrötler, Einzelgänger, Fetischisten, Frugivoren, Geognosten, Hilfsarbeiter, Kavaliere, Komponisten, Kupferstecher, Liebesboten und Müslifresser kamen auf diese Welt, um vom gesunden Mainstream pathologisch und theologisch abzuweichen. Religionen kämpften gegen Mystagogen, Mythologen, Okkultisten, Pädagogen, Serienkiller, Tänzerinnen, Theosophen, Pantomimen und Possenreißer und hielten ihre Anhänger zum Narren.

Kaum kamen religiöse Mitläufer mit viel Ach und Krach in jeweiliger Evidenz an, stand nicht mal ein halbwegs greifbares Nirwana zur Verfügung. Götter foppten arme Säue und Seelen mit grausam unzumutbarer Nichtexistenz. Patriarchen, Rattenfänger, Selbstvergotter, Tagediebe, Visionäre, Wüstentöchter, Wunderkinder und Zappeltanten schossen ständig wieder aus dem Boden, in den sie ständig wieder gestampft wurden, um nicht zu sagen: zurückgebombt. Ketzer wichen vom Dogma oft verblüffend geringfügig ab. Dissidenten kommen also genauso vom Fließband. Banale Gestalten funktionieren genauso wie die berühmtesten Heiligen, die mit Stigmatum, Gotteskuß und Qualitätsstempel auf frommer Stirn: »Echt!« Kein Wunder, daß im ABC Tiervater Brehm neben Buddha landet, und Turnvater Jahn neben Jesus. Was unterscheidet falsche Fuffziger und echtes Katzensilber?

Frühe Obergurus und göttliche Greise (à la Pythagoras, Petrus, Dionysius Areopagita, Melchisedek, Jesus von Panthera) sahen im Rückblick, kraft Patina & Exotik, unsagbar gültig aus, heilig, unerreichbar groß, jeder Kontrolle entzogen – vor Ort aber geizten sie mit Wunderheilungen und rechtzeitigen Originalzitaten sehr, oft auch mit spirituellem Format.

Und vice versa: Ausbrüter dubiöser Privatreligionen stiegen zu Weltreligionsstiftern auf. Narren, die man postum weihevoll hochschaukelte, trumpften als Jahrtausendgestalten auf, aber Narren, die man zufällig zu pushen vergaß, hatten sich zu begnügen, bloß als Sektenchefs zu hausieren.

Päpste sprachen zentnerweise frömmelnde Schwundköpfe – darunter auch Mörder – selig und heilig, und andersrum: Päpste ließen vernunftbegabte Vordenker jahrhundertelang umsonst auf Rehabilitierung warten.

Am Schluß nippeln Karrieristen so tragisch und kläglich ab wie Narren, schrumpfen weg und gehn von uns – wozu eine künstliche Zweiteilung derselben vertrackten Chose? Viele Narren sind so humorlos gebaut wie Ezechiel, Savonarola, Franz von Assisi oder Osama bin Laden, der genau wie ein Hofnarr die Welt mit makabren Scherzen aufrüttelte. Komische Mystiker übertrumpften profane Kleriker. Kosmische Träumer und Psychiatriepatienten leuchteten heiliger als 365 Kalenderheilige. Windbeutel, Sexgurus, Scharlatane brachten mehr Wahrheit rüber, zur Not auch bloß ›truth‹, als hochseriöse Menschheitslehrer. Falls sie recht haben mit ihrer schönsten These »In jedem Tautropfen steckt der Ozean«, dann wohnt in absolut jedem verklebten Pennergehirn und Wahnsystem das ganze göttliche Universum! Selbst in gottlosen Zeiten hören wunderliche Heilige nicht auf, ihr Unwesen zu treiben, und ihr Wesen.

Fazit: Normalbürger sind oft noch närrischer als andere Narren. Und vice versa: Narren sind oft nicht weniger närrisch als andere Leute. Wand an Wand, ja: Wange an Wange, im Global Village: One Big Family, One World, Yin & Yang! Die Unterscheidung, die man zwecks Dualismuspflege unerleuchtet aufrechthielt, kann in schwachen Minuten und hellen Momenten bestens entfallen, zwecks Unio mystica, Coincidentia oppositorum & Tat twam asi & Apokatastasis panthon. Aber zum Ausgleich, daß für Stino-Leute Buddha wie Uriella aus demselben Holz geschnitzt wurden, sehen Sektenopfer ihre Ausbeuter gern als Bodhisattwas.

Hereinspaziert – Eintritt nur für Verrückte

Farbtupfer dieser grauen Welt: Herzbuben und Herzdamen können keinen einzigen Joker ersetzen. Endlich bildschöne Wahrheit, kaum umzingelt von Realität! Selbst Engel wärmen sich an Nonsenseversen! Ein Königreich für eine Windmühle, gegen die ich kämpfen könnte! Doch hüte dich, gewissen Narren ähnlich zu sehn! Sonst geht alles immer so weiter, mit dieser fragwürdigen Welt. Pick einfach mal ein paar heraus, zwecks näherer Untersuchung. Aber öffnest du einem die Tür, kommen gleich 333 herein, oder 222! Eine Demokratie für eine Phänomenologie, damit endlich jeder erfährt, wie solche Subjekte ticken und woran man sie erkennt. »Kosmos sucht 22 Superstars!« »Wir warten draußen vor der Tür.« »So voll hier – nix wie raus hier!« Drinsein oder Nichtdrinsein, in Google und Mahabharata, Kanon und Pantheon, Kosmos, Panoptikum und Narratorium.

Jede Einzelfigur saß geduldig im Vor- und Wartezimmer, im zen-buddhistischen ›Niwa-Zume‹, einzuwandern in 7 x 7 Narrenhimmel, vorbeizuschlüpfen an TÜV-Prüfstand, Riechkontrolle, einköpfiger Jury, oje, sogar Rampe, mit und ohne Schmiergeld für Hausmeister und Torhüter. Größte Namen rückten an, IPs & VIPs (important persons & very important persons), Oberbonzen, Überformate, Supergirls, in Sänften herbeigetragen, eingeflogen von Sponsoren, umflort von Nimbus und Corona, umwedelt von Meßdienern, Autogrammjägern und Fans! Trittbrett- und Schwarzfahrer drängten herbei, Scheinheilige, Durchschnittsspinner, leider auch Arschlöcher mit Ohren. Sind das alles Scharlatane oder religiöse Genies? Das konnte bisher keiner rausfinden. Jüngern fehlt kritischer Anstand, Sensationsreportern fehlt spirituelles Feeling. Kein Tierlein sei zu klein, um aus dieser Arche ausgemendelt zu werden und fern von Bug und Heck weiterzupaddeln.

»Wieso bin ich dann trotzdem nicht drin?« »Hätt man mich nicht weglassen können?«

Wohl dem, der nie hineingeriet in die Mühle! Tröste dich, ich bin auch nicht drin. Hier und da schimmert Ulrich Holbein, falls ihn wer vermißt, durch die Zeilen. Wegweisende Renomméeträger als Trottel entlarven – Knallköpfe zu Weltweisen erheben!

Es gab halt Platz- und Transportprobleme, technische Gründe; es gab menschliches Versagen, soziale Überbuchungen, 111 km lange Staus – Indian Air & Bundesbahn streikten simultan! PCs stürzten ab! »Diese Schießbudenfigur soll – ich sein?« »Zu Lebzeiten sah ich völlig anders aus!« Ich hielt mich akribisch an die Fakten, aber alchimistisch beleuchtete sich alles um. »Wenn ich das je so gesagt hätte, müßt ich’s doch wissen, oder?« »Geistesgeschichte ist kein Menschen-Zoo!«

Viren sind halt sehr wandlungsfähig. Menschen können sich ändern, je nach Sehstärke. Brille putzen – guck in diesen unbestechlichen Zerrspiegel! Ein Narrenschiff, dichtgedrängt im Schiffsbauch untergehender Titanic, wohldosiert überfrachtet, aufgebläht zum Narrenjumbo, der durchs Tollhaus des Weltalls fliegt! Asylrecht! Mehr Irrlicht! Im Hunderterpack billiger: Flaschenpost für Unmusikalische! Only for you – True lies für untergebutterte Übermenschen und andere Zwergpinscher! Hausapotheke, Last Supper und Affenbrot für Carnivoren, Gourmands und Spamfilter! Die Karpfen viel fressen, die Predigt vergessen.

Reisender Greis kreist um weiche Weisheit

Laozi – Archivar, Ruheständler, Dao-Denker (6. Jh. v.Chr.)

Er kam aus dem Dörfchen Gü Jen im Staate Dschu (später: Provinz Honan) und versteckte sich hinter dem häufigsten aller Familiennamen: Li (hundertmal häufiger als der Name Müller). Sein Milchname lautete Erl – Ohr. In seinem Beruf – Tempelschreiber, Annalist im Reichsarchiv, Verwalter von Opfer- und Weihschriften, Bücherrollenwurm – fühlte er sich zwar nicht heimisch, hielt es aber darin jahrzehntelang aus. Nach außenhin ein Rädchen im pragmatisch wohlgeordneten Getriebe, empfand der Staatsbeamte sich als außenstehend. Alle stiegen im Frühling lachend auf Türme; er aber stand abseits und lachte nicht mit. Erst als ausgemusterter Pensionär, altertümlicher gesagt: in höchstem Greisenalter, betätigte er sich als Aussteiger. Der seriöse Antipode jedes heiligen Narren: Kungzi (Konfuzius) empfahl seinen Schülern, nicht hinterm Ofen zu sitzen; Laozi, sobald ein Schüler ihn um Reiseerlaubnis bat, sagte: »Die Welt ist überall so wie hier.« Er verließ aber dann selber seine Heimat, mit unbekanntem Ziel, überholte den Schüler, der daheimzubleiben hatte, hielt sich also nicht an seine eigene Weisheit »Ohne aus der Tür zu gehn, kannst du die Welt sehn«. Laozi, als wär er ein Konfuzischüler, wollte nicht hinterm Ofen sitzen. Er packte nur das Nötigste, aber es wurde dies und das. Statt taoistisch bewegte er sich touristisch auf den Westen zu. Erhoffte Laozi sich dort blaueren Himmel als blauen? Das einzige, was den Einzelwanderer vom Pauschaltouristen abhob: eine fehlende Rückfahrkarte. Laozi überschritt Schlagbaum und Grenzmarke, die es im Daoismus eigentlich nicht gab. Laozi wechselte die Sphäre. Der (immanenzbetont) reisende Daoist vollzog eher eine buddhistische (transzendenziersüchtige) Durchbruchsreise. Laozis Grenzposten wurde zum Todesengel. Der reisende Greis wurde zum sterbenden Seneca, der seinem Schüler schnell noch letzte Worte in die Binse diktierte.

Nach Laozis Grenzübertritt verloren sich Laozis Spuren, die auch vorher schon fehlten. Er schritt oder ritt seinem postumen Ehrennamen Laozi entgegen (alias: Laotse, Lao Dse, alter Meister), der auf fast jeden altgewordenen, halbwegs vernünftig erscheinenden Mann zutreffen konnte. Windtourist Liäzi flog auf dem Wind. Zhuangzi brauste als Vogel Pöng förmlich als vorchristlicher Jumbo-Jet über die Wachteln des Massentourismus elitär hinweg und hinaus aus den Grenzen des Staubes. Verschwand Laozi? Verschied Laozi? Verschwinden und Verscheiden flossen daoistisch ineinander.

Der historische Laozi versuchte im Verborgenen zu bleiben: »Der beste Wanderer hinterläßt keine Fußspur.« Aber der postume Laozi stieg auf in die einstellige Kopfzahl weltberühmter Religionsstifter. Sein legendär nachgeschobenes, leider namenlos gebliebenes Symboltier Büffel ritt im überregionalen Überblick Seite an Flanke mit Kanthaka, dem Pferd Buddhas, und Dudul, dem Maultier Muhammads, und dem Esel, auf dem Jesus in Jerusalem einritt. Laozi kam nach Jesus, Muhammad und Buddha auf Platz 4. Die (vorläufige) Unaustilgbarkeit seines Namens korrespondierte mit seinen (fehlenden) Lebensdaten. Alle von Bürokratie und Pragmatismus absorbierten und traktierten Chinesen, sobald sie in überfüllten Vielvölkerstaaten und Metropolen an Mystikdefizit litten, sich auf verlorenem Posten fühlten und nach ein wenig Eremitentum sehnten, kamen auf Laozi, Liäzi und Zhuangzi zurück. Tang-Eremiten, die Laozis leidgeprüftes Outsidertum kopfnickend unterstrichen und die ihre Beamtenlaufbahn so früh wie möglich, statt erst am Schluß, in den Wind schlugen, lebten insgesamt viel naturverbundener, viel daoistischer als der Stammvater aller Daoisten, dem sie ihre eigene Freude an zurückgezogener Blumenzucht und an unendlichen Fernblicken über herbstliche Bergkulissen vordatierend-rückwirkend unterschoben und ins Wort Daoismus für immer einsickern ließen. Verrückte Volksphantasie umspielte den weißen Fleck von Laozis Ahistorizität mit knallbunten Legenden, auf dem Level von Ochs und Esel bzw. Buddhas schwangerer Mutter Maja, die von einem weißen Elefanten träumte: Laozis Mutter ging alsbald, nachdem sie auf eine Sternschnuppe geguckt hatte, 81 Jahre lang mit Laozi (auch übersetzbar als: altes Kind) schwanger, entsprechend der Kapitelzahl des Daudöging. Laozi trat als Achselhöhlengeburt hervor, vaterlos, wie das seiner Mutterfixiertheit entsprach, als frühvergreister Säugling, der sofort auf einen Li, einen Pflaumenbaum zeigte, und sagte: »Dies soll mein Name sein.« Zufällig hieß die Mutter ohnedies Li. Auch Konfuzi wuchs vaterlos auf und stand seinen Mann (genau wie Laoziübersetzer Richard Wilhelm!), ohne zeitlebens von Mutterschoß, vom Geist des Tals, vom dunklen Weib reden zu müssen. Laozis Vaterlosigkeit wurde sowenig verbürgt wie seine Existenz, Laozi aber verklärte unmännlich den ewigen Schürzenzipfel. Seine berühmteste Weisheit: »Weich besiegt Hart« mochte parallelgeschaltet werden mit Jesus’ Wangehinhalten und indisch gewaltlosem Widerstand, nachzitternd bis in deutsche Sprichwörter, daß steter Tropfen den Stein höhle. In Industriezeiten las sich Laozi dann nochmal anders: Jeder Spätromantiker, jede lonely crowd entfremdeter Gesellschaftsmitglieder, die von sich sangen »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«, teilte Laotses Lebensgefühl sehr, über Zeit und Raum hinweg. Im 80. Kapitelchen seiner Spruchsammlung zeigte sich der Ur-Softie (Dao besiegt Tao) als alternativer Hardliner (2500 Jahre vor der Alternativbewegung ab 1970 n.Chr!), als Energiesparer, der dafür plädierte, die Gürtel enger zu schnallen, Heizung runterzudrehn, Fahrzeuge in der Garage zu lassen, d.h. nicht einmal die damals vorhandene agrarische Gerätetechnik zu benutzen. Laozi fuhr das ganze Argumenationsarsenal späterer Ökofreaks auf: Small is beautiful! Tante-Emma-Läden statt anonyme Einkaufzentren! Biodynamische Stadtflucht statt Ballungszentren, Massentourismus und Verkehrschaos, Altbau statt Betonklotz, Fachwerk statt Mietfron, Jute statt Plastik, auf Laozis technologischer Ebene: vorsintflutliche numerische Knotenschrift statt die damals relativ neu erfundene vorchristliche Pinselschrift. Laotse trauerte nicht nur der Chimäre eines dao-gemäßen Goldenen Zeitalter nach; er sehnte sich allen Ernstes in neolithische Zeiten zurück. Statt päpstliches »Seid fruchtbar und mehret euch!« dekretierte Demograph Laozi: »Das Volk sei gering an Zahl«, plädierte also für die Ein-Kind-Ehe, Jahrtausende zu früh, und alles umsonst. So um 1920 n.Chr. kreiste verfeinerbare Sinologie um Laozi, der dadurch als historische Person fast greifbar wurde, um sich dann doch wieder ins Nebulöse zurückzuziehen. Die häufige Frage »Gab’s ihn wirklich?« formte sich um in »Wie oft gab’s ihn?« Der Lao Dan, der bei Zhuangzi vorkam, wurde von Anfang an für Laozi gehalten. Laozi stand für immer gleich weit weg von Maobibel (dem absoluten Gegengift des Daodödschöng), vom erwachenden Riesen, von Machtfaktor, Wirtschaftswachstum und Turbokapitalismus. Laozi blieb verdammt, ein namhaftes Nischendasein weiterzuführen in blasiert gurusuchenden Esoterikkreisen übertechnisierter Überdruß- und Wegwerfgesellschaften der Nordhalbkugel.

Worte des Laotse: Was ihr redet, betrifft Menschen, die mitsamt ihren Knochen längst vermodert sind. Nichts ist von ihnen geblieben außer Worten. Ein edler Mensch fährt im Wagen, wenn die rechte Zeit gekommen ist, und kommt sie nicht, packt er sein Bündel und geht. Wie ich gehört habe, weiß ein guter Händler seinen Besitz zu verbergen, als besäße er nichts; der edle Mensch gleicht äußerlich einem törichten Taugenichts. Tut ab euren Hochmut, eure Gier, Euer Gehabe und unziemliches Streben! Nichts davon wird euch nützen! Das ist es, was ich euch zu sagen habe, und sonst nichts!

Laotse über sich selbst: Ich bin wie gelähmt und kann kein Zeichen geben, wie ein Milchkind, das noch nicht lächeln kann, wie ein schlapper Wanderer ohne Zuhaus. Alle leben im Überfluß; ich allein lebe so, als hätt ich alles verloren. Ich hab das Herz eines Taugenichts! Alle leuchten, ich allein dumpfe vor mich hin. Alle sind so scharfsinnig, ich allein bin beschränkt, ruhelos wie das Meer.

Andere über Laotse: Vom Drachen weiß ich nicht zu sagen, wie er sich erhebt auf Wind und Wolken und in den Himmel steigt. Heute hab ich Laozi gesehn – ob er wohl dem Drachen gleicht? (Konfuzi) – Er ist für mich seit vielen Jahren das Weiseste und Tröstlichste, was ich kenne, das Wort Tao bedeutet für mich den Inbegriff jeder Weisheit. (Hermann Hesse an Romain Rolland, 8.11.1921) – In Kung-Futses Gesprächen ist man noch auf festem Boden; doch später löst sich alles immer mehr und mehr in der Dunkelheit auf, Laotses Sprüche sind steinharte Nüsse. (Franz Kafka zu Gustav Janouch) – Er muß in jeder Beziehung ein Eigenbrötler gewesen sein, in dem China der Vorzeit ein Verächter staatlicher Ehren, staatlichen Herkommens, staatlicher Zwecke; heute würde man sagen: ein Edelanarchist. (Fritz Mauthner, 1923) – Der maßvolle Lehrer wurde sichtbar als einer, der zurücktrat. Aber der eigentliche, der mystische Lehrer des Tao erschien dadurch, daß er verschwand. (Ernst Bloch, 1936) – Hoch oben zog der Adler seine einsamen Kreise. Hier stand er, Lao-Tse, begrenzten Leibes, doch unbegrenzter Seele; wissend um die Einheit alles Lebendigen, auch wenn es in zahllos voneinander verschiedenen Erscheinungsformen sich kundtat. Waren unvertraut auch die Leiden und Freuden in unvertrauten Körpern, so pulsten sie alle doch in dem Herzschlag, den Tao vorantrieb, den Tao beflügelte, dem Tao die Lust der Weltglut eingab. (Charles Waldemar, 1958) – Buddha ist monoton. Er ist eine einheitliche Sache, sauber, logisch, geradeausgehend, linear. Aber Laotse springt im Zickzack, er läuft wie ein Verrückter. Deshalb erreichen ihn nur sehr seltene Sucher; deshalb gibt es keine organisierte Religion für Laotse. (Osho, alias: Bhagwan Rajneesh) – Der Alte Meister steht bis heute in dem für einen Weisen ziemlich unpassenden Ruf, ein Anarchist gewesen zu sein. Aber Lao-Tse wollte den Staat nicht abschaffen, schon gar nicht mit Hilfe von Terrorakten, sondern ihn so weit wie möglich reduzieren. (Gisela Gottschalk, 1982)

Es ging eine Seele auf Reisen

Hermotimos aus Klazomenai – Ehetrottel, Wackelkandidat, Astralwanderer (um 650 v.Chr.)

Er kam von der Westküste Kleinasiens, aus der Keramikmetropole Klazomenai. Oft antwortete er seiner Ehefrau nicht, hörte fast nie zu, hockte teilnahmslos in einer Ecke, kümmerte sich um den Nachwuchs nicht und unternahm fast nie etwas, um solchen in die Welt zu setzen. Ob er zeitweise einem Beruf nachging, wurde nicht überliefert. Hatte er einen Apfel zu Ende gegessen, konnte er noch stundenlang mit dem Apfelgriebs in der Hand herumsitzen und Stubenfliegen beobachten. Anfangs war ihr das gar nicht so aufgefallen. Anfangs tat er noch so, als höre er zu. Über seine interessiert guckenden Augen legte sich ein glasiger Schleier, und schon ging alles zum anderen Ohr raus. Er schlief sogar gelegentlich mitten im Beischlaf ein. Sobald sie ihm Wichtiges erzählte, hörte er genauso wenig hin. Körperlich fehlte ihm nichts, aber beim Essen sank ihm einmal das Gesicht in die Suppe. Oft blieb er mitten auf der Straße versunken stehn und merkte nicht, daß alle ihn überholten, komisch anguckten oder anrempelten. Oft lag er mit weggedrehten Augen und offnem Mund im Weg herum, mit Speichelfaden, unansprechbar, unerweckbar, aber nicht aus Dummheit oder Faulheit, sondern geradezu scheintot. Man rüttelte ihn, doch seine fortgedrehten Augen kamen nicht zurückgerollt. Mystische Abwesenheitszustände flogen ihn an und rafften ihn hinweg, manchmal nur sekundenlang, später sogar stundenlang. Zunehmend genervt und vergrätzt stieg sein Weib im Haushalt über ihn hinweg. Kam er dann wieder zu sich, wie aus einer anderen Welt – was man aber auch hätte schauspielern können –, berichtete er stockend von Geschehnissen in bunten fremden Ländern, dergestalt detailliert, als wär er Augenzeuge gewesen. Im Haus wollte das trotzdem keiner hören. Beschäftigte er – wie manch ein Zauberkünstler oder Wahrsager – heimliche Kundschafter, Zuträger, zum Schweigen verpflichtete Mitarbeiter? Mitunter lag er ohne Nierenschutz zwei Stunden auf kalten Steinen. Seine plattgelegene Wange spiegelte sich in einer Speichelpfütze. Wer würde sowas simulieren wollen? Manche meinten, er hätte Freude dran, sich totzustellen und andere zu erschrecken. Jedesmal lag er noch echter und länger tot herum, um dann doch wieder Glanz in die erloschenen Augen zu bekommen. An seine zwei vorigen Inkarnationen vermochte Hermotimos sich exakt zu erinnern, Euphorbos und vorher, Aithalides. Auch das wollte sich keiner anhören. Sein Weib hielt ihm Standpauken, die spurlos von ihm abperlten; er war zu gut oder zu ungenügend für die enge Welt, in der er immer weniger steckte. Blackouts liefen mit Fehlmeldungen um die Wette. War’s Bosheit oder Verzweiflung, als seine zunehmend vergrätzte, dann abgehärmte Ehefrau eines Tages überall verkündete, er sei nun doch von uns gegangen, endgültig, leider, und zwar steckte sie das vor allem seinen Feinden, den Kanthariden, die ihn umgehend bzw. auffällig überstürzt beisetzten oder verbrannten. Wurde der Arzt, der seinen Leichnam überprüfte, bestochen von den Kanthariden oder ihr, oder war tatsächlich keinerlei Puls zu fühlen? Hatte sie ihn wirklich für tot gehalten oder nur die Nase voll, und setzte einen Lebendigen bei, dessen Seele jeden Moment aus Hindustan zurückkehrte und nun plötzlich keinen Eingang mehr fand in einen erstickten oder verkohlten Leichnam? Entweder spielte sich auf der Astralebene ein Drama ab: Eine Seele suchte verzweifelt ihren Leib und zappelte in Panik bezugslos im Luftleeren. Angenommen, Hermotimos hätte als Scharlatan Scheintod stets nur simuliert, wär er doch sicherlich bei den Bestattungsfeierlichkeiten plötzlich erwacht, spätestens bei entzündetem Feuer. Gab er sein Leben hin, um nicht als Simulant entlarvt zu werden? Oder aber: Hermotimos war vielleicht einfach nur gestorben, eines ganz natürlichen Todes, und fertig. Seine Witwe, die viele nicht leiden konnten, eine Giftnudel, eine vorsokratische Xanthippe – oder einfach nur eine Vielgeprüfte? –, trauerte sehr, was man aber auch hätte schauspielern können.

Unter den Beispielen haben wir aufgefunden, dass die Seele des Hermotimos aus Klazomenä unter Zurücklassung des Körpers herumzuirren und umherschweifend aus der Ferne vieles zu berichten pflegte, was nur von einem Anwesenden erkannt werden konnte, während der Körper in der Zwischenzeit halbtot war, solange bis Feinde, die Kanthariden genannt wurden, nachdem sie diesen verbrannt hatten, der zurückkehrenden Seele gleichsam die Scheide wegnahmen. – Nachdem Euphorbos gestorben, sei seine Seele übergegangen in den Leib des Hermotimos, der seinerseits sich beglaubigen wollte und zu dem Ende sich zu den Branchiden begab; dort wies er nach seinem Eintritt in den Tempel des Apollon auf den Schild hin, den Menelaos da aufgehängt hatte. Menelaos nämlich – so sagte er – habe nach seiner Abfahrt von Troja dem Apollon den Schild geweiht, der bereits stark vom Zahne der Zeit gelitten, so daß nur noch das elfenbeinerne Antlitz erhalten war.