Thomas Fieglmüller
Herbstsicht
Gedichte
deutscher lyrik verlag (dlv)
Thomas Fieglmüller
Herbstsicht
Gedichte
deutscher lyrik verlag (dlv)
1 Ge Sicht
Warum ich schreibe
Durch Verwundungen
zu Sprachlosigkeit gefroren
formten sich Worte
herzschwer
Getautes Leben
bestärkte mich darin
Schrittweise
meinen Herzschlag gefunden
mein treuer Begleiter
der mich
wann immer
ruft
aus Erkenntnis
stammelnden Aufschrei
mit blutroter Tinte
suchend und fragend
auf Spiegeln
in Worte zu zeichnen
damit sie könnten
in der Begegnung
zur Weisheit keimen
auch in mir
Blutend zu leben
Unbeschreibliches auszudrücken,
Unsagbares in Worte fassen,
Wehmut verkraften,
voll Sehnsucht bleiben
und hoffen,
daß sie sich erfüllt.
Gefühle keimen auf,
sie werden breit und greifen um sich,
erfüllen tönernes Gebilde
und hauchen Staub das Leben ein,
verwandeln gierige Lust
in Versunkenheit,
und Einsamkeit
in Größe.
Lehm muß erst geknetet werden
zur Seele hin.
Durch Dornen hindurch
werden Krusten außen hart –
darunter blutend ein Herz.
Versuch eines Menschen,
blutend zu überleben.
Ich traue nur schwer
Ich traue nur schwer
der luftigen Brücke.
Zu irden bin ich
und zu verletzt.
Was macht dich so sicher?
Ist’s Überschwang,
oder hat’s ein Fundament –
sehnsuchtsschwer?
Verträumte Seele,
ich höre dich so
fliederfarben duften
und habe Angst
vor deinem Traum.
Doch wenn das Mondlicht aufscheint,
wärmt mich deine Sonne,
erwacht in mir
das Spiel der Hoffnung,
und ich beginne langsam zu begreifen …
Selbstporträt
meinem Spiegel entnommen
der trotzdem nicht zerspringt
der kaum im Rahmen bleibt
je näher ich ihm komme
Obwohl er mich täglich sieht
manchmal mehrmals
wozu
erwarte ich mir denn Neues
Mein Spiegelbild
gibt mir zu verstehen
daß ich in Entfernung
im Rahmen bleibe
mit schlanken Konturen
daß ich in der Nähe
nichts zu lachen habe
Stirn
der es an Weisheit mangelt
Augen
in die ich tief blicken sollte
Nase
die mich oft nicht riechen kann
Mund
der mir die Zunge zeigt
Zähne
oft ohne Biß
Ohren
die zu wenig hineinhören
Haare
erschütternd
Hand
eine wäscht die andere
Die Kälte des Wassers
vertreibt die Blutleere
aus meinem Gesicht
Wär ich ein Hund
SZENE 1
»Was hat er denn schon wieder?
Warum tut er nicht, was ich will?
Immer dieser Ärger!«
Dann zunehmendes Interesse.
Gebannter Blick am Bildschirm –
die Welt rundum versinkt:
»Was willst du, soll ich tun?«
beginnt das Gespräch mit ihm.
Vorsichtig, fast zärtlich
werden Tasten gedrückt,
der hoffnungsvolle Blick
weicht nicht vom Bildschirm,
ob nicht doch wenigstens Ein-Druck
eine positive Reaktion hervorruft
und ihn wieder zum Leben erweckt.
SZENE 2
»Von meinen Liebling weiß ich alles:
Wenn er winselt,
will er Gassi gehn;
wenn an der Lade kratzt,
will er noch etwas zu fressen;
wenn er einmal bellt –
will er gestreichelt werden.
Von seinen Augen
les’ ich ihm jeden Wunsch ab.«
SZENE 1 + 2
Währenddessen weint und schreit das Baby.
Abweisende Blicke derer,
die es sonst vergöttert,
geben ihm zu verstehen,
daß jetzt keine Zeit für es ist.
Sein Begehr wird abgewiesen,
und es fühlt sich einsam und verlassen
von seinen Göttern.
»Ach, wär’ ich doch ein Computer …
oder wenigstens ein Hund …«,
denkt es.
Seine Tränen versiegen,
ein Vulkan ward geboren!
Gelöscht werden könnte er nur
durch die versiegte Quelle.
Sonst wird es ein Vampir
und weint nie mehr wieder …
Schik Seele
Den Lebensort hab ich mir nicht ausgesucht
befruchtet hat der beste Schwimmer
ist’s Zufall oder Fügung
ich hatte keine Wahl
Ich wachse
wo ich eingenistet bin
Der Beginn erzählt bereits
von allem
was noch werden soll
ich schwimme in Empfindungen
sie sind meine Nahrung
Der Schutz nach außen wird gesprengt
die Symbiose wird entbunden
Neuwerden geschieht von innen
Individualität setzt sich durch
Nun bin ich
anderen ähnlich
doch einzigartig
und das drängt mich
bedürftig zum Du
darin ist Fülle angelegt
Wenn ich selbst geerdet werde
die Sonne mich streichelt
und der Sturm mich nicht knickt
werd ich erfahren
wenn du mich berührst
sie brauche ich
ganz innen
um Leben weiterzugeben