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Beverley Jones

Die
Saat der Lüge

Psychothriller

Deutsch
von Verena Kilchling

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
»Telling Stories« bei Cutting Edge Press, London

T. S. Eliot, »J. Alfred Pufrocks Liebesgesang«:
Die Zitate wurden für diese Ausgabe
von Verena Kilchling übersetzt.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung November 2012

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Beverley Jones

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Felicia Simion Photography

Redaktion: Cathrin Wirtz

An · Herstellung: Str.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-08588-9

www.goldmann-verlag.de

Buch

Lizzy, Cora, Mike und Stevie: Während ihres Studiums waren sie ein unzertrennliches Vierergespann. Nach dem Studienabschluss ging dann jeder seine eigenen Wege, bis die vier wieder in Cardiff zusammenkommen. An Stevies Geburtstag ziehen sie gemeinsam um die Häuser. Sie feiern sich und das Leben und schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen. Der Abend nimmt jedoch eine jähe Wendung, als sich eine junge Frau mit feuerrotem Haar zu ihnen gesellt, die sich als Jenny vorstellt und die vier gut zu kennen scheint. Doch niemand von den Freunden kann sich an sie erinnern. So scheint es zumindest. Aber dann taucht Jenny wieder auf: tot. Lizzy, die am Anfang ihrer Karriere als Journalistin steht, bekommt von ihrer Redaktion den Auftrag, über den ungeklärten Todesfall zu berichten – und verstrickt sich in ein tödliches Netz aus Begehren, Neid und Lügen …

Autorin

Beverley Jones arbeitete viele Jahre als Journalistin, bevor sie ihren jetzigen Job als Pressesprecherin annahm. Erfahrungen, die auch in ihr Thrillerdebüt »Die Saat der Lüge« eingegangen sind. Beverley Jones lebt in Wales.

Für Kevin Ellis.
Mit vielem Dank für seinen Enthusiasmus,
seine Beständigkeit und seine große
Bücherkiste.

Im Einkaufszentrum

Glaubst du, dass Sünden, die man im vorherigen Leben begangen hat, einen bis ins nächste Leben verfolgen?«, fragte Cora. Wir hatten uns in die Tiefen der Stofftierabteilung verkrochen, wo uns die starren, glasigen Augen Hunderter stummer, pelziger Zeugen umgaben. Runde glänzende Augen, Knopfaugen, gestickte Augen, die uns erbarmungslos anstarrten. Auch ich starrte Cora an, während draußen weicher, nasser Schnee vom Himmel fiel.

Nicht zum ersten Mal waren ihre in letzter Zeit so locker sitzenden Tränen Vorboten einer drohenden Peinlichkeit. Sie würde eine Szene machen.

Ich vergewisserte mich mit einem Schulterblick, dass uns niemand gehört hatte. Dabei ging es mir weniger um ihre Frage als um das Zittern in ihrer stockenden Stimme, die sich hier, inmitten argloser Kinder mit glänzenden Augen, hysterisch zu überschlagen drohte.

Ich wusste nicht genau, wie ich ihre Frage beantworten sollte. Verlangte sie überhaupt eine Antwort von mir? Coras Augen waren fast ebenso glasig und starr wie die der Menagerie um uns herum. Sie schien aufmerksam zu lauschen und auf irgendwelche weisen Worte aus meinem Mund zu warten. Schließlich wusste ich doch auch sonst immer eine Antwort.

Schon damals hatte ich den Verdacht, dass sie von irgendetwas zu viel nahm. Medikamente, meine ich. Verschreibungspflichtige vermutlich, die zu Gebrauch und Missbrauch verführten. Vielleicht lag es aber auch nur am Wein und an allem anderen, das sie an diesem Nachmittag in sich hineingeschüttet hatte. Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion, wenn ich Ja sagte, denn es schien mir zu diesem Zeitpunkt immer wahrscheinlicher zu sein, dass sie recht hatte: Vielleicht bezahlten wir tatsächlich ständig für unsere Sünden – wie sonst ließ sich das vergangene Jahr erklären? Wie konnten sich fünf Menschen nur so fest in ein Netz aus Abhängigkeit verstricken, ein Netz, dessen Verbindungsschnüre klebrig waren von unbestimmter Sehnsucht und Reue?

Was würde sie tun, wenn ich sagte: »Natürlich bezahlen wir für unsere Sünden. Irgendwann holen sie uns ein, wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten.«

Ob sie wie am Spieß schreien und zur Balustrade laufen würde, die Arme voller Plüschtiere, die sie nie gewollt hatte und bei denen sie dennoch Trost suchte – einen verzweifelten, kindischen, kläglichen Trost –, um sich von der Galerie aus Glas und Chrom ins Vergessen zu stürzen?

Das Letzte, was ich von meiner Freundin sehen würde, würde ihr Körper sein, der, in einen viel zu engen Regenmantel gezwängt, kopfüber auf die unter uns befindlichen Besucher des Einkaufszentrums zusegelte, begleitet von einem Schauer aus Nostalgie-Teddybären.

Ihr gestreifter Schal würde hinter ihr herwehen, eine flatternde Ankündigung des bevorstehenden Aufpralls, und ihr Polyestermantel würde sich aufblähen wie ein grüner, durchscheinender, viel zu dürftiger Fallschirm.

Mit einem scheußlich dumpfen Schlag würde sie schließlich auf dem Boden aufkommen. Ihr Kopf unter der blauen Bommelmütze würde wie eine von klebrigen Supermarktfingern fallengelassene Mandarine aufplatzen und einen nassen Fleck auf den Bodenfliesen hinterlassen, und ein kleiner Sprühregen aus Blut würde auf die Samstagsmäntel und fest umklammerten Handtaschen der Konsumenten niedergehen.

Vor Schock gelähmt würde ich wie in Zeitlupe »Oh Cora, neeeiiin!« kreischen, würde ihr eine Sekunde zu spät zur Balustrade nachhechten und mit den Fingern nur noch den losen Faden eines Saumes erwischen, oder vielleicht eine Haarsträhne? Hinterher würden genügend Menschen bezeugen können, dass sie selbst das Unglück herbeigeführt hatte. Dass sie es mit offenen Armen empfangen hatte – das Ende. Völlig ausgeschlossen, dass ich etwas damit zu tun gehabt hatte.

Ich würde mich in die Arme erschütterter Passanten sinken lassen, die sich die Worte des Entsetzens, die ihnen auf der Zunge lagen, aus Mitgefühl verkneifen würden. Damit würden sie später bei einer Tasse Tee im Familienkreis ihr ansonsten so eintöniges, vorhersehbares Leben würzen können.

Aus diesem Grund hätte ich einen skalpellscharfen, einschneidenden Moment lang beinahe wirklich Ja gesagt. »Ja Cora, wir verdienen das Leben, das wir führen.«

Ich war so weit, es zu wollen. Ich wollte, dass alles vorbei war. Es hätte bedeutet, dass ich den Plan nicht würde durchführen müssen. Meinen Plan. Schwach und uninspiriert und einfallslos wie er war.

Die Erkenntnis fuhr mir als Adrenalinstoß direkt ins Herz, wie ein heruntergestürzter Wodka, setzte sich als Gedanke in meinem Hirn fest, schob sich als Gefühl tief in meine Brust.

Scheiße, ich muss meine beste Freundin umbringen.

Es war vier Tage vor Weihnachten. Der 21. Dezember. Ein Jahr, zwei Monate und drei Tage nach Jenny.

Schnappschuss

Cora sah ziemlich gewöhnlich aus, das ließ sich nicht leugnen. Ich hätte es ihr natürlich nie ins Gesicht gesagt. Auf ihre Frage, ob sie hübsch sei, hatte ich bereits ein- oder zweimal gelogen. Daran ist nichts Verwerfliches. Ich hatte deswegen kein schlechtes Gewissen. Ich hatte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, weil ich sie insgeheim für reizlos hielt. Es stimmte schließlich. Sie sah bestenfalls durchschnittlich aus.

Aber früher, als wir noch Studentinnen waren und so schrecklich jung, hatte Cora bisweilen eine jugendliche Ausgelassenheit, die sie vorübergehend beinahe hübsch erscheinen ließ. Diesen Reiz machte die rosige Frische junger Haut aus und der feste Glauben, dass einem die Welt zu Füßen liegt und man nach Belieben über sie verfügen kann, dass man sie schälen kann wie eine reife Frucht, ihren Saft aussaugen, um die Schale dann wegzuwerfen. Und sie hatte eine fantastische Figur, das darf man nicht vergessen.

Mit ihren wohlgeformten Rundungen, den großen braunen Augen, dem hellbraunen, kurz geschnittenen Haar und dem prächtigen Busen, der sich in ihr tief ausgeschnittenes Oberteil schmiegte, war Cora ein gewisser Charme nicht abzusprechen.

Ich habe sie noch genau vor Augen in dieser Nacht – dieser scheinbar ganz normalen, aber ach so wichtigen Nacht. Sie sah auch auf dem Foto fast hübsch aus, das lange vor der Party im Charlie’s entstanden war. Lange vor dem Currymann. Kurz vor dem Tanz auf dem Gehsteig. Bevor jemand starb. Als die Nächte noch voller billigem Wein und anhaltendem, heftigem Gelächter waren – Gelächter, das mir den Atem raubte und ihn ganz oben in meiner Brust festhielt, bis ich das Gefühl hatte, in dunklem, schwindelerregendem Vergessen zu ersticken.

Cora und ich hatten schon fast eine ganze Flasche Wein geleert, bevor die Jungs kamen, als Belohnung dafür, dass wir unsere Studentenbude gründlich geputzt, Papiergirlanden aufgehängt und die Zeitschriften und die Post unters Sofa geschoben hatten. Unsere Mütter wären ausnahmsweise stolz auf uns gewesen.

Es war Coras zwanzigster Geburtstag, und sie trug ein erstaunlich glänzendes, knappes, orangerotes Cocktailkleid, mit dem sie mir die Schau zu stehlen versuchte. Nichts, was Cora trug, wirkte jemals wirklich angemessen. Hatte ich meine Schuldigkeit getan, indem ich angedeutet hatte, das Kleid sei vielleicht ein bisschen zu schick? Ein bisschen zu eng? Die Farbe etwas zu gewagt? Aber es entsprach nun einmal Coras bürgerlicher Vorstellung von sexy und flippig. Und sie hatte einen Monat lang auf ebendieses Kleid gespart, hatte wochenlang fast ausschließlich von Dosenthunfisch auf Mikrowellenkartoffeln, Kellogg’s Frosties und hin und wieder einem KitKat gelebt, um es sich leisten zu können.

Wir waren zwar noch zu jung und ungeübt, um zu wissen, wie man sich richtig schminkt, aber aus heutiger Sicht finde ich trotzdem, dass wir nie wieder so jung, so strahlend, so allwissend – so sehr wie Freundinnen – aussahen.

Auf dem 10 x 15 cm-Abzug, der uns für immer im Damals einfriert, legt Cora den Arm um mich, schmiegt sich mit herausgestreckter Brust und zurückgenommenen Schultern an meine Seite und strahlt in die Kamera.

Ich sitze leicht von der Kamera abgewandt, habe den Blick unter dem blonden Bob gesenkt und schiele für denjenigen, der die gar nicht so billige Geburtstagskamera hält, aus großen blauen Augen hinauf in die Blende. Vermutlich eine Pose, die ich von irgendeiner Zeitschrift abgeschaut hatte. Vielleicht aber auch einfach nur zu viel Martini.

Das Ergebnis ist niederschmetternd – weil es so voller Verheißungen steckt. Beste Freundinnen vor einem Tapetenhintergrund aus explodierenden violetten Blumen und einem Poster von Tom Cruise in Cocktail.

Es handelt sich eindeutig nicht um Schwestern, denn eins der Mädchen ist groß und blond und trägt ein weites, weißes Baumwollkleid mit Blumenmuster in Rot und Schwarz. Es umspielt die Knöchel und ist vorne bis zum Brustbein geknöpft, darunter nackte Beine in flachen Sandalen, kein Schmuck. Fast trendy für die damalige Zeit.

Die andere junge Frau ist kleiner, dunkler. Sie trägt einen Schlauch aus etwas zu glänzendem, orangefarbenem Stoff, eine Goldkette baumelt anmutig im kalkuliert tiefen Dekolleté, an einem Finger steckt ein herzförmiger Ring. Die Strumpfhose ist ein wenig zu hell, und die Absätze der weißen, eher praktischen Pumps sind nicht hoch genug. Damit stehen sie im Widerspruch zum restlichen Outfit und geben ihm einen etwas altbackenen Anstrich.

Am unteren Rand der Aufnahme hat sich eine Hand ins Foto geschmuggelt, die einen absurd großen, feucht glänzenden Vibrator umklammert. Daneben ist die Brettspielversion von Star Trek – Die nächste Generation zu sehen, ebenfalls ein Geburtstagsgeschenk, und dahinter steht Mike in der Tür, in seiner Lederjacke und abmarschbereit. Bis heute höre ich unser schallendes Gelächter.

Stevie versuchte damals verzweifelt, die Kamera ruhig zu halten und dafür zu sorgen, dass das Poster nicht den Blitz reflektierte und wir uns auch wirklich in der Mitte befanden. Die Bildkomposition war ihm wichtig, das Verhältnis, die Balance. Er wollte das Foto auf keinen Fall vermasseln, schließlich sollte es ins Archiv unserer Jugend, damit wir es eines Tages unseren Kindern zeigen konnten. Ohne den Plastikdildo natürlich. Typisch Stevie.

Wenn ich heute daran zurückdenke, wie wir damals waren, dann habe ich dieses in Zeitlosigkeit erstarrte Bild vor Augen. Nicht die Realität, sondern die Aufnahme, die aus der Situation heraus entstand, halb inszeniert, halb spontan.

Diese Nacht.

Die Jungs trafen pünktlich um halb acht ein, außer Mike natürlich, der bereits oben unter der unzuverlässigen Dusche stand. Bis vor wenigen Minuten vermutlich noch zusammen mit Cora. Ich hatte Gekicher und Geflüster gehört, dann die rutschenden, gurgelnden Geräusche von Seifenschaum und Wasser. Sie duschten oft zusammen.

Beladen mit Fusel warfen sich Stevie und Tim auf das niedrige verbeulte Sofa, zischend wurden Bierdosen geöffnet.

Stevie war schon mit zwanzig immer tadellos gekleidet, sein hellblaues Hemd so akkurat gebügelt, dass es in unserem chaotischen und insgesamt eher zerknautschten Wohnzimmer beinahe obszön wirkte. Sein sandfarbenes Haar lichtete sich bereits, aber er sah insgesamt sehr distinguiert aus. Älter, als er war, größer, als man dachte, und auch weit skrupelloser, wie sich später herausstellen sollte.

Dann war da noch Tim, der verrückte Tim, der über den Stapel Wurfsendungen im Flur stolperte. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Er war laut und schlaksig und hatte sich an diesem Abend eine Hose von Stevie geliehen, die ihm zu lang war, obwohl beide ungefähr die gleiche Größe und Statur hatten. Der Stoff staute sich an seinen Fußgelenken und verlieh ihm das Aussehen eines Clowns.

Natürlich hatte Tim den Vibrator mitgebracht. Um sich einen dummen Scherz zu erlauben, überreichte er ihn im Karton eines Küchenmixers, den er vorher irgendwo aufgetrieben hatte. Ungeduldig riss Cora das Geschenkpapier auf.

»Für später, wenn ihr mal zusammenwohnt, du und Mike«, spöttelte er.

Sie weiß, dass er sie auf den Arm nimmt. Dafür lebt er, das ist die Luft, die er atmet, die einzige Nahrung, die er außer dem in Swansea stetig fließenden Brains-Bier braucht. Trotzdem ist vielleicht eine kleine Standpauke angebracht à la »Du lebst wohl noch in den Vierzigern, wenn er nicht für den Rest seines Lebens bei seiner Mutter wohnen will, soll er sich sein Abendessen selbst kochen«, nur um keinen Zweifel daran zu lassen, dass wir nichts von Rollenklischees oder sonstigem sexistischem, präfeministischem Unsinn halten.

Aber Cora kochte damals durchaus für Mike. Jedes Mal, wenn er sich von seiner Literatur des neunzehnten Jahrhunderts losreißen konnte und gerade keine gegnerische Fußballmannschaft in Grund und Boden spielen musste, kam er aus Swansea zu Besuch, und dann zauberte sie aufwändige Pasteten und Eintöpfe, servierte Würstchen in Yorkshirepudding, Desserttörtchen und selbstgebackenes Brot, Leckereien, die jedes dritte Wochenende warme, muffige Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit weckten, die die nur durch Briefe gelinderten Schattenseiten ihrer Fernbeziehung vergessen machten. Diese gemeinsam verbrachten Wochenenden endeten regelmäßig mit einem Berg von schmutzigem Geschirr.

Mit einem letzten Ruck ist das Paket schließlich geöffnet, und wir halten die Luft an und erwarten das Unerwartete – das Geschmacklose, Vulgäre. Tim, wie er leibt und lebt. Cora schiebt die Hand in den Karton und zieht die brechreizerregende, anatomisch korrekte Nachbildung eines riesigen Penis hervor. Abscheu und Fassungslosigkeit erobern ihr Gesicht. Das war selbst für Tims Verhältnisse dreist. Zu dieser Sorte Mädchen gehörten wir nicht, so etwas hatten wir zur damaligen Zeit noch nie gesehen – es war Jahre bevor Sexshops gesellschaftsfähig wurden und sich in den Hauptgeschäftsstraßen ansiedelten, Jahre bevor solche Dinge im Fernsehen und in Zeitschriften omnipräsent wurden. Oder hatten wir nur bisher nicht richtig hingesehen?

Himmel, wir schrieben schließlich die Neunziger und nicht die Sechziger! Wie dem auch sei, Coras Augen weiten sich, und ein Schauder des Ekels durchfährt sie, der wellenförmig auf uns zuströmt. Cora war trotz ihres tief ausgeschnittenen Cocktailkleids eine junge Dame, die sich die Wörter »Scheiße« und »Verdammt« für ganz besondere Gelegenheiten aufhob.

Drei Sekunden lang halten wir die Luft an. Was würde sie sagen? Rechtfertigte die Situation einen Kraftausdruck, vielleicht sogar Schlimmeres als »Scheiße« oder »Verdammt«? Dann löst sich der erwartete Zorn in wildem Gelächter auf.

»Oh mein Gott! Du Perverser!«, gluckst sie mit übertriebener Abscheu, und wir stimmen alle in ihr Lachen ein, weil wir jetzt wissen, dass alles in Ordnung ist. Wie aufs Stichwort erscheint Mike mit einem um die Hüfte gewickelten fadenscheinigen blauen Handtuch im Türrahmen. Seine Haut dampft noch, die Haare stehen widerspenstig wie ungemähtes Gras von seinem Kopf ab. Auch er lacht.

»Scheiße noch mal, Tim! Was ist los mit dir, Alter? Das ist das letzte Mal, dass du hier zum Abendessen eingeladen bist!« Sein vor Feuchtigkeit und Hitze rosiges Gesicht rötet sich noch mehr, und ein strahlendes Lächeln breitet sich darauf aus.

Dunkle Haare.

Tim streckt die Hand nach dem Vibrator aus und steckt ihn sich in einer übertriebenen Fellatioimitation in den Mund, bevor Stevie eine leere Bierdose quer durchs Zimmer nach ihm wirft, die sauber gezielt an seinem Kopf landet.

Wir feuern die beiden an, und ein Ringkampf bricht aus, bei dem Stevie zulässt, dass Tim ihn zu Boden wirft, wo er dann alle möglichen unaussprechlichen Dinge mit seinem neuesten Spielzeug simuliert. Wir Mädchen rufen und japsen dazwischen, ein wenig schockiert und doch mit dem Gefühl, wagemutig und verständnisvoll und erwachsen zu sein. Jeder kennt seine Rolle. Wir sind ein dankbares Publikum.

Mike zwinkert Cora von der Tür aus zu, aus sicherem Abstand zum Geschehen. Er hält eine Bierdose in der Hand, die er aufmacht und dabei gleichzeitig die Augen verdreht.

Cora betrachtet mit nachsichtigem Lächeln das Gemetzel. Meine Jungs, denkt sie, während ich ihr beim Lächeln zusehe.

Weniger als eine Stunde später sind wir auf dem Weg ins Studentenwerk, und ich klammere mich unter einer Kuppel aus sanft leuchtenden Sternen stolpernd an Stevie. Bier und Musik haben Mike sichtlich aufleben lassen. Er schlägt am Bordsteinrand entlang ein schiefes Rad nach dem anderen und singt dabei lauthals Country House und Charmless Man von Blur. Immer Blur, nie Oasis. Und wir stimmen alle mit ein. Zumindest in dieser Schlacht waren die Fronten schnell geklärt.

Tim ist zurückgeblieben, er ist jetzt schon stockbesoffen.

Dann überqueren wir die Straße. Das ist der Moment. Der Moment, an dem sich alles zu ändern beginnt, der Moment, der keinen von uns unverändert lässt. Aber das wissen wir in diesem Augenblick noch nicht.

Mike steht inzwischen wieder aufrecht und tanzt mit rotem Kopf auf Cora und mich zu, um uns mit imaginärem Mikro ein Ständchen zu bringen. Er greift nach meiner Hand und winkt mich mit scherzhaft lüsternem Blick zu sich, seine Schritte sind übertrieben abgehackt, damit es ja keine Missverständnisse gibt: Hier findet eine Vorstellung statt, eine Parodie. Erst optimale Voraussetzungen abwarten und dann allen die Schau stehlen – das war sein Stil.

Einen großartigen Moment lang drehe ich an seiner Hand eine Pirouette nach der anderen, atemlos und keuchend, während mein Kleid fast unanständig hoch durch die Luft wirbelt, schwarz weiß rot, schwarz weiß rot. Dabei scheinen wir ein elektromagnetisches Feld zu erzeugen, denn meine Haarspitzen stehen zu Berge, und herumliegende Chipstüten werden von unserem Strudel erfasst und mitgerissen. Ich bilde mir ein, dass wir Funken sprühen, und lache aus reiner Freude an der Bewegung. Die Jungs feuern uns an, die im Dunkeln liegende Straße verschwindet. In dieser einen Sekunde ist unser Schicksal besiegelt.

Orientierungslos vom Alkohol stolpere ich und stütze mich an ihm ab, aber ein Riemen meiner Sandale verheddert sich, und die nächste Drehung misslingt. Der Gehweg kommt mit großer Geschwindigkeit näher, aber mit einer Grazie, die seine hoch aufgeschossenen 1,88 Meter betrunkenen Überschwangs Lügen strafen, liegt plötzlich Mikes Arm um meine Taille, stark und unerschütterlich. Irgendwie zieht er mich aus der Spirale, und wir richten uns auf, aber ich bin zu schwer, wir haben zu viel Schwung. Er verliert das Gleichgewicht, und wir stürzen, ineinander verkeilt, die Hände immer noch über unseren Köpfen verschränkt, auf die niedrige, in seidigem Rot glänzende Motorhaube eines neben uns stehenden Sportwagens, die unseren Sturz abfängt. Zwischen unseren Körpern ist kein Zentimeter mehr Platz, und mein Atem bleibt irgendwo unterhalb meiner Lunge stecken, viel tiefer.

Er ist schwer. Unsere Augen sind alles, was wir sehen können. Wir spüren die Blicke der anderen auf uns.

»Herrgott, Mike!«, rufe ich schließlich. »Willst du mich umbringen?«

Er sagt nichts. Wir bleiben nur einen Herzschlag lang liegen, dann zieht er mich singend und in einer einzigen flüssigen Bewegung zurück auf die Füße. Ohne stehen zu bleiben, wirbelt er davon. Es ist nichts Wichtiges passiert. Niemand hat etwas bemerkt.

Stevie, penibel, wie er ist, fährt mit der Hand über die Motorhaube und sucht sie nach Dellen ab. Cora schüttelt nachsichtig den Kopf und lächelt nur, als sei Mike ein kleines Kind.

»Er besteht nur aus Armen und Beinen«, sagt sie und hakt sich bei mir unter. »Wie ich diesen Kerl liebe!« Sie lacht, als er über die Bordsteinkante stolpert.

Wir schlurfen weiter und erklimmen die Treppe zur Studentenwerkdisco.

Nach einem Boxenstopp an der Bar tanzen wir und tanzen und tanzen. Später auf der Toilette schwirrt mir der Kopf von den Lichtern und dem Beat der Musik, und Cora beugt sich schweißnass und mit schlaff herunterhängendem Haar übers Waschbecken, als überlegte sie, ob ihr vielleicht schlecht sei.

»Er ist so ein toller Typ«, sagt sie immer wieder. »Ein richtig toller Typ.«

Sie trägt das Silberkettchen mit dem dicken kleinen Herzen, das er ihr zum Geburtstag geschenkt hat. In zwei Tagen ist ihr dritter Jahrestag.

Ich weiß, dass er sie am nächsten Tag in ein geschmackvolles, romantisches Restaurant mit gedämpfter Beleuchtung ausführen wird, auch wenn sie noch keine Ahnung davon hat. Er hat das Geld gespart, das er normalerweise für Bier ausgibt, und einen Tisch reserviert, nicht ohne mich ängstlich zu fragen, ob ihr so etwas wohl gefallen würde. Er hoffte auf meine Zustimmung, und ich gab sie ihm. Schließlich hatte sie weiß Gott genügend Andeutungen gemacht und unablässig genau diesen kleinen Italiener mit den Kerzen unter den Glasglocken und den imitierten Fresken und den runden Knoblauchbrötchen am anderen Ende der Stadt angepriesen. Und wenn Mike eines ist, dann aufmerksam und zuvorkommend.

Und zwar nicht nur an Geburtstagen.

Sie bemühten sich, leise zu sein, aber manchmal hörte ich sie nachts durch die dünnen Wände mit der abblätternden Farbe, wenn sie dachten, ich schliefe schon. Oder nachmittags, wenn sie glaubten, ich würde fernsehen. Dann knarrte die Decke, die Matratze protestierte quietschend, und Cora keuchte »Ja, genau so, oh ja« und schluchzte dann fast auf der anderen Seite der Wand, bevor sie still wurde. Währenddessen lag ich da, neugierig und belustigt und manchmal einsam, und lauschte nicht etwa, sondern versuchte vergeblich, nicht zu lauschen. Und drehte den Fernseher lauter.

Der August und alles, was danach kam

Wer hätte damals gedacht, dass Cora und ich uns erst zwei Jahre zuvor zum ersten Mal begegnet waren, dass es erst zwei Jahre her war, dass dieser vertraute kleine Freundeskreis zusammengefunden hatte, optimistisch und scheinbar unzertrennlich, als wäre es nie anders gewesen. Dabei schien jener erste Tag an der Uni von Cardiff eine Ewigkeit her zu sein, der Tag, als ich ins Wohnheim Senghenydd Court zog, das auf einem schmalen Streifen Land zwischen nördlicher und südlicher Bahntrasse eingezwängt ist. Ich war natürlich für Englische Literatur eingeschrieben, das Auffangbecken für Leute, die noch keine Ahnung haben, wer sie sind oder wer sie gerne sein würden, aber genau zu wissen glauben, dass sie alle Zeit der Welt haben, um darüber nachzudenken.

Der erste Tag war nicht leicht, auch wenn ich ihn voller Erwartung und Nervosität herbeigesehnt hatte. Ich war fürchterlich versessen darauf, jeden zu mögen, dem ich begegnete, und schämte mich für meine Mutter, die übertrieben penibel meine Sachen auspackte, und meinen Vater, der krampfhaft bemüht war, witzig zu sein. Ich war mir ihrer provinziellen Kleidung, ihres Akzents und ihrer umgangssprachlichen Ausdrucksweise, die sie eindeutig als Bewohner der walisischen Täler auswiesen, nur allzu bewusst, und ich schämte mich, dass ich mich für sie schämte in der großen, geschäftigen Stadt.

Anfangs wagte ich kaum, mit Cora zu sprechen. Sie wirkte sehr selbstbewusst und – nun ja – englisch, und dazu auch irgendwie altmodisch in Latzhose und T-Shirt. Aber über Smalltalk mit ihr hätte ich mir keine Sorgen machen müssen. Nachdem wir uns, ächzend und beladen mit schweren Umzugskisten, in die Wohnung geschleppt und dabei Tüten mit Schuhen und Küchenutensilien vor uns hergekickt hatten, sagte Cora einfach: »Hi, ich bin Cordelia, aber meine Freunde nennen mich Cora. Ich bin aus Chester. Das hier ist mein Farn Frankie. Den habe ich, seit ich sechs bin. Ist der nicht herrlich groß? Ich hätte unmöglich ohne ihn von zu Hause weggehen können, aber ich glaube, es wird ihm hier gefallen. Hast du Lust auf eine Tasse Tee? Ich habe einen riesigen Kuchen. Meine Mutter hat ihn gebacken. Sie findet, dass ein Kuchen vorzüglich dazu geeignet ist, das Eis zu brechen, und ich tendiere dazu, ihr recht zu geben.«

Ja, ich weiß: Sie klang oft ein bisschen so, als wäre sie den Seiten eines Internatsschmökers von Enid Blyton entsprungen oder einem Abenteuer der Fünf Freunde. Deshalb mochte ich sie auf Anhieb. Zwei Minuten später braute sie mit ihrer nagelneuen Cafetière, frisch aus dem Zellophanpapier gewickelt, statt Tee Kaffee für alle, schnitt große Stücke von einer klebrigen Schokoladentorte ab, hielt Hof und warb um Freundschaften. Damit war ihr Schicksal besiegelt.

Nach diesem ersten Nachmittag fehlten uns im Umgang miteinander nie wieder die Worte. Schnell, wenngleich zunächst oberflächlich, lernten wir unsere Vorlieben und Abneigungen kennen und erzählten uns gegenseitig in vorsichtigen Portionen von zu Hause und unserer Vergangenheit. Weil wir dabei keine einzige Übereinstimmung entdeckten, hätten wir eigentlich nichts gemeinsam haben dürfen, aber wir waren schließlich unbeschriebene Blätter, und nichts, von dem wir befürchtet hatten, es könnte der anderen etwas ausmachen, war von Bedeutung. Welche Erleichterung. Meine Hoffnungen und Gebete waren erhört worden.

Statt uns nur gegenseitig unsere alten, abgenutzten Geschichten zu erzählen, schrieben wir vom ersten Tag an neue. Das fing am Küchentisch und mit der riesigen Torte an und erstreckte sich schließlich über die ganze Stadt, die wir uns Stück für Stück eroberten, eine urbane Torte aus Beton und Granit und Marmor und Dachziegeln. So schufen wir Tag für Tag, Stunde für Stunde neue Erinnerungen. Und falls wir nicht ganz das waren, was wir zu sein vorgaben – wer hätte es bestreiten können, und wen hätte es gekümmert?

Mike, seit fast einem glückseligen Jahr ihr Freund, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil der Geschichte. Er studierte ebenfalls Englisch, in Swansea, weil er in ihrer Nähe sein wollte, wie sie stolz erzählte, sozusagen als Zeichen seiner Hingabe, nachdem er die Zugangsvoraussetzungen für Cardiff um eine Note verfehlt hatte. Im ersten Semester verschwand sie jedes Wochenende mit dem Überlandbus und besuchte ihn, weil er viele Sportveranstaltungen hatte und es so am einfachsten war. Wann immer es möglich war, bestanden Coras Wochenenden aus Mike.

Ich hörte mir an, wie sie endlos und liebevoll von ihm schwärmte: Michael dies und Michael das, Michael hier und Michael da. Wie aufrichtig verliebt und erwachsen sie schienen. Er schickte ihr seinerseits fast jeden Tag eine Postkarte oder einen Brief. Während an meiner vom Wohnheim gestellten Pinnwand nur ein paar einsame Flyer und hin und wieder ein Foto hingen, war die Pinnwand in ihrem schuhschachtelgroßen Zimmer übersäht mit bunten Beweisen seiner unleugbaren Zuneigung. Manchmal zitierte er bekannte Schriftsteller, manchmal hatte er sogar selbst etwas gedichtet. Cora kam das alles offenbar völlig normal und angemessen vor.

Jeden Abend um acht klingelte unter uns im gekachelten Wohnheimflur, der ständig von trampelnden Schritten und dem Zuschlagen der Brandschutztür widerhallte, das Telefon, und in acht von zehn Fällen war es Mike.

Päckchen tauchten in den kleinen Postfächern im Eingangsbereich auf, kleine aufmerksame Geschenke und Musikkassetten, die er selbst zusammengestellt hatte. Ich hatte keinen Freund und war beeindruckt und gerührt, fühlte mich aber auch ein wenig einsam deswegen, was ich aber meist schnell wieder vergaß.

Cora hatte nur zwei Fotos von Mike in ihrem Zimmer. In einem Silberrahmen waren die beiden im Profil verewigt, wie sie sich leidenschaftlich küssten – er mit einer mehr als schlecht beratenen Frisur, wuschelig, teeniehaft, Happy-Mondays-mäßig. Das zweite Foto war an die aus allen Nähten platzende Pinnwand geheftet und zeigte die beiden Arm in Arm an einem grünen Ort. Auf diesem Bild war sein Haar wellig und wurde vom Wind halb in sein Gesicht geweht. Für eine gewisse Übergangszeit existierte er für mich nur in der bruchstückhaften Welt unscharfer Fotos, ein schemenhaftes, geisterähnliches Geschöpf am äußersten Rand meiner Vorstellungskraft, dessen Gesicht nur halb zu sehen war und das nur ab und zu meine Neugierde weckte.

Für mich zählte nur, dass mir Cora unter der Woche zur Verfügung stand und gelegentlich an Samstagabenden, wenn Mike mit Freunden um die Häuser zog und die Jungs unter sich bleiben wollten. Dann zogen wir uns endlose Kitschfilme in dem Kino mit den kratzigen Sitzen auf der Queen Street rein, das eindeutig noch aus der Ära stammte, als es noch keine Multiplex-Paläste mit gepolsterten Liegesitzen und amerikanischer Eiskrem gab. Oder wir belegten ein Eckchen auf der Tanzfläche der Studentenwerkdisco und lagen sonntagnachmittags umringt von Kaffee- und Teetassen und Schokoladenkeksen zusammen auf dem Bett und spielten uns gegenseitig unsere Lieblings-CDs vor.

Cora war intelligent, amüsant und gut erzogen, eine echte Erleichterung nach den Mädchen, die ich aus der Schule kannte, ein Jahr und gefühlte Millionen Kilometer entfernt. Mädchen, deren Pudeldauerwellen von furchterregend steifen Ponyfransen gekrönt wurden, die auf der Mädchentoilette Haarspray, blauen Eyeliner und Zigaretten austauschten, die mit Goldschmuck behängt waren und ständig ohrenbetäubend schrille Drohungen und Obszönitäten von sich gaben. Cora war die beste Freundin, die ich mir hätte erträumen können. Und ich wollte sie nicht teilen, nicht mal mit ihrem Freund.

Dann geschah an einem Wochenende während des Sommersemesters das Unvermeidliche. Cora kündigte an, dass Mike endlich nach Cardiff kommen würde. Sie sagte es zwar nicht, aber ich kannte den Grund: Mein Freund, mit dem ich die letzten sechs Wochen zusammen gewesen war, hatte mich abserviert, und Cora wollte nicht, dass ich das ganze Wochenende trotz Sonnenschein im Einkaufszentrum herumhing, mir Sachen anschaute, die ich mir nicht leisten konnte, und meinen Frust alleine im Wein ertränkte.

An diesem ganz besonderen Samstag, an dem Mike ankommen sollte, ächzte Cardiff unter einem weiteren hitzeschweren, erstickenden Nachmittag – in diesem Sommer die Norm. Von den weißen Mauern des eleganten Rathauses von Cathays Park, den viktorianischen Reihenhäusern, deren Fenster die darin residierenden Studenten mit Batiktüchern verhängt hatten, und dem zweckmäßigen Ziegelbau des Studentenwerks schien die Hitze doppelt stark auf uns zurückzuprallen, während unablässig die Rathausglocke läutete und monoton Züge vorbeiratterten.

Zur Hauptverkehrszeit reicherte sich die Luft mit den unausweichlichen Abgasen erschöpfter Autos und Busse an, die sich Zentimeter für Zentimeter Richtung Stadtmitte schoben, Abgase, die sich auf der Zunge absetzten und einem das Wasser in die Augen trieben. Cora und ich hatten den Vormittag mit der schweißtreibenden Aufgabe verbracht, die Wohnung für Mike in einen vorzeigbaren Zustand zu versetzen. Die Einkäufe hatten wir noch vor uns. Unsere Pilgerreise zum Supermarkt durch die schäbigen Seitenstraßen, vorbei an fetten, trägen, von der Sonne ermatteten Katzen und dampfenden Mülleimern, war gar nicht so schlimm. Jedenfalls nicht so schlimm wie der normale Weg entlang der stark befahrenen, ansteigenden Hauptstraße, wo sich ein Imbiss an den nächsten reihte – Pommesbuden, Inder, Chinesen –, neben einem Laden mit verdunkelten Fenstern und Klingelknopf, der vorgab, ein Sonnenstudio zu sein, und einigen merkwürdig platzierten Antiquitätengeschäften. Vielmehr waren es Ramschläden voller Entrümpelungsfunde, die mal jemandem etwas bedeutet hatten, nun aber nur noch fünfzig Pence kosteten. Altmodische Perlenketten, strassbesetzte Hutnadeln und Taschenbücher mit welligem Deckel und welligen Seiten buhlten in den staubigen Schaufenstern um Aufmerksamkeit, während wacklige Holzschränkchen und Klassenzimmerstühle bunt zusammengewürfelt den Gehweg flankierten. Überquerte man die Bahnschienen, gelangte man direkt zum The George, unserem Lieblingspub.

Der winzige, aber funkelnagelneue Tesco Metro an der Ecke war stets gerammelt voll mit Studenten. Hier deckten Cora und ich uns einmal die Woche mit den wenigen Luxusgütern ein, die wir uns leisten konnten – richtiges Fleisch, richtigen Fisch, Bohnen zu sieben Pence und Weißbrot im Sonderangebot, riesige Gläser Marmite, Familienpackungen Penne, Teebeutel von Tetley, delphinfreundlich gefangenen Thunfisch, Weißweinessig für Cora, Mousse au Chocolat im Viererpack und Fertignudelgerichte für mich. Außerdem bestand Cora jedes Mal darauf, dass auch noch ein bisschen Obst und Gemüse in meinem Einkaufskorb landete – wegen der Vitamine. Ich glaube, sie hatte wirklich Angst, dass ich mir selbst überlassen an Skorbut sterben würde.

Zur Feier des Tages und zu Ehren des sich sonst so rar machenden Michaels hatte Cora ein Picknick geplant. Bald würden der echte Mike und der Mike aus meiner Vorstellung auf Kollisionskurs gehen. Wir kauften also Lebensmittel und besondere Leckerbissen, »weil Mike das so gerne mag«. Cora hatte bereits einen riesigen Nudelsalat vorbereitet, aber wir brauchten noch selten erworbene Köstlichkeiten wie Weißweinessig für das Dressing, Sahne und glänzende schwarze Oliven mit Kern, natürlich ein Rezept von Coras Mutter.

Für mich als Mädchen aus den Tiefen der walisischen Täler waren solche Dinge entsprechend exotisch und fast dekadent – bereits die Vorstellung von heißen Bohnen auf Toast empfand ich als etwas, das man ehrerbietig und mit grenzenloser Achtsamkeit behandeln musste.

Aber ich fand das Ganze auch irgendwie albern. Wer machte sich schon solche Mühe für einen Mann? Und das bei dieser Hitze? Aber Cora war die Beziehungsexpertin, also beugte ich mich ihrem weisen Ratschluss.

Cora war braun gebrannt und sah ungewöhnlich strahlend aus mit ihren gebräunten Beinen, die unter einem zu engen T-Shirt mit Minnie-Maus-Druck aus ihren Hotpants ragten. Sogar einen Hauch Lippenstift hatte sie aufgelegt. Sie hatte sich Mühe gegeben. Sie machte etwas aus sich. Das waren typische Cora-Ausdrücke, die ich zu schätzen begonnen hatte, weil sie mich an meine Großmutter erinnerten. Und ich hatte meine Großmutter sehr geliebt.

Ich hingegen versuchte, in meinem langen schwarzen Strandkleid und meinen weißen Tennisschuhen möglichst kultiviert, luftig und einfarbig auszusehen. Dazu hatte ich die Haare zu einem hohen, straffen Pferdeschwanz gebunden und mich dick mit Sonnenmilch eingecremt, um den vertrauten Sonnenbrand fernzuhalten.

Mit Tüten beladen quälten wir uns durch den lärmenden, sonnengebleichten Samstagnachmittag zurück zum Wohnheim. Als wir in unsere Straße einbogen und die letzten Meter zum Haus entlangkeuchten, lehnte Mike bereits am Eingangstor. Er schien sich unwohl zu fühlen, das braune Haar hing ihm wellig in die Augen. Endlich fleischgeworden. Ich erkannte ihn trotz der schlechten Qualität der Fotos. Wer hätte es auch sonst sein sollen?

Dennoch entsprach er überhaupt nicht meiner Vorstellung. Wie auch? Wie hätte er der umwerfende, strahlende, gottähnliche Mann sein können, den Cora derart begehrte? Der Mann, mit dem sie in der Nacht ihres achtzehnten Geburtstags in dem riesigen Himmelbett eines Bed & Breakfast zum ersten Mal Sex gehabt hatte.

Statt des erwarteten modischen Designerfummels trug Mike etwas, das sich bald als seine vertraute »Uniform« herausstellen sollte – ein zu großes T-Shirt in ausgewaschenem Dunkelblau und weite Surfershorts, aus denen seine langen, blassen Beine durchschimmernd weiß herausragten, um in einem Paar Turnschuhen wieder zu verschwinden, die so abgewetzt und verschossen waren, dass sie nur noch die doppelt geknoteten Schnürsenkel zusammenzuhalten schienen.

Er wirkte sogar noch größer, als Cora in ihren Erzählungen angedeutet hatte, und blinzelte in die Sonne, während er eine Hand zum Gruß hob, so dass ich das tiefe Blau seiner Augen nicht sehen konnte, ein kleines gestohlenes Stück Himmel aus einem weit entfernten Land.

Auf den ersten Blick war ich erleichtert. Schließlich war Cora verglichen mit mir nicht einmal besonders hübsch, es war also nur logisch, dass jemand wie er die Liebe ihres Lebens war. Ein Durchschnittsmann. Ich entspannte mich und lächelte, als er über die Straße geflitzt kam, uns eifrig die Einkaufstüten aus der Hand riss und dann unter ihrer Last in die Knie ging. Meine Proteste, ich käme durchaus alleine zurecht, wies er zurück. Ein Gentleman.

»Ach, kein Problem, Michael schafft das schon«, beschwichtigte Cora strahlend, während er fröhlich seinen eigenen schweren Rucksack und eine Handvoll Einkaufstüten balancierte.

»Du musst Lizzy sein«, sagte er auf der Treppe und grinste breit. »Ich habe es gründlich satt, jedes Wochenende von dir zu hören, und du hast es bestimmt noch viel satter, von mir zu hören.«

»Jetzt sei mal nicht unhöflich«, wies Cora ihn barsch zurecht und fügte dann, als er die schwerste Tüte durch die Wohnungstür wuchtete, hinzu: »Und pass mit den Oliven auf. Nachher haben wir hier überall Öl, und ich will nicht riskieren, meine Kaution nicht zurückzubekommen.« Sie zog einen Schmollmund.

Aber im nächsten Moment hatte er die Arme um sie geschlungen und ihr einen dicken, bewusst schlabberigen Kuss auf den Mund gedrückt. Vor dem wich sie gespielt angeekelt zurück, konnte aber ihr Lächeln nicht verbergen. Das war das erste Mal, dass ich Zeuge des Schmoll- und Beschwichtigungstanzes wurde, den die beiden regelmäßig aufführten und den ich bald als ganz selbstverständlich ansehen würde.

Mike setzte sich an den Küchentisch und begann, die Tüten auszupacken.

»Eine Tasse Tee vielleicht?«, fragte ich.

»Oh ja, bitte!«, antwortete Mike freudig. »Eine schöne Tasse Tee ist jetzt genau das Richtige. Ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack.«

»Da haben wir’s«, seufzte Cora, zerrte geschäftig die Lebensmittel aus den Tüten und verstaute Salate und andere Leckereien in ihrem ausgefransten karierten Rucksack. »Schwatz ihm einen Tee auf, und er liegt dir zu Füßen. Draußen sind es hundert Grad, aber für Tee ist es anscheinend nie zu heiß. Er ist genauso schlimm wie du, Lizzy.«

So begann es, unser bald schon althergebrachtes Zeremoniell auf dem Altar des Teebeutels. Wann immer Mike zu Besuch kam, und das war von nun an fast jedes Wochenende, bestand mein Part darin, nach seinem Eintreten so schnell wie möglich zu fragen: »Eine Tasse Tee vielleicht?«, oder die Frage am besten schon die Treppe hinunterzurufen, wenn er das Haus betrat. Cora trank keinen Tee und mochte auch Kaffee nur, wenn sie ihn mit ihrer Cafetière zubereitet hatte. Diesen liebenswerten Spleen gestand ich ihr zu, weil sie Engländerin war und gerne vornehm tat.

Nach seiner Tasse Tee, die Mike lauthals als wunderbar gepriesen hatte, schickte ihn Cora mit einer Handvoll Kleingeld über die Straße, um uns Wassereis zu kaufen.

»Wie findest du ihn?«, fragte sie, halb stolz, halb nervös, sobald er aus der Tür war. »Ist er nicht genauso sexy, wie ich gesagt habe?«

Ich antwortete das Einzige, was in Frage kam: »Er ist ein echter Schatz, Cora.«

»Nein, jetzt mal ehrlich, findest du nicht, dass er unglaubliche Augen hat?« Sie waren mir nicht aufgefallen, aber ich bejahte und dachte insgeheim, die spinnt doch. Aber ihre Begeisterung rührte mich. Wie leicht sie zufriedenzustellen war. Ich freute mich für sie. Für beide. Wie süß. »Ich bin froh, dass er endlich mal hier ist. Ich dachte schon, ihr zwei würdet euch nie kennenlernen.«

Kurz darauf watschelte Mike wieder über die Türschwelle, in der Hand drei tropfende Orange Maids. Er stolperte prompt über meine im Weg stehenden Turnschuhe, versuchte die Balance wiederzuerlangen und ließ ein Eis auf den schmuddeligen Teppich fallen, wo es in zwei Stücke zerfiel und der Saft aus der Verpackung sickerte.

Er sah so erschrocken aus, dass ich in Gelächter ausbrach, in das er kurz darauf einstimmte. Aber Cora war ganz und gar nicht begeistert. Ihr Gesichtsausdruck verriet deutlich, dass sie seine »lächerlichen Mätzchen« kein bisschen komisch fand. So nannte sie seine oft unerklärliche Tollpatschigkeit: Michaels Mätzchen. Er hatte tatsächlich die Angewohnheit, einen Raum wie eine schlaksige Naturgewalt zu betreten, unausgewogen und eine zerstörerische Energie entwickelnd, die sich gleichermaßen auf an Haken hängende Mäntel, Becher mit heißer Flüssigkeit, Gläser mit Kugelschreibern und Bleistiften und eigentümlicherweise auch auf seine eigenen Füße auswirkte.

Cora packte rasch die restlichen Picknickutensilien ein, fest entschlossen, den Park zu erreichen, bevor das Essen warm und schwitzig wurde und das ganze Vorhaben gründlich in die Hose ging. Ihr Plan sah natürlich vor, dass alles perfekt war, und diesen Plan würde sie durchziehen.

»Hast du auch Marmeladenbrote eingepackt?«, zog Mike sie auf. »Büchsenfleisch? Schweinepasteten? Jetzt müssen wir uns nur noch einen Hund ausleihen und einem Straßenräuber das Handwerk legen, dann haben wir unsere eigene Fünf-Freunde-Episode. Fünf Freunde mampfen im Park! Oder ein etwas eloquenterer Titel, sobald mir einer einfällt.« Sie knuffte ihn in die Rippen.

Während wir im kühlen Schatten der Bäume unser Picknick genossen und Salat und Sandwiches nach und nach von den Tellern verschwanden, ging Coras Plan auf: Jeder Gedanke an meinen Mistkerl von Exfreund war vergessen.

Ich war ja ohnehin nicht sehr lange mit ihm zusammen gewesen – war es Jonathan aus Frühgeschichte Teil I oder Sebastian aus Europäischer Politik? Er war auf jeden Fall nett und sehr bewandert in frühgeschichtlichen Themen, aber auch sterbenslangweilig. Über Cora hatte er die Nase gerümpft, weil sie anstrengend sei, wie er sagte, und ohne Punkt und Komma redete.

Cora war um meinetwillen entrüstet, weil er mich zurückgewiesen hatte, und schäumte, dass ich ihn schon vor Wochen hätte »abschießen« sollen. Der Ausdruck klang seltsam aus ihrem Mund, mit ihrer weichen, sonoren Stimme und ihrer ganz eigenen Art der Aussprache, die ich damals ständig zu kopieren versuchte.

In der schwächer werdenden Nachmittagssonne saßen wir abgeschirmt im alten Senkgarten von Bute Park und aßen und lachten, während Mike immer wieder aufsprang und »wie schön ist es im Park!« grölte oder auf dem federnden Rasen unelegante Räder und beängstigend schwankende Rückwärtssalti hinlegte.

»Dir wird noch schlecht, wenn du so weitermachst«, warnte Cora.

Ich glaube, es wäre ihr sogar ganz recht gewesen, wenn ihm wirklich schlecht geworden wäre. Dann hätte sie sagen können: »Das hast du nun davon, ich habe dich gewarnt«, um anschließend eine kühle Flasche Orangensaft an seinen Kopf zu halten und ihm das Bäuchlein zu reiben. Und er hätte sie gewähren lassen.