Der Großfürstensohn sieht sich als kommender Herrscher eines aufstrebenden Reiches, von Gott berufen. Sein Großvater, Großfürst Iwan III., hatte 1472 Sofija Paleolog geheiratet, die Nichte des letzten gestürzten Kaisers von Byzanz. Moskaus Herrscher übernahm aus Konstantinopel den doppelköpfigen Adler als Staatssymbol, das byzantinische Zeremoniell und die Idee des Kaisertums. Schon Iwan III. nannte sich bisweilen »Zar«, doch erst sein Enkel wird nach dem Ritual des byzantinischen Kaisers gekrönt – eine Herausforderung gegenüber den europäischen Großmächten. Der Zar ist nur Gott und der christlichen Reichsidee verpflichtet, ein absoluter Monarch.
Die orthodoxe christliche Religion hatten die Russen schon ab 988 aus Byzanz eingeführt, als Fürst Wladimir I. in Kiew, der »Mutter aller russischen Städte«, sich und sein Volk taufen ließ. Nachdem die Mongolen Kiew im 13. Jahrhundert zweimal zerstört hatten und der russische Metropolit, das Oberhaupt der orthodoxen Kirche, 1299 zunächst nach Wladimir und dann 1326 nach Moskau übergesiedelt war, wurde die Stadt an der Moskwa zur russischen Hauptstadt. Doch auch dieses Machtzentrum geriet für mehr als zwei Jahrhunderte unter die Herrschaft der mongolischen Khane. Ein Hang zu Härte im Umgang mit Beherrschten und zu Korruption wird die Spätfolge dieser Fremdherrschaft sein.
Die erfolgreiche Schlacht gegen die Mongolen auf dem Schnepfenfeld 1380 stärkte dauerhaft das Selbstbewusstsein der Russen. 100 Jahre später schüttelten sie unter Großfürst Iwan III. das »Tatarenjoch« endgültig ab. Iwan III. vereinte russische Fürstentümer im Nordosten des heutigen Landes zu einem gemeinsamen Staat. Der Großfürst verstand sich bereits als Alleinherrscher, als »Gossudar« von »ganz Russland«. Hier mischten sich mongolische Verwaltungspraxis und byzantinische Staatsideologie. So entstand das Fundament eines Großreichs. Der Mönch Filofej, geboren 1455, steuerte das nötige Sendungsbewusstsein bei: Moskau, so der zeitweilige Abt des Klosters Pskow im russischen Nordwesten, sei nach dem Untergang der oströmischen Hauptstadt Konstantinopel 1453 das »Dritte Rom«, etwas Unersetzliches, denn ein viertes Rom werde es nicht geben.
Dieses Dritte Rom war raumgreifend, schon Iwan III. erweiterte es bis zum Ural und zum Eismeer. Sein Sohn Wassilij III. setzte die »Sammlung der russischen Erde« fort. Von ihm erbt Iwan IV. ein Gemeinwesen, das zur Großmacht strebt. Dem stehen jedoch Hindernisse im Weg, innere und äußere. Die parasitäre Bojarenoligarchie am Hof bereichert sich hemmungslos, plündert die Staatskasse. Als Bausteine für ein starkes Russland sind die Bojaren wertlos. Der junge Zar auf dem byzantinischen Thron aus Elfenbein will ihre Macht schwächen, mit allen Mitteln.
Nach einem verheerenden Brand in Moskau, kurz nach seiner Krönung, hält Iwan IV. eine Rede auf dem späteren Roten Platz vor der Kremlmauer. Darin verurteilt er die Bojaren als »bestechlich, unmoralisch, habgierig« und hält ihnen vor, sie übten »falsche Gerechtigkeit«. Damit spricht er die Wahrheit aus, »prawda«, ein Begriff, den die Russen auch als Chiffre für Gerechtigkeit verstehen. Um die Verhältnisse zu ändern, lässt Iwan einen »Auserwählten Rat« einberufen, ein Gremium aus Geistlichen, sachverständigen Hofbeamten (Djaken) und Bojaren.
Der Alleinherrscher schafft erstmals eine lokale Selbstverwaltung. Stadtbewohner und freie Bauern wählen Verwaltungsleiter, Starosten. So schwächt Iwan den Einfluss der hohen Aristokratie und stärkt den Dienstadel. Staatsbeamte lässt er zentral besolden. Das eingespielte System der »Kormlenije«, des korrupten Durchfütterns von Beamten durch die örtliche Bevölkerung, schafft er ab. Drei Jahre nach seiner Krönung beruft Iwan eine beratende Landesversammlung ein, die ein neues Gesetzbuch erörtert. Das bestechliche Gerichtswesen will er umkrempeln. Gewählte Volksvertreter können Gerichtsverhandlungen besuchen. Als Kontrolleure sollen sie die Justiz beaufsichtigen.
Ein Jahr später ruft der Zar hohe Geistliche zu einem Konzil zusammen und mahnt Reformen an. Denn auch in den Klöstern herrschen chaotische Zustände. Statt mit frommer Lektüre beschäftigen sich viele Mönche eher mit leichten Mädchen und scharfen Getränken. Auf dem Konzil wirft der Zar den Mönchen vor, dass sie »in Saus und Braus die Güter des Klosters verprassen und der gemeinsten Unzucht frönen«.
Der energische Herrscher reformiert auch das Militär. Die Grundbesitzer sind nun verpflichtet, pro 160 Hektar Land einen Krieger »beritten und in voller Rüstung« zu stellen. So verdoppelt Iwan das russische Heer innerhalb von 20 Jahren auf etwa 300000 Mann. Moskau wird zu einer Militärmacht, einschließlich moderner Schützenregimenter mit Schusswaffen.
Der Zar setzt auf eine offensive Streitmacht. Russland kann nur aufsteigen, wenn es zwei Gegner schlägt: die Khanate Kasan und Astrachan. Beide Staaten sind Überbleibsel der mongolischen Goldenen Horde. Mit massiven Raubüberfällen gefährden die Khanate den Handel und die Sicherheit Russlands. Sie entführen und versklaven Tausende von Russen, darunter viele Kinder. Nach zwei gescheiterten Angriffen gelingt es den russischen Truppen im Oktober 1552, die 800 Kilometer östlich von Moskau gelegene Hauptstadt Kasan zu stürmen, auch mit Hilfe eines deutschen Sprengmeisters, der ihre Festungsmauern zerlegt.
Der Sieg von Kasan macht den 22-jährigen Zaren zu einem Volkshelden.
Die Moskauer bereiten dem heimkehrenden Feldherrn unter dem Geläute der Kirchenglocken einen begeisterten Empfang. Den Menschen in der Hauptstadt erscheint der Monarch, angetan mit seiner goldenen Krone und seinem purpurnen, prachtvoll geschmückten Gewand, wie ein Heiliger. Zu Ehren des Sieges lässt Iwan auf dem Roten Platz die Basilius-Kathedrale errichten. Dass er nach der Fertigstellung angeblich den Architekten blenden lässt, damit dieser nie wieder eine so schöne Kirche bauen kann, ist eine Legende.
Im Sommer 1556 marschieren russische Truppen in Astrachan am südöstlichen Rand des Reiches ein. So sichern sie die Wolga als Handelsweg. Im Jahr darauf werden auch die Baschkiren am Ural dem Reich angegliedert. Im Süden nehmen die Soldaten des Zaren nun die Berge des Kaukasus in den Blick. An den Ufern des Flusses Terek errichten sie eine Festung. Völker im Nordkaukasus, vor allem die Tscherkessen, sehen einen Vorteil darin, sich an Russland anzulehnen. Sie befruchten das aufstrebende Reich mit ihrer Vitalität und ihrem Kampfgeist.
Auch wenn er die Festung am Terek unter osmanischem Druck 1571 schleifen muss, demonstriert der Zar selbst in seinem Privatleben, wie eng er das Schicksal der Russen mit den Völkern des Kaukasus verbunden sieht. Verwitwet nach dem Tod seiner ersten Frau, einer Russin, heiratet er 1561 die Tochter eines kabardinischen Fürsten. Die Kaukasierin nimmt den orthodoxen Glauben und den Namen Marija an. Ihrem Mann erteilt die Zarin hilfreiche Ratschläge, etwa zum Aufbau einer Wache nach dem Vorbild kaukasischer Bergfürsten. Mit der Herrschaft über Tataren, Baschkiren und Kaukasier wird das Zarenreich zum Vielvölkerstaat. Damit dieses Land sein Gewicht als Großmacht in Europa einbringen kann, braucht es Zugang zu Ostseehäfen. Das Baltische Meer bietet die Handelswege in die entwickelten Länder Mittel- und Nordeuropas. Deren technischer Fortschritt fasziniert den Zaren. Iwan beauftragt den Handelsagenten Hans Schlitte aus Goslar, in Deutschland Glockengießer, Goldschmiede, Ärzte und Papiermacher anzuwerben. Schlitte versammelt 123 Spezialisten, die bereit sind, in Moskau zu arbeiten. Doch Lübecker Ratsherren, die russische Konkurrenz fürchten, vereiteln die Abreise der Delegation. Schlitte wird in Lübeck verhaftet.
Den Weg zum Ostseehandel bahnt sich der Zar militärisch. 1558 stürmen russische Truppen die Hafenstadt Narwa, bisher beherrscht vom Livländischen Orden. Der kriselnde Ordensstaat kann den Angreifern nur wenig Widerstand entgegensetzen. Zeitweilig beherrschen die Russen das heutige Estland und den Norden des heutigen Lettlands. Doch es gelingt Iwan nicht, das lettische Riga und das estnische Reval (heute: Tallinn) einzunehmen. Während jahrelanger Kämpfe zeigt sich, warum der Oberbefehlshaber in den eigenen Reihen kaum weniger gefürchtet wird als vom Feind. 1563, bei einem Heerzug durch Weißrussland, erschlägt der jähzornige Herrscher den Fürsten Iwan Schachowskoi im Streit mit einer Keule.
Der Krieg an der Ostsee bringt dem Zaren keinen dauerhaften Sieg. Der Ordensstaat löst sich 1561 auf und unterstellt sein Gebiet dem Schutz von Schweden, Litauen und Polen. Gegen das 1569 mit Polen vereinte Litauen und dessen schwedische Verbündete zieht sich der Livländische Krieg in die Länge. Ausländische Chronisten vermerken erstmals, wie zäh und tapfer russische Soldaten kämpfen. In einem Friedensschluss 1582 muss Iwan auf Livland einschließlich Narwa verzichten, Russland verliert seinen einzigen Ostseehafen. Während dieses Krieges, der die Kräfte Russlands ebenso auszehrt wie die seines Zaren, erlebt Iwan seine bitterste Enttäuschung. Fürst Andrej Kurbski, der mit ihm Kasan erobert hatte, sein enger Vertrauter und Statthalter in Livland, wechselt Ende April 1564 bei Dorpat die Fronten. Mit ihm ziehen Anhänger und Untergebene. Polens König Sigismund II. August beschenkt den Überläufer mit großen Ländereien. Schließlich führt Kurbski polnische Truppen gegen die Russen in den Kampf.