Für Esther, Kabir und Melchior
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Die rettende Botschaft an die nachkommenden Generationen war fast fertig. Bernikoff hatte nur noch wenige, aber entscheidende Hinweise hinzuzufügen. Also machte er sich am Morgen des 2. Mai noch einmal auf den gefährlichen Weg, um die Botschaft zu vervollständigen. Weder seine Wunde am Arm noch die Sirenen, die einen neuen Luftangriff ankündigten, konnten ihn davon abhalten. Im Gegenteil. Bernikoff wartete, bis sich der bedrohlich singende Ton über die Stadt erhob wie ein riesiger Greifvogel und Besitz von ihr und den Menschen ergriff. Vom Fenster seiner Souterrainwohnung aus schaute er zu, wie die Frauen und Kinder der Nachbarschaft in die wenigen noch nicht zerstörten Keller der Straße verschwanden. Dann nahm er die drei kräftigen Pinsel und die Eimer mit den Spezialfarben und eilte hinaus. Er schloss die drei Türschlösser ab, versteckte die Schlüssel wie immer hinter dem Ziegelstein, den man aus der Mauer ziehen und zurückstecken konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wenn man ihn erwischen sollte, wollte Bernikoff keine Schlüssel bei sich tragen. Nichts sollte auf seine Wohnung hinweisen. Nichts auf die Kammer hinter seiner Wohnung. Das, was dort verborgen war, durfte niemand anderem in die Hände fallen. Noch nicht. Noch war die Zeit nicht reif und erst recht nicht waren es die Menschen.
Der Alarm peinigte die Stadt. Die Straßen, die Häuser. Das Heulen der unzähligen Sirenen durchdrang jede Mauer, jeden Schutz. Bernikoff wusste das. Er wusste alles über Schall und Wellen und ihre Wirkung. Über Energie und Frequenzen ... Das war das Geheimnis, das er in seiner Kammer entschlüsselt hatte. Genau das war das Wissen, das er den Menschen mitteilen musste. Behutsam. Ein Wissen, das in Zukunft alle Kriege verhindern könnte.
Uni-versum, dachte Bernikoff. »Universum« – heißt das nicht »ein Lied«? Wenn die Sirenen auf den Dächern doch nur auch ein wunderschönes, ein lockendes Lied singen würden; wie die Sirenen für Odysseus. Aber was sie sangen, war das Lied der Angst, des Todes und der Zerstörung. Das Lied, vor dem sich die Menschen am meisten fürchteten und das ihre Leben und ihre Lieben zerstörte.
Bernikoff hielt abrupt inne. Patrouillen waren unterwegs, die jeden, der sich noch auf den Straßen zeigte, in die Bunker trieben. Sie durften Bernikoff unter keinen Umständen entdecken. In den letzten Tagen waren Menschen schon für kleinere Vergehen einfach erschossen worden. Weil man glaubte, sie seien Plünderer.
Im Schatten der Ruinen huschte Bernikoff weiter; wie ein Geist. Von Dunkel zu Dunkel. Von der Dorotheenstraße bog er links ab in die Friedrichstraße. Vor den Trümmern des berühmten Wintergartens blieb er stehen. Wie oft hatten sich die kriegsmüden Menschen hier in den letzten Jahren von den Vorstellungen großartiger Artisten verzaubern lassen; unter der Kuppel aus Tausenden von Sternenlichtern. Wie viele Nächte hatten sie hier den Alltag vergessen und Inspiration und Magie getankt für den grauen, immer düsterer werdenden Alltag. Da prangte immer noch das Plakat, das für die letzte Vorstellung eines berühmten Magiers und Hypnotiseurs geworben hatte, bevor der Palast von einer Bombe getroffen wurde. Der Große Furioso fixierte vom Plakat herab die Menschen, die daran vorübergingen. Er trug den Turban eines Sikh, ein Edelstein auf seiner Stirn symbolisierte das Dritte Auge. »Der Große Furioso – liest Ihre Gedanken und entführt Sie in eine Welt des Staunens!«
Bernikoff schaute nicht auf Furioso, sein Blick wanderte zu der fast durchsichtig scheinenden jungen Frau weiter, die hinter dem Magier abgebildet war. Ein trauriges Lächeln auf den Lippen, zog Bernikoff automatisch seinen Hut noch tiefer in die Stirn. Als fürchte er, jemand könnte die Ähnlichkeit entdecken; zwischen ihm und dem Großen Furioso, der vom Plakat herab hinter ihm herstarrte.
Bernikoff schaute sich um. Die Straße war menschenleer. Er stemmte das Tor zum Durchgang in den Hinterhof auf. Trümmer rieselten vom Türsturz, klackerten zu Boden.
Bernikoff eilte weiter, kroch über die Trümmerberge aus Backsteinen und gelangte schließlich in den von vier Seiten umschlossenen Innenhof des Gebäudes. Sein Arm schmerzte. Er musste sich vorsehen. Bernikoff öffnete eine Abdeckplatte und tauchte durch den Notausstieg in den Untergrund der Stadt ein. Ein letzter Blick noch zum Himmel. Er hörte das Herannahen der feindlichen Flieger. Sie kamen von Norden. Briten. Einen Moment verharrte er noch. Sah hinauf zu einem Fenster des noch intakten Gebäudes auf der Nordseite. Er wartete. Worauf? Da! War das ein Gesicht hinter dem Fenster im obersten Stockwerk? Das Gesicht eines Kindes? Bernikoff lächelte, hob die Hand, wie zum Gruß.
Vom Küchenfenster des obersten Stocks verfolgte das kleine Mädchen, wie der Mann mit den Farbeimern und Pinseln in den Untergrund verschwand. Mit seinem ernsten und hellen Gesicht hatte es die Hand zum Winken erhoben. Die Beine in Metallschienen, saß das Kind in seinem Bettchen. Die Geräusche der Fliegermotoren kamen näher. Da nahm ein Mann das Mädchen zärtlich in die Arme, um still mit dem Kind zu beten.
Bernikoff stieg hinab.
Hier unten verstummten die Sirenen und die Motoren der feindlichen Flieger. Je tiefer er kam, desto stiller wurde es. Bernikoff liebte die Stille, die Einsamkeit. Doch an diesem Abend war er nicht allein hier unten. Das aber wusste er nicht. So sprang er von der Rampe, die zum Notausstieg führte, auf die Gleise und verschwand in der Schwärze des Tunnels, verschluckt wie von einem riesigen Schlund, in den schon lange kein Tageslicht mehr gefallen war. Dieser Tunnel ist dunkler als schwarz, dachte Bernikoff. Dunkler als schwarz ... Er nahm sich vor, die Logik dieses Gedankens zu untersuchen. Wenn der Krieg vorbei sein würde. Wenn ...
Bernikoff folgte den Gleisen, bog an den Weichen zielsicher in die richtige Richtung ab. Er kannte den Weg durch das Gewirr nur zu genau. So oft war er ihn gegangen in den letzten Monaten. Nachdem es ihm gelungen war, das letzte Geheimnis zu lüften, und er bereit war, die Botschaft weiterzugeben. An jene, die wachen Geistes und tapferen Herzens waren. So lautete das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte. Bernikoff war entschlossen, es zu halten. Diesen Ort unter der Stadt hatte er gewählt, um seine Botschaft zu veröffentlichen. Die Botschaft, die die Menschen auf ewig von jeder Tyrannei befreien und endlich, endlich zu sich selbst führen würde. Seine kleine, scheinbar harmlose Bildergeschichte vom Bienenstaat »Abatonia«, mit der er seine Botschaft in der »Berliner Zeitung« hatte verbreiten wollen, war auf Geheiß des Reichspropaganda-Ministeriums nach nur drei Episoden eingestellt worden. Die Geschichte von zwei einfachen Bienen, die es auf eine unbewohnte Insel verschlagen hatte und die dort die Welt neu erschaffen wollten; nach dem großen Sterben der Völker.
Irgendjemand hatte herausgefunden, was Bernikoff wirklich hatte sagen wollen mit seinen scheinbar kindlichen Bildern. Also war er auf die Idee mit dem Untergrund gekommen. Hätte er gewusst, dass Berlin wenige Stunden später kapitulieren würde, hätte sich Bernikoff sicher nicht mehr in den Tunnel gewagt. Doch so hatte er sich anders entschieden. Aber wer wusste damals schon so genau, wie lange das Tausendjährige Reich noch dauern würde?
Lichter.
Wie aus dem Nichts tauchten sie auf. Wie Augen, die plötzlich geöffnet wurden. Sie blendeten Bernikoff, schossen heran. Und vorbei. Ein Triebwagen. Der Fahrtwind riss an Bernikoffs Hut, an seinen Haaren. Er schaute dem Zug nach und löste sich aus der Nische. Dann schaltete er die Lampe ein, die er mitgenommen hatte. Er leuchtete auf die Wand des Tunnels, der hier von dem Nord-Süd-Tunnel abbog, und war zufrieden mit den riesigen Bildern, die er bereits an die Wand gemalt hatte.
Er eilte an der Schiene entlang weiter in den Tunnel hinein.
Bernikoff bemerkte nicht den Blick, der ihm folgte. Er hörte auch nicht die Männer, die sich kaum hundert Meter entfernt an der Decke des Nord-Süd-Tunnels zu schaffen machten. Mit Leitern waren sie zu der Decke des Tunnels geklettert und befestigten seltsame Pakete. Unzählige. Verbunden mit einer Zündschnur ...
„Er ist da!“, sagte ein Kahlkopf leise, der aus dem Dunkel des Tunnels gelaufen kam.
„Bernikoff?“, fragte der junge Mann, dem der Kahlkopf Meldung gemacht hatte. Am Revers des Jüngeren prangte das Parteiabzeichen der NSDAP. Die Swastika, ein Symbol, das einmal Wohlstand und Gesundheit versprochen hatte und jetzt umgekehrt der ganzen Welt den Tod brachte. Der Bote nickte und der junge Mann wandte seinen Blick zu den Arbeitern auf der Leiter.
„Erledigt?“
„Erledigt“, sagten die Männer.
„Und das ist der richtige Standpunkt hier?“
„Absolut!“
Kurz darauf erschütterte eine gewaltige Explosion die Eingeweide der riesigen Stadt. Es war gut geplant. Die Menschen in den Bunkern mussten das Donnern für feindliche Bomben halten, die aus dem Himmel fielen. Sie ahnten nicht, dass es der Feind aus ihrer Mitte war.
Bernikoff riss die Druckwelle aus dem nahen Tunnel zu Boden, weg von dem letzten Gemälde, das er gerade fertigstellen wollte. Er rappelte sich wieder auf. Und entdeckte, dass seine Wunde wieder aufgebrochen war. Er blutete. Noch sirrte und summte es in seinen Ohren von dem Knall, da näherte sich ein seltsames Rauschen. Bernikoff erkannte es nicht sofort, obwohl er meinte, es schon oft gehört zu haben. Aber er brachte es nicht mit dem Tunnel und der Dunkelheit in Verbindung.
Wenige Sekunden später war es da. Das Wasser. Wie eine Wand schoss es auf Bernikoff zu. Er hatte keine Chance. Das Dynamit hatte ein Loch in die Decke des Nord-Süd-Tunnels gesprengt und aus dem Landwehrkanal ergossen sich Hunderttausende Liter kalten Wassers. Spülten alles fort. Bernikoff. Seine Schmerzen, seine Farben, seine Bilder, seine rettende Botschaft ...
Auf immer?
Das kleine Mädchen mit den metallenen Schienen an den Beinen weinte in den Armen seines Vaters. Es hatte Angst. Angst vor den Fliegern und vor ihren Bomben, vor dem Feuer. Und vor den Kellern, in denen die Menschen darauf warteten, dass das »Tausendjährige Reich« endlich untergehen würde.
„Schschsch ...“, beruhigte der Vater die Kleine und sein Blick verharrte auf den vielen bunten Zirkusplakaten an den Wänden des Zimmers.
„Bald wird alles gut“, sagte er. „Das versprech ich dir. Es wird alles gut.“ Dann sang er das Lied vom spannenlangen Hansel und der nudeldicken Deern.