Nr. 1154
Flucht aus dem Grauen Korridor
Der Sprung nach EDEN II – die Altmutanten werden aktiv
von Clark Darlton
Das 427. Jahr NGZ, das dem Jahr 4014 alter Zeitrechnung entspricht, ist angebrochen, und die Menschheit sieht sich der bisher größten Bedrohung ihrer Existenz ausgesetzt.
Während Perry Rhodan in der von Seth-Apophis beherrschten Galaxis M 82 mit seiner Galaktischen Flotte, die wieder zusammengefunden hat, den Geheimnissen nachgeht, die M 82 und die Endlose Armada umgeben, kommt es im Solsystem zur Katastrophe.
Der Zeitdamm, der Terra und Luna wirkungsvoll vor den Angriffen Vishnas schützte, existiert nicht mehr. Kein Wunder daher, dass der nächste Anschlag der abtrünnigen Kosmokratin, die der Menschheit Rache geschworen hat, nicht länger auf sich warten lässt.
Noch vor der Jahreswende 426/427 ist es soweit! Vishna versetzt das Erde-Mond-System in den Grauen Korridor und schickt die erste Plage über die Menschen – das Babel-Syndrom.
Kurz darauf, im Januar 427, erfolgt die Heimsuchung durch die Parasitär-Enklaven, die im Vergleich zum Babel-Syndrom bereits eine andere Größenordnung besitzt.
Selbstverständlich versuchen indessen die Verantwortlichen der Liga Freier Terraner und der Kosmischen Hanse alles in ihrer Macht Stehende, den Grauen Korridor aufzubrechen, um weitere Attacken Vishnas zu verhindern. Doch ihre Bemühungen sind fruchtlos – nur einem Wesen gelingt die FLUCHT AUS DEM GRAUEN KORRIDOR ...
Die Hauptpersonen des Romans
Ernst Ellert – Ein Bewusstsein auf Reisen.
Nanude – Ellerts Weggefährte.
Reginald Bull – Der Hanse-Sprecher erhält einen Abschiedsbrief.
Balton Wyt – Ellerts Begleiter auf EDEN II.
Harno – Das Energiewesen lässt Ellert einen Blick in die Zukunft tun.
Prolog
Als der Seuchensuchtrupp den Toten entdeckte, hatte die Leichenstarre bereits eingesetzt. Der Zustand des Körpers ließ keinen Zweifel daran, dass der Mann ein weiteres Opfer dieser Parasiten geworden war, die Vishna als zweite Plage auf die Erde geschickt hatte.
Der Leiter des Suchtrupps war in erster Linie Mediziner und als solcher über gewisse Dinge nicht informiert. Der Tote, den er gefunden hatte, war nur einer von vielen. Er musste ihn für einen Terraner halten. Auch die rötlichen Augen und die prächtige Knollennase waren nicht so außergewöhnlich, dass man vielleicht hätte auf einen Springer schließen können. Zudem hatte der Tote eine schlanke Figur, die auf sportliche Betätigung schließen ließ, und das konnte man von einem Galaktischen Händler kaum erwarten.
Und dennoch war der Tote ein Springer.
Sein Name: Merg Coolafe.
Der Leiter des Suchtrupps nahm den Namen, der aus der Identitätskarte hervorging, zwar zur Kenntnis, dachte sich aber weiter nichts dabei. Lediglich der verschlossene Briefumschlag, der an Reginald Bull persönlich gerichtet war, erregte seine Aufmerksamkeit und ließ den Verdacht in ihm aufkeimen, es bei dem Toten nicht mit einem unbedeutenden Terraner zu tun zu haben.
Er gab seinen Leuten Anweisung, die Leiche in den Kühlwagen und nach Terrania zu bringen, dann nahm er den versiegelten Umschlag und die Personalkarte an sich, um zur Einsatzzentrale zurückzukehren.
Pflichtgemäß meldete er seinem Vorgesetzten das Ergebnis der heutigen Suchaktion am 20. Januar 427 NGZ und bat um eine Unterredung mit Reginald Bull mit der Begründung, ihm einen Brief übergeben zu müssen.
Reginald saß hinter seinem Schreibtisch in seinem Büro, das er nur dann aufsuchte, wenn es unbedingt sein musste. Er befand sich lieber im Einsatz, als hier zu hocken und bürokratischen Kram zu erledigen. Er blickte dem Besucher mit rotumränderten Augen entgegen, die Übermüdung und Erschöpfung verrieten. Der Kampf gegen die Parasiten hatte ihm und den anderen Mitverantwortlichen die letzten Kräfte abverlangt.
Der Leiter des Suchtrupps legte ihm wortlos die Identitätskarte des toten Merg Coolafe auf den Tisch und den Briefumschlag daneben. Die Reaktion Bulls war derart, dass er erschrocken einen Schritt zurückwich und wie erstarrt stehen blieb.
»Coolafe!«, stieß Reginald Bull hervor und wurde totenblass. »Wo wurde er gefunden? Und – tot? Kein Zweifel?«
»Die Parasiten haben ihn getötet, kein Zweifel! Die Leiche befindet sich mit den anderen im Kühlraum des Instituts zwecks Untersuchung und ...«
Bull nahm den Brief zur Hand.
»Und das hier? Wo war er?«
»Neben der Leiche.«
Bull öffnete ihn, nachdem er das Siegel gebrochen hatte, warf dem Leiter einen undefinierbaren Blick zu und sagte: »Schon gut, Denver. Und vielen Dank.«
Er wartete, bis der Mann den Raum verlassen hatte, dann erst begann er den Inhalt des Schreibens zu lesen. Die Handschrift selbst war fremd, aber das hatte in diesem ganz speziellen Fall nicht das geringste zu bedeuten.
Erschüttert las Reginald Bull die letzte Botschaft des Springers, der schon lange nicht mehr er selbst gewesen war.
Sie lautete:
Die parasitären Invasoren haben nun auch Merg erwischt. Sein Körper wird schnell schwach und leistet kaum noch Widerstand. Ich habe keine Möglichkeit, ihn zu einer Aktion zu zwingen oder Kontakt mit Terrania herzustellen. Merg Coolafe wird sterben, ehe Hilfe eintreffen kann. Ich kann auch nichts gegen das Vernichtungswerk der Parasiten tun, die ihn töten. Mir bleibt keine andere Möglichkeit, als Mergs Körper nach seinem Absterben zu verlassen. Aber ich werde nicht versuchen, mein Bewusstsein erneut in einen anderen Gastkörper eindringen zu lassen. Vielmehr werde ich das tun, was ich von Anfang an hätte tun sollen, wenn ich es nur gekonnt hätte.
Bully, als körperloses Bewusstsein habe ich die einmalige Chance, nicht nur Terra, sondern vielleicht auch den Grauen Korridor zu verlassen, den Vishna zu unserem Untergang schuf. Sie schickt ihre Plagen durch die Perforationszonen, die von keiner terranischen Technik durchdrungen werden können. Ich aber bin nichts als ein Bewusstsein, getrennt von Körper und Materie. Ich bin sicher, nach »draußen« gelangen zu können. Und genauso sicher bin ich, dort Hilfe gegen die Plagen Vishnas zu finden. Du ahnst sicher schon, woran ich denke, alter Freund, und natürlich hast Du recht. Du darfst jetzt die Hoffnung nicht aufgeben, was immer auch Vishna noch gegen uns und die Erde unternehmen mag. Vielleicht werdet Ihr lange nichts von mir hören, denn ich kenne das vor uns liegende Schicksal nicht, aber ich weiß, dass die Menschheit überlebt, und nicht durch eine negative Superintelligenz vernichtet wird.
Und so verlasse ich Dich und Terra – ich werde es zumindest versuchen –, aber ich werde zurückkehren, und dann werde ich wissen, wie die Katastrophe abzuwenden ist, die gerade erst begonnen hat.
Mut, alter Freund! Wer ohne Hoffnung ist, der ist auch ohne Zukunft.
Grüße die anderen!
Ernst Ellert
Reginald Bull legte das einfache Blatt Papier zurück auf den Schreibtisch. Er bedauerte den Tod des Springers Merg Coolafe, der den Freund Ernst Ellert beherbergt hatte, den ehemaligen Teletemporarier und den Mann, der Anfang und Ende des Universums auf seinen körperlosen Reisen durch Zeit und Raum erlebt hatte. Aber allein wichtig war nur, dass dieser Ernst Ellert noch existierte und den Versuch unternahm, Kontakt mit ES aufzunehmen.
Reginald Bulls Gesicht verriet nichts mehr von der vorherigen Mutlosigkeit und Erschöpfung, als er das Visiphon aktivierte.
Es wurde höchste Zeit, mochte er denken, endlich wieder einmal eine ermutigende Information weiterzugeben.
1.
Ernst Ellert spürte, dass es mit seinem Wirtskörper Merg Coolafe zu Ende ging. Der Kampf des Springers gegen den übermächtigen Gegner war aussichtslos geworden. Selbst die Rötelerreger, mit denen die Parasiten abgetötet werden konnten, wären jetzt zu spät gekommen.
Ellert mobilisierte die letzten verbliebenen Abwehrkräfte des Sterbenden, um ihn die Botschaft an Reginald Bull schreiben zu lassen. Eine direkte Kontaktaufnahme war aussichtslos geworden, aber Ellert war sicher, dass man Mergs Leiche – und damit auch den Brief – früher oder später finden würde.
Mit übermenschlicher Anstrengung versiegelte der Springer den fertigen Brief und legte ihn auf den Tisch, ehe er aufs Bett zurücksank.
Zuckungen verrieten den einsetzenden Todeskampf.
Ellert vermochte nichts anderes mehr zu tun, als auf den Exitus zu warten, jede Gegenwehr war vergeblich geworden.
Das Warten wurde zu einer furchtbaren Qual für Ellert, aber er wagte es nicht, schon jetzt den Versuch zu unternehmen, den Körper des Sterbenden zu verlassen. Das, was vor ihm lag, war so riskant, dass jede Unvorsichtigkeit zur Katastrophe führen konnte.
Merg starb langsam und unter Qualen. Für Ellert war es grauenhaft, ihm nicht helfen zu können und die Leiden des Bedauernswerten abzukürzen. Und so verspürte er eine unbeschreibliche Erleichterung, als es schließlich zu Ende ging – und dann endlich vorbei war.
Nun war auch er letztlich wieder frei.
Wie schon unzählige Male vorher trennte er sich von seinem Gastkörper und sah ihn dann zusammengekrümmt vom Todeskampf unter sich liegen. Er, das unsterblich gewordene Bewusstsein, kannte keinen körperlichen Schmerz, dafür jedoch um so intensiver den seelischen. Merg war ihm ein guter Freund geworden, zumindest sein im Nichts untergetauchtes Bewusstsein, das meist »Seele« genannt wurde.
Ellert überzeugte sich davon, dass für ihn alles noch so war wie früher, wenn sein Bewusstsein nicht von einem Körper belastet wurde. Ein gezielt eingesetzter Gedankenimpuls bestimmte Richtung und Entfernung seiner Fortbewegung, der keine Grenzen gesetzt waren – zumindest unter normalen Umständen. Und von denen konnte jetzt im Grauen Korridor, der die Erde der Katastrophe entgegentreiben ließ, keine Rede sein.
Mühelos durchdrang er die Wände des Hauses, und bald darauf lag Terrania tief unter ihm.
Für Sekunden nur wäre er beinahe der Versuchung erlegen, Reginald Bull aufzusuchen, aber als nur körperloses Bewusstsein konnte er keinen Kontakt mit ihm aufnehmen. Sicher, er hätte versuchen können, eine Verbindung mit Bulls eigenem Bewusstsein herzustellen, aber auch das war mit unbekannten Gefahren verbunden, zumindest unter den gegebenen Umständen.
Die Botschaft, die er bei Merg gelassen hatte, würde genügen, den Freund zu informieren.
Es war seltsam genug, dachte Ellert bei sich – und das nicht zum ersten Mal –, dass er auch ohne einen Körper optische und andere Eindrücke aufnehmen konnte, so als besäße er sehende Augen. Alles vermochte er zu sehen, nur nicht sich selbst.
Er blickte sich um und sah den graublauen Himmel, der von den Farben des Spektrums streifenförmig durchzogen wurde. Die Kunstsonnen verbreiteten ein unwirkliches, diffuses Licht. Optisch war nicht zu erkennen, dass die Erde, und mit ihr der Mond, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch den Grauen Korridor ihrem Verderben entgegenraste. Und niemand vermochte diesen tödlichen Flug des Planeten aufzuhalten.
Und er, Ernst Ellert, wollte es versuchen ...?
Aber ob größenwahnsinnig oder nicht, er wollte es nicht nur versuchen, er musste es versuchen. Vishna war zu mächtig geworden, vielleicht sogar unbesiegbar, zumindest mit den Mitteln terranischer Technik.
Und so gab es nur eine einzige Hoffnung für die Erde:
Das unsterbliche Wesen ES.
Ernst Ellert umrundete die Erde und gelangte in den Schatten der Nacht – einer Nacht, die nichts mehr mit den Nächten von früher gemein hatte. Sichtbar war nur noch der Mond, denn alle Sterne schienen für immer erloschen zu sein. Aber der Himmel war auch nicht schwarz, wie er es eigentlich nun hätte sein sollen.
Ein schmutzig wirkendes Grau kennzeichnete die Wände des Korridors, der wie ein Tunnel das Normaluniversum durchquerte und so Terra den tödlichen Weg diktierte. Mit der Tagseite waren nur die Farbstreifen des Spektrums gemeinsam, die jeweils durch graue Streifen getrennt wurden. In Richtung Norden liefen alle diese Streifen zusammen und vereinigten sich.
Nur geringfügig beruhigt stellte Ellert fest, dass eine neue Plage Vishnas noch nicht eingesetzt hatte, denn der silberne Lichtschein, der das Verhängnis ankündigte, fehlte.
Er betrachtete dieses Fehlen des verhängnisvollen Omens als gutes Vorzeichen für sein geplantes Unternehmen, die Perforationsschicht zu durchdringen, die den Korridor von dem eigenen und von den fremden Universen trennte – jenen Universen, die das Unheil für die Erde in sich bargen.
Langsam und vorsichtig gewann er an Höhe. Und ebenso langsam blieb die Erde unter ihm zurück. Trotzdem raste er zusammen mit ihr durch den Korridor, lediglich die beiden relativen Geschwindigkeiten blieben scheinbar gering. In dieser Hinsicht fehlte Ellert der Beziehungspunkt. Für ihn standen Erde und Mond bewegungslos im All.
Die Regenbogenfelder wurden breiter, als er sich ihnen näherte. Auch die grauen Begrenzungsstreifen vergrößerten sich merklich. Nach ihnen musste er sich richten, wollte er auch nur die geringste Chance eines Erfolges wahrnehmen.
Erde und Mond waren zu einem Doppelplaneten geworden, von künstlichen Sonnen schwach angestrahlt. Noch immer gab es keine Sterne, so als hätten sie niemals existiert. Das ganze Universum schien nur aus Terra und Luna zu bestehen – eine grauenhafte Vorstellung unendlicher Einsamkeit. Aber niemand wusste besser als Ellert, wie falsch dieser Eindruck war, aber er wusste nicht, was sich jenseits der Wände des Grauen Korridors befand, der die Universen voneinander trennte.
Er hoffte, es bald zu erfahren.
Entgegen seinen heimlichen Befürchtungen konnte er Richtung und Geschwindigkeit noch immer nach Belieben regulieren, daran hatte sich zu seiner Erleichterung bisher nichts geändert. Er verringerte das Tempo seines körperlosen Fluges, während er sich der vor ihm liegenden Wand näherte. Der Erleichterung folgte plötzliche Hilflosigkeit. Er hielt an und schwebte dicht vor dem grauen Streifen, der so breit geworden war, dass er fast das gesamte Blickfeld einnahm.
Erde und Mond lagen nun weit hinter ihm.
Er spürte nichts, und dieses Nichtspüren bezog sich auf sein materieloses Bewusstsein, das mit körperlichem Empfinden nicht das geringste zu tun hatte. Der Korridor, so schloss er mit neuem Optimismus, setzte ihm noch kein Hindernis entgegen. Vielleicht konnte er ihn, der nur noch aus denkender Energie bestand, nicht registrieren.
Das würde von unschätzbarem Vorteil sein.
Das graue Perforationsband wirkte ebenso undurchdringlich wie die jetzt nicht mehr sichtbaren Farbstreifen, die nach oben und unten, von Ellert aus gesehen, in weite Ferne gerückt waren. Auch wusste er nicht, wie sich eine Schwachstelle, die ein Durchdringen nach »draußen« vielleicht ermöglichte, bemerkbar machte. Wurde sie durch eine Veränderung des grauen Farbtons gekennzeichnet? Oder durch vielleicht plötzlich sichtbare Sterne?
Er wusste es nicht.
Niemand wusste es.
Vorsichtig bewegte er sich an der grauen Wand entlang, immer darauf bedacht, eine Unregelmäßigkeit zu bemerken. Die geringste Veränderung konnte eine Schwachstelle, eine Perforation bedeuten.
Die bisherige Erfahrung hatte gezeigt, dass die unheimliche Grenze gerade dann am durchlässigsten war, wenn Vishna ihre Plagen zur Erde entsandte.
So sehr Ellert auch hoffte, dass die dritte Plage ausblieb, so sehr hoffte er auf der anderen Seite, dass er eine durchlässige Stelle finden würde.
Ein Widerspruch, der paradoxerweise in sich logisch blieb.
Noch blieb ihm der Zeitbegriff erhalten, so wie er auch die Entfernungen abschätzen konnte. Das war beruhigend, wenn auch nicht gerade ungewöhnlich.
Stunden waren vergangen, ehe er plötzlich etwas bemerkte, das seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Stück vor ihm flimmerte die graue Wand in einem matten Silber, unregelmäßig und in Abständen, so als wolle etwas von außen in das Innere des Korridors dringen und stieße bei diesem Versuch auf ein Hindernis.
Ernst Ellert beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Er hatte nichts zu verlieren, aber so ziemlich alles zu gewinnen.
Ein Gedanke – und er raste auf die silberne Stelle zu ...
... und durchstieß die Perforation.
Er durchstieß sie mit einer Leichtigkeit, die ihn völlig überraschte, aber was danach geschah, entzog sich allem, was er bisher auf seinen körperlosen Reisen durch Raum und Zeit erlebt hatte.