Der Zweiklassenstaat
Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren
Widmung
Vorwort
Bildung erster und zweiter Klasse
Zweiklassenmedizin
Die wahren Rentenlügen
Von der Wiege bis zur Bahre: Pflege im Zweiklassenstaat
Wie die Privilegierten das Land ruinieren
Anmerkungen
Stichwortverzeichnis
Danksagung
Für Ulrike
In der Zeit von 1987 bis 1995 habe ich fast ohne Unterbrechung in den USA gelebt. Als Stipendiat war ich im Rahmen meiner medizinischen Doktorarbeit zunächst nach Tucson, Arizona, gereist, um ein Forschungsprojekt mit Herzkranken durchzuführen. Danach verschlug es mich nach San Antonio in Texas und dann für sieben Jahre nach Boston.
Ich lernte das amerikanische Gesundheitssystem kennen: Perfektion und krasse Stümperei, höchste ethische Standards und niedrigste Geldschneiderei gehen hier Hand in Hand. Einerseits wird das Menschenmögliche erforscht, andererseits das menschlich Gebotene oft unterlassen. So beeindruckte mich ein Herzchirurg der University of Texas damit, dass er als einer der Ersten Herz und Lunge gleichzeitig transplantierte. Die sechsstündige Operation glich einem genial geplanten Feldzug gegen jede nur denkbare Komplikation, und das Überleben des Patienten wurde vom Operationsteam wie eine kleine Landung auf dem Mond gefeiert. Diese Begeisterungsfähigkeit, diese Leistung und den unbedingten Willen, Krankheiten zu besiegen, kannte ich aus der deutschen Medizin nicht.
Derselbe Chirurg löschte meine Hochachtung jedoch mit einem einzigen Satz wieder aus. Das Krankenhaus lag in einem der ärmsten Stadtteile von San Antonio, und Messerstechereien oder Schießereien mit schweren Verletzungen kamen fast täglich vor. Als ich bei der Versorgung eines spanischamerikanischen Patienten mit einer Stichverletzung half, meinte der von mir bewunderte Spezialist lapidar, dass der einzige Beitrag der Armen zu dieser Gesellschaft darin zu sehen sei, dass wir jungen Studenten und Ärzte an ihnen lernen dürften.
Diese Einstellung war leider nicht die Ausnahme, und unsere Arbeit in der Klinik funktionierte entsprechend. So wurde bei Patienten mit Magenblutung, die weder Geld noch eine Versicherung besaßen, die Blutung im Notfall zwar gestoppt, der die Blutung auslösende Krebs aber nicht behandelt. Für mich war das ein krasser Verstoß gegen fundamentale ethische Standards. Dass ein unversicherter Krebskranker in Deutschland nicht behandelt würde, war völlig undenkbar. Ich begriff, dass es einen riesigen kulturellen Unterschied zwischen Deutschland und den USA gab. Die Amerikaner schienen zu glauben, dass jeder für sich selbst verantwortlich sei und nur auf das Anspruch habe, was er sich selbst verdient hat: die beste Behandlung für Wohlhabende, eine Basisversorgung oder weniger für Arme. In Deutschland hatte ich noch nie einen intelligenten Menschen getroffen, der eine solche Position ernsthaft vertrat; in den Vereinigten Staaten lernte ich später Philosophieprofessoren der Harvard University kennen, die ganze Bücher zur Verteidigung dieser Haltung geschrieben hatten.
Dass jeder Bürger Anspruch auf die gleiche medizinische Versorgung hat, ist eine europäische Idee. Besser und kürzer lässt sich der Unterschied der Werte Europas und Amerikas nicht ausdrücken: Die meisten Europäer sind der Überzeugung, dass Bildung und Gesundheitsversorgung nicht vom Einkommen abhängen sollten. Die meisten Amerikaner hingegen würden dieses zentrale Gebot der Chancengleichheit der Menschen ablehnen. Dennoch hat ausgerechnet ein amerikanischer Philosoph, John Rawls, die mit Abstand bedeutendste Begründung des europäischen Ideals der Chancengleichheit geliefert.
In den USA habe ich von den besten wissenschaftlichen Einrichtungen profitiert, aber immer ein Unbehagen darüber empfunden, dass hier die Elitekader eines ungerechten Systems forschen. Als ich nach Deutschland zurückging, wusste ich zwar, dass es nicht die Spitzenforschung der Vereinigten Staaten bieten konnte, hielt dafür aber die Chancengleichheit für gegeben. Ich wurde bitter enttäuscht. Denn ich musste feststellen: Das deutsche Bildungs- und Gesundheitssystem sind nicht nur Mittelmaß, was die Leistung angeht, sondern zudem höchst ungerecht. Auch in Deutschland entscheidet das Einkommen des Patienten über seine medizinische Versorgung, und die Unterschiede in der daraus resultierenden Lebenserwartung von Reich und Arm sind hier so groß wie in den USA. In keinem Land in ganz Europa hängen die Bildungsergebnisse sogar so sehr vom Einkommen der Eltern ab wie in Deutschland.
In der Tat sind alle Bereiche unserer sozialen Sicherung ungerecht, also neben dem Gesundheitswesen auch das Rentensystem und die Pflegeversicherung. Selbst der deutsche Arbeitsmarkt ist nicht neutral, sondern schreibt systematisch die durch das ungerechte Schulsystem bedingten Nachteile fort. Von der Wiege bis zur Bahre wird in Deutschland die Chancengleichheit verwehrt. Stattdessen herrscht der Zweiklassenstaat. Der Hauptunterschied zu den Vereinigten Staaten besteht darin, dass wir dies bestreiten, weil wir es eigentlich falsch finden, während die Amerikaner solche Unterschiede in großen Teilen für richtig halten. Wir wähnen uns in einer Gesellschaft, die die Ideale der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit verwirklicht hat, und der Staat hilft, diese Fiktion zu erhalten.
Es ist eine Schande: Statt für einen gerechten Ausgleich zu sorgen, vergrößert der deutsche Staat die Kluft zwischen Arm und Reich. Intelligente Kinder aus armen und bildungsfernen Familien haben – bei gleicher Leistung – eine vielfach geringere Chance, aufs Gymnasium zu kommen und zu studieren. Als Niedrigqualifizierte und Geringverdiener erledigen sie Jobs, die die Gesundheit stärker gefährden als akademische Berufe. Sie haben deshalb ein höheres Krankheitsrisiko und eine kürzere Lebenserwartung. Als Kassenpatienten leiden sie dann unter der Zweiklassenmedizin, die privat Versicherten den Vorzug gibt. Aufgrund der großen internationalen Konkurrenz im Niedriglohnsektor sind sie auch in höherem Maß von Arbeitslosigkeit bedroht. Ihre Rente fällt deshalb später nicht nur sehr viel geringer aus als die der Gutverdienenden, sie können sie auch nur viel kürzere Zeit genießen. Sie zahlen also mehr in die Rentenkassen ein, als sie ausbezahlt bekommen, und sichern so zusätzlich die Renten der Einkommensstarken. Werden sie zum Pflegefall, leiden sie erneut unter der Zweiklassenversorgung der Patienten.
Das vorliegende Buch versucht so konkret wie möglich, die tatsächlichen Probleme Deutschlands und unseres Arbeitsmarktes aufzuzeigen, und schlägt Strategien zu ihrer Überwindung vor. Es stützt sich dabei auf internationale Vergleiche und aktuelle wissenschaftliche Studien sowie Berechnungen des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln.
Deutschland ist nicht nur ungerechter, als wir wahrhaben wollen, sondern auch schutzlos den Herausforderungen des demographischen Wandels und der Globalisierung ausgesetzt. Es ist ein kinderarmes Land, das bei der Integration versagt, seine Talente zu einem großen Teil verschwendet und seine Sozialsysteme bald nicht mehr bezahlen kann. Es ist ein Land, in dem Reformen scheitern, wenn diese an den zentralen Privilegien einer Klasse rütteln, die stärker als Teile der Politik zu sein scheint. Wenn wir aber für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet sein wollen, dürfen wir mit diesen Reformen nicht länger warten. Der Aufschwung allein wird keines der in diesem Buch geschilderten Probleme lösen. Und in der Großen Koalition können die notwendigen Veränderungen kaum durchgesetzt werden. Bald jedoch wird allen offenbar werden, woran unsere Gesellschaft krankt. Spätestens dann schlägt die Stunde der Politik.
1997 sprach ich mit dem Kanzler der Universität zu Köln über die notwendige Aufholjagd der deutschen Hochschulen im Wettkampf mit den Vereinigten Staaten und den europäischen Nachbarländern. Ich war gerade als Professor berufen worden und blickte während des Gespräches voller Ehrgeiz und Stolz aus dem Fenster auf den Platz vor dem Hauptgebäude. Wir besprachen die Probleme der deutschen Hochschule: Das Studium beginnt zu spät und dauert zu lange, die Studienpläne sind veraltet, die Studenten werden in Massen abgefertigt und schlecht auf den Beruf vorbereitet, es mangelt an finanzieller Förderung und an Leistungsanreizen für die Professoren, Forschung und Lehre sind zu wenig getrennt und so weiter.
Die Probleme waren nicht neu. Schon 1987 hätte man diese Diagnose stellen können – damals verließ ich Deutschland für fast zehn Jahre, um in den USA zu studieren und zu forschen. Und heute, 2008? Als ich vor gut drei Jahren ebenjenem Kanzler mitteilte, dass ich in den Bundestag gewählt wurde, und um meine Beurlaubung bat, hatte sich nichts verändert, die Probleme waren die gleichen geblieben. Wie wird es in zehn Jahren sein?
Wie ist es möglich, dass wir nicht aufholen, obwohl wir immer wieder davon reden? Wie ist es möglich, dass die bedeutendste Fachzeitschrift für Innere Medizin in Deutschland, die «Medizinische Klinik», nicht einmal mehr zu den fünfzig wichtigsten internationalen wissenschaftlichen Publikationen in der Inneren Medizin gehört? Während in den 1960er Jahren viele japanische Medizinstudenten noch Deutsch lernen mussten, um die deutsche wissenschaftliche Literatur verfolgen zu können, werden heute die Artikel der «Medizinischen Klinik» nicht einmal mehr ins Englische übersetzt.
Fast alle medizinischen Lehrstühle werden jetzt an Bewerber vergeben, die einige Jahre im Ausland waren, weil das Forschungsniveau in Deutschland zumindest in den medizinischen Kernfächern wie Innere Medizin oder Chirurgie kaum ausreicht, diese Stellen zu besetzen. Während junge deutsche Wissenschaftler oder Studenten zu Beginn ihrer Karriere im Ausland gerne genommen werden, gilt dies für etablierte Wissenschaftler so gut wie nie. Nur im extremen Ausnahmefall würde eine amerikanische Spitzenuniversität einen deutschen Lehrstuhlinhaber berufen.
Vor einem «Brain Drain» deutscher Spitzenmediziner oder -forscher müssen wir uns nicht fürchten. Nur die jungen Leute gehen, weil im Ausland die Bedingungen besser sind, um zur Spitze aufzuschließen. In der Wirtschaft ist es nicht anders. Obwohl die explodierenden Vorstandsgehälter in deutschen Unternehmen gerne mit dem Wettbewerb um die Köpfe in der globalisierten Welt begründet werden, gibt es aus den Reihen unserer Topmanager kaum Abwerbungen.
Das Versagen hochbezahlter Manager wird nahezu täglich in der Wirtschaftspresse beklagt. Doch diese Klagen zielen am Kern des Problems völlig vorbei. Obwohl es unsere Volkswirtschaft täglich schwächt und deshalb schon traurig genug ist, stellt dieses Versagen nur die Spitze eines riesigen Eisbergs dar. Unser gesamtes Bildungs- und Forschungssystem befindet sich in einer massiven Dauerkrise, deren Ende nicht abzusehen ist.
Bereits der Aufschwung in den vergangenen Monaten mit einem Wachstum von 0,9 Prozent im vierten Quartal 20061 lässt einen Mangel an Ingenieuren und Softwarespezialisten zutage treten, der das Wachstum schon wieder behindert. Hätten wir in den vergangenen Jahren tatsächlich das Wachstum der USA oder gar Chinas gehabt, wären uns längst die Ingenieure ausgegangen.
Im Jahr 2005 gab Deutschland für Forschung und Entwicklung knapp 2,5 Prozent2 des Bruttoinlandsproduktes aus. Damit liegen wir zwar leicht über dem OECD-Durchschnitt, aber immer noch deutlich unter den drei Prozent, die nötig wären, um den Anschluss an die Weltelite zu halten. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte man allein im Jahr 2005 zwölf Milliarden Euro mehr für Forschung und Entwicklung ausgeben müssen. Die Unterfinanzierung betraf insbesondere die Forschungsausgaben des Staates. Im Jahr 1995 lag sein Anteil gegenüber der Wirtschaft noch bei 38 Prozent, im Jahr 2005 nur noch bei 30 Prozent.3
Doch mit mehr Geld allein ist es nicht getan – wir müssten den Forschungs- und Entwicklungsbereich auch personell aufstocken, und dafür fehlt es eklatant an qualifizierten Ingenieuren und Wissenschaftlern. Der Wirtschaft dürfen wir sie nicht entziehen, weil dies das Wachstum wieder behindern würde. Wir verkennen die Dramatik der Situation, weil jetzt Aufschwung ist und der Export seit Jahren brummt. Die Lage wird sich in den nächsten Jahrzehnten grundlegend verschlechtern.
Heute sind wir noch Exportweltmeister, weil wir von der Bildungsoffensive der 1970er Jahre profitieren. Damals, in der Blütezeit der deutschen Bildungspolitik, stimmte für die Chancengleichheit der Kinder fast alles: Sie kamen aus allen gesellschaftlichen Gruppen, waren oft die ersten Abiturienten ihrer Familien und damit besonders ehrgeizig und drängten mit diesem Ehrgeiz auf die damals international noch nicht ganz abgeschlagenen deutschen Universitäten. Es ist diese Babyboomer-Generation, die größte Geburtskohorte, die es in Europa jemals gab, die die für den Exportweltmeister bestimmende Generation der heute vierzig- bis fünfzigjährigen Ingenieure, Wirtschaftsfachleute und Wissenschaftler stellt.
Die Ingenieure von morgen kommen aus Geburtsjahrgängen, die nur halb so stark sind. Sie repräsentieren lediglich die Hälfte ihrer Generation, weil die andere Hälfte durch bildungsfernen Hintergrund oder Herkunft aus Migrantenfamilien gar keinen Zugang mehr zum System der Hochschule hatte. Wenn die Babyboomer abtreten – und die meisten dürften den Zenit ihrer kreativen Schaffenskraft bereits erreicht haben –, folgt also eine Generation, deren Kreativität sich nur aus einem Viertel des ursprünglichen Pools der Talente speist: die Geburtenjahrgänge haben sich halbiert, und nochmals der Hälfte dieser Kohorte wird der gerechte Zugang zur besten Bildung verwehrt.
Der zukünftige Pool der Talente reicht vielleicht für ein Land mit 20 Millionen Einwohnern, nicht aber für 80 Millionen. Er wird auch nicht reichen, um Exportweltmeister zu bleiben. Während der Pool deutscher Talente auf ein Viertel geschrumpft ist, ist der internationale Pool gewachsen.
So hat Indien die Zahl seiner Akademiker in den letzten zwanzig Jahren um fünfzig Prozent gesteigert. In China verdoppelt sich gar die Zahl der Akademiker alle fünf Jahre, die Zahl der dort Studierenden hat sich seit 1998 fast verfünffacht. Beide Länder entlassen jedes Jahr um die drei Millionen Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt. Allein in China werden nun jährlich rund 600000 Ingenieure ausgebildet – mehr als alle Ingenieure, die in Deutschland in den letzten zehn Jahren die Hochschulen verlassen haben. Als eine der reichsten Nationen schafft Deutschland es gerade einmal, 37000 Ingenieure im Jahr auszubilden4, und das mit abnehmender Tendenz.
Zwar ist es richtig, dass das Niveau der Ausbildung in China und Indien zum Teil noch schwach ist und mit dem der US-amerikanischen Eliteuniversitäten nicht konkurrieren kann. Das durchschnittliche Niveau deutscher Hochschulen dürfte aber in wenigen Jahren erreicht sein. Unsere Hochschulen produzieren weder die preiswerten Anwendungswissenschaftler Asiens noch die Spitzenforscher der Vereinigten Staaten. Wir produzieren überwiegend Mischakademiker, die weder sehr günstig noch wirklich Weltklasse sind, und wir produzieren davon noch zu wenige.
Die Schwäche unseres Bildungssystems im Bereich von Forschung und Entwicklung wird unsere Wirtschaft an vielen Stellen verwundbar machen. Bereits jetzt begründen 22 Prozent der Unternehmen ihre Verlagerung von Forschung und Entwicklung ins Ausland damit, dass dort mehr Fachkräfte verfügbar seien; 12 Prozent verlegen Forschungsabteilungen ins Ausland, weil sie dort die besseren Wissenschafts- und Forschungsstrukturen vorfinden.5
Der Auszug der Forschungsabteilungen großer Unternehmen wird die Regel werden, weil Fachkräfte fehlen und sich auch keine Änderung am Horizont abzeichnet. Bayer verlässt Wuppertal in Richtung Kalifornien. Siemens wandert mit Hightechprodukten nach Asien ab. Selbst Autozulieferern werden mittlerweile anderswo bessere Bedingungen geboten.
Von über 1500 befragten deutschen Unternehmen investierte Anfang 2005 bereits jedes dritte im Ausland in Forschung und Entwicklung, etwa 15 Prozent hatten schon Teile von Forschung und Entwicklung dorthin verlagert, weitere 17 Prozent der Firmen planten eine derartige Verlagerung für den Zeitraum der kommenden drei Jahre.6 Oft bleibt die Forschung bereits heute nur deshalb in Deutschland, weil sie hier steuerlich gut abgesetzt werden kann oder die altgedienten Firmenchefs mittelständischer Unternehmen ungläubig auf die Entwicklung starren, bevor ihre Firmen untergehen.
Aber bei der deutschen Bildungsmisere geht es um mehr als den Verlust von Forschungsabteilungen oder die Schwäche der deutschen Spitzenforschung im internationalen Vergleich. Unser Bildungssystem schafft es, oben und unten gleichzeitig zu versagen. Es produziert oben keine Spitzenkräfte und unten Massenlangzeitarbeitslosigkeit.
Die Hälfte der Kinder aus Migrantenfamilien besucht lediglich die Hauptschule. Ein Viertel der Migrantenkinder erlangt gar keinen Schulabschluss. Wir leisten es uns, 8,2 Prozent aller Kinder ohne Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt zu schicken.7 Da ist es kein Wunder, dass nur um die zwanzig Prozent eines Jahrgangs in Deutschland ein Hochschul- oder Fachhochschulstudium abschließen (2004). Das sind siebzehn Prozent weniger als im OECD-Durchschnitt.8 Nur zwölf Prozent der Kinder aus Arbeiterfamilien nehmen überhaupt ein Studium auf.9
Die Mehrzahl derer, die ohne Ausbildung sind, wird in Langzeitarbeitslosigkeit, im Bereich steuerlich bezuschusster Arbeit oder mit Löhnen am Existenzminimum leben müssen. In keinem Land Europas konzentriert sich die Arbeitslosigkeit so stark auf diejenigen mit fehlender Berufsausbildung wie in Deutschland. In einer globalisierten Wirtschaft konkurrieren sie zunehmend auch noch mit Dienstleistern und Produzenten aus Niedriglohnländern, die besser ausgebildet sind als sie und billiger arbeiten wollen.
Viel zu viele Jugendliche sind bei uns schon jetzt arbeitslos und ohne Job-Perspektiven. Sie werden sich im Rahmen der EU-Erweiterung und der Öffnung der Märkte Asiens demnächst weiterer Konkurrenz ausgesetzt sehen. Unser Bildungssystem hat ihnen die Schutzimpfung versagt, die sie für das Bestehen dieser Herausforderung benötigt hätten. In keinem anderen großen Industrieland ist der Anteil der sogenannten Risikoschüler so hoch wie in Deutschland: Mehr als 22 Prozent der Fünfzehnjährigen in Deutschland können auch laut der neuen PISA-Studie einfachste Texte nicht lesen und verstehen sowie selbst am Ende ihrer Pflichtschulzeit allenfalls auf Grundschulniveau rechnen.
Während die Gering- und Nichtqualifizierten das Versagen unseres Bildungssystems schon jetzt schmerzlich spüren, wiegt sich die deutsche Mittelschicht noch in Sicherheit, entgegen der herbeifeuilletonierten Hartz-Panik. Solange sich die Arbeitslosigkeit auf Ausländer, Hilfsarbeiter und Frauen konzentriert und der Export brummt, fühlt man sich kaum in Bedrängnis. Die Bedeutung, die der Abgang der Babyboomer-Generation hat, wird von dieser Schicht bisher übersehen. Wenn die einzige Generation der Deutschen, die je einen mehr oder weniger vollständigen Zugang zu Bildung und Studium hatte und die heute auf dem Höhepunkt ihrer Produktivität und persönlichen Gesundheit ist, sich aufs Altenteil zurückzieht, wird die Lage für alle sichtbar zutage treten.
Der Abgang der Babyboomer, also der Geburtenjahrgänge von 1950 bis 1968, wird das Wachstum des Wohlstands in Deutschland gleich in mehrfacher Hinsicht schwächen. Sie fallen aus als Quelle der Innovation und können in dieser Hinsicht nur teilweise von den nachwachsenden Generationen ersetzt werden. Sie waren bis dahin Beitragszahler für das Rentensystem und fordern dann ihre Rente ein. Sie werden nur noch eingeschränkt in die Kranken- und Pflegeversicherung einzahlen, aber Jahr für Jahr mehr Leistungen in Anspruch nehmen. Die Nachfrage nach Häusern, Autos, Motorrädern und Einbauküchen wird wegen der sinkenden Geburtenraten genauso zurückgehen wie der Bedarf an Fabriken oder Facharbeitern, die dort arbeiten könnten.
Aufgrund der höheren Lebenserwartung und der sinkenden Geburtenzahlen wird sich das jährliche Wohlstandswachstum in Deutschland ab 2015 verlangsamen. In zwanzig Jahren wird der Zuwachs schätzungsweise ein Drittel unter dem heutigen Wert liegen.10 Nur ein besseres Bildungssystem hätte diesen Ausfall kompensieren können.
Ein Land mit dramatischem Demographieproblem muss alles dafür tun, dass die ausgedünnten Generationen zumindest die Voraussetzung für höchste Produktivität im Arbeitsleben geboten bekommen. Für die nächsten dreißig Jahre ist dieser Zug aber bereits abgefahren. Die Kinder, die in den achtziger Jahren nicht geboren wurden, fehlen heute im Studium und in Kürze als Erneuerer, Leistungsträger und Konsumenten ganz. Die Kinder, die damals zwar geboren wurden, deren schulische Förderung aber so schlecht war, dass sie heute ohne oder nur mit einer prekären Ausbildung unterwegs sind, können nicht ernsthaft auf das Niveau gehoben werden, welches ihnen und allen anderen helfen würde.
Der Mittelstand wird die Lage schmerzhaft begreifen, wenn aus dem sich abschwächenden Wirtschaftswachstum die steigenden Kosten der Versorgung der Babyboomer-Generation bezahlt werden müssen. Während heute ein Erwerbstätiger 0,46 Rentner mitfinanziert, also jeder Erwerbstätige die halbe Rente eines Rentners aufbringt, werden es 2030 schon 0,75 Rentner sein. Der Erwerbstätige finanziert dann drei Viertel einer Rente eines einzigen Rentners.11 Und während heute der gesunde Erwerbstätige rund 6,6 Prozent seines Einkommens für die Krankenversicherung der Rentner ausgibt, werden dies im Jahr 2030 zwischen 14 und 21 Prozent sein.12
Die Erwerbstätigen müssen jedoch nicht nur die Lasten ihrer Elterngeneration tragen, sondern zugleich fürchten, dass ihnen später ein ähnliches Leistungsniveau weder in der Rente noch in der Krankenversicherung zur Verfügung stehen wird. Daher werden sie noch Geld für ihre eigene Absicherung zur Seite legen müssen.
Die auf die Generation der Babyboomer folgende Generation wird höhere Sozialabgaben leisten und mehr sparen müssen, bei sinkender Nachfrage in vielen Bereichen. Höhere Löhne zum Ausgleich werden sich kaum durchsetzen lassen, da die Konkurrenz aus dem Ausland wächst und die Arbeitgeber daher einen größeren Anteil der Produktivitätsgewinne für sich in Anspruch nehmen dürften. Steigende Löhne könnten zudem die Arbeitslosigkeit erhöhen, wenn sie zu Verlagerungen der Produktion ins Ausland führen.
Globalisierung bedeutet für Deutschland konkret, dass die Nachfrage nach wenig qualifizierter Arbeit sinken wird, während die Nachfrage nach sehr hoch qualifizierter Arbeit steigt. Darauf hätte uns das Schulsystem in den letzten beiden Jahrzehnten durch eine bessere Qualifizierung der Arbeitssuchenden vorbereiten müssen, hat jedoch das Gegenteil getan. Die Folgen dieses Versagens werden sich nach dem Abgang der Babyboomer schonungslos zeigen.
Das deutsche Bildungssystem zeichnet sich dadurch aus, dass es gleichzeitig eine schlechte durchschnittliche Leistungsfähigkeit der Schüler, schlechte Spitzenleistungen und eine besonders ungerechte Verteilung der Bildungschancen erreicht. Das erscheint auf den ersten Blick als eine kaum vereinbare Kombination von Niederlagen. Denn verständlich wäre doch eine schlechte Leistung für die Elite der Schüler bei hoher Gleichheit der Ergebnisse aller – oder das Umgekehrte, gute Spitzenleistung und wenig Gleichheit. Immer wieder ist ja zu hören, dass sich Gleichheit und Leistung ausschlössen, was nicht nur im Bereich der Bildung zwar plausibel, jedoch falsch ist. Wie schafft es unser Bildungssystem, gleichzeitig ungleich, ungerecht und leistungsfeindlich zu sein?
Abb. 1: Unser Bildungssystem versagt oben und unten zugleich. So haben wir im Vergleich ausgewählter PISA-Länder die meisten schlechten und die wenigsten sehr guten Leser.
Nun, das Bildungssystem fängt leider früh mit seiner Arbeit an. Die wichtigsten Schäden werden bereits lange vor der Einschulung verursacht, weil hier die Jahre der Kinder verschwendet werden, in denen eine gute Vorbereitung auf die Schule die Nachteile ungünstiger familiärer Verhältnisse noch ausgleichen könnte. Denn die Intelligenz eines Menschen hängt neben seinen Genen besonders stark von der Förderung in den ersten Lebensjahren ab.
Werden Kinder in den ersten Jahren nicht ausreichend gefördert, dann erreichen sie auf dem nicht geförderten Gebiet nie wieder die gleiche Leistungsfähigkeit wie andere Kinder. Sogar im Alter ist man stärker vor Demenz geschützt, wenn man in der Kindheit besonders viel und früh gelernt hat. Das Gehirn gleicht in dieser Hinsicht einem Computer, dessen Betriebssystem nur in den ersten Monaten durch intensive Nutzung voll brauchbar gemacht werden kann. Wird es in dieser Zeit wenig beansprucht, laufen danach alle Anwendungsprogramme etwas langsamer, und der Rechner geht früher kaputt.
Natürlich gibt es große Unterschiede in der Intelligenz von Mensch zu Mensch, und diese lassen sich auch durch eine optimale Förderung der Kinder in den frühesten Lebensphasen nicht ausgleichen. Daneben gibt es Menschen, die von Natur aus so intelligent sind, dass sie selbst ohne Förderung weit über jedes Mittelmaß hinauswachsen.
Trotzdem bleibt die Regel interessanter und wichtiger als die Ausnahme. Die Regel ist, dass die nicht geförderten Kinder als Erwachsene weniger intelligent, lernfähig, lernwillig und gebildet sind. Dabei verstärken sich die Defizite gegenseitig. Ein Mangel an Intelligenz und geringe Lernfähigkeit können dazu beitragen, dass das Kind in der Folge auch weniger lernwillig ist, was wiederum die noch mögliche erreichbare Lernfähigkeit beeinträchtigt.
In der Praxis bedeutet dies, dass die Schule die Unterschiede in der Lernfähigkeit der Kinder nicht mehr abbauen kann, sondern nur noch verstärkt. Die Kinder, die in der Phase vor der Einschulung besser gefördert wurden, können in der Schulzeit ihren Vorsprung ausbauen. Andere, nicht minder intelligente Kinder kommen oft bereits mit Defiziten in die Schule.
So verfügt ein erheblicher Teil der Abc-Schützen nicht über ausreichende Sprachkenntnisse. Dabei handelt es sich keineswegs nur um Kinder mit Migrationshintergrund. In Berlin wurde 2006 jedem neunten einzuschulenden «Kind deutscher Herkunftssprache» eine mangelnde Sprachfähigkeit attestiert.13 Der Sprachförderungsbedarf für Deutsch ist selbst in der Gruppe der Kinder aus deutschsprachigen Familien, die keinen Kindergarten besuchten, mit 28,6 Prozent wesentlich höher als unter den deutschsprachigen Kindergartenkindern mit 10,6 Prozent. Weitere Untersuchungen ganzer Altersjahrgänge wie beispielsweise in Bielefeld, Mannheim oder Recklinghausen bestätigen, dass etwa 25 bis 30 Prozent der Kinder eines Jahrgangs Sprachentwicklungsauffälligkeiten haben.14 Die ausschlaggebende Sprachförderung im Kleinkindalter wurde verpasst. Das deutsche Bildungssystem versagt auf einzigartige Weise in der entscheidenden Lebensphase der Kinder.
Wo soll die Frühförderung stattfinden? In der dafür optimal geeigneten Altersgruppe der Null- bis Dreijährigen gibt es im Osten Deutschlands für 37 Prozent der Kinder einen Platz in einer Kindertagesstätte, im Westen nur für 2,7 Prozent.15 Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Weil die wenigen Plätze umkämpft und nicht billig sind, haben Kinder von Wenigbegüterten, Arbeitslosen oder Familien, bei denen ein Elternteil zu Hause ist, oft keine Chance auf eine Aufnahme, selbst wenn dies unter kulturellen und sprachlichen Gesichtspunkten nötig wäre.
Für drei- bis sechsjährige Kinder gibt es statt einer qualitativ hochwertigen, verpflichtenden Vorschule mit erstklassigen Bildungskonzepten für alle in Deutschland nur die zu spät einsetzenden Kindergärten, die in vielen Fällen weit unter ihren Fördermöglichkeiten bleiben. Sie sind im internationalen Vergleich unterfinanziert. Häufig werden sie von unzureichend qualifizierten Betreuerinnen geleitet und ohne wissenschaftlich abgesicherte Bildungskonzepte sich selbst überlassen. Sie schaffen es nicht, die Lernfähigkeit mit gezielten Ansätzen zu fördern, und bieten zu wenige Unterrichtsstunden.16
Die Mär von den guten Arbeitsplätzen in Kindergärten für nicht so gut ausgebildete Frauen ist nicht totzukriegen. Immer wieder hört man, dass einzig die warmherzige Persönlichkeit der Erzieherin ausschlaggebend für ihren Erfolg sei, ihre Ausbildung hingegen eher hinderlich. Dieser Gegensatz ist unsinnig. Fachkräfte mit einem höheren Bildungsabschluss und einer längeren Ausbildung verhalten sich Kindern gegenüber angemessener. Studien zeigen, dass sie mehr Wahlmöglichkeiten anbieten, die Kinder positiv bestärken und ihnen mehr Freiräume lassen. Fachkräfte mit kürzeren Ausbildungszeiten geben eher Anweisungen, kontrollieren die Kinder, schränken sie ein und bestrafen sie. Die so betreuten Kinder schneiden in ihren sozialen und kognitiven Fähigkeiten schlechter ab.17
Während in skandinavischen Ländern studierte Erzieherinnen selbstverständlich zum Einsatz kommen, wehren sich in Deutschland die Arbeitgeber und auch die Arbeitnehmer gegen eine Akademisierung dieses Bereichs. So gibt es kaum Anforderungen an die Ausbildung derer, die unsere Kinder in der wichtigsten Phase ihres Lebens fördern sollen. Das steht im krassen Widerspruch zur teilweise unerträglichen Rhetorik von Kindern als dem «wertvollsten Rohstoff» unseres Landes.
Dabei sind die Argumente gegen die Akademisierung grotesk. Die Kommunen wollen mit billigeren Kräften das Geld sparen, womit sie dann kurze Zeit später die Schulabbrecher unterstützen müssen. Und die Gewerkschaften fürchten, dass einer der wenigen attraktiven Berufe für Frauen ohne Studium verloren gehen könnte, womit sie die Chancen der Frauen nachfolgender Generationen auf ein Studium aber verspielen. Die Kultusministerkonferenz feiert die Einigung auf gemeinsame Lernziele. Dieser Minischritt in die richtige Richtung ändert leider nichts an der Tatsache, dass es weder einen Plan noch eine geklärte Zuständigkeit, noch eine gesicherte Finanzierung dafür gibt, solche Ziele zu erreichen.
Abb. 2: Wir haben kaum Anforderungen an die Personen, die unsere Kinder in den entscheidenden Jahren ihres Lebens betreuen.
Ein viel größerer Schritt in die falsche Richtung war es, den Ländern im Zuge der Föderalismusreform im Jahr 2006 die alleinige politische Zuständigkeit für den vorschulischen Bereich zu übertragen. Ironischerweise geschah dies just zu dem Zeitpunkt, als auch den Letzten klarwurde, wie notwendig eine nationale Initiative zur Verbesserung der vorschulischen Bildung in Deutschland wäre. Die Länder beanspruchen die Hoheit über die komplette Bildungspolitik, weil dies einer der wenigen Gestaltungsbereiche von Länderpolitik überhaupt ist. Es bleibt eine Tatsache, dass in keinem Bereich für die nächsten Generationen ein ähnlich großer Schaden entsteht wie hier.
Nur 8,6 Prozent der Unter-Dreijährigen haben in Deutschland Zugang zu einer Kindertagesstätte. Damit ist unser Land Schlusslicht. In Schweden stehen für 66 Prozent der Kinder dieser Altersgruppe Betreuungsangebote zur Verfügung, in Finnland für 36 Prozent und in den Niederlanden für 29 Prozent. Eine Qualitätsvorschule wie in Finnland fehlt vollständig.18 Der Kindergarten wird zwar von 92 Prozent aller Kinder besucht, als Ganztagsangebot gibt es ihn jedoch nur für 36 Prozent von ihnen.19 Verpflichtend ist sein Besuch nicht, dabei würde allein das uns helfen. Einer Berliner Studie zufolge sprachen nur 47 Prozent der Kindergartenkinder, die nicht mit Deutsch als Muttersprache aufwuchsen, bei der Einschulung ausreichend gut Deutsch, während es unter den fremdsprachigen Kindern, die zu Hause betreut wurden, sogar nur 28 Prozent waren.20 Trotzdem ist es eine Katastrophe, dass 53 Prozent der Kinder nichtdeutscher Muttersprache trotz Kindergartenbesuch einen Förderbedarf haben. Damit sind viele Kinder schon abgehängt und chancenlos, wenn sie in die Schule kommen.
Wenn es an Kindertagesstätten, Vorschulen und anderen Fördermöglichkeiten fehlt, schadet es denjenigen Kindern am stärksten, deren Eltern das Versagen des Systems am wenigsten kompensieren können. Die Kinder aus den bildungsfernen Familien und mit Migrationshintergrund sind im wahrsten Sinne des Wortes geborene Verlierer. Sie liegen bereits bei der Einschulung so stark zurück, dass sie diesen Rückstand in der Regel bis zum Ende der Schulzeit nicht mehr aufholen können. Im Gegenteil verstärkt das deutsche Schulsystem den Abstand sogar, wie noch ausgeführt wird.
Alle internationalen Erfahrungen und die wissenschaftlichen Auswertungen der PISA-Studien zeigen, dass gerade die späteren Bildungsergebnisse von Kindern aus Arbeiterfamilien und von Kindern mit Eltern aus einem anderen kulturellen und sprachlichen Umfeld in besonderer Weise von der vorschulischen Förderung abhängen. Wo diese gelingt, wie etwa in Finnland, Schweden oder Kanada, unterscheiden sich die kognitiven Fähigkeiten von Kindern aus Arbeiterfamilien kaum von den Fähigkeiten ihrer Altersgenossen mit akademischem Familienhintergrund.
In Schweden werden die Kinder von Arbeitern fast genauso häufig Akademiker wie die Kinder von Akademikern. Dies überrascht zunächst, weil doch denkbar wäre, dass beispielsweise die Kinder von Ärzten über eine höhere genetische Intelligenz als die Arbeiterkinder verfügten. Weil niemand die Intelligenzunterschiede zwischen Ärzten und Arbeitern leugnen kann, geht man davon aus, dass auch die Kinder der Ärzte im Durchschnitt intelligenter sind. Dies erscheint zunächst plausibel, ist aber falsch.
Zwar ist ein Teil der Intelligenz eines jeden einzelnen Menschen erblich, aber Intelligenz vererbt sich nicht wie ein einzelnes Merkmal von den Eltern auf die Kinder, sondern eher wie ein Bündel von Intelligenzmöglichkeiten. Deshalb sind bei gleicher Förderung die Kinder der Arbeiter im Durchschnitt nicht dümmer als die Kinder der Akademiker, obwohl es von Kind zu Kind natürlich sehr große genetische Unterschiede gibt.21 Das erklärt, weshalb in den skandinavischen Ländern grundsätzlich die Kinder der Akademiker nicht wesentlich häufiger studieren als die Kinder aus Arbeiterfamilien. Werden die Kinder der Arbeiter aber schlechter gefördert als die Kinder der Akademiker, zeigen sich bereits zum Zeitpunkt der Einschulung sehr große Unterschiede. Das ist die Situation in Deutschland.
Weil in Deutschland ein gutes Angebot des Staates für die gezielte Förderung benachteiligter Kinder fehlt, hängt alles davon ab, was die Eltern den Kindern bieten können. Dabei geht es nicht nur um privaten frühen Förderunterricht in guten Kindertagesstätten oder privaten Kindergärten, sondern mehr noch um den Einfluss der Eltern selber. Je besser etwa die sprachlichen Fähigkeiten der Eltern sind, je ausgiebiger sie sich differenziert mit dem Kind unterhalten, je mehr sie ihm erklären, desto besser steht es um die Lernfähigkeit des Kindes, wenn es in die Schule kommt. All dies können Eltern aus bildungsfernen Schichten nicht bieten. Hier sind staatliche oder private Einrichtungen gefragt.
Die eigentliche Vererbung der Leistungsunterschiede zwischen den Klassen in Deutschland wird daher nicht von den Genen der Eltern getragen, sondern von den Eltern selbst. Es kommt darauf an, ob und wie weit sie ihre Kinder fördern können und wollen. In dem Ausmaß, in dem der Staat diese klassenbezogenen Unterschiede in der Förderung akzeptiert oder sogar seinerseits befördert, ist er ein Zweiklassenstaat, und in diesem Sinne ist Deutschland im Bildungsbereich ein klassischer Zweiklassenstaat.
Verteidiger unseres Systems weisen diesen Vorwurf zurück, da es eben nicht der Staat sei, der die Kinder vernachlässige, sondern die Eltern selbst. Da taucht das Klischee der Hartz-IV-Empfängerin auf, die mit der Chipstüte in der Hand vor dem Fernseher hockt und das schreiende Kind ignoriert. Von Mangel an Verantwortung ist die Rede. Aber das kann nicht davon ablenken, dass der Staat die Aufgabe hat, das vernachlässigte Kind zu schützen und zu fördern, egal, was die Mutter (oder der Vater) denkt oder will. Wahrscheinlich haben die Eltern keine Ahnung, wie stark sie ihrem Kind gerade schaden. Vielleicht sind sie selbst bereits Opfer des gleichen Systems gewesen. Vielleicht ist es ihnen tatsächlich egal.