Mord an der Mauer
Der Fall Peter Fechter
Mit einem Geleitwort von Klaus Wowereit
Herausgegeben von Thomas Schmid
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
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Umschlaggestaltung und Satz: Kristina Kienast, Berlin
Umschlagfoto: ullstein bild/TopFoto
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ISBN 978-3-8387-2053-1
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… er wollte nur die Freiheit.
Die Berliner Mauer war Schauplatz dramatischer Szenen. Aber kaum eine hat die Öffentlichkeit so bewegt wie das langsame Sterben des 18-jährigen Maurergesellen Peter Fechter am 17. August 1962 im Todesstreifen. Es geschah mitten in Berlin und vor aller Augen.
Der Tod von Peter Fechter war ein Fanal für die Solidarität und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Berlinerinnen und Berliner. Sein »öffentliches Sterben« durch die von DDR-Grenzern abgegebenen Schüsse bedeutete eine schier unerträgliche Provokation nicht nur für die zahlreichen Augenzeugen, sondern auch für die politisch Verantwortlichen auf Seiten des Senats von Berlin wie der US-Schutzmacht.
Wut und Empörung der Menschen in West-Berlin richteten sich gegen ein Unrechtsregime, dem jedes Mittel recht war, um seiner Bevölkerung elementarste Freiheitsrechte zu verweigern. Wie schon beim Bau der Mauer fühlten sich die Menschen hilflos. Seit dem 13. August 1961 waren die Einflusssphären der beiden Blöcke festgezurrt, und keine Seite wagte, die labile politische Balance zu gefährden.
Der Fall fand im Westen ein enormes öffentliches Echo. Die Zeitungen druckten Bilder des Sterbenden und berichteten ausführlich über den Vorfall. Das Foto von Wolfgang Bera mit den vier DDR-Polizisten, die den leblosen Peter Fechter wegtragen, ging um die Welt und hat sich tief in die kollektive Erinnerung eingegraben. Das amerikanische Time Magazine prägte in seiner Ausgabe vom 31. August 1962 einen Begriff, der fortan zum Synonym für die Berliner Mauer wurde: »Wall of Shame«.
Nichts zeigt den Charakter dieses schändlichen Bauwerks deutlicher, als die Ereignisse des 17. August 1962. Alljährlich am 13. August erinnert das Land Berlin mit einer Kranzniederlegung am Mahnmal für Peter Fechter an dessen Fluchtversuch und Tod. Die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße dokumentiert ausführlich den Fall Peter Fechter und setzt ihn in einen engen Bezug zur Geschichte der Berliner Mauer, zum Grenzregime und zur SED-Diktatur insgesamt.
Peter Fechters Tod berührt die Menschen bis heute. Und mahnt uns sowie kommende Generationen, dass in Deutschland nie wieder Diktatur und Unterdrückung herrschen dürfen. Zugleich denken wir mit Dankbarkeit an die Frauen und Männer der DDR-Opposition, die erfolgreich für die friedliche Revolution gekämpft haben, durch die der SED-Staat letztlich untergegangen ist und die Vereinigung möglich wurde.
Klaus Wowereit
Regierender Bürgermeister von Berlin
Schlagartig steht das Leben still in Berlin. Genau um zwölf Uhr beginnt am Montag, dem 13. August 1962, eine dreiminütige obligatorische Verkehrs- und Arbeitsruhe. Genauer: im amerikanischen, britischen und französischen Sektor der geteilten Stadt. Der Senat hat einige Tage zuvor beschlossen, dass alle Autos, Busse und Lastwagen anhalten sollen, wenn die Glocken der Kirchtürme zu läuten beginnen. Auch Busse und U-Bahnen bleiben stehen, der Fahrplan der staatlichen Berliner Verkehrsbetriebe ist unterbrochen. Privaten Unternehmen kann die Stadtregierung zwar keine Vorschriften machen, doch sträubt sich keine einzige Firma gegen die kurze Unterbrechung der Arbeit vor der Mittagspause.
Wo es keine Kirchen gibt, die das Signal geben könnten, hat die West-Berliner Polizei Lautsprecherwagen auffahren lassen, die das Geläut der Freiheitsglocke vom Schöneberger Rathaus übertragen. Sie erinnert daran, dass 17 Millionen Deutschen ein zentrales Menschenrecht vorenthalten wird: ihr Leben selbstbestimmt und in Freiheit gestalten zu können. Genau 365 Tage nach der Sperrung der innerstädtischen Grenze protestiert West-Berlin damit gegen den Todesstreifen, der die Massenflucht von Ost nach West beendet und schon 26 Todesopfer gefordert hat. Die meisten von ihnen waren DDR-Bürger, die bei Fluchtversuchen erschossen worden, ertrunken oder abgestürzt sind. Aber auch drei West-Berliner Fluchthelfer haben seit dem 13. August 1961 an der Mauer das Leben verloren, außerdem drei DDR-Wachposten.
An der bekanntesten Kreuzung der West-Berliner Innenstadt, Joachimstaler Straße/Ecke Kurfürstendamm, schaltet der Verkehrspolizist in seiner erhöhten Glaskanzel die Ampeln auf Gelb, als die Glocken der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu läuten beginnen. Nicht nur Fahrzeuge halten wie auf Befehl an, ebenso bleiben bummelnde Fußgänger stehen, Radfahrer steigen ab. In den Cafés auf dem Boulevard erheben sich die Besucher von ihren Stühlen. Auf den vielen Baustellen unterbrechen die Arbeiter ihre Tätigkeit, treten an den Rand ihrer Gerüste und schweigen drei Minuten lang. Auch in den Büros herrscht Arbeitsruhe; die Angestellten stehen an den offenen Fenstern und sehen zu, wie der Alltag stillsteht. Die Zugführer der S-Bahnen allerdings sind angewiesen, trotz der angeordneten Verkehrspause auch auf West-Berliner Gebiet weiterzufahren. Schließlich wird dieses Verkehrsmittel von der Reichsbahnverwaltung in Ost-Berlin aus betrieben, untersteht also nicht dem West-Berliner Senat. Jedoch ziehen, als die Kirchenglocken zu schlagen beginnen, Fahrgäste in sieben S-Bahn-Zügen auf West-Berliner Gebiet die Notbremsen. Die in einigen Wagen mitfahrenden DDR-Transportpolizisten greifen nicht ein und nehmen niemanden fest, denn auch die SED hat kein Interesse an einer Konfrontation auf West-Berliner Gebiet ausgerechnet am 13. August. Als am Rathaus Schöneberg die Freiheitsglocke ausklingt, erhebt der Regierende Bürgermeister Willy Brandt seine Stimme für eine kurze Ansprache: »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! In diesen Minuten gedenken wir alle des bitteren Unrechts, das unserer Stadt Berlin, der deutschen Hauptstadt, zugefügt worden ist. Wir denken an unsere Verwandten und Freunde, an unsere Landsleute, die durch brutale Gewalt von uns getrennt sind. Und wir ehren die Opfer dieser Mauer. Aber dies kann nicht allein ein Tag des Gedenkens, es muss auch ein Tag aufrüttelnder Mahnung sein.« Brandt schließt seine Rede, eine von drei Ansprachen, die er an diesem Tag hält, mit den Worten: »Gemeinsam mit allen Menschen guten Willens leben wir jenem Tag entgegen, von dem unsere Freiheitsglocke kündet.«
Als die drei Minuten Schweigen und Verkehrsruhe zu Ende gehen, beginnen überall in der Stadt zuerst einzelne Fahrer, dann ganze Autopulks kollektiv zu hupen. Die Ampeln schalten auf Normalbetrieb, und unter ohrenbetäubendem Lärm setzen sich die Fahrzeuge in Bewegung. Bald normalisiert sich der Verkehr in der West-Berliner Innenstadt, in den Büros und Fabriken nehmen die Angestellten ihre Arbeit wieder auf, ebenso auf den Baustellen. Überall dort, wo man den Todesstreifen aus groben Betonsteinen und Stacheldrahtzäunen nicht sieht, geht das Leben in der eingeschlossenen Teilstadt fast so weiter, als gäbe es die Mauer gar nicht.
Entlang der innerstädtischen Grenze selbst sieht es freilich den ganzen Tag über anders aus. Auf Ost-Berliner Seite haben sich an Dutzenden Stellen, von denen aus man trotz verrammelter Straßen und hoher Sichtblenden wenigstens einen Blick über die Mauer werfen kann, mutige Menschen versammelt. An den von der Mauer unterbrochenen Querstraßen der Bernauer Straße und der Zimmerstraße bilden sich kleine Gruppen, ebenso an den meisten Grenzübergängen. Insgesamt sind es mehrere Hundert, wahrscheinlich sogar mehrere Tausend DDR-Bürger, die an diesem warmen Sommertag ihrem Protest gegen die Teilung der Stadt mit einem kurzen Aufenthalt in der Nähe des Sperrgebiets Ausdruck verleihen. Doch können sie nichts weiter tun, als schweigend zu verharren. Nicht einmal zu winken ist ihnen möglich, denn die Grenztruppen der SED haben an vielen Stellen zusätzliche Uniformierte aufmarschieren lassen. Sie sollen DDR-Bürger festnehmen, die »unerlaubte Zeichen« über die Mauer hinweg in den Westen schicken.
Und ein Zeichen würden viele Ost-Berliner gern senden, können sie sich doch auch nach einem Jahr nicht mit der Situation abfinden. Viele sind durch den Mauerbau nicht nur von Verwandten und Freunden getrennt, sondern haben auch ihre Arbeit oder ihren Ausbildungsplatz im Westen verloren und sind gezwungen, sich neu zurechtzufinden in ihrem stark beschnittenen Leben. Nicht selten haben sie Arbeitsstellen erhalten, die unter ihrer Qualifikation liegen, von der schlechteren Bezahlung ganz zu schweigen. Manche suchen weiter verzweifelt nach Fluchtmöglichkeiten, weil sie im SED-Staat nicht leben wollen; andere haben entschieden, sich auf das Regime einzulassen und sich anzupassen. Angesichts des Unruhepotenzials hat auch das Ministerium für Staatssicherheit zusätzliche Mitarbeiter aufgeboten, um am Jahrestag des Mauerbaus »Grenzprovokationen« zu verhindern, wie es im Maßnahmenplan der zuständigen Hauptabteilung I heißt. Die massive Präsenz wirkt abschreckend: Insgesamt registrieren Stasi und Volkspolizei am 13. August nur elf Fälle von »staatsgefährdender Hetze«, darunter eine sechs Meter lange »Hetzlosung« an der Mauer zu einem S-Bahn-Gelände im Bezirk Lichtenberg, die sich »gegen den Vorsitzenden des Staatsrates« Walter Ulbricht richtet, und vier Flugblätter. Ein 29-Jähriger wird festgenommen, der einen Volkspolizisten »mit staatsverleumderischen Äußerungen beschimpft« hat. Angesichts der demonstrativen Anwesenheit zahlreicher DDR-Uniformierter bleibt den Menschen auf östlicher Seite der Mauer nur, hilflos den wütenden Rufen zuzuhören, die aus dem freien Teil Berlins herüberschallen.
Den »antifaschistischen Schutzwall« entlang haben sich dort zahlreiche DDR-Gegner versammelt. Insgesamt 85 Fälle »gegnerischer Tätigkeit« auf West-Berliner Seite vermerkt die Volkspolizei in ihrem minutiösen Bericht. Dazu gehören Kranzniederlegungen westlicher Politiker an Mahnmalen für Maueropfer, kleine und größere Demonstrationen, Sprechchöre gegen Ulbricht und laute Aufforderungen an die DDR-Posten, zu desertieren. Einzelne Steine werden über die Mauer geworfen, mindestens zweimal fallen Schüsse aus Luftgewehren. Diese und andere gewaltsame Proteste aber unterbindet die West-Berliner Polizei rasch. Die Beamten sollen, so der klare Auftrag von Innensenator Heinrich Albertz, Eskalationen unbedingt vermeiden.
Zu den meist jungen Männern, die ihren Abscheu über das SED-Regime und seine mörderischen Grenzanlagen herausschreien, gehört auch der 20-jährige Dieter Beilig aus Kreuzberg. Schon seit fast einem Jahr protestiert der Hilfsarbeiter der Bundesdruckerei mit immer neuen Aktionen gegen die Teilung der Stadt. So hat er im Oktober 1961 an der Spree ein Mahnkreuz für einen bei der Flucht ertrunkenen DDR-Bürger aufgestellt. Im Mai und Juni 1962 baut er dann insgesamt sieben Bomben mit selbst gemischtem Schwarzpulver, die er an der Niederkirchnerstraße gegenüber dem Haus der Ministerien der DDR zündet. Allerdings explodieren die Ladungen nicht, sondern brennen lediglich mit einer Stichflamme und viel Rauch ab. Beim letzten derartigen Anschlag überraschen West-Berliner Polizisten Beilig; er wird festgenommen, verwarnt und unter Meldeauflagen wieder freigelassen.
Für den ersten Jahrestag des Mauerbaus hat sich Beilig eine spektakuläre, aber friedliche Aktion vorgenommen: Bei einem Schreiner hat er Latten gekauft, die er zu einem drei Meter langen Kreuz zusammenfügt, das er dunkel beizt und in Weiß mit den Worten »Wir klagen an« beschriftet. Am Jahrestag des Mauerbaus läuft er mit diesem Kreuz vom Brandenburger Tor aus entlang der Mauer Richtung Kreuzberg; zeitweise führt er eine größere Demonstration von DDR-Gegnern an. An der Kreuzung Niederkirchner-/Wilhelmstraße wagt er sich über die offizielle Sektorengrenze und geht direkt bis an die grob gefügte Mauer, die gut zwei Meter zurückgesetzt auf Ost-Berliner Seite steht. Beilig stemmt das schwarze Kreuz über den Stacheldraht empor, unterstützt von zwei anderen jungen Männern. Die DDR-Grenzposten fühlen sich provoziert und fordern einen Wasserwerfer an, der die drei Mauergegner vom DDR-Gebiet vertreiben soll. Fotografen halten die Konfrontation der kleinen Protestgruppe und des panzerartigen Wasserwerfers in eindrucksvollen Bildern fest. Wenig später schreiten West-Berliner Polizisten ein, lösen den Demonstrationszug auf und nehmen Beilig sein Holzkreuz ab. Weisungsgemäß wollen sie so die Situation beruhigen.
Über den Sender Freies Berlin (SFB) und den Rias (Rundfunk im amerikanischen Sektor) erreichen Berichte über diese Aktion und andere Proteste gegen die Mauer im Westteil den Ostsektor Berlins – da mögen die SED-Zeitung Neues Deutschland und die anderen parteitreuen Blätter noch so laut jubeln über die angebliche »Rettung des Friedens« durch die DDR ein Jahr zuvor.
Der Maurergeselle Peter Fechter und der Betonbauer Helmut Kulbeik jedenfalls sind alles andere als stolz auf den Mauerbau. Und so haben sie sich vorgenommen, den »Arbeiter-und-Bauernstaat« auf jeden Fall zu verlassen. Beide sind fast gleichaltrig, achtzehneinhalb Jahre, und arbeiten nach der Lehre seit Januar 1962 auf der Baustelle des früheren Kaiser-Wilhelm-Palais Unter den Linden, das als Institutsgebäude für die Humboldt-Universität wiederaufgebaut wird. Schon seit einigen Wochen spielen Kulbeik und Fechter mit dem Gedanken, gemeinsam die Flucht aus Ost- nach West-Berlin zu wagen. Sie wissen, dass an der Grenze auf Fluchtwillige geschossen wird, sie dabei getroffen und getötet werden können. Doch seit Mitte Juni 1962 Peter Fechters Antrag abgelehnt worden ist, zu seiner in West-Berlin lebenden älteren Schwester Lieselotte reisen zu dürfen, die er mit seinen Eltern vor dem Mauerbau regelmäßig besucht hat, ist er entschlossen, die SED-Diktatur zu verlassen. Die Ablehnung hat ihn umso mehr getroffen, als sein Produktionsleiter der Kaderabteilung gegenüber seine Leistung und Einstellung ausdrücklich gelobt hatte.
Seine Familie informiert er über sein Vorhaben nicht, im Gegenteil: An Lieselotte, die fast zehn Jahre älter ist, hat er im Mai 1962 noch geschrieben, er habe ein Mädchen kennengelernt, mit dem er sich verloben wolle. Auch Helmut Kulbeik spricht weder mit Vater noch Mutter, selbst seine ältere Schwester Renate weiht er nicht ein.
Beide Freunde stammen aus Arbeiterfamilien. Peter Fechters Vater Heinrich, ein Maschinenbauer, steht der DDR laut Stasi »ablehnend« gegenüber, während seine Mutter Margarete, die ein staatliches Uhrengeschäft leitet, wenigstens »nach außen hin fortschrittlich auftritt«. Die Fechters leben in der Weißenseer Behaimstraße 11 in einer Wohnung mit zweieinhalb Zimmern, der Eingang des graubraunen vierstöckigen Hauses führt auf den Hinterhof. Die beengte Wohnung teilen sich die Eltern Fechter mit Peter, ihrer jüngsten Tochter Ruth und der siebenjährigen Enkelin Jutta, der Tochter von Lieselotte, die 1956 nach West-Berlin geflohen ist und Jutta zurückgelassen hat. Margarete Fechter adoptierte ihr Enkelkind; zeitweise teilt sich Jutta ein Zimmer mit Peter, der sich um sie kümmert. Als Onkel verwöhnt und tröstet er sie, wenn die Großeltern mal zu streng sind. Peter versteht sich auch gut mit seiner älteren Schwester Gisela, die 1960 nach ihrer Hochzeit ausgezogen ist und inzwischen einen kleinen Sohn hat. Manchmal kommt Peter spontan vorbei, um nach seinem Neffen zu sehen. Die Familie ist ihm wichtig.
Bei Familienfeiern geht es ausgelassen und fröhlich zu. Geburtstage werden mit der Verwandtschaft beinahe wie Hochzeiten gefeiert, mit Akkordeon und Gesang, auch Peter singt mit. Seine Familie erlebt ihn aufgeschlossen und liebevoll, er bereitet ihnen keine Sorgen. Peter wirkt nach außen ruhig, fast schüchtern. Im Wohnblock hat er kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Manchmal zieht er mit seinem Cousin Jürgen Remmert los, der ein paar Jahre älter ist. Vor dem Mauerbau sind sie auch nach West-Berlin gefahren, vor allem um ins Kino zu gehen. Doch wenn Remmert und seine Freunde mit dem Kofferradio auf der Straße Westmusik hören, ist Peter selten dabei. Dafür ist er nicht der Typ.
Auf der Baustelle sind die Kollegen zufrieden mit seiner Arbeit. Peter ist fleißig und nie schludrig. Er wünscht sich, irgendwann ein Studium zum Bauingenieur anzuschließen – am liebsten möchte er Kirchen und andere historische Bauten rekonstruieren; manchmal träumt er sogar von Amerika.
Mit Helmut Kulbeik versteht er sich gut. Der Kollege wohnt in der Schreinerstraße 19 in Friedrichshain, ebenfalls noch bei den Eltern. Vater Fritz Kulbeik arbeitet als Werkzeugmacher, Mutter Frieda ist Hausfrau. Peter und Helmut verbringen die Freizeit miteinander, während der Kontakt zu den anderen Kollegen eher lose bleibt. An den Wochenenden gehen sie tanzen oder fahren Kanu. Der Eindruck einer unbeschwerten Jugend indes trügt. Auch Helmut Kulbeik fühlt sich drangsaliert im SED-Staat. Wie Peter ist er seit dem Mauerbau von Verwandten in West-Berlin getrennt, seine Großmutter und eine Tante leben dort. Zudem hat die Familie, seit er als 14-Jähriger konfirmiert worden ist, gelegentlich Hausbesuch von Parteifunktionären bekommen. Sie wollen Helmut überreden, doch noch an der staatlichen Jugendweihe teilzunehmen. Der aber hat keine Neigung, sich ständig betrieblich, gesellschaftlich und sogar in seiner Freizeit einzugliedern und anzupassen, er will einfach nur frei sein. Und auf keinen Fall zur Armee. So wächst trotz des Risikos die Bereitschaft, einen Fluchtversuch zu wagen.