Ein großes Dankeschön geht an die folgenden Personen, die entweder wissentlich oder unwissentlich zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben:
An Alicia Gates dafür, dass sie mich auf eine wundersame Reise in die Unterwelt mitgenommen hat.
An Daniel und Emily in Taos für ihre Bereitschaft, ihre Geschichten mit mir zu teilen und mir einen Einblick in ihr Leben zu gewähren.
An Javin in Santa Fe, der sich trotz seines vollen Terminkalenders die Zeit nahm, mit mir über das Leben im Reservat zu sprechen.
An die netten und großzügigen Mitarbeiter des sagenhaften Inn of the Five Graces – wenn ich dort leben könnte, ich würde es tun!
An Mary Castillo für ihre Freundschaft, ihren Witz und das Buch über die Curanderos, mexikanische Heiler und Schamanen.
An Marlene Perez, Debbie Garfinkle und Stacia Deutsch – begabte Autorinnen und gute Freundinnen. Unsere »Kaffeeklatschgespräche« bedeuten mir mehr, als Ihr denkt!
An die sagenhaften Leute von St. Martin’s Press, unter ihnen, aber nicht nur an Matthew Shear, Rose Hilliard, Anne-Marie Talberg, Rachel Ekstrom, Elsie Lyons und alle anderen, die dazu beitragen, aus meinen Manuskripten Bücher zu machen.
An meinen wunderbaren Agenten Bill Contardi und meine wunderbare Agentin für Auslandsrechte Marianne Merola – Ihr seid spitze!
An meinen Mann Sandy für so ziemlich alles.
An meine Familie – Ihr wisst, wer gemeint ist, und Ihr seid super!
Und an letzter Stelle, aber nicht minder herzlich, an meine Leserinnen und Leser – danke, dass Ihr mir erlaubt, diesen herrlichen Traum zu leben!
Als Erstes kamen die Krähen.
Ein ganzer Schwarm.
Ihre schwarzen, geschmeidigen Leiber umkreisten in strenger Formation den Friedhof, die dunkel glänzenden Augen wachsam und unermüdlich. Unbeirrt von der trockenen, brütenden Hitze und der sauerstoffarmen Luft – einer Folge der tobenden Feuersbrünste, die den Himmel blutrot aufflammen und heiße Aschewolken auf die Trauernden niederregnen ließen.
Wer mit solchen Dingen vertraut war, erkannte darin ein untrügliches Zeichen. Und Paloma Santos, die ganz sicher war, dass der plötzliche Tod ihres Sohnes kein Unfall gewesen war, sah die Krähen als das, was sie waren: nicht nur als böses Omen, sondern gewissermaßen als Zeichen, dass es einen Nachkommen gab und dieser sich sogar hier auf diesem Friedhof befand.
Ihre Vermutung wurde bestätigt, als sie den Arm tröstend um die gramerfüllte Freundin ihres Sohnes legte und das wachsende Leben in deren Körper spürte.
Die Letzte der Santos.
Eine Enkeltochter, deren Schicksal lange vorherbestimmt war.
Doch wenn die Krähen etwas ahnten, dann wussten vielleicht auch andere Bescheid. Jene, die nichts lieber täten, als das ungeborene Mädchen zu vernichten und sicherzustellen, dass es niemals die Möglichkeit bekäme, sein Geburtsrecht einzufordern.
Auf die Sicherheit ihrer Enkelin bedacht, verließ Paloma die Beerdigung, lange bevor die erste Hand voll Erde auf den Sarg geworfen wurde. Schwor sich, still und unsichtbar zu bleiben, bis zum sechzehnten Geburtstag des Mädchens, wenn es den Rat brauchen würde, den nur Paloma ihm geben konnte.
Sechzehn Jahre, um sich vorzubereiten.
Sechzehn Jahre, um ihre schwindenden Kräfte wiederherzustellen – das Vermächtnis am Leben zu erhalten –, bis es Zeit war, es weiterzureichen.
Sie hoffte, dass sie es schaffte – der Tod ihres Sohnes forderte einen Preis, der weit über Trauer hinausging.
Wenn es ihr nicht gelang zu überleben und ihre Enkelin rechtzeitig zu erreichen, würde das Leben des Mädchens ebenso tragisch und vorzeitig enden wie das seines Vaters. Dieses Risiko durfte sie nicht eingehen.
Es gab sonst niemanden, der die Nachfolge antreten konnte.
Zu viel stand auf dem Spiel.
Das ungeborene Kind hielt das Schicksal der ganzen Welt in seinen Händen.
Es gibt Momente im Leben, da kommt alles zum Stillstand.
Die Erde gerät ins Stocken, die Atmosphäre verdichtet sich, und die Zeit schrumpft zusammen.
Als ich die schmale Holztür des riad öffne, in dem Jennika und ich seit ein paar Wochen wohnen, und aus dem ruhigen, nach Rosen und Geißblatt duftenden Garten hinaus in das verschlungene Gassenlabyrinth der Medina trete, passiert es schon wieder.
Doch statt wie üblich gleichfalls in Reglosigkeit zu verfallen, lasse ich mich auf die Situation ein und beschließe, mich ein bisschen zu amüsieren. Auf meinem Weg vorbei an lachsfarbenen Hauswänden treffe ich auf einen kleinen, dünnen Mann, der beim Ausschreiten erstarrt ist, lege die Hand auf den weichen Baumwollstoff seiner gandora und drehe ihn behutsam im Kreis, bis er in die entgegengesetzte Richtung schaut. Nachdem ich einer räudigen schwarzen Katze ausgewichen bin, die mitten im Sprung in der Luft hängt, als würde sie fliegen, nehme ich mir kurz Zeit und ordne die glänzenden Messinglaternen neu, die von einem alten Mann feilgeboten werden, bevor ich am Stand daneben in ein Paar leuchtend blaue babouches schlüpfe, die mir so gut gefallen, dass ich meine alten Ledersandalen und einige zerknitterte Dirham-Scheine als Bezahlung zurücklasse.
Mittlerweile brennen mir die Augen, da ich sie krampfhaft offen halte, denn ich weiß, beim ersten Lidschlag wird der Mann in der gandora sich einen Schritt von seinem Ziel entfernt haben, die Katze wird an ihrem anvisierten Platz landen, die beiden Händler werden verwirrt auf ihre Waren schauen, und die Szenerie wird in ihr übliches geschäftiges Durcheinander zurückfallen.
Als ich jedoch die leuchtenden Gestalten erblicke, die am Rand lauern und mich wie immer aufmerksam beobachten, kneife ich schleunigst die Augen zu und blende sie aus, in der Hoffnung, dass sie wie sonst auch einfach verschwinden. Dorthin zurückkehren, wo auch immer sie hingehen, wenn sie mich nicht gerade anstarren.
Ich dachte immer, dass jeder solche Momente erlebt, bis ich mich Jennika anvertraute, die mir einen argwöhnischen Blick zuwarf und etwas von Jetlag murmelte.
Jennika schiebt alles auf den Jetlag und beharrt darauf, dass die Zeit für niemanden stillsteht – dass es unsere Aufgabe ist, mit ihrem hektischen Voranschreiten Schritt zu halten. Aber selbst damals wusste ich es besser – solange ich denken kann, habe ich Zeitzonen überquert, doch was ich gerade erlebt habe, hat nichts mit einem durcheinandergeratenen Biorhythmus zu tun.
Dennoch verkniff ich mir, es ein zweites Mal zur Sprache zu bringen. Ich wartete einfach ruhig und geduldig ab, in der Hoffnung, der Augenblick möge sich wiederholen.
Und das tat er.
Im Lauf der letzten paar Jahre wurden diese Momente allmählich häufiger, bis sie neuerdings, genauer gesagt, seit unserer Ankunft in Marokko, bis zu dreimal die Woche auftreten.
Ein Junge in meinem Alter läuft an mir vorbei, und beim Anblick seiner lüsternen Augen zupfe ich automatisch mein blaues Tuch zurecht, damit es mein Haar bedeckt, und gehe einen Schritt schneller. Mit dem festen Vorsatz, lange vor Vane einzutreffen und den Djemaa el Fna vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, biege ich um die Ecke und lande auf dem Platz, wo mir die erhoffte Reizüberflutung entgegenschwappt.
Auf einer langen Reihe von Grills brutzeln Ziegen, Tauben und andere, undefinierbare Tiere, deren gehäutete und glasierte Leiber sich auf Spießen drehen und die Luft mit würzigen Rauchwolken anreichern. Das hypnotisierende Flöten der greisenhaften Schlangenbeschwörer, die im Schneidersitz auf dicken Webteppichen hocken und ihre pungis spielen, während Kobras mit glasigen Augen vor ihnen aus Körben aufsteigen – all das vor dem eindringlichen Rhythmus der gnaouan-Trommeln, die allabendlich den faszinierenden Platz zu neuem Leben erwecken.
Ich atme tief ein, genieße die betörende Mischung aus exotischen Ölen und Jasmin, während ich das Ganze auf mich wirken lasse, in dem Bewusstsein, dass ich all dies nur noch wenige Male auf diese Weise sehen werde. Der Film ist bald abgedreht, und Jennika und ich machen uns wieder auf den Weg zu irgendeinem anderen Drehort, wo man ihre Dienste als preisgekrönte Visagistin benötigt. Wer weiß, ob wir jemals hierher zurückkehren werden?
Auf dem Weg zum ersten Essensstand, dem neben dem Schlangenbeschwörer, wo Vane auf mich wartet, gönne ich mir ein paar Sekunden, um das ärgerliche Schwächegefühl zu verscheuchen, das mich jedes Mal bei seinem Anblick überkommt – jedes Mal, wenn ich seine zerzausten blonden Haare sehe, die tiefblauen Augen und die sanft geschwungenen Lippen.
Blöde Kuh!, denke ich kopfschüttelnd. Idiotin!
Als ob ich es nicht besser wüsste. Als ob ich die Regeln nicht kennen würde.
Das Motto lautet: sich bloß nicht auf jemanden einlassen – sich bloß nicht hinreißen lassen, jemanden zu mögen, sondern nur ein bisschen Spaß haben und niemals zurückschauen, wenn es Zeit wird weiterzuziehen.
Wie all die anderen hübschen Gesichter vor ihm gehört auch Vanes Gesicht seinen Heerscharen von Fans. Nicht eines dieser Gesichter hat je zu mir gehört – und das wird sich auch nie ändern.
Da ich auf Filmsets groß geworden bin, seit ich alt genug war, dass Jennika mich im Tragegurt mitschleppen konnte, habe ich meine Rolle als Kind eines Teammitglieds schon unzählige Male gespielt: Mund halten, nicht im Weg stehen, helfen, wenn man darum gebeten wird, und die Beziehungen am Filmset niemals mit dem wirklichen Leben verwechseln.
Und weil ich schon von klein auf ständig mit Berühmtheiten zu tun habe, lasse ich mich nicht so leicht beeindrucken, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ich ihnen meist auf Anhieb sympathisch bin. Ich meine, obwohl ich nicht schlecht aussehe – ziemlich groß und schlank, langes, dunkles Haar, recht heller Teint und leuchtend grüne Augen, die vielen Leuten auffallen –, bin ich eher der durchschnittliche Mädchentyp. Abgesehen davon, dass ich nicht gleich ausflippe, wenn mir irgendwelche Berühmtheiten über den Weg laufen. Ich werde nicht rot oder stottere verunsichert herum. Und das ist so ungewohnt für sie, dass häufig sie auf die Idee kommen, hinter mir herzulaufen.
Meinen ersten Kuss bekam ich an einem Strand in Rio de Janeiro von einem Jungen, der gerade den »Best Kiss Award« von MTV bekommen hatte – offensichtlich hatte keine der Wählerinnen ihn tatsächlich geküsst. Mein zweiter war auf dem Pont Neuf in Paris mit einem Jungen, der es soeben aufs Titelblatt von Vanity Fair geschafft hatte. Und abgesehen davon, dass sie reicher, berühmter und von Paparazzi umlagert sind, unterscheidet sich ihr Leben nicht großartig von unserem.
Die meisten von ihnen sind Durchreisende – sie ziehen durchs Leben, genau wie ich. Wandern von einem Ort zum anderen, von einer Freundschaft oder Beziehung zur nächsten – es ist das einzige Leben, das ich kenne.
Es ist schwierig, dauerhafte Bindungen aufzubauen, wenn man als ständige Adresse nichts als einen zwanzig Zentimeter breiten Briefkasten in einer UPS-Filiale hat.
Doch während ich mich langsam zu ihm vorarbeite, stockt mir unwillkürlich der Atem, und die Schmetterlinge in meinem Bauch sind kaum noch zu beruhigen. Und als er sich herumdreht und mir jenes lässige, verträumte Lächeln schenkt, das ihn weltberühmt machen wird, mir in die Augen schaut und sagt: »Hey, Daire – alles Gute zum Sechzehnten«, muss ich an die Millionen von Mädchen denken, die alles darum gäben, in meinen spitzen, blauen babouches zu stecken.
Ich erwidere sein Lächeln, winke ihm kurz zu und schiebe die Hand in die Tasche der olivgrünen Armeejacke, die ich immer trage. Tue so, als würde ich nicht bemerken, wie er den Blick über meinen Körper wandern lässt, von meinem taillenlangen braunen Haar, das unter dem Tuch hervorschaut, zu dem ärmellosen Batiktop, den hautengen Dark-Denim-Jeans bis zu meinen Füßen in den nagelneuen Schläppchen.
»Hübsch.« Er stellt seinen Fuß neben meinen und präsentiert die Herren- und Damenversion desselben Schuhmodells. »Vielleicht können wir einen neuen Trend setzen, wenn wir wieder in den Staaten sind«, lacht er. »Was meinst du?«
Wir.
Es gibt kein Wir.
Ich weiß es. Er weiß es. Und es nervt mich, dass er so tut, als wäre es anders.
Die Kameras laufen schon seit Stunden nicht mehr, und trotzdem spielt er weiterhin eine Rolle und gibt vor, unser kurzer Drehort-Flirt würde ihm irgendetwas bedeuten.
Tut so, als wären wir bei unserer Rückkehr in die Staaten nicht längst Geschichte.
Und dieser Gedanke lässt meine albernen Mädchenträume zerplatzen und ruft die Daire auf den Plan, die ich kenne, zu der ich mich selbst erzogen habe.
»Wohl kaum.« Ich grinse und stoße seinen Fuß weg. Ein bisschen heftiger als nötig, aber das ist die Strafe dafür, dass er mich für dumm genug hält, auf sein Theater hereinzufallen. »Was hältst du von Essen? Ich hab Lust auf einen Rindfleischspieß, vielleicht auch noch einen mit Wurst. Und Pommes wären auch nicht schlecht.«
Ich will die Essensstände ansteuern, doch Vane hat andere Pläne. Er greift nach meiner Hand und gibt nicht eher Ruhe, bis unsere Finger fest miteinander verflochten sind. »Gleich«, sagt er und zieht mich so fest an sich, dass sich meine Hüfte gegen seine presst. »Ich dachte, wir könnten was Besonderes machen – ich meine, weil du doch Geburtstag hast und so. Was hältst du davon, wenn wir uns identische Tattoos machen lassen?«
Mir fällt die Kinnlade herunter. Das kann er unmöglich ernst meinen.
»Du weißt schon, mehndis. Hennatattoos. Nichts Dauerhaftes. Wär doch vielleicht trotzdem cool, oder?« Auf seine typische Vane-Wyck-Art zieht er die linke Braue hoch, und ich muss mich beherrschen, ihm keinen finsteren Blick zuzuwerfen.
Nichts Dauerhaftes. Das ist mein Motto – mein Leitsatz sozusagen. Aber dennoch ist ein mehndi nicht dasselbe wie ein Abziehbild. Es hat eine gewisse Lebensdauer, die noch anhalten wird, wenn Vanes vom Studio bezahlter Privatjet ihn längst aus meinem Leben katapultiert hat.
All das lasse ich jedoch unerwähnt und sage stattdessen nur: »Der Regisseur bringt dich um, wenn du morgen mit Henna beschmiert am Set auftauchst.«
Vane zuckt die Achseln, wie ich es schon zu viele Male bei zu vielen jungen Schauspielern vor ihm gesehen habe. Er führt sich auf wie ein Superstar. Hält sich für unersetzlich. Als wäre er der einzige siebzehnjährige Junge mit einem Hauch von Talent, goldfarbenem Teint, welligem blondem Haar und strahlend blauen Augen, die eine Leinwand zum Leuchten bringen und Mädchen (und viele ihrer Mütter) dahinschmelzen lassen. Eine gefährliche Form der Selbsteinschätzung – besonders wenn man seinen Lebensunterhalt in Hollywood verdient. Diese Denkweise führt direkt in Entziehungskliniken und miese Reality-Shows, zu verzweifelten, von Ghostwritern geschriebenen Memoiren und billigen Filmproduktionen, die nur auf DVD erscheinen.
Dennoch protestiere ich nicht, als er an meinem Arm zieht. Ich folge ihm zu der alten, schwarz gekleideten Frau, die mit einem Haufen Hennatüten auf dem Schoß auf einem hellen Webteppich hockt.
Vane handelt den Preis aus, während ich mich hinsetze und ihr meine Hände entgegenstrecke. Geschäftig schnippelt sie die Ecke einer Farbtüte ab und malt mir ein paar verschnörkelte Linien auf die Handrücken, ohne mich zu fragen, welches Muster mir vorschwebt. Aber ich habe ja gar kein bestimmtes im Sinn. Also lehne ich mich an Vane, der neben mir kniet, und lasse sie gewähren.
»Farbe muss wirken so lange wie möglich. Je dunkler Farbe, je größer Liebe«, sagt sie stockend, doch die Botschaft ist deutlich und wird von dem bedeutungsschwangeren Blick betont, den sie Vane und mir zuwirft.
»Oh, wir sind nicht …« Wir sind nicht verliebt!, will ich sagen, doch Vane unterbricht mich.
Er legt mir einen Arm um die Schulter, presst mir die Lippen auf die Wange und schenkt der alten Frau ein Lächeln, das sie ermutigt, es zu erwidern, wobei sie eine erschreckende Reihe aus bräunlichen und fehlenden Zähnen präsentiert. Sein Verhalten macht mich sprachlos, ich sitze mit offenem Mund da – mit heißen Wangen und beschmierten Händen und einem neuen Shootingstar am Hals.
Da ich noch nie verliebt war, habe ich zugegebenermaßen keine Ahnung, wie es sich anfühlt.
Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass es sich wie das hier anfühlt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Vane einfach nur in eine andere Rolle geschlüpft ist und jetzt meinen hinreißenden Schwarm spielt, wenn auch nur, um diese marokkanische Frau, die wir niemals wiedersehen werden, zu erfreuen.
Aber Vane ist nun einmal Schauspieler, und ein Publikum ist ein Publikum, und sei es noch so klein.
Als meine Hände von einem kunstvollen Schnörkelmuster bedeckt sind, ermahnt mich die alte Frau, die Farbe einwirken zu lassen, während sie sich Vanes Füßen zuwendet. Doch sobald sie nicht mehr auf mich achtet, kratze ich mit den Fingernägeln ein bisschen davon ab und schaue heimlich lächelnd zu, wie die Paste herunterfällt und zu losem Staub wird, der sich mit dem Straßenschmutz vermischt.
Es ist albern, ich weiß, aber ich darf nicht riskieren, ihren Worten auch nur einen Hauch von Wahrheit zuzuschreiben. Der Film wird bald abgedreht sein, Vane und ich werden getrennte Wege gehen, und mich zu verlieben ist eine Option, die ich mir nicht leisten kann.
Mit unseren reich verzierten Händen und Füßen schlendern wir an den Straßengrills vorbei, verputzen fünf Rindfleisch- und Wurstspieße, einen Berg Pommes und zwei Fanta, bevor wir uns durch den nächtlichen Zirkus aus Schlangenbeschwörern, Akrobaten, Jongleuren, Wahrsagerinnen, Heilern, Affendompteuren und Musikanten treiben lassen. Es gibt sogar einen Stand, an dem eine Frau alten Leuten die faulen Zähne herauszieht, was wir uns mit einer Mischung aus Grauen und Faszination anschauen.
Während wir so eng umschlungen umhergehen, dass sich unsere Hüften aneinanderreiben, spüre ich Vanes heißen Atem an meinem Hals und sehe, wie er eine Miniwodkaflasche aus der Tasche zieht und sie mir unter die Nase hält.
Ich schüttele den Kopf und schiebe das Fläschchen beiseite. In irgendeiner x-beliebigen Stadt mag so etwas vielleicht in Ordnung sein, aber Marrakesch ist anders, geheimnisvoll und vielleicht sogar ein bisschen unheimlich. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie die hiesigen Gesetze aussehen, aber wahrscheinlich sind sie streng, und als Minderjährige wegen Alkoholkonsums in einem marokkanischen Gefängnis zu landen ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.
Es ist auch das Letzte, was er gebrauchen kann, aber das scheint ihn nicht zu kümmern. Er lächelt nur, schraubt den Deckel ab und nimmt ein paar Schlucke, bevor er mich in eine dunkle, verlassene Gasse zieht.
Ich stolpere. Blinzle. Taste mich an der Wand entlang, um mich zurechtzufinden. Seine warme Hand um meine Taille gibt mir Halt, und die beruhigenden Worte, die Jennika mir zuflüsterte, als sie mir angewöhnen wollte, ohne Nachtlicht zu schlafen, kommen mir in den Sinn:
Du musst dich an die Dunkelheit gewöhnen, damit das Licht dich finden kann.
Er schiebt mein Tuch zurück, bis es mir auf die Schultern gleitet, und kommt mir so nah, dass ich von seinem Gesicht nichts weiter wahrnehme als die tiefblauen Augen und die perfekten, leicht geöffneten Lippen, die bald von meinen Besitz ergreifen.
Ich lasse meinen Mund mit seinem verschmelzen und schmecke den Wodka auf seiner Zunge, während meine Hände seine muskulöse Brust erforschen, die feste Rundung seiner Schultern, sein ausgeprägtes Kinn. Meine Finger spielen mit seinem seidigen Haar, während seine unter meine Jacke gleiten – unter mein Top, suchend, tastend – und den Stoff immer weiter nach oben schieben.
Unsere Körper vereinigen sich zu einem Knäuel aus drängenden Hüften und hungrigen Lippen. Der Kuss wird so hitzig, so gierig, dass mein Atem stoßweise geht, zu schnell, während mein Körper entflammt wie ein angerissenes Streichholz.
Seine Berührungen, seine Wärme, seine Verheißungen berauschen mich derart, dass ich seine Finger, die sich unter meinen BH drängen – kreisen, kneten, nicht beiseiteschiebe, sondern sogar meine eigenen Finger nach unten gleiten lasse. Über ausgeprägte Bauchmuskeln, dann noch tiefer, bis zu seinem Hosenbund. Bereit, an Stellen vorzudringen, die ich noch nicht erkundet habe. Er weicht zurück und haucht: »Komm, ich weiß, wo wir hingehen können.« Seine Stimme ist belegt, sein Blick verklärt. Atemlos kämpfen wir gegen das Verlangen, den Kuss fortzusetzen. »Mann! Warum hab ich da nicht schon eher dran gedacht? Das wird der Wahnsinn – komm mit!« Er nimmt meine Hand und zieht mich aus der Dunkelheit zurück auf den hellen, belebten Platz.
Zuerst gehe ich freiwillig mit, doch es dauert nicht lange, bis der unablässige, pulsierende Rhythmus und die hypnotisierenden Klänge der gnaouan-Trommeln mich in ihren Bann ziehen.
»Daire – komm schon. Hier müssen wir lang. Was ist denn?« Er zieht verwirrt die Brauen hoch, als ich seine Hand loslasse und weitergehe, ohne mich darum zu kümmern, ob er mir folgt, nichts anderes im Sinn, als herauszufinden, woher die Musik kommt.
Ich quetsche mich durch die Menge, bis ich davorstehe – mein Kopf erfüllt vom hypnotisierenden Rhythmus einer roten Ledertrommel, mein Blick verschwommen von einem Wirbel aus purpurroter Seide, Goldmünzen und einem verschleierten Gesicht, von dem nichts weiter zu sehen ist als das feurige, schwarz umrandete Augenpaar.
»Das ist ein Typ – eine Transe!« Vane drängt sich neben mich, fasziniert vom Anblick des Mannes im Kaftan, der mit hochgehaltenen Armen und klingelnden Zimbeln wild die Hüften kreisen lässt.
Aber das ist alles, was Vane sieht.
Er sieht nicht, was ich sehe.
Sieht nicht, wie alles zum Stillstand kommt.
Sieht nicht, wie die Luft sich verändert – einen seltsam flirrenden, dunstigen Schimmer bekommt, als würde man durch irisierendes Buntglas schauen.
Sieht nicht, wie die Leuchtenden am Rand der Szenerie auftauchen und lauern.
Sieht nicht, wie sie winken – mich auffordern, zu ihnen zu kommen.
Nur ich kann das sehen.
Selbst als ich mehrfach blinzele und versuche, die Normalität wiederherzustellen, nutzt es nichts. Sie sind nicht nur immer noch da, sondern haben auch noch Freunde mitgebracht.
Krähen.
Abertausende von Krähen bevölkern den Platz.
Landen auf dem Trommler, dem bauchtanzenden Transvestiten – fliegen und landen, wie es ihnen gefällt –, verwandeln den lebenssprühenden Platz in ein Meer aus dunklen Knopfaugen, die mich unablässig beobachten.
Die leuchtenden Gestalten schleichen sich heran. Mit ausgestreckten Armen und grabschenden Fingern stampfen sie die Krähen nieder, bis nur noch schwarze, blutige Fetzen übrig bleiben.
Also tue ich das Einzige, was ich kann – wegrennen.
Stürme durch die Menge, schreie und stoße Leute beiseite, um mir den Weg zu bahnen. Nehme entfernt wahr, dass Vane mir nachruft, spüre, wie seine Hände nach mir greifen, mich an seine Brust ziehen und mich drängen, anzuhalten, umzukehren, keine Angst zu haben.
Mein Körper sackt erleichtert zusammen, als ich zu ihm aufschaue und mich frage, wie ich ihm meinen plötzlichen Anfall von Wahnsinn erklären soll, jetzt, da alles wieder zur Normalität zurückgekehrt ist. Doch als ich über seine Schulter blicke, sehe ich, dass die Krähen etwas viel Schlimmerem gewichen sind, denn jetzt stehen Tausende von Stangen mit blutigen, aufgespießten Köpfen rund um den Platz.
Ihre grauenhaften Münder öffnen sich zu einem schauerlichen Chor, der meinen Namen ruft – mich ermahnt, auf sie zu hören, bevor es zu spät ist.
Eine Stimme erhebt sich über alle anderen. Ihr entsetzlich verstümmeltes Gesicht weist eine gespenstische Ähnlichkeit mit einem alten, zerknitterten Foto auf, das ich nur allzu gut kenne.
Das Licht rast auf mich zu, grell und unerwartet – ich muss blinzeln, will mir die Hände vors Gesicht halten, stelle jedoch fest, dass ich die Arme nicht heben kann –, und als ich mich aufsetzen will, falle ich in die Kissen zurück.
Was zum Teufel … ?
Meine Gliedmaßen liegen nutzlos da, und als ich den Kopf hebe, um mir ein Bild von meiner Zwangslage zu machen, entdecke ich, dass mich jemand festgebunden hat.
»Sie wird wach!«, ruft eine weibliche Stimme, deren ausländischer Akzent so stark ist, dass ich nicht weiß, ob ihr Tonfall Angst oder Erleichterung ausdrückt. »Miss Jennika, bitte, kommen Sie schnell! Ihre Tochter, Daire. Sie ist wach!«
Jennika! Meine Mutter steckt also mit ihr unter einer Decke?
Ich drehe den Kopf zur Seite, sehe blau gestrichene Wände, Terrakottafliesen auf dem Boden und einen kunstvoll bemalten, achteckigen Tisch, eine praktische Ablage für mein zerbeultes Rosebud-Lippencreme-Döschen, meinen silbernen iPod nebst Ohrstöpseln und das Taschenbuch mit dem Wasserschaden, das ich mit mir rumgeschleppt habe. Ich sehe eine alte Frau mit traditioneller schwarzer djellaba aus dem Zimmer eilen, das seit über einem Monat mein Zuhause ist, woraufhin eine aufgeregte Jennika hereinstürmt, neben mir niedersinkt und mir ihre kühle Hand auf die Stirn legt. Ihre vertrauten grünen Augen, die meinen gleichen, blicken verloren unter ihrem platinblond gefärbten Pony hervor, und in ihren blassen, angespannten Gesichtszügen spiegeln sich Hilflosigkeit und Furcht.
»Oh, Daire! Daire, geht’s dir gut? Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht! Hast du Schmerzen? Hast du Durst? Soll ich dir irgendetwas holen? Kann ich irgendetwas für dich tun? Sag einen Ton, und ich organisiere alles!« Sie mustert mich angstvoll und zieht meine Kopfkissen zurecht.
Meine Lippen sind so rissig, der Hals so wund und die Zunge so ausgetrocknet, dass ich, als ich meinen Mund öffne, nur unartikulierte Laute hervorbringe, die ich selbst nicht verstehe.
»Lass dir Zeit«, tröstet mich Jennika, tätschelt meine Schulter und schenkt mir einen aufmunternden Blick. »Du hast eine Menge durchgemacht. Es besteht kein Grund zur Eile. Ich bleibe bei dir. Wir warten in aller Ruhe ab, bis es dir wieder besser geht.«
Das Schlucken fällt mir schwer. Ich versuche, ein bisschen Spucke zu sammeln, um einen neuen Anlauf zu machen, aber auch der scheitert kläglich.
»Bind mich los«, krächze ich schließlich und reiße an meinen Fesseln, in der Hoffnung, sie dadurch mehr zu überzeugen als durch meine Worte.
Aber wenn Jennika mich versteht, und dessen bin ich mir ziemlich sicher, ignoriert sie mein Ansinnen und greift stattdessen nach der Wasserflasche.
»Hier, du musst trinken.« Sie steckt einen langen roten Strohhalm in die Flasche und schiebt ihn mir zwischen die Lippen. »Du hast so lange geschlafen – du musst völlig ausgetrocknet sein.«
Obwohl ich immer frustrierter werde und das Getränk am liebsten so lange ablehnen würde, bis sie mich befreit hat, kann ich mich nicht beherrschen und stürze mich gierig darauf. Meine Lippen umschließen den Trinkhalm, und ich sauge daran, überwältigt von der Wohltat, als die kühle, heiß ersehnte Flüssigkeit über meine Zunge strömt und meinen trockenen, kratzigen Hals erfrischt.
Sobald die Flasche leer ist, schiebe ich sie beiseite und sehe Jennika mit zusammengekniffenen Augen an. »Was zum Teufel macht ihr mit mir? Was soll das?« Verzweifelt reiße ich mit Armen und Beinen an meinen Fesseln.
Enttäuscht muss ich zusehen, wie sie sich abwendet und zum anderen Ende des Zimmers geht, wo sie sich lang und breit mit der alten Marokkanerin austauscht, etwas murmelt, das ich nicht richtig verstehen kann, und aufmerksam zuhört, als die Alte ihr kopfschüttelnd antwortet, woraufhin sie wiederum leise etwas erwidert.
Schließlich dreht sie sich wieder zu mir um, gibt sich alle Mühe, meinem Blick auszuweichen, und sagt: »Es tut mir leid, Daire, sehr, sehr leid, aber das darf ich nicht.« Nervös streicht sie ihr schwarzes Top glatt – besser gesagt, mein schwarzes Top –, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass ich ihr erlaubt habe, es anzuziehen. »Ich habe strikte Anweisung, dich nicht loszubinden, egal wie sehr du mich darum bittest.«
»Was?« Ich schüttele den Kopf – ich muss mich wohl verhört haben. »Von wem hast du Anweisungen bekommen? Wer hat dir gesagt, dass du mich festbinden sollst? Sie?« Ich nicke mit dem Kopf zu der alten Frau hin. Mit ihrem schwarzen Gewand und dem dazu passenden Kopftuch, das ihr Haar fast vollständig bedeckt, sieht sie aus wie alle anderen x-beliebigen Frauen, denen ich im Souk begegnet bin. Sie sieht jedenfalls nicht so aus, als sei sie befugt, irgendwelche Anordnungen zu erteilen. »Also mal ehrlich, Jennika, seit wann lässt du dir außerhalb deiner Arbeit von irgendwem Vorschriften machen? Soll das ein Witz sein? Wenn ja, dann finde ich ihn nicht lustig – absolut nicht lustig.«
Jennika runzelt die Stirn und dreht an dem gravierten Silberring an ihrem Daumen – mein letztes Muttertagsgeschenk, das ich in der Nähe eines Drehorts in Peru für sie gekauft habe. »Hast du irgendeine Ahnung, wie du hierhergekommen bist?«, fragt sie und setzt sich zu mir aufs Bett. »Kannst du dich an irgendetwas erinnern?« Ihr langer Seidenrock rutscht zur Seite, als sie die Beine übereinanderschlägt und mir einen flehentlichen Blick zuwirft.
Seufzend schließe ich die Augen, tue so, als würde ich all meinen Kampfgeist verlieren, und lasse meinen Körper unwillig in den Kokon aus Kissen sinken, den sie um mich herum errichtet hat. Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht – keine Ahnung, was los ist oder wie es dazu gekommen ist, dass ich in meinem eigenen Hotelzimmer gefangen gehalten werde, von meiner eigenen Mutter. Ich will nur, dass es aufhört. Will, dass sie mich losbindet. Ich will meine Freiheit zurück. Und zwar sofort.
»Ich muss aufs Klo.« Ich öffne ein Auge und riskiere einen schnellen Blick, voller Zuversicht, dass sie mir diesen kleinen Gefallen nicht abschlagen wird. »Meinst du, du kannst mich dafür losbinden? Oder wäre es dir lieber, wenn ich ins Bett mache?« Ich öffne auch das zweite Auge und sehe sie herausfordernd an. Doch sie beißt sich auf die Lippe, schaut hastig zu der alten Frau, die in der Ecke Wache hält. Dann schüttelt sie den Kopf und verweigert meine Bitte.
»Tut mir leid, aber das geht nicht. Du musst entweder warten oder die Bettpfanne benutzen«, erklärt sie, und ich traue meinen Ohren kaum. »Ich darf dich nicht losbinden, bevor der Arzt zurückkommt. Aber keine Sorge – das kann nicht mehr lange dauern. Als du wach geworden bist, hat Fatima ihn sofort angerufen.« Sie deutet in die Ecke, wo die grimmige Wächterin sitzt. »Er ist unterwegs.«
»Welcher Arzt?« Ich versuche, mich abermals aufzusetzen, es ist ein Reflex, ich kann nicht anders. Wieder kann ich nur hilflos an den Gurten reißen.
Die ganze irrsinnige Situation ärgert mich so sehr, dass ich mich auf einen drastischeren Auftritt vorbereite: Schreien. Heulen. Verlangen, dass sie mich losbindet, sonst – doch dann flammt die Erinnerung auf und lässt bruchstückhafte Bilder aufflackern.
Vane – der Platz – der bauchtanzende Transvestit – das unablässige Dröhnen der gnaouan-Trommeln. Alles prasselt in pulsierenden Blitzen auf mich ein – wie ein Schwindel erregendes Geflacker von Schnappschüssen, die in meinem Geist auftauchen und wieder verschwinden.
»Mach mich los«, zische ich. »Bind mich auf der Stelle los, sonst weiß ich nicht, was ich tue, Jennika, ich werde …«
Sie beugt sich zu mir herunter, wobei mir ihre pink gefärbte Haarsträhne auf die Wange fällt. Hastig legt sie mir den Zeigefinger auf die Lippen. Ihr Blick ist eine Warnung, und ihre Stimme verrät das ganze Ausmaß ihrer Angst, als sie hervorpresst: »Du darfst solche Sachen nicht sagen.« Nach einem verstohlenen Seitenblick auf Fatima senkt sie die Stimme zu einem Flüstern. »Das ist genau das, was dich hierhergebracht hat. Sie sind überzeugt, dass du eine Gefahr für dich selbst und andere darstellst. Sie wollten dich in eine Klinik einweisen, aber ich habe es nicht zugelassen. Doch wenn du nicht aufhörst, so zu reden, bleibt mir keine Wahl. Bitte, Daire, wenn du hier raus willst, musst du dich zusammenreißen.«
Ich soll eine Gefahr sein? Eine Bedrohung für andere? Ich schnaube verächtlich und verdrehe die Augen. Das hier muss ein Albtraum sein – auch wenn er sich beängstigend real anfühlt.
»Na guuut.« Ich spreche das Wort gedehnt aus und sehe ihr in die Augen. »Und was genau habe ich verbrochen, um so eine Strafe zu verdienen?«
Doch bevor sie antworten kann, flammt der Rest der Erinnerung auf. Weitere flackernde Bilder von leuchtenden Gestalten, Tausenden von Krähen und einem Platz voller abgeschlagener, sprechender Köpfe, auf Pfählen aufgespießt …
Ein ganz bestimmter …
Und dann Vane.
Etwas ist mit Vane passiert.
Er hat nach mir gegriffen. Wollte mich überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Aber er konnte nicht sehen, was ich sah. Konnte das, was ich als wahr erkannt hatte, nicht einmal ansatzweise begreifen. Wollte mich unbedingt beruhigen, mich im Zaum halten – bis ich keine andere Wahl mehr hatte, als mich mit aller Gewalt loszureißen und so weit wegzulaufen, wie ich konnte.
»Du hast dich wirklich unmöglich aufgeführt.« Jennikas Stimme klingt gequält, und sie unterdrückt ein Schluchzen. »Du hast Vane das ganze Gesicht und die Arme zerkratzt. Sie mussten die letzten Aufnahmen verschieben, bis alles einigermaßen verheilt ist. Man kann die Wunden unmöglich mit Make-up verdecken, das kannst du mir glauben, ich habe es versucht.« Sie streicht sanft über meinen Arm, bis sie an einen Punkt kommt, an dem ich ihre Berührung nicht mehr spüre. Und in dem Moment wird mir klar, dass da ein Verband ist. Meine beiden Unterarme sind vom Ellbogen abwärts mit einer Mullbinde umwickelt, meine nackten Finger tragen noch letzte Spuren des Tattoos.
Genau wie ich es mir gedacht habe – er liebt mich nicht.
Ich lasse den Kopf zurück aufs Kissen sinken, will nicht noch mehr sehen, als ich schon gesehen habe.
»Daire, du bist vollkommen ausgeflippt«, fährt sie in ihrer typischen Art fort. Ihr Gesichtsausdruck ist traurig, aber sie nimmt kein Blatt vor den Mund. »Du hattest einen Kollaps – einen totalen Zusammenbruch. Du warst regelrecht psychotisch, meinte der Arzt, der dich behandelt hat. Eine ganze Gruppe von Einheimischen musste helfen, dich von Vane wegzureißen, und als sie es geschafft hatten, bist du auf sie auch noch losgegangen. Zum Glück hat dich keiner angezeigt, und Vanes Presseagentin macht Überstunden, um den Zwischenfall zu kaschieren und aus den Schlagzeilen rauszuhalten. Aber du weißt ja, wie so was läuft in den Zeiten des Internets.« Sie zieht die Schultern hoch, doch ihre Augenwinkel wandern nach unten. »Ich fürchte, im Moment können wir nur hoffen, dass der Schaden möglichst gering bleibt.« Sie senkt die Stimme, bis ich sie kaum noch hören kann, und spricht mit mir, als wären wir Verschworene bei einem Komplott. »Vane behauptet, es wären keine Drogen oder Alkohol im Spiel gewesen, aber mir kannst du doch die Wahrheit sagen, Daire. Du kennst unsere Abmachung. Du erzählst mir, was auch immer du gemacht hast, und ich verspreche dir, dass du keinen Ärger bekommst.« Sie ist mir so nah, dass ich im Weiß ihrer Augen spinnwebartige rote Linien erkennen kann, die auf einen nicht lange zurückliegenden Weinkrampf schließen lassen. »Habt ihr beiden gefeiert? Ich meine, schließlich hattest du Geburtstag. Vielleicht wolltest du ja mal so richtig einen draufmachen?«
Ihre Stimme hebt sich am Ende des Satzes, erfüllt von plötzlicher Hoffnung. Sie sucht eine schnelle, einfache Erklärung – irgendetwas Konkretes, auf das sie die Schuld schieben kann. Eine aus dem Ruder gelaufene Teenager-Orgie wäre ein kleineres Übel als die schreckliche, schwer verdauliche Wahrheit: Dass ich, nachdem ich Vane, eine Gruppe unschuldiger Passanten und mich selbst attackiert hatte, wie eine Wahnsinnige von Krähen, aufgespießten Köpfen und einem Haufen unheimlicher leuchtender Gestalten, die mich aus unerfindlichen Gründen einfangen wollten, gebrabbelt habe. Danach weiter um mich geschlagen, getreten und geschrien habe, bis ich ruhiggestellt wurde, fortgeschleppt und ans Bett gebunden, wo man mir ein Mittel gespritzt hat, das mir in den Adern brannte und mich in einen tiefen, traumlosen Schlaf versetzte.
Mein Gedächtnis ist jetzt wieder ganz klar. Ich kann mich an alles erinnern.
Ich sehe die Angst in Jennikas Gesicht und ihren verzweifelten Blick, mit dem sie mich anfleht, ihr zu sagen, was sie hören will, ihr etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe und niemals tun würde.
Aber ich komme ihrer Bitte nicht nach. Kann ihr nicht nachkommen. Wir beide haben eine Abmachung. Sie vertraut mir, bis ich ihr einen Grund gebe, es nicht zu tun, und bis jetzt habe ich ihr Vertrauen nicht missbraucht. Vane ist der, der getrunken hat, ich habe nichts angerührt. Und was Drogen angeht: Man hat mir im Laufe der Jahre schon so viele angeboten, aber ich habe immer abgelehnt.
Was ich gesehen habe, war kein Wahngebilde. Ich war vollkommen nüchtern. Ich habe nicht halluziniert. Ich brauche mindestens einen Menschen, der mir das glaubt – und wenn ich meine eigene Mutter nicht überzeugen kann, wen denn dann?
Erschöpft flüstere ich: »Ich habe nicht gefeiert.« Ich sehe sie eindringlich an, verzweifelt bemüht, sie von der Wahrheit zu überzeugen. »Ich habe nicht gegen unsere Abmachung verstoßen.«
Sie nickt und presst die Lippen zusammen, bis sie ganz weiß werden. Und obwohl sie meinen Arm tätschelt, um mich zu trösten, fühle ich ihre Enttäuschung. Es wäre ihr lieber, ich hätte unsere Abmachung gebrochen, als sich mit einem Problem auseinandersetzen zu müssen, das sie nicht versteht.
Die Stille, die sich über uns gesenkt hat, ist so drückend und angespannt, dass ich sie am liebsten durchbrechen würde, Jennika am liebsten davon überzeugen würde, dass die verrückten Dinge, die ich gesehen habe, wirklich existierten und keine Hirngespinste waren. In dem Moment klopft es an der Tür, dann folgt gedämpftes Gemurmel, und im Bogengang, der in mein Zimmer führt, erscheint ein korpulenter Mann, dicht gefolgt von der allgegenwärtigen Fatima.
Ich lasse meinen Blick an ihm entlangwandern: auf Hochglanz polierte Schuhe, frischgebügelter Anzug, gestärktes weißes Oberhemd, langweilige blaue Krawatte. Mir fällt auf, dass seinen Augen der Glanz fehlt, wie seine Lippen fast in seinem Gesicht verschwinden und wie seine straff frisierten Locken den Lichtschein der Deckenlampe förmlich abzustoßen scheinen.
»Wie schön, dass du aufgewacht bist, Daire.« Er gibt Fatima ein Zeichen, den Schreibtischstuhl neben das Bett zu stellen, wo er seine schwere, schwarze Ledertasche abstellt, bevor er sich häuslich niederlässt. Nachdem er Jennika beiseitegeschoben hat, holt er sein Stethoskop hervor und zerrt an meiner Bettdecke herum, um den Lauschangriff auf meinen Brustkorb vorzubereiten.
Aber bevor er sich ans Werk machen kann, bäume ich mich auf und tue mein Möglichstes, um ihn mir vom Leib zu halten. »Wollen Sie sich nicht wenigstens vorstellen?«, knurre ich finster. »Das wäre doch nur höflich, meinen Sie nicht?«
Seine schmalen Lippen verziehen sich zu einem aufgesetzten Lächeln. »Ich bitte um Verzeihung«, erwidert er. »Du hast natürlich Recht. Ich habe meine Manieren vergessen. Ich bin Doktor Ziati. Ich habe dich seit dem Abend behandelt, als es zu dem … Zwischenfall kam.«
»Zwischenfall? Ist das Ihre Umschreibung für das, was passiert ist?« Meine Stimme ist ebenso spöttisch wie mein Gesichtsausdruck.
»Würdest du eine andere Bezeichnung vorziehen?« Er schlägt die Beine übereinander, streicht mit seinen manikürten Fingern über die scharfe Bügelfalte seiner Hose und lehnt sich zurück, als würde er nichts lieber tun, als herumzusitzen und über die richtige Wortwahl zu diskutieren.
Jennika schüttelt warnend den Kopf – ich soll es nicht darauf ankommen lassen und ihn nicht herausfordern. Ich will ihrem stummen Flehen zwar nachkommen, aber ich kann mir nicht verkneifen, ihn zu fragen: »Wieso sprechen Sie so gut Englisch?«
Ich beäuge ihn argwöhnisch und sehe, wie die Haut um seine Augen sich durch seine plötzliche Heiterkeit kräuselt, während er seine geraden, blendend weißen Zähne präsentiert, wie man sie hierzulande nur selten zu Gesicht bekommt. Es überrascht mich nicht, als er mir erklärt: »Ich habe in den Vereinigten Staaten studiert – an der University of Pennsylvania, genauer gesagt. Ich wurde hier in Marrakesch geboren. Nach einigen Jahren im Ausland bin ich dann in meine Heimat zurückgekehrt. Ich hoffe, das findet deine Zustimmung?« Er nickt und wartet auf meine Antwort, aber ich zucke nur die Achseln und schaue in die andere Richtung. »Gibt es sonst noch etwas, was du wissen willst, bevor ich deine Vitalfunktionen überprüfe?« Er wedelt mit seinem Stethoskop herum.
Offenbar deutet er meinen Seufzer als ein Ja, denn er zieht die Decke ein Stück herunter. Ich zucke zusammen, als das kalte Metall des Stethoskops meine Haut berührt und ich auf seine Anweisung ein paar Mal tief ein- und ausatme. Dann leuchtet er mir mit einem Lämpchen ins Auge, weist mich an, den Mund zu öffnen, drückt meine Zunge mit einem Holzstab herunter und lässt mich A sagen. Schließlich legt er mir zwei Finger an den Hals und fühlt meinen Puls, während er auf seine teure goldene Uhr schaut.
»Hervorragend«, sagt er und nickt. »Ich nehme an, du hast gut geschlafen?« Er schiebt das Stethoskop in seine Tasche und inspiziert meine Verbände, indem er meine Arme hin und her dreht, ohne sie vorher loszubinden, was mich auf die Palme bringt.
»Sie wollen wissen, ob ich gut geschlafen habe?« Ich hebe den Kopf und schneide eine Grimasse. »Binden Sie mich los. Auf der Stelle. Dann sage ich Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«
Das unaufrichtige Lächeln, das die ganze Zeit auf seinen Lippen lag, verschwindet, während Jennika an meine Seite eilt und mir beschwichtigend die Schulter tätschelt.
»Sie können mich nicht einfach festschnallen! Ich habe Rechte, das wissen Sie genau!«, rufe ich, aber meine Worte stoßen auf taube Ohren.
Doktor Ziati sieht mich nur an und sagt: »Mädchen, hast du überhaupt eine Ahnung, wie du in diese Situation gekommen bist?«
Allerdings – leuchtende Gestalten, abgeschlagene Köpfe und Krähen – Tausende und Abertausende. Und deswegen blieb mir nichts anderes übrig, als einen bekannten Nachwuchsfilmstar zu zerfleischen, um mich zu befreien. Sonst noch was?
Aber natürlich sage ich das nicht, denn es ist eine Wahrheit, die niemand glauben, geschweige denn hören will.
»Erinnerst du dich an die Dinge, die du getan und gesagt hast?«
Ich zucke die Achseln. Es hat keinen Sinn, so weiterzumachen. Ein Blick auf seine selbstgefällige Miene verrät mir, dass er niemals auf meiner Seite sein wird, es nicht einmal in Erwägung ziehen würde.
»Du hattest sämtliche Symptome wie jemand, der unter Drogen steht – irgendwelche halluzinogenen Stoffe. Ich habe das schon öfter erlebt – immer bei Touristen.« In seinem Tonfall schwingt dieselbe Geringschätzung mit, die in seinen Augen aufblitzt. »Doch in deinem Fall haben die Blutproben nichts ergeben. Was zu meiner nächsten Frage führt. Hattest du solche Wahnvorstellungen schon öfter?«
Ich lasse den Blick von ihm zu Jennika wandern – ihr Gesicht ist voller Sorge, seines spiegelt morbide Neugier –, dann drehe ich den Kopf in die andere Richtung und betrachte lieber das blau gekachelte Badezimmer als die beiden. Es hat keinen Sinn, mich Leuten gegenüber zu verteidigen, die sich nicht umstimmen lassen wollen.
»Du hast von leuchtenden Gestalten geredet, die hinter dir her waren, von großen Krähen, die dich verspottet haben, und von unzähligen abgehackten, blutigen Köpfen, die den ganzen Platz gefüllt und zu dir gesprochen haben.«
Als ich einen lauten Seufzer höre, drehe ich mich um und sehe, wie Fatima das hamsa-Amulett, das sie an einer Halskette trägt, umfasst und mit gesenktem Kopf anfängt, leise und inbrünstig zu beten, bis ein strenges Wort des Arztes sie zum Schweigen bringt.
»Ich fürchte, diese Visionen müssen als Wahnvorstellungen ziemlich paranoider Natur klassifiziert werden.« Er wendet sich wieder an mich. »Und da ich nicht weiß, was diese Episode ausgelöst hat, weil weder Alkohol noch Drogen im Spiel waren, würde ich sagen, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn ein genetisch bedingtes chemisches Ungleichgewicht am Ende der Pubertät die ersten Symptome zeigt. Ist es richtig, dass Daire gerade sechzehn geworden ist?«
»Entschuldigen Sie die Frage, aber gibt es Fälle von psychischen Erkrankungen in Ihrer Familie?«
Ihr Blick wird vage, und sie schüttelt den Kopf – zwei sichere Anzeichen dafür, dass sie lügt, dass sie irgendeine wichtige Information nicht preisgeben will. Ein so schrecklicher Verdacht, dass sie ihn sich selbst nicht eingestehen und erst recht nicht gegenüber dem Arzt zur Sprache bringen mag, was mich umso neugieriger macht. Ich habe keine Ahnung, wen sie in Verdacht haben könnte.
»Im Leben ist nichts von Dauer«, sagt sie gern und behauptet, dass die meisten Leute ihr Leben lang versuchen, sämtliche Anzeichen von Veränderung zu verdrängen, bis sie endlich merken, dass sie es nicht schaffen. Ihr Motto lautet, den Wandel zu akzeptieren und ihn willkommen zu heißen, bevor er einen hinterrücks überfällt.
Irgendwo gibt es noch eine Großmutter, die ich nie kennen gelernt habe – die Mutter meines Dads. Doch Jennika weigert sich, über sie zu reden. Ich habe nur herausbekommen, dass meine Grandma augenblicklich verschwand, nachdem sie ihren einzigen Sohn verloren hatte. Sie war wie vom Erdboden verschluckt, wie Jennika sagt, und da sie sie nicht erreichen konnte, weiß meine Grandma gar nicht, dass es mich gibt.
Dr. Ziati schaut uns an. Er wirkt vollkommen ruhig und gelassen, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als derart welterschütternde Nachrichten zu verkünden. »Ich fürchte, Ihre Tochter braucht dringend Hilfe. Ohne Behandlung wird so etwas nur noch schlimmer. Fürs Erste konnten wir sie zwar stabilisieren, aber das ist nicht von Dauer. Sie sollten sie so schnell wie möglich zurück in die Staaten bringen. Und dort müssen Sie umgehend einen Spezialisten aufsuchen, am besten einen Psychiater. In den letzten Jahren wurden neue, hochwirksame Psychopharmaka entwickelt. Viele Menschen, die unter ähnlichen Störungen leiden wie Daire, können dadurch wieder ein normales, gesundes Leben führen. Mit der richtigen Behandlung, regelmäßigen Therapiesitzungen und vorausgesetzt, sie nimmt die verschriebenen Medikamente ein, hat sie gute Chancen, sich positiv zu entwickeln.«
Bevor wir die Möglichkeit haben, etwas zu erwidern, zieht der Arzt eine Spritze aus der Tasche, tippt die Kanüle an, spritzt ein bisschen von dem Inhalt in die Luft und rammt mir die Nadel in die Armbeuge, woraufhin mein Körper zusammensackt – meine Zunge wird schwer und taub und meine Augen werden so müde, dass ich sie nicht mehr offen halten kann.