TITANIA
HARDIE
Haus des
Sturms
ROMAN
Aus dem Englischen
von Heinz Tophinke
TITANIA
HARDIE
Haus des
Sturms
ROMAN
Aus dem Englischen
von Heinz Tophinke
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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
The House of the Wind bei Washington Square Press,
a Division of Simon & Schuster Inc., New York
Copyright © 2012 by Titania Hardie
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion | Eva Philippon
Quellenverweis | John Keats. Werke und Briefe.
© 1995 by Reclam Verlag, Stuttgart
Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München
unter Verwendung einer Abbildung
von © mauritius images/Garden World Images; shutterstock
Illustration vor der Danksagung © by Chris Boehm
Satz | Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ePub-ISBN: 978-3-641-09087-6
V002
www.diana-verlag.de
Für Samantha und Zephyrine; und für Amanda und Jane.
In Liebe und mit tiefem Respekt.
Seht ihr nicht, wie notwendig eine Welt voller Leid
und Bedrängnis ist, um eine Intelligenz zu schulen
und zu einer Seele zu formen?
John Keats, 1819
(Übersetzung von Christa Schuenke)
Prolog
Der Pfad vom majestätischen Volterra hügelabwärts zum Dörfchen La Chiostra verliert sich im toskanischen Horizont – magentafarben getönt am Ende des Tages – und schlängelt sich entlang eines sanft geformten Lavastroms aus undenklicher Vorzeit. Der Ausblick zu beiden Seiten der schmalen Straße ist zu jeder Tages- und Jahreszeit atemberaubend: die Schönheit der wilden Farben und Felder auf der einen Seite, auf der anderen eine geologisch absonderliche, zeitlos anmutende Mondlandschaft, in der die sanften Wellenformen der Hügel von den kahlen Felshängen, den balze, abgelöst werden, die über Jahrtausende von zahllosen Erdrutschen geschaffen wurden. Wer sich für Archäologie oder Geschichte interessiert, sucht vielleicht nach dem Ort, wo die älteste der etruskischen Nekropolen von der Erosion zerstört wurde; oder die Neugier richtet sich auf die Ruinen der badia, der Abtei aus dem 11. Jahrhundert, oder der frühesten christlichen Kirchen, die sich die Landschaft schon vor Jahrhunderten wieder einverleibte. Die romantische Seele hingegen zeigt sich eher von Rätseln fasziniert, ihre Reise führt womöglich an einen verborgenen Ort ein, zwei Kilometer weiter die Straße hinunter – irgendwo zwischen dem modernen Haus mit den bellenden Hunden und dem alten Bauernhof mit Reihen von Weinstöcken und Sonnenblumen. Es gibt jedoch kein Hinweisschild; der unwissende Reisende passiert unter Umständen das Geheimnis, ohne es zu bemerken.
Der, der danach sucht, stößt hier auf die Ruine eines Hauses, die so auf dem Berggrat positioniert ist, dass sie den perfekten Blick zurück auf die imposante, windumwehte Etruskerstadt bietet. Der Legende nach sind dies die Überreste eines kleinen Landguts aus dem späten 13. oder frühen 14. Jahrhundert, das einmal das Zuhause einer vornehmen Familie und ihrer bezaubernden, liebreizenden Tochter war. Darauf, ihren Namen zu nennen, sollten wir – müssen wir vielleicht sogar – verzichten, denn um sie rankt sich ein Gewirr von Geschichten, und ihr wahrer Name ist ein Teil des Rätsels. Nur so viel sei gesagt – sie war in christlicher Zeit eine Verehrerin der Natur. Sie liebte es, Vögel und andere Tiere um sich zu scharen, und betete Diana an, die Herrin des Mondes und Patronin eines der antiken Tempel, die dereinst Velathri überragten, wie die Stadt damals hieß.
Bevor es zur verlassenen Ruine wurde, war dieses Gebäude das Zuhause ihrer Kindheit gewesen; hier war sie vom Rat des Bischofs von Volterra und mit der vorbehaltlosen Zustimmung ihrer Eltern eingesperrt worden. Der Grund dafür mag weniger ihre religiöse Einstellung gewesen sein als vielmehr, dass sie sich dem unbedingten Wunsch ihrer Eltern widersetzt hatte, ins Kloster einzutreten und in Keuschheit Gott zu dienen. Sie war ihrer vorchristlichen Göttin treu geblieben und wollte den Mann heiraten, den sie liebte. Für diese Trotzhaltung und Pietätlosigkeit war sie weggeschlossen und bestraft worden und sollte nun trotz ihrer Jugend und ihres Liebreizes, trotz ihrer Klugheit und Schönheit verurteilt und gepeinigt werden.
Doch unmittelbar bevor ihr schreckliches Schicksal wahr wurde, geschah etwas Außergewöhnliches. Während sie sich unter strenger Beobachtung im Garten aufhielt, um ein letztes Mal zu ihrer Göttin zu beten, erhob sich plötzlich ein seltsamer Sturm; er peitschte über den Bergkamm, fegte über das Land und machte das Haus dem Erdboden gleich. Vielleicht war es dasselbe Unwetter, dem auch eine jener winzigen Kirchen einen oder zwei Kilometer entfernt zum Opfer fiel.
Doch die junge Frau, und nur sie allein, trat im Schutz des Mondscheins unversehrt hinaus in die Freiheit! Erlöst floh sie in Nacht und Sturm zu ihrem Geliebten. Dieses alte Haus und sein an die mittelalterliche Ruine gestütztes Nebengebäude sind seither bekannt als Haus des Sturms.
TEIL I
1
San Francisco, 20. Januar 2007
Im Kalender der Jahreskreise und der Zeiten ist der Januar der Janusköpfige: der Monat der Türen und Pforten, des Blicks nach vorn und zurück. Zurück auf das Gewesene, auf das, was uns bis an diesen Punkt gebracht hat; voraus auf das Vielleicht, auf die Erwartung der Träume künftiger Tage.
Vielleicht hatte Madeline Moretti, zumindest unbewusst, etwas Derartiges gedacht, als sie auf ihrem Kalender mit einem Farbstift lächelnd das heutige Datum einkreiste. Auf jeden Fall hatte sie daran gedacht, was Christopher am liebsten aß – an seine Vorliebe für Salate und Meeresfrüchte, seine Freude an vollmundigem Rotwein, den er sogar Champagner vorzog; sein sehr britisches Faible für warmes Hefegebäck (mit Butter und Quittengelee!) anstelle von Croissants, seine seltsame Passion für Konfekt mit Rosengelee und in dunkle Schokolade getauchte Datteln –, damit sie morgen, an seinem ersten Vormittag in San Francisco, den Küchenschrank würde öffnen und seine exzentrischen Wünsche ohne Mühe erfüllen können: mit Delikatessen, die aus dem Napa Valley und aus Maine, aus London und der Provence, »von der Seidenstadt Samarkand bis zu den Zedern des Libanon« herbeigeschafft worden waren.
Sie hatte sich auch lange über das Bettzeug Gedanken gemacht in Erinnerung daran, mit welch ausführlichem Kommentar er letzten September einige blassgrüne Laken in einem luxuriösen Hotel in Venedig bedacht hatte, und daran, dass ihm einfarbige Stoffe besser gefielen als gemusterte. Deshalb war sie gestern nach einem langen Arbeitstag im Büro unweit des Ferry Building noch mit der Straßenbahn durch den Financial District zum Union Square gefahren, hatte sich hinaus in die Kälte und die nach Sonderangeboten heischende Menschenmenge begeben, um neue, exquisite Bettwäsche zu kaufen. Bei Scheuer in der Sutter Street hatte sie gefunden, was ihren Vorstellungen entsprach; allerdings musste sie dafür das Gehalt einer ganzen Woche hinblättern. Aber was machte das schon? Sie hatte ihn vier Monate lang nicht gesehen, also sollte – musste – alles perfekt sein.
Madeline war in für sie typischer bester Stimmung nach einem leichten Schlaf um sieben Uhr morgens aufgestanden und hatte den ganzen Tag ohne Pause durchgemacht. Es war ein gewöhnlicher Samstag mit einem außergewöhnlichen Arbeitspensum: Kleidung von der Reinigung abholen, den Hometrainer wegräumen, die auf dem Klavier herumliegenden Noten verschwinden lassen, den kaputten Raffhalter an den Badezimmervorhängen flicken, das Auto auftanken, ein paar weiße Tulpen aus Jimenas Laden als Tischdeko besorgen. Das Hausmädchen war gestern hier gewesen und hatte ihr gesamtes kleines Apartment gesaugt und gewischt, sodass es eigentlich nichts mehr zu tun gab, doch Madeline machte das meiste noch einmal. Als ihr Handy klingelte, ließ sie ihre Freundinnen auf die Mailbox sprechen und zündete stattdessen im Wohnzimmer Duftkerzen an, schüttelte die Kissen auf der Couch auf und räumte ihre herumliegende Businesskleidung in den Schrank.
Die Zeit für das Mittagessen kam und ging, doch Maddie hatte keinen Appetit. Sie musste noch eine Stunde lang Papierkram für ihre Anwaltsfirma erledigen und wusste, sie würde sich in ihrer freien Zeit nicht entspannen können, bis sie ihrer Chefin, der freundlichen, aber auch gewissenhaften Samantha, zurückgemailt hatte. Gegen drei Uhr würden ihre Mutter und Schwester kommen, und davor wollte sie sich noch die Haare waschen.
Madeline hielt ihr Gesicht für nichts Besonderes und ihren großen, schlanken Körper eher für wenig verführerisch, doch Christopher war vernarrt in ihre dicke, dunkellockige Mähne, und wenn auch niemand ahnte, wie viel Arbeit es machte, sie zu entwirren, brauchte sie doch eine ganze Stunde, bis jede Korkenzieherlocke perfekt glänzte. Dies war die letzte Gelegenheit für eine derart aufwendige Pflege, denn heute Abend würde sein Flugzeug aus London eintreffen.
Es war jedoch schon fünf vor drei, als sie die Sendetaste ihres PCs drückte und von ihrem superordentlichen Schreibtisch aufstand. Sie ging zu dem Fenster, das zu der von Bäumen gesäumten Straße zeigte, und hielt Ausschau nach dem Wagen ihrer Mutter. Da sie weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen hatte, fühlte sie sich ein wenig benommen, und sie wollte ja unbedingt auch noch duschen. Trotzdem spürte sie aber diese Gelassenheit, die aufkommt, wenn alles perfekt ist, wenn die Mühen, die man für das Wohlbefinden eines geliebten Menschen auf sich genommen hat, so gut wie unsichtbar sind und wenn man die Arbeit wegpacken und sich darauf freuen kann, bald jemanden wiederzusehen, den man im wahrsten Sinn des Wortes verehrt.
Ihr übertrieben teures Apartment am Broadway, am unteren Ende von Pacific Heights, war winzig und eigentlich auf der falschen, dem Meer abgewandten Seite. Doch ihrer Meinung nach war es das viele Geld wert, denn dank eines kleinen Balkons und eines niedrigeren Nachbargebäudes bot es eine unerwartet schöne Sicht auf die San Francisco Bay. Von hier aus hatte sie in einer nebelfreien Nacht vor ein oder zwei Wochen über der dunklen Weite des Ozeans den Meteorschauer am klaren kalifornischen Himmel sehen können.
Jetzt fiel ihr auf, dass es für drei Uhr eigenartig dunkel war. Die Skyline bot mehrere Farbschattierungen: die getupften Taubengrautöne der Wolken, das tiefe Schiefergrau der Berge in der Ferne und dazwischen ein blasses Gelb wie von schrumpfendem Licht, und all das zerfloss in das stumpfe Stahlgrau, in dem sich das Meer momentan präsentierte. Die Stadt war zwischen zwei Wetterfronten gefangen. Der Morgen hatte noch mit der vorhergehenden Woche mitgehalten, in der es fast jeden Tag sonnig gewesen war – ein typisch kalifornischer Winter mit milden, klaren, strahlenden Tagen –, doch Madeline bemerkte, dass eine Veränderung bevorstand. Der Nebel würde hereinkommen und ein neuer Wetterzyklus beginnen. Eine Schande, jetzt, so kurz vor Chris’ Ankunft. Sie musste grinsen angesichts der Ironie, dass er nach Kalifornien kam und hier englisches Wetter vorfinden würde.
Sie waren spät dran. Wie untypisch. Das lag bestimmt an Barbara. Ihre ältere Schwester war ausgesprochen klug, in der Regel gut organisiert und eine ausgezeichnete Menschenkennerin. Maddie freute sich darauf, wenn Barbara mit dem für sie charakteristischen Humor ihre ersten Eindrücke ihres Schwagers in spe preisgeben würde. Doch wenn es sein musste, nahm sie auch unverblümt das Recht auf ihre eigenen Bedürfnisse in Anspruch. Man musste durchaus damit rechnen, dass sie an ihrem freien Samstag jegliches Zeitgefühl verlor, außerhalb des mütterlichen Zuhauses eine heimliche Zigarettenpause einlegte oder mit Drew, ihrem schwulen Nachbarn und besten Freund, im Castro über die neuesten Skandale herzog. Das Familienessen morgen Abend war eine Sache, doch Madeline ärgerte es ein wenig, dass sie ausgerechnet heute kamen, wo sie wegen Christophers lang ersehnter Ankunft eher störten. Sie wollte mit niemandem reden, sondern sich einfach ganz und gar auf ihn konzentrieren. Fairerweise musste sie allerdings einräumen, dass es ganz natürlich war, wenn ihre Mutter überaus darauf erpicht war, den Engländer kennenzulernen, der das Leben ihrer Tochter in nur einem Jahr Auslandsstudium so vollkommen verändert hatte.
Genau gesagt sogar an nur einem Abend, dachte Madeline. Sie hatte sein Wesen, seinen so sensiblen wie verträumten Charakter, an einem einzigen Abend erfasst. Der Rest war nur noch Bestätigung gewesen.
In diesem letzten Januar (war es wirklich erst ein Jahr her?) war sie selbstvergessen zum Dinner der Oxford Union Society gegangen, in einem schicken schwarzen Kleid mit einem Paschminaschal und ihren besten schwarzen High Heels, trotz der eisigen Kälte. Wer in aller Welt konnte auf den mittelalterlichen Gehsteigen von Oxford Schuhe von Louboutin tragen? Hochmut kommt vor dem Fall, hätte ihre Großmutter sie gewarnt. Und wie es kommen musste, zauberte ein paar Stunden später, als sie wieder herauskam, ein wunderschöner, aber unerwarteter Schneeschauer eine Märchenlandschaft mit weißem, gefrorenem Boden. Während ihrer Ausbildung an der Ostküste hatte sie sich nie ganz an die Freude über überraschend fallenden Schnee gewöhnen können, und entzückt von den wirbelnden Bewegungen lachte das Mädchen aus Kalifornien nun laut heraus. Aber ans Nachhausegehen war jetzt nicht mehr zu denken. Um auf die Schnelle ein Taxi zu bekommen, war es schon zu spät, und bis zum Gloucester Green zu laufen war bei diesen Straßenverhältnissen zu weit. Sie hatte einer Freundin zugerufen, ihr bitte per Telefon ein Taxi zu bestellen, und dabei fast den Halt verloren. Dies war das Signal für einen Mann im Frack gewesen, der plötzlich grinsend an ihrer Seite stand und sich über ihre kindliche Reaktion auf das Wetter zu amüsieren schien. Mit exakt so vielen Worten, wie nötig waren, um sich vorzustellen, hatte Christopher Taylor, Examenskandidat der Medizin, die Lady elegant auf seine Schulter gehievt und über die Pflastersteine getragen, vorbei an den irritiert dreinblickenden Pförtnern und genau bis an die Treppe des New College.
Es war zwar bei Weitem nicht der längste Weg ihres Lebens gewesen, dachte sie später einmal, dafür aber mit Sicherheit der bedeutsamste.
Madeline lachte und säuberte in ihren Gedanken noch die Schuhe vom Schnee, als sie plötzlich auf das Geschrei von Möwen aufmerksam wurde, die am Himmel kreisten und dann unter dem Dachgesims eines Gebäudes ein Stück entfernt Schutz suchten. Der Wind über der Bay musste stetig stärker geworden sein. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr und fühlte sich gereizt, obwohl sich die Zeiger kaum weiterbewegt hatten. Normalerweise war sie durchaus sanftmütig, aber nun kam ihre Zeitplanung durcheinander, und sie hatte noch immer nicht ihre Haare gewaschen. Alles würde sich verschieben, bis ihre Mutter und Schwester hier aufgetaucht waren, Kaffee und Biscotti zu sich genommen hatten und sie dann wieder ihren stillen Vorbereitungsritualen überlassen würden.
Das Summen der Gegensprechanlage unterbrach ihre Gedanken. Sie waren von ihr unbemerkt angekommen und hatten bereits geparkt. Madeline drückte auf den Öffner, um sie heraufzulassen, löste die Türsicherung und ging in die Küche, um die Espressomaschine einzuschalten. Ihre über die Schulter gerufene Begrüßung galt gleichzeitig der Stimme am anderen Ende der Leitung, denn im selben Moment hatte auch das Telefon geklingelt. Sie sprach beiläufig – der einzige halbe Satz, der ihr, wie sie sich später erinnerte, an diesem Tag über die Lippen kam –, und ohne sich umzudrehen, um den Kuss ihrer Mutter zu erwidern.
Und dann schloss sich eine Tür.
Ein eisiger Wind von der Bay begleitete Madeline Moretti zum Bett hin, das sie früh an diesem Tag mit feinstem Leinen frisch bezogen hatte. Kein Wort fiel zwischen ihnen, als Barbara ihrer Schwester das schlichte, cremefarbene Wollkleid über den Kopf zog und die Nadeln aus ihrem Haar entfernte. Sicher war Madeline nicht bewusst, dass sie das Schicksal so vieler junger Frauen an diesem Datum und über so viele vergangene Jahrhunderte hinweg auf eine dunkle, ironische Weise nachzeichnete: Aber sie konnte sich nicht umdrehen, konnte ihren blinden Blick nur starr geradeaus nach vorn richten, bis ihr Kopf auf dem Kissen lag, ihre geschwollenen Lider sich schlossen und sie in einen betäubten, von Träumen heimgesuchten Schlaf fiel. Für alles andere in der Welt um sie herum war sie tot.
Der Anruf an diesem Nachmittag kurz nach drei – nach elf Uhr abends in England – hatte die Tür zu ihrer Zukunft zugeschlagen und sie als eine Gefangene der Vergangenheit zurückgelassen; er hatte ihr Leben dramatisch und auf unsägliche Weise verändert. Es würde keinen gemütlichen Sonntagsbrunch geben, keine aus dem Küchenschrank hervorgezauberten Delikatessen, keine Übernachtung in einem Weingut, keine gemeinsame Ferienwoche. Sie würde Christopher nicht vom Flughafen abholen können.
Ihre Bettdecke kam ihr vor wie ein Leichentuch, während sie im Halbschlaf wie betäubt dalag. Sie hörte immer wieder die leise englische Stimme seiner Mutter, ihren schleppenden, irgendwie unpassenden Tonfall, ihre Worte, die keinen Sinn ergeben mochten. Worte von seiner letzten Nachtschicht als jüngster Arzt im John Radcliffe Hospital in Oxford, von seiner Reise, die ihn zu ihr bringen sollte, um hier ihre Familie kennenzulernen. Von einem Auto voller Teenager, die von einer Party in der Stadt zurückkamen; einem betrunkenen Fahrer, der überholte, die mittlere Leitplanke durchbrach und frontal in Chris’ Wagen krachte – Chris, der am frühen Morgen auf dem Weg zurück ins College gewesen war, um dort ein paar Stunden zu schlafen, bevor er packen und zu Maddie fliegen wollte. Es war eine Ansammlung unvollständiger Sätze, doch für Madeline waren es Worte ohne Klang und Bedeutung in einer rationalen Welt; Worte, von denen sie nicht erwartet hätte, dass sie je für sie bestimmt sein würden und die sie doch nie auslöschen konnte.
Der Mond der heiligen Agnes war untergegangen.
2
Santo Pietro in Cellole, Toskana, 20. Januar 1347
Es war nach drei Uhr, und die Luft roch nach Schnee. Mia beeilte sich, von der Abtei den Fluss entlang nach Hause zu kommen. Vor ihr hoppelte ein Hase mit Raureif im Fell über den eisigen Grund und verkroch sich im spärlichen Schutz der nackten Weiden und Birnbäume. Wenn der Wind nicht nachließ und es weiterschneite, würde das Tier bald gut getarnt sein.
Das war ungewöhnlich, selbst an einem Januartag. Ihr Zuhause lag in einem geschützten Tal von solcher Schönheit, dass es als Valle Serena bekannt war – das Tal heiterer Ruhe. Während die ein, zwei Meilen westlich oben auf dem Berg gelegene stolze Stadt Chiusdino oft mit Schnee bedeckt war, herrschte unten, in Mias Welt, ein milderes Klima. Hier war der Winter freundlicher, und das geschäftige Leben wurde bewusst verlangsamt. Allerdings nicht heute, denn das Wetter hatte umgeschlagen, und das Haus war voller Pilger und Gäste, die abwarteten, bis es sich wieder besserte und sie ihren Weg nach Süden fortsetzen konnten.
Mia fand die kalte Luft faszinierend. Sie fragte sich, ob man an einem solchen Tag ein Einhorn zu sehen bekommen könnte, oder auch eines der anderen wilden, geheimnisvollen Geschöpfe der märchenhaften Wälder, die an ihr Zuhause angrenzten. Tante Jacquetta mochte zwar glauben, dass nur Wildschweine und Rotwild, und ab und an ein paar Wölfe, dieses Naturreich bevölkerten, aber auch sie kannte schließlich nicht alle Antworten.
Mia steckte ihren dunkelblonden Zopf unter die Kapuze und zog ihren Umhang fest um sich, um die empfindlichen Wegerichblätter zu schützen, die sie im Kloster geholt hatte. Vor einigen Tagen war ein Pilger gekommen und hatte gebeten, sich bei ihnen ausruhen zu können; er würde es nicht mehr schaffen bis zur berühmten Zisterzienserabtei und von dort den Berg hinauf nach Montesiepi zum heiligen Schrein von Galgano Guidotti, einem Ritter der Gegend, der zum Heiligen geworden war. Der Pilger hatte sich eine schlimme Verletzung am Fuß zugezogen. Wie viele vor ihm war er auf der Via Francigena von weit her gekommen; ein Mann aus einem Land im Norden mit hellen Augen und heller Haut, strohfarbenem Haar und feinen Kleidern. Trotz seiner heftigen Schmerzen verlor dieser Herr, der auf der Suche nach Erlösung und Läuterung seiner Seele sein musste, nie seine guten Manieren. Tante Jacquetta erkannte, dass sie zur Behandlung seiner schlimm entzündeten Wunde unbedingt die von den Mönchen gezogene Wegerich-Art brauchte. So wurde Mia angewiesen, Fra Silvestro in seinem Destillationsraum im Kloster aufzusuchen, um etwas von dem Kraut zu erbitten. Sie würde die Brüder zwar bei ihren Vorbereitungen für den morgigen Festtag der heiligen Agnes stören müssen, aber es gab einfach niemanden, der sich mit dem Anbau von Heilkräutern so gut auskannte wie Fra Silvestro.
Er hatte Mia anvertraut, das Geheimnis bestünde darin, einen Garten nach den Mondphasen zu bearbeiten. »Das erste Viertel des zunehmenden Mondes, Kind, für die Kräuter und Blattpflanzen, die keine Samen und Früchte tragen.« Und es schien in der Tat zu funktionieren, denn er hatte von den warmen Monaten immer einen reichlichen Ertrag übrig, den er zur Verwendung im Winter sorgfältig trocknete. Und nur ein paar dieser getrockneten Blätter hatten eine so starke Wirkung, dass in ein, zwei Tagen alles verheilt sein würde und der Pilger sich wieder auf den Weg machen konnte.
Mia rutschte mit ihren Holzschuhen auf dem vereisten Pfad, bis sie in Sichtweite der Villa von Santo Pietro war, einem Haus von simpler Schönheit und Gediegenheit, das ihre Tante bewirtschaftete. Manchmal ließ das Geschwätz der Bediensteten sie glauben, es habe einmal ihrem Vater gehört, an den sie jedoch keinerlei Erinnerung hatte. Manches Mal schien es ihr auch, als müsse es Eigentum der Kirche sein und ihre Tante lediglich die Verwalterin. Aber es war schon Maria Maddalenas Zuhause, seit sie sechs Jahre alt war, und sie konnte sich an kein anderes erinnern. Bereits seit mehr als sieben Jahren wurde sie vom Lebenspuls und dem Geist dieses Hauses geprägt. Es roch, sogar im Winter, nach den wundervollen Schwertlilien, die in Massen an den toskanischen Hängen wuchsen: ein feiner Duft, der dem Wäscheschrank und der Wäscherei, der Küche, den Kleiderschränken und den Bottichen entströmte, in denen im Wirtschaftsgebäude aus zu Pulver zerstoßenen Wurzelstöcken und Kuhmilch Seife gekocht wurde, und sogar dem kleinen Destillationsraum, wo nach dem Rezept ihrer Tante Aqua vitae hergestellt wurde. Mia kannte diesen Duft auch gut als Medizin, die ihr beim Atmen half, wenn sie manchmal schwer Luft bekam.
Sie trat in die Spülküche und traf dort die sanftmütige Alba, die hübscheste und jüngste der Mägde, die für das Bad eines Gastes Wasser erhitzte. Mit einer Geste fragte sie, ob sie etwas davon haben könne, und zeigte Alba zur Erklärung ihre Wegerichblätter. Alba und Tante Jacquetta waren die beiden Seelen im Haus, die Mia am besten verstanden und bei denen sie sich nie unbeholfen oder dumm vorkam. Denn Mia hatte, seit sie nach Santo Pietro gekommen war, noch nie ein Wort gesprochen. Ihr Gehör war gesund, und niemand wusste, ob ihr Stummsein ein gottgesandtes Gebrechen war oder etwas, das sie sich selbst auferlegt hatte. Doch mit den beiden Menschen, die ihr am liebsten waren, und auch mit Fra Silvestro in der Abtei, konnte sie sich bestens verständigen.
»Wie soll ich es zubereiten, Maria?«, fragte Alba geduldig.
Mia bedeutete ihr, nur drei Blätter und so wenig Wasser wie möglich zu verwenden; dann zeigte sie auf das Leinen und tat so, als wolle sie es aufrollen.
»Ist es für einen starken Leinenwickel um den Fuß des Signor?«, fragte Alba. »Und nicht zu viel Wasser, ja?«
Mia nickte energisch, klopfte Alba auf das Handgelenk und zeigte ihr die Blätter noch einmal. Dann machte sie eine Bewegung, als würde sie die Blätter aus dem Wasserbecken herausnehmen und in den Leinenwickel legen.
»Ich soll die Blätter in den heißen, nassen Wickel tun, wo sie wegen der Schwellung bleiben sollen«, sagte Alba. »Und das ist der Rat des Mannes mit der Tonsur!« Sie lächelte, denn sie verstand Mias Klopfen auf den Kopf genau, mit dem diese Fra Silvestro andeutete.
Mia lachte stumm und umarmte sie.
»Vergiss nicht die Vigil der heiligen Agnes, Maria Maddalena«, hörte sie Albas Stimme hinter sich, als sie durch die Tür in die Küche schlüpfte. »Heute Abend geht es ohne Abendessen ab ins Bett, und dass du dich auch ja nicht umdrehst!«
Mia lächelte ihr zu und verschloss mit den Fingern die Lippen.
»So ist es recht«, stimmte Alba ihr zu. »Kein Wort wird geredet!« Und sie lachten beide, die eine lebhaft, die andere lautlos.
Alba hatte Mia in diesem Jahr erstmals vom Ritual der heiligen Agnes erzählt, denn sie war nun fast vierzehn Jahre alt und vielleicht bereit, ans Heiraten zu denken. Alle Mägde wussten, dass ein Mädchen – wenn es den ganzen Tag vor dem Festtag der heiligen Agnes stumm blieb, ohne Abendessen zu Bett ging und sich nicht umblickte – von der Heiligen einen Traum mit dem Mann geschickt bekam, den es heiraten würde. Es hieß, er würde ihr im Schlaf erscheinen, ihr ein Festmahl anbieten und sie seiner unsterblichen Liebe versichern. Doch wenn ihr auch nur ein Wort über die Lippen kam oder sie das Ritual vergaß und über die Schulter zurückschaute, würde der ganze Zauber verfliegen, Agnes würde für jegliches Bitten und Flehen taub sein und kein Traum würde sich einstellen. Mia konnte sich nicht denken, dass es für sie einen Mann geben könnte – einen, der eine Stumme heiraten würde, die ihren Vater nicht kannte. Doch sie wollte sich an das Ritual halten, und wenn es nur deshalb war, um Alba eine Freude zu machen.
Der Klang der Klosterglocken scholl durch die Stille herüber. Dies und das schwächer werdende Licht sagten Mia, dass es fast vier Uhr war. Sie musste die Kerzen anzünden und dann mit Tante Jacquetta den Unterricht absolvieren. Heute war das Rechnen mit dem Abakus dran, nicht gerade ihr Lieblingsfach; Latein zu lesen oder zu übersetzen wäre ihr lieber gewesen. Aber da das Haus mehr als genug Gäste hatte – ein Paar war sogar bereit, in einem der Gartenzimmer zu übernachten, die eigentlich nur im Sommer benutzt wurden –, würde sie heute Abend, anstatt zu studieren, wohl bei der anfallenden Hausarbeit rund ums Abendessen mithelfen.
Sie wollte gerade zu ihrer Tante gehen, als sie ihren Namen rufen hörte.
»Maria Maddalena! Ich hoffe, du kommst gerade aus der Küche und hast Loredana geholfen, die Kapaune zu waschen? Und vorher hat Giulietta nach dir gesucht, damit du ihr mit der Wäsche hilfst. Und du hast so lang für deinen Gang zum Kloster gebraucht, dass du nicht zum Brotbacken da warst! Bist du schon wieder in deinen Gedanken, Madonna mia?«
Der Ton ihrer Tante verriet, dass sie Mia nicht wirklich rügte, auch wenn sie vorgab, ärgerlich zu sein. Mia wusste, sobald ihre Tante »Kapaune« erwähnte, war ihr zu lachen erlaubt! Mit dieser Liste von Haushaltspflichten, die länger war als ein Strang Wolle, neckte Jacquetta ihre Nichte am allerliebsten. Sie fand sich auf dem Rücken eines Buches von Signor Certaldo mit Ratschlägen darüber, wie man am besten mit Ehefrauen und Töchtern umging. Demnach sollte eine junge Frau so vornehm sein, in den oben gelegenen Privatgemächern Beutel zu weben und Seide zu besticken, wie sie unten bereit sein sollte, die Ärmel aufzurollen und mit anzupacken, zu sieben, zu kochen und Socken zu stopfen. Mias junge Tante war überaus selbstbewusst, und dementsprechend erzog sie auch ihre Nichte. Frei von List und Verschlagenheit und ohne den Druck von Eltern, die nur darauf aus waren, sie möglichst gut zu verloben, lachten sie beide über Signor Certaldos Ratschläge. Sie empfanden eine tiefe Zuneigung füreinander, lebten ein einfaches, aber gutes Leben und waren freundlich zu anderen. Mehr als diesen Rat wollte Tante Jacquetta ihrer Nichte gar nicht mitgeben. Sie kam auf Mia zu und umarmte sie.
»Hast du von den Mönchen plantago mitgebracht?«
Mias Hände erklärten ihr, dass Alba bereits dabei sei, das Kraut für den Gast aufzubereiten.
»Dann gehe ich jetzt zu ihm. Hol sauberes Leinen und bring deine Kleider aus der Wäscherei nach oben, um Giulietta zur Hand zu gehen.« Sie lächelte ihr zu, denn sie wusste Bescheid über das Ritual, das ihre Nichte am Tag vor dem Fest der heiligen Agnes befolgen sollte. »Ich lasse dir von Chiara heißes Wasser zum Waschen bringen, und dann müssen wir in der Küche helfen. Schließlich fasten nicht alle so wie du!«
Es war spät, und das kräftige Licht des Vollmonds warf dunkle Schatten, als Mia, ermattet von langen Stunden unerwarteter Arbeit und dem Lärm zu vieler Menschen, endlich eine Kerze entzündete und die Treppe zu ihrer Dachkammer hinaufstieg, von der man den Pilgerpfad überblicken konnte. Der Mondschein ergoss sich durch das Fenster auf den Treppenabsatz, und Mia, vertieft in Gedanken an Sankt Agnes und ihre Lämmer und an Versprechen sanfter Zauberei, vergaß ihren Hunger und den eisigen Wind draußen. Den Saum ihres Hemdes raffend, erreichte sie das obere Stockwerk und bewegte dabei in einem Bittgebet stumm die Lippen. Ihre Hand lag auf der Türklinke, und sie atmete ruhig in ehrfürchtigem Gedenken an Agnes, als draußen auf dem Pflaster plötzlich Pferde zu hören waren. »… sonst verfliegt der ganze Zauber«, waren Albas Worte gewesen. Es klopfte an der Haustür. Was konnte sie tun, da die wenigen Bediensteten ihren Pflichten nachgingen und ihre Tante sich um den verletzten Pilger kümmerte? Widerwillig, aber mit überraschend sicherem Schritt ging sie die Treppe hinunter.
Noch vor dem zweiten Klopfen war sie an der Tür und schob den Riegel zurück. Im nächsten Augenblick kam Cesare, der Haushofmeister, dazu und half ihr, die schwere Tür zu öffnen. Mit der bloßen Hand schützte sie die Flamme ihrer Kerze vor dem Nachtwind und blickte in das unerwartet starke Licht von draußen. Vor ihr sah sie die Umrisse eines Paares: ein junger Mann, vornehm gekleidet, aber schmutzig von der Reise, und ein Mädchen, dessen Gesicht Mia nicht sehen konnte, weil es vor dem Mondlicht und den Fackeln, die den Weg zum Hoftor säumten, in Schatten getaucht war.
Mia fragte sich nur einen Augenblick lang, wer den beiden das Tor geöffnet hatte. Alle ihre Sinne waren auf die junge Frau gerichtet, die geheimnisvoll von dem Licht umrahmt wurde. In der Kälte und Dunkelheit der Stunde schien sie diese Helligkeit in sich aufzunehmen: una raggia, dachte Mia, eine Frau, die aus dem Licht kommt. Vollkommen furchtlos und ohne erst Cesares Reaktion abzuwarten, bedeutete sie den Ankömmlingen mit einer Geste einzutreten.
3
San Francisco, Ende Januar 2007
Perfekt bekleidet mit einem schwarzen maßgeschneiderten Kostüm aus Respekt für jemanden, den sie zwar nie kennengelernt, der aber einer geliebten Person alles bedeutet hatte, ging Isabella Moretti in Madelines Apartment ein und aus. Sie kümmerte sich darum, für einen Strom erschütterter Besucher Kaffee zu kochen, Vasen für mitgebrachte Blumen zu besorgen und in dem bereits überfüllten Kühlschrank noch mehr Essen zu verstauen. Inmitten eines wenig angebrachten paradiesischen Dufts von Lilien, Hyazinthen und weißen Narzissen, der einem in dem engen Raum fast die Atemluft nahm, ließ sie ihre beklemmend stille Enkelin nicht aus den Augen. Manchmal tauschten sie ein paar Worte aus. Die meiste Zeit aber saßen sie einfach schweigsam zusammen.
Das Wetter war schon seit einer Woche unbeständig: einen Tag lang schwerer Sturm und Regen, durchsetzt mit frischen, strahlenden Abschnitten, und Abende mit geradezu himmlisch schönen, weißen Nebelwolken, die von einem atemberaubenden Sonnenuntergang bestrahlt wurden; und dann wieder Stürme. Das Wetter schien in der Lage, eine Intensität und Gefühlsbeladenheit auszudrücken, die ihrer Enkelin fehlte, und unwillkürlich wanderten Isabellas Gedanken immer wieder fast fünfundzwanzig Jahre zurück.
Als Madeline geboren wurde, hatte Isabella für ihre neue Enkelin ein Geburtshoroskop erstellen lassen. Zunächst hatte sie an so etwas gar nicht gedacht, doch ein in Zeitschriften ausgetragener Disput darüber, ob das Kind im Zeichen Stier oder Zwillinge geboren sei, bewegte sie dazu. Der 21. Mai schien ein Tag zu sein, der sich über eine Trennlinie erstreckte, und deshalb wollte Isabella die Sache fachkundig abklären lassen. Dazu hatte man sie an Signora Angela verwiesen, eine ältere Hutmacherin, deren Kreationen an kirchlichen Festtagen, Erstkommunionen und Hochzeiten so manches vermögende Haupt zierten. Als Nebenbeschäftigung erstellte die mit spirituellen Gaben gesegnete Signora Horoskope – etwas, das sie, wie sie gerne betonte, von ihren etruskischen Vorfahren geerbt habe! Viele hielten sie für eine etwas exzentrische Person, manche auch für einen guten Engel, wieder andere sahen sie als eine weise Alte, und zumindest ein paar auch als eine strega – eine Hexe. Jedenfalls war sie eine zähe alte Dame mit einer nur ihr eigentümlichen Eleganz und Energie. Sie wohnte in einem der Sträßchen in North Beach, wo seit Generationen italienische Einwanderer wie Isabella selbst ansässig waren. Isabella hatte sich auf den Weg zu der Signora gemacht, ausgestattet mit Geburtsdaten einschließlich Größe und Gewicht der Neugeborenen und des eigenartigen, aber interessanten Details, das Mädchen sei »mit einem Knoten in der Nabelschnur« geboren worden.
Als sie sieben Tage später das Horoskop abholte, musterte die ältere Dame ihre Klientin so ernst, dass Isabella beinahe losgelacht hätte.
»Das Kind ist in den Plejaden geboren«, erklärte sie ihr und zog sie an einen Tisch, auf dem Filz, Stecknadeln und Stoffe zum Versteifen verstreut lagen. »Sie befinden sich im letzten Grad des Sternbildes Stier, doch ich glaube, das Kind steht mehr unter der Obhut der freundlichen Maia als unter jener der ehrgeizigen Alcyone. Sein Mond ist ebenfalls im Stier – ein alter Mond, der ungefähr einen Tag später im Zeichen der Zwillinge neu geboren wurde.«
Isabellas Neugier war gestillt. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Interesse an der ganzen Sache befriedigt war, und wandte sich zum Gehen. Doch die Signora hielt den von Schneiderkreide weiß gefärbten Finger Aufmerksamkeit heischend hoch, und ihr Blick erstaunte Isabella.
»Ein alter Mond ist eine alte Seele mit Versprechen, die gehalten werden müssen; aber glücklicherweise steht ihr Mond nicht in der Nähe des Caput Algol, des Hauptes der Medusa. Alle ihre Planeten nach dem feurigen Mars sind rückläufig. Ihr gesamtes Horoskop verweist nach rückwärts, verstehen Sie.«
Isabella verstand absolut nichts, und die Erwähnung der Medusa beflügelte ihre Fantasie nicht gerade in einem positiven Sinn, doch die Frau fuhr ohne Erklärung fort.
»Die Plejaden sind ein sehr signifikanter Sternhaufen, Signora Moretti. Sie werden ›die Segelnden‹ genannt, oder auch die ›Tauben‹ und die ›Hüter der Ernte‹. Aber man bezeichnet sie auch als die ›weinenden Frauen‹. Dieses Kind wird eine fortschrittliche, strahlende Persönlichkeit werden – sicherlich die beste in ihrer Schulklasse –, willensstark, aber auch feminin. Sie werden sehen, wie sie mit Leichtigkeit und ohne sich große Gedanken zu machen durchs Leben geht, sie wird kaum je innehalten, um tief in das Wesen der Dinge zu schauen, und niemals zurückblicken – bis, noch früh in ihrem Leben, der Tag kommt, an dem sie einen schrecklichen Verlust erleiden wird. Für einige Zeit wird sie wie in Stein gemeißelt sein, doch dann wird sie ihre Reise beginnen, um das Geheimnis zu begreifen, wer sie ist. Dann muss sie zurückreisen und zur Pilgerin werden – und sie hat einen weiten Weg vor sich.«
Signora Isabella hatte ihr das in altmodisches Packpapier eingewickelte Horoskop ausgehändigt, mit dem Rat, es für das Kind aufzuheben, bis der rechte Zeitpunkt gekommen sei.
Erst vor dem Haus der Frau hatte Isabella Moretti bemerkt, dass sie verwirrt, um nicht zu sagen beunruhigt war. Sie war nicht ausgesprochen abergläubisch, aber sie hielt sich aus Respekt und mehr noch der Tradition wegen an die Gebote ihres katholischen Glaubens, und sie kannte die Festtage der wichtigen Heiligen, aber sie war nicht wirklich fromm. Doch obwohl sie sich eher als rational einschätzte, hatte sie es nie wirklich fertiggebracht, die Erinnerung an diese seltsame Information abzuschütteln, nicht zuletzt wegen des überaus ernsten Tons der alten Dame. Sie wusste auch nicht, ob diese Begegnung ihre besondere Beziehung zu Maddie, ihre Nähe zueinander, beeinflusst hatte. Auf jeden Fall hatte die ausgesprochene Vitalität des Mädchens etwas damit zu tun, seine Neugier auf das Leben und seine Freude daran. Madeline war ein Kind gewesen, das niemals gelaufen war, wenn es rennen konnte, und man hatte ihr auch nie beibringen müssen, dass man mit einer gut gewählten Ausdrucksweise auf Dinge einwirken konnte. Sie strahlte Begeisterung aus und konnte anderen damit Auftrieb geben. Selbst in ihrer frühen Jugend, als sie am entschlossensten und waghalsigsten war und noch Führung benötigte, war Maddie bereits eine leuchtende Seele gewesen, und es war einem leichtgefallen, sie lieb zu haben.
Ganz plötzlich und mit absoluter Klarheit hatte sich Isabella wieder an diesen Tag erinnert. Sie blieb nahe bei Madeline und hielt nebenbei auch deren endlos plappernde Mutter etwas von ihr ab. Isabella hielt ihre Schwiegertochter für einen guten Menschen, doch sie war absolut nicht imstande, die Zeichen zu erkennen oder die Erfordernisse zu begreifen. Ihre Überfürsorglichkeit und ihre Geschäftigkeit waren ihrer Tochter in deren stillem Kummer keine Hilfe. Maddie brauchte, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, etwas Ruhe, um das Geschehene verarbeiten zu können. Das arme Kind war seiner Sprache beraubt. Sie war in der Tat zu einer »weinenden Frau« geworden, obgleich, wie Isabella ironisch feststellte, die tatsächliche Fähigkeit, einige Tränen zu vergießen, eine Erleichterung für sie bedeutet hätte – wenn sie dazu nur in der Lage gewesen wäre.
Diese erste Woche – die für Maddie eigentlich Urlaub hätte sein sollen – näherte sich nun ihrem Ende. In einem Zustand der Lähmung verließ sie nur einmal ihre Wohnung, um einen zweiundsiebzigstündigen Kurztrip nach London zu unternehmen und an der Beerdigung teilzunehmen, zu der sie zuerst nicht hatte gehen wollen. Sie entschied sich dafür aus Mitgefühl für Chris’ zutiefst erschütterte Eltern heraus. Deren Einladung, noch ein paar Tage bei ihnen zu bleiben, lehnte sie jedoch ab. Madeline begriff, dass sie sie quasi als Zugang zu ihrem verlorenen Sohn brauchten, aber sie konnte ihnen einfach nicht helfen. Es war jetzt nicht mehr wie zuvor, an jenen wenigen wunderbaren Wochenenden, an denen sie mit Chris im Zug von Oxford nach London gefahren war, im letzten Frühling und Frühsommer, als seine Eltern ihr die Tür ihrer eleganten Wohnung im Südwesten Londons geöffnet und sie willkommen geheißen hatten. Es war nur Monate her, dass sie jeden Tag im Garten gegessen hatten, doch in dieser Woche ging es in jeder Stunde um das, was nie mehr sein würde. Der Winter hatte den Garten fest im Griff, und Chris war gegangen. Die Vorstellung war unerträglich, erdrückend; das Gefühl des Kummers legte sich um ihren Hals wie eine kalte Hand und erstickte Tränen und Worte. Sie musste aus London fort.
Dennoch kam sie nirgendwo zur Ruhe. Während andere auf dem Nachtflug zurück nach San Francisco einnickten, erging sie sich unaufhörlich in Erinnerungen. Sie versuchte, sich an jede Einzelheit von Chris’ Gesicht zu erinnern. Sein dunkles, nicht zu bändigendes Haar, das, so hatte er es ihr versprochen, genetisch so veranlagt war, dass es nie ordentlich sein, aber auch nie dünn werden würde; das Grübchen in seinem markanten Kinn; die ungewöhnlich langen Wimpern, deretwegen sie ihn geneckt und gesagt hatte, jedes Mädchen würde sie gerne haben! Und die Narbe, wo er sich als Kind durch die Unterlippe gebissen hatte. Sie sah deutlich seine kräftigen Schultern und seinen Hals vor sich – sehr muskulös, weil er für sein College gerudert hatte, und die schelmischen braunen Augen, die einen herzlichen Humor verrieten. All diese Details konnte sie sich vorstellen, und doch fügten sie sich nicht zu einem Ganzen zusammen. Sie war in seine Intelligenz verliebt, nicht in sein Gesicht; sein Wesen teilte sich mehr in seiner ganzen Präsenz mit als in einzelnen Zügen. Sie konnte ihn hören, und womöglich auch riechen; sie erinnerte sich an seinen Geruch. Aber wie er bei ihren letzten Treffen ausgesehen hatte, daran konnte sie sich nicht wirklich entsinnen. Sein Gesichtsausdruck entzog sich ihr, sie konnte ihn sich nicht zurückholen. Und fatalerweise waren auch die wenigen Fotos, die sie von ihm hatte, irgendwie unklar: entweder aus dem falschen Winkel aufgenommen, oder die Entfernung war zu groß. Er hatte die Gewohnheit gehabt, die Hand vors Gesicht zu halten, wenn man ihn fotografieren wollte. Und so hatte sie sich in dieser Woche die meiste Zeit quasi blind gefühlt – oder zumindest nicht in der Lage zu sehen, was sie sehen wollte. Sie musste mit einem heftigen Schmerz in ihrem Bewusstsein leben.
Am Samstag, eine Woche nachdem sie die Nachricht erhalten hatte und einen Tag nach ihrer Rückkehr aus London, verfiel Maddie in einen Zustand lähmender Einsamkeit. Dieses Gefühl wurde noch viel deutlicher inmitten zu vieler Besucher, die nach alter italienischer Sitte erneut Familie und Freunden endlos kondolierten. Von der sanften Fürsorge Nonna Isabellas und dem festen Griff Barbaras – die jeden Tag vorbeikam, um ihre Schwester wortlos zu umarmen – abgesehen, wusste Maddie, dass sie wenigstens den Schein der Normalität wiedererlangen musste, wenn sie diese eigenartige Tortur überstehen wollte. Es war eine verfrühte Witwenschaft, das schmerzliche Gefühl von Sterilität, das sie in dem Raum spürte, der von den Anteil nehmenden Trauernden hergerichtet worden war wie ein Brautgemach. Sie musste hinaus an die frische Luft.
Maddie konzentrierte sich auf den Gedanken, dass die Arbeit ein Trost sein werde, mit dem sie die nächsten Tage würde überstehen können. Sie rief Samantha im Büro an, die prompt auch am Wochenende da war, und bat mit aller Inbrunst darum, am Montag wie üblich am Arbeitsplatz erscheinen zu dürfen.
»Hm. Ich denke, du könntest dir noch eine Woche freinehmen.« Samantha erkannte, dass Madeline in den letzten sieben Tagen zu viel hatte einstecken müssen, um gute Leistung bringen zu können, und die Arbeit in der Kanzlei konnte enorm stressig sein, selbst für eine starke Person.
Doch Maddie ließ Samanthas Erwiderung nicht gelten. Sie hörte den gesunden Menschenverstand im Ton ihrer Chefin, wollte sich jedoch nicht fügen.
Samantha drängte sie ein wenig, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. »Du befindest dich in einer Art Kriegszustand, Maddie. Wie geht es dir denn wirklich? Isst du überhaupt genug?«
Maddie lächelte matt in den Hörer. »Nein, nicht viel. Aber ich atme«, antwortete sie leise. »Ich konzentriere mich einfach auf das Atmen. Und ich wäre froh, wenn mein Hirn etwas zu denken hätte.«
Samantha verstand Maddies Qual. Sie respektierte ihren Entschluss und zögerte nur noch einen Augenblick. »Am Montagmorgen ist eine wichtige Einsatzbesprechung in der Arena anberaumt. Wir sind an einem interessanten Punkt angelangt, und ich würde mich freuen, dich dabeizuhaben.«
Madelines Stimme festigte sich. »Dann sehen wir uns also.«