Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur
der Berliner Republik
Von Claus Leggewie und Horst Meier
Claus Leggewie, geb. 1950 in Wanne-Eickel, Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen sowie des Käte-Hamburger-Kollegs „Politische Kulturen der Weltgesellschaft“ in Duisburg. Zuletzt erschien mit Christoph Bieber (Hrsg.): Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012
Horst Meier, geb. 1954 in Oberkaufungen (bei Kassel). Dr. jur., zunächst Strafverteidiger, seit 1992 freier Autor (www.horst-meier-autor.de). 1993 erschien Parteiverbote und demokratische Republik; 2010 die Tagungsbände Rechtsradikale unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit und Direkte Demokratie im Grundgesetz? (Mithrsg.); 2012 der Essayband Protestfreie Zonen?
Gemeinsam publizierten Claus Leggewie und Horst Meier 1995 die Studie Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie und 2002 den Sammelband Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?
Die deutsche Frage ist die Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie in Deutschland.
Ralf Dahrendorf (Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. R. Piper & Co., München 1965.)
Für die Verteidiger der Freiheit wäre es wirklich angenehmer, sich um die Fälle einer besseren Klasse von Opfern zu kümmern. Wenn wir aber warten, bis nette Leute verfolgt werden, kann es schon zu spät sein. Freiheit muss da verteidigt werden, wo sie verweigert wird.
Aryeh Neier (Defending My Enemy. American Nazis, the Skokie Case, and the Risks of Freedom. E. P. Dutton, New York 1979.)
Originalausgabe
© 2012 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage Juli 2012
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Umschlaggestaltung und Layout: Conny Agel
Lektorat: Klaus Farin/Rana Holsti
Druck: werbeproduktion bucher
ISBN 978-3-943774-03-0 (Druckausgabe)
ISBN 978-3-943774-04-7 (E-Book)
ISBN 978-3-943774-05-4 (PDF)
Vorwort
Wann, wenn nicht jetzt?
Holländische Straße * Halit-Straße
I. „Nationalsozialistischer Untergrund“
1. Bestandsaufnahme einer politischen Erschütterung
2. Endlosschleife Parteiverbot: NPD und NSU
3. Innehalten: Ein kollektives Problem gesellschaftlicher Wahrnehmung
II. In der V-Leute-Falle
1. Rückblende: Verfassungsschutz in flagranti (2002)
2. Mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften
III. Die Erfindung des Verfassungsschutzes
1. Die westdeutsche Demokratiegründung von 1949 als Sonderweg
2. Exkurs: Kritik der „streitbaren Demokratie“
3. Aus der Skandalchronik: Verfassungsschutz 1950 – 2012
IV. Was macht eigentlich der Verfassungsschutz?
1. Die Kernaufgabe und der Zentralbegriff des „Extremismus“
2. Das nachrichtendienstliche Mittel
3. Politische Parteien im Visier des Verfassungsschutzes
3.1 Republikaner, NPD, PDS/Die Linke und andere
3.2 Exkurs: Über die Parteienfreiheit-Bilanz des NPD-Verfahrens (2001-2003)
3.3 Ein systemimmanenter Reformvorschlag: Keine Beobachtung politischer Parteien ohne richterliche Anordnung
3.4 Das Parteiverbot als Instrument der Gefahrenabwehr
3.5 Verbot der NPD, zum zweiten? Wie man eine falsche Sache diesmal richtig machen will
4. Wer bestimmt den Verfassungsfeind?
V. Die Lebenslüge vom „Frühwarnsystem“
1. Eine Serie der Ahnungslosigkeit (Brand- und Mordanschläge, NPD, Hamburger Terrorzelle, NSU)
2. Vorfeldaufklärung ohne sicherheitspolitischen Nutzen: eine notorische Gefährdung der Bürgerrechte
VI. Wie lange noch?
1. Exkurs: Science-Fiction und Verfassungsschutz
2. Ein irreparabler Konstruktionsfehler: Extremistenüberwachung zwischen polizeilicher Gefahrenabwehr und politischer Bildung
3. Das Ende des Sonderwegs: Verfassungsschutz als Anachronismus in einer aufgeklärten Gesellschaft
VII. Skizze einer neuen Sicherheitsarchitektur
1. Das Gewaltkriterium als Grenze des politischen Kampfes
2. Verfassungsreform in bürgerlich-liberaler Absicht: Weder Grundrechteverwirkung noch präventives Parteiverbot
3. „Politische Polizei“ statt Verfassungsschutz: Strafverfolgung ohne Feinderklärung
4. Institutionelle Flurbereinigung: Ein Fünfjahresplan zur Abwicklung des Verfassungsschutzes
VIII. Nach dem Verfassungsschutz: Eine unabhängige Stiftung zur Verteidigung der Demokratie
IX. Republikschutz statt Verfassungsschutz
1. Zukunftsmusik
2. Thesen
Anhang
Appell gegen Neonazis: Was jetzt zu tun ist
Entschließungsantrag
Parlamentarische Untersuchungsausschüsse
„Der Letzte macht das Licht aus“
Literaturauswahl
Internet
Fußnoten
Die beispiellose Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ erschreckt nicht nur wegen einer eiskalten Kopfschussmentalität. Bestürzung und Verstörung sind auch deshalb so heftig, weil diesem Killerkommando, das jahrelang kreuz und quer durch die Bundesrepublik fuhr, niemand in den Arm fiel: kein Polizist, nirgends – und weit und breit kein Verfassungsschützer, der Alarm schlug. Zeit also, über die Zukunft des Verfassungsschutzes nachzudenken.
Der Bundesinnenminister sprach in seltener Offenheit von „kläglichem Versagen“, sein oberster Verfassungsschützer von einer „Niederlage“. Sie müssen es wissen: Gerade das „Frühwarnsystem“, als das sich unsere Verfassungsschützer seit Jahr und Tag andienen, hat so versagt wie nie zuvor in sechzig Jahren. Als wäre das nicht genug, kam der haarsträubende Verdacht auf, der Verfassungsschutz könnte sogar in diese Mordserie verstrickt sein. Die Nachrichten aus Thüringen lassen Schlimmes befürchten: Gab es behördliche Deckung beim Abtauchen? Standen V-Leute mit den Untergetauchten in näherem Kontakt, als man dies heute wahrhaben will? Und ist es wirklich blanker Zufall, dass sich am Tatort in Kassel, ausgerechnet am 6. April 2006, als Halit Yozgat erschossen wurde, ein hauptamtlicher Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes aufhielt?
Wie tief das Ansehen der deutschen Sicherheitsbehörden gesunken ist, lässt eine Äußerung von Jörg Ziercke, dem Chef des Bundeskriminalamts, ahnen. Er sprach geradezu beschwörend davon, die Behörden müssten das „Vertrauen“, ja die „Achtung“ der Bevölkerung zurückgewinnen. Was die Arbeit des Verfassungsschutzes anbelangt, wird (teils durchaus treffend) vor „Fehldeutungen“, „Pauschalisierungen und Zerrbildern“ gewarnt, ja eine „in den Medien kursierende ‚Hau den Verfassungsschutz‘-Stimmung“ beklagt.1 Doch alle Beschwichtigungsversuche ändern nichts am dramatischen Vertrauensverlust. Fest steht: Die Aufklärung muss dieses Mal umfassender und radikaler sein als jemals zuvor bei einem Verfassungsschutzskandal. Wir halten es für zwingend, parlamentarische Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Was der Bundestag und die Landtage von Thüringen und Sachsen beschlossen haben, ist auch in Hessen notwendig.2 Erst im Vollbesitz der „ganzen“ Wahrheit, wenn es denn eine solche im Geheimdienstmilieu überhaupt geben kann, ist es möglich, Konsequenzen zu ziehen – beziehungsweise darüber zu streiten, welche die „richtigen“ sind. Das gilt für einzelne Maßnahmen im institutionellen Geflecht der Sicherheitsbehörden, zum Beispiel für Formen der Kooperation. Es gilt vor allem für neuerliche Verbotsforderungen gegen die NPD (die geradezu kontrafaktisch wieder aufgetischt wurden und von den offenkundigen Problemen der Sicherheitsapparate nur ablenken).
Dagegen ist es nicht zu früh, die strukturellen Probleme zu diskutieren, das heißt, über Konsequenzen nachzudenken, die sich auf die Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik als Ganzes beziehen.3 Deren vier traditionelle Säulen Polizei, Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) gelten als bewährt und unumstößlich. Wir halten in diesem Buch dagegen. Eine dieser Säulen, von Anfang an fehl am Platze und im Laufe der Zeit mehr Probleme hervorbringend als lösend, hat es nicht verdient, reformiert zu werden: Wer den Verfassungsschutz behutsam aus dieser Konstruktion herausnimmt, braucht nicht zu gewärtigen, das ganze Gebäude der inneren Sicherheit stürze ein. Im Gegenteil, die auf das Inland bezogene Sicherheitspolitik kann nur übersichtlicher und effizienter werden. Das Ende der Extremistenausspähung wird ein Zugewinn an Freiheit, also ein Gewinn für die Bürgerrechte sein.
Verfassungsschützer, das wissen sie selbst am besten, können es einfach keinem recht machen. Einerlei, ob es um das doppelte Spiel von V-Leuten, die Beobachtung politischer Parteien oder die „hoheitlichen Verrufserklärungen“ (Jürgen Seifert) in den alljährlichen Berichten geht: Den einen gehen sie mit den falschen Mitteln gegen die richtigen Leute, den anderen mit den richtigen Mitteln gegen die falschen Leute vor; diesen gehen sie nicht weit genug, jenen sind sie nicht zurückhaltend und verhältnismäßig genug; den Linken gehen sie zu lahm gegen Rechte und natürlich zu eifrig gegen Linke vor und vice versa. Dass Verfassungsschützer es keinem recht machen können, liegt nicht allein an unvermeidbaren Fehlern oder vermeidbaren Pannen und auch nicht allein an der Trägheit, mit der sie sich den Zyklen der innerstaatlichen Feinderklärung anpassen – es liegt vor allem anderen an der Fehlkonstruktion einer Behörde, deren Kernaufgabe, die unterschiedslose Ausspähung von „Extremisten“, sich überlebt hat. Und deren ideologischer Zentralbegriff, der des Extremismus, dermaßen kontaminiert ist, dass er zu nichts Gutem taugt.
Auch wenn heute der „Kampf gegen rechts“ mehrheitsfähig ist: Die deutsche Gesellschaft, nach sechs Jahrzehnten leidlich demokratisiert und rechtsstaatlich sensibilisiert, fragt sich zunehmend, ob ein solcher Geheimdienst wirklich notwendig ist. Und um welchen Preis sein bescheidener Nutzen erkauft wird. Diesem weit verbreiteten Unbehagen am Verfassungsschutz wollen wir nachgehen. Und zeigen, dass nur eine beherzte Zäsur der verfahrenen Situation wirklich beikommen kann: Der Verfassungsschutz bietet keine Lösung, er ist nur das symptomatische Problem einer Demokratie, die einst sich selbst nicht traute. Die Berliner Republik – längst dabei, eine selbstbewusste Demokratie zu werden – hat solche Extremistenspiele nicht länger nötig.
Bereits 1995, in dem Buch Republikschutz, haben wir unsere Auseinandersetzung mit dem Verfassungsschutz durch eine Kritik der „streitbaren Demokratie“ fundiert. Denn er ist und bleibt der institutionelle Arm eines verkürzten Demokratieverständnisses. Wir stellen auch die anderen Instrumente der streitbaren Demokratie, die Grundrechteverwirkung (Art. 18) und das Parteiverbot (Art. 21 Abs. 2 GG) auf den Prüfstand. Ohne eine Reflexion der Grundwidersprüche des zaghaften Selbstverständnisses deutscher Demokraten hängt die Forderung nach Abwicklung des Verfassungsschutzes in der Luft.
Ohne Einsicht in den singulären Charakter dieses Geheimdienstes, der sich einer besonderen Konstellation der westdeutschen Demokratiegründung von 1949 verdankt, wird nicht verständlich, warum man auf diese Einrichtung heute gut und gerne verzichten kann. In Demokratien ist es nicht üblich, Bürgerinnen und Bürger auf eine gesinnungsbezogene Verfassungstreue zu verpflichten und Parteien – obgleich diese sich an die Spielregeln des friedlichen Meinungskampfes halten – als „extremistisch“ abzustempeln und von einem Geheimdienst kontrollieren zu lassen.
Wir werden in diesem Buch erneut zur Sache gehen – ohne Schadenfreude, Rechthaberei und ohne Verschwörungstheorie. Das schließt Schärfe und Angriffslust nicht aus – immerhin sind wir seit 1991 damit beschäftigt, das deutsche Glaubensbekenntnis der „inneren Sicherheit“ in Frage zu stellen.4 Eine gewisse Befangenheit räumen wir ein – schließlich reichen die Anfänge unserer eigenen politischen Erfahrung in Zeiten zurück, da Staat und Gesellschaft den „Kampf gegen links“ probten – unter Schlagworten wie „Radikalenerlass“ und „Sympathisanten des RAF-Terrors“. Doch gerade wer in dieser Zeit lernen musste, Freiheit und Gleichheit zu verteidigen, hat nicht vergessen, dass die Bürgerrechte unteilbar sind. Illiberalität wird nicht dadurch besser, dass sie sich gegen den politischen Gegner wendet.
Um Missverständnisse von vornherein auszuschließen: So vehement wir für einen radikalen Pluralismus eintreten, der auch noch die Verächter der Freiheit in den friedlichen Meinungskampf einbezieht und zu integrieren versucht, so kategorisch stehen wir für die Verteidigung der demokratischen Republik ein, die keinerlei Versuche dulden muss, sie mit Gewalt zu beseitigen. Wo immer also Gewalt ins politische Spiel kommt, ist eine Grenze erreicht, die niemand ungestraft überschreitet. Republikschutz ist so weit wie nur möglich liberal, an der Gewaltgrenze aber rigoros und kompromisslos: Wer die demokratischen Spielregeln verletzt, handelt „verfassungswidrig“ – einerlei, auf welche Ideologie er sich beruft.
„Wie lange noch?“ Die bange Frage in der Festschrift zum vierzigsten Geburtstag des Verfassungsschutzes, gestellt von Gerhard Boeden, dem damaligen Chef des Kölner Bundesamtes, zeigt an, dass man im Gehäuse dieser Bürokratie schon einmal weiter war mit der Sinnfrage.5 Dass der Verfassungsschutz dem spezifischen Kern seiner Sache nach überflüssig ist, werden wir begründen. Wie diese Institution binnen fünf Jahren behutsam und sozialverträglich abgewickelt werden kann, wie ihre besser befähigten Personalreste in den polizeilichen Staatsschutz integriert werden können, legen wir ebenfalls dar. Wir schlagen diese Reform vor, auch wenn uns natürlich klar ist, dass sie im Augenblick geringe Chancen hat, politisch verwirklicht zu werden. Wir wollen Anstöße geben für einen gesellschaftlichen Lernprozess, der, wenn er nur weit genug vorangetrieben wird, eines Tages auch die notwendigen institutionellen Konsequenzen ziehen kann. Und die viel beschworene Sicherheitslücke ist eine Chimäre, es wird sie nicht geben. Der Verfassungsschutz als solches ist genauso gut verzichtbar wie sein Lieblingsspielzeug, die geheimdienstlich geführten V-Leute. Es gibt ein Leben nach dem Verfassungsschutz. Für die Berliner Republik, auf die wir setzen, sind das gute Aussichten.
Kassel und Essen, im Mai 2012 C. L. & H. M.
„Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen: Guten Tag an alle. Lieber Präsident, liebe Bundeskanzlerin, liebe Gäste, ich grüße Sie alle in Respekt. Ich bin der, der am 6. April 2006 im Internetcafé den mit einer Kugel im Kopf sterbenden 21-jährigen Halit Yozgat in seinen Armen hielt – ich bin sein Vater, Ismail Yozgat.
Zuallererst möchte ich mit meinem ganzen Herzen, das bislang viel getragen hat und noch tragen muss, von hier aus Bundespräsident Wulff unsere Grüße und Verehrung übermitteln. Voller Bewunderung erinnern wir uns an seine Gastfreundschaft. Ich danke ihm. Dank auch an diejenigen, die die heutige Zeremonie gestaltet haben. Ich möchte all jenen Menschen aus Kassel-Baunatal und Umgebung für ihre Mühe danken, die darin bestand, dass sie mir bis heute ein Weiterleben ermöglicht haben.
Drei Briefe mit Absender Frau Professor Barbara John erreichten mich. Es ging um die Begräbniskosten und ob wir 10.000 € bekommen möchten. Wir als Familie Yozgat möchten das alles nicht haben. Jedoch bitten wir um drei Dinge: Dass die Mörder und ihre Helfer gefangen werden. Mein Vertrauen in die deutsche Justiz war immer vorhanden, von nun an, so hoffe ich, wird es vollkommen sein, Insallah, so Gott will.
Zweitens: Mein Sohn Halit Yozgat ist in der Holländer Straße 82 zur Welt gekommen und in der Holländer Straße unten im Ladenlokal erschossen worden und gestorben. Wir als Familie möchten die Holländer Straße gerne in Halit-Straße benennen lassen. Wir bitten um Mithilfe.
Drittens: Wir möchten, dass im Namen der zehn Verstorbenen eine Stiftung für Krebskranke gegründet wird und alle Preise und Hilfen dorthin geleitet werden.
Nochmals: Allen Organisatoren dieses Tages danke ich herzlich.“6
Ismail Yozgat
Die Stadt Kassel teilte inzwischen mit, man habe den „verständlichen Wunsch“ der Eltern sorgfältig geprüft, werde ihm aber nicht entsprechen, sondern stattdessen einen kleinen, bislang namenlosen Platz in der Nähe des Tatorts in „Halit-Platz“ benennen und zudem die dortige Straßenbahnhaltestelle entsprechend umbenennen (vgl. Presseerklärung Nr. 254 vom 3. April 2012; die Entscheidung geht auf einen einstimmigen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung zurück; Berichterstattung und Leserdiskussion in der Lokalzeitung Hessisch-Niedersächsische Allgemeine unter: www.hna.de).
„Rechtsterroristische Aktivitäten könnten in Zukunft aus folgenden Konstellationen entspringen: […] Einzelpersonen oder ein aus wenigen Personen bestehender harter Kern suchen für ihr terroristisches Projekt Beteiligte, die nicht als Mittäter in Frage kommen, sondern lediglich Zulieferfunktion für die Tatausführung haben und über die tatsächlichen Ziele und die Identität der Täter nicht unterrichtet sind. […] Unorganisierte [oder organisierte] Einzelpersonen versuchen sich der staatlichen Beobachtung oder Verfolgung zu entziehen und schaffen sich einen Raum in der Illegalität, aus dem heraus sie planvoll gegen einen festumrissenen Opferkreis Straftaten begehen können.“7 Aus dieser Einschätzung von Ernst Uhrlau, der 1993 über „die Gefahr rechtsterroristischer Gruppenbildung“ nachdachte, spricht ein hohes Maß an prognostischer Urteilskraft. Uhrlau, damals Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, ist als Sozialwissenschaftler einer der wenigen Nichtjuristen unter den leitenden Geheimdienstbeamten und auch sonst eine Ausnahmeerscheinung.8 Ihm wird ein Satz zugeschrieben, der einem in diesen Tagen wieder durch den Kopf geht: Im Kampf gegen Rechtsradikale entscheidet sich die Zukunft des Verfassungsschutzes.
Die Leserinnen und Leser dieses Buches laden wir ein, unserem Gedankengang sowie der Besichtigung und Analyse des realen Verfassungsschutzes zu folgen – und am Ende selbst über die Zukunft dieser Ämter und der „streitbaren Demokratie“ zu urteilen. Oder vielleicht in Sachen NPD-Verbot ein schon längst gefälltes Urteil im Lichte guter Gegenargumente zu überdenken. So haben wir es gehalten. Es kann gar nicht schaden, die Sache gegen den Strich zu bürsten. Und sei es, um ein altes „Vorurteil“ mit neuen Argumenten zu fundieren.
„Nationalsozialistischer Untergrund“: Der schreckliche Name ist Programm. Diese beispiellose fremdenfeindliche Mordserie macht einen frösteln, ebenso wie der Gedanke, dass den Mördern in all den Jahren niemand in den Arm fiel.9 Stattdessen wurde „Döner-Morde“ – von der Polizei aufgebracht und auch in kritischen Medien distanzlos verbreitet – zum Unwort des Jahres 2011. Monate sind vergangen, doch der Schock sitzt tief. Der Verdacht steht im Raum, dass Polizisten und Staatsanwälte einseitig ermittelten, dass V-Leute im Dunstkreis der späteren Terrorzelle aktiv waren, ja dass es womöglich eine fatale Nähe zwischen dem „NSU“ und dem Verfassungsschutz gab. „Die Dienste beherrschen die Kunst der Lücke. Bundesanwalt Griesbaum freut sich, es gebe keine Belege für die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Zwickauer Zelle. Es übersteigt seine Phantasie, dass eine deutsche Behörde etwas ohne Belege unternehmen könnte. Doch nicht der Beleg schafft den Missstand, nicht das Bekennerschreiben ist das Verbrechen.“10
Aufklärung hat eine kriminalistisch-investigative und eine politisch-evaluative Seite. Der Generalbundesanwalt und seine Ermittler müssen alles daran setzen, den eigentlichen Fall nach allen Mittel ihrer Kunst kriminalistisch aufzuklären. Es gibt aber auch eine politische Dimension, nicht von ungefähr war im Zuge der ersten Enthüllungen von „Staatsund Vertrauenskrise“, ja von „Systemversagen“ die Rede. Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, dass der Bundestag und der Thüringer Landtag sowie der Sächsische Landtag jeweils einen Untersuchungsausschuss eingesetzt haben; Hessen muss dem unseres Erachtens folgen. Ob diese parlamentarischen Untersuchungsausschüsse wirklich eine zu allem entschlossene Aufklärung vorantreiben, muss sich erst noch zeigen. Es liegt auf der Hand, dass die in den Fall verwickelten Sicherheitsbehörden nicht in der Lage sind, die eigenen „Pannen“ aufzudecken – einmal unterstellt, sie sind dazu überhaupt willens. Der Skandal um die jahrelange Mordserie des NSU – eine unglaubliche Verknüpfung von singulärem Kriminalfall und beispiellosen Behördenfehlern – muss auf allen Ebenen aufgeklärt werden. Das heißt, er muss aus allen Behördenunterlagen und dem gesamten Wissen aller Beteiligten lücken- und rücksichtslos rekonstruiert werden.
Die Untersuchungsausschüsse müssen Zugang zu ausnahmslos allen Akten bekommen und das Recht, sämtliche beteiligte Beamte zu befragen – einerlei, ob Polizisten, Staatsanwälte oder Geheimdienstler. Auch was die Vorladung von V-Leuten betrifft, darf es auf keinen Fall den sonst üblichen „Quellen- und Geheimnisschutz“ geben. Die jeweiligen Innenminister als oberste Dienstvorgesetzte sind in der Verantwortung, Polizisten und Verfassungsschützern umfassende Aussagegenehmigungen erteilen zu lassen. Sobald sich der erste Beamte auf eine fehlende oder beschränkte Aussagegenehmigung beruft, ist der zuständige Minister politisch haftbar zu machen: Ein Minister hat es in der Hand, über die jeweilige Behördenspitze direkt auf die Handhabung von Sperrvermerken Einfluss zu nehmen.
An der Art und Weise, wie die einzelnen Behörden dem Untersuchungsausschuss des Bundestages zuarbeiten und ihre gesamte Arbeit im Umfeld des Tatkomplexes NSU offen legen, wird sich erweisen, ob sie wirklich kooperieren oder im Zweifel doch vertuschen wollen. Und an dem, was sich ein Untersuchungsausschuss von der Exekutive bieten lässt, wird sich wiederum erweisen, wie ernst es die Parlamentarier mit der „schonungslosen“ Aufklärung meinen. Gerade in diesem Fall darf es nicht zu dem „paradoxen Zustand“ kommen, den der einst im Widerstand aktive Jurist und Publizist Richard Schmid schon 1978 für Deutschland beklagte: dass nämlich „ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss an der Ermittlung der Fakten gehindert wird, weil derjenige, dessen Amtsführung untersucht werden soll, die Genehmigung zur Aussage nicht erteilt“.11
Öffentlichkeit und Volksvertretungen sind vergesslich, aber die minutiöse Rekonstruktion und Aufklärung des Falles NSU muss professionell ins Werk gesetzt werden – mit höchster Priorität, unter Aufbietung aller sachlichen und personellen Mittel. Und da hier ein komplexes Staatsversagen im Spiel ist, muss die Untersuchung ohne Rücksicht auf irgendwen und irgendetwas durchgeführt werden: Unvermögen und Fehler Einzelner, von Dienststellen oder ganzen Institutionen oder das Versagen politischer Instanzen – all dies muss ins Licht der Öffentlichkeit. Auf keinen Fall darf sich jene Erfahrung mit der parlamentarischen Kontrolle von Geheimdiensten bestätigen, die der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach so auf den Punkt gebracht hat: „Wer etwas weiß, kommt nicht; wer kommt, weiß nichts; und wer etwas weiß und kommt, sagt nichts.“12
„Die NSU-Morde sind unser 11. September“, erklärte Generalbundesanwalt Range (die tageszeitung vom 9. Juni 2012). Angesichts der politischen Dimension dieser Mordserie ist es auch nicht zu hoch gegriffen, in Sachen NSU einen Untersuchungsbericht im Stil des Nine-Eleven-Reports zu erwarten, den eine Kommission des US-Senats vorlegte. Diese tagte zwanzig Monate, befragte mehr als eintausend Personen, sichtete zwei Millionen, oft als geheim eingestufte Dokumente und rekonstruierte minutiös den Verlauf und die Hintergründe der Attacken des 11. September. All diese Bemühungen waren nicht zuletzt deswegen so ertragreich, weil sich in den USA kein Beamter gegenüber einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss auf seine Verpflichtung zur Dienstverschwiegenheit berufen kann. Die Mitglieder des Berliner NSU-Ausschusses unter Leitung des erfahrenen Innenpolitikers Sebastian Edathy (SPD) wären gut beraten, die Maßstäbe, die der US-Senat gesetzt hat, ihrer eigenen Arbeit zugrunde zu legen.
Im deutschen Fall des NSU wird es neben der Arbeit der Kriminalpolizei nicht zuletzt um die Rolle von V-Leuten gehen und um die Frage, ob und inwieweit Ämter für Verfassungsschutz über deren Aktivitäten in die Mordserie verstrickt sind. Die Herkulesaufgabe wird viel Zeit beanspruchen, nötigenfalls ist die Arbeit des Untersuchungsausschusses nach der nächsten Bundestagswahl durch einen neuerlichen Beschluss fortzusetzen.
Zwei Beispiele für das eklatante Fehlverhalten mögen hier genügen. Nach einem Bericht des MDR sollen Zielfahnder 1998 oder 1999 den Aufenthaltsort der drei untergetauchten späteren NSU-Mitglieder in Chemnitz entdeckt haben.13 Daraufhin leitete man ihre Festnahme durch ein Sondereinsatzkommando in die Wege; indes wurde die Aktion unmittelbar vor ihrem Anlaufen gestoppt – sehr zur Empörung der daran beteiligten Polizeibeamten, die sich bei der Amtsleitung beschwert haben sollen. Gerüchte besagen, der Zugriff sei auf Veranlassung des thüringischen Verfassungsschutzes gestoppt worden – ebenso wie der Rückzug der Zielfahnder. Das Thüringer Landeskriminalamt (LKA) hat diese Darstellung des MDR dementiert. Vorausgesetzt, an der Geschichte ist etwas dran: Welches Interesse könnte der Verfassungsschutz gehabt haben, die Untergetauchten zu schützen?
Des Weiteren gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der Verfassungsschutz in Thüringen aus eigenen Ermittlungen gewusst hat, wo sich Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zeitweise aufhielten. Ein Observationsfoto des Trios, aufgenommen am 15. Mai 2000 in Chemnitz, das in die Akten des Thüringer LKA gelangte, soll dies belegen – weil es ursprünglich, so die Vermutung, vom Verfassungsschutz stammt. Sollte sich das bestätigen, gäbe es ein weiteres Indiz dafür, dass die Untergetauchten, zumindest zeitweise, durch den Verfassungsschutz gedeckt wurden. Aber warum?
Mit der Ausgangsfrage, warum die drei überhaupt untertauchen konnten, nachdem im Zuge einer Razzia am 26. Januar 1998, die sieben Wohnungen in Jena und mehreren Garagen galt, in einer der Garagen eine Bombenwerkstatt ausgehoben wurde – mit dieser Frage beschäftigt sich ein Sonderermittler. Zeitungsberichten zufolge soll Uwe Böhnhardt während der Durchsuchung einer Garage, die neben der elterlichen Wohnung lag, noch zugegen gewesen sein. Er wurde jedoch nicht festgehalten und konnte sich, nachdem dort nichts gefunden wurde, ungehindert entfernen. Der ehemalige Bundesrichter Gerhard Schäfer, bestellt vom thüringischen Innenminister Jörg Geibert, soll unter anderem die Frage untersuchen, warum der erst zwei Tage später ausgestellte Haftbefehl nicht vollstreckt werden konnte. Und warum es keine vorläufigen Festnahmen unmittelbar durch die Polizei gab.14 Immerhin waren, kurz nachdem man Böhnhardt hatte laufen lassen, in einer anderen Garage fünf funktionsfähige Rohrbomben sichergestellt worden – zwar ohne Zünder, doch mit insgesamt 1,4 kg TNT. Der ehemalige Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes, Helmut Roewer, eine besonders zwielichtige Figur, der man eine geistige Nähe zur radikalen Rechten unterstellen darf,15 mutmaßte, die Untergetauchten müssten Helfer bei der Polizei in Jena gehabt haben. Ist dies ein substantiierter Verdacht oder eher ein Ablenkungsmanöver, das der Entlastung des arg in Bedrängnis geratenen Verfassungsschutzes dienen soll? Was wird aus dem Ermittlungsverfahren, das eine Staatsanwaltschaft gegen den Thüringer Verfassungsschutz aufgrund einer Privatanzeige aufnahm: Gab es also Strafvereitelung im Amt und behördliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung?16
Über diesen verwickelten Details steht die generelle Überlegung, ob die Mordserie hätte verhindert oder wenigstens irgendwann gestoppt werden können. Wie der Spiegel berichtet, seien in den neunziger Jahren im Umfeld des Trios mindestens drei V-Leute aktiv gewesen.17 „Es gibt […] einen Satz, der noch nie widerlegt wurde“, schrieb Nils Minkmar in der FAS: „‚Wenn sich jemand über viele Jahre einer intensiven Fahndung entziehen kann, dann genießt er staatlichen Schutz.‘ Das ist das Fazit des Terrorexperten und früheren CIA-Agenten Bruce Riedel nach dem Ende der größten Suchaktion der Geschichte, der Jagd auf Usama Bin Laden.“ Und mit Blick auf das Aussageverhalten von Sicherheitsbeamten im neuen Strafprozess gegen die RAF-Terroristin Verena Becker setzt Minkmar hinzu: „Es ist immer die gleiche Geschichte: Verfolgt man die Spur des Terrors nur lange genug, endet man vor einem geheimen Dienstgebäude. […] Die offene Gesellschaft unterhält eine geschlossene und wundert sich nun.“18
Bedenkt man das Wenige, das von den Praktiken des Thüringer Verfassungsschutzes bis heute bekannt ist, so scheint der Verdacht einer Nähe, jedenfalls aber eines Laufenlassens, eines Duldens und Teilwissens als Arbeits- und Untersuchungshypothese gerechtfertigt. Dabei muss auch folgende Frage beantwortet werden: Waren mutmaßliche Mitglieder des NSU zeitweilig für den Verfassungsschutz tätig? Gelang es ihnen, diesen über die wahren Aktivitäten der Zelle zu täuschen? Über Beate Zschäpe kursierten in der Szene Gerüchte, sie habe ein doppeltes Spiel gespielt. Das würde erklären, warum der Verfassungsschutz das Trio nicht nur untertauchen ließ, sondern später auch noch in der Illegalität abschirmte.
Statt nun alles daran zu setzen, diesen Kriminalfall aufzuklären, erliegen nicht wenige der Versuchung, offene Rechnungen zu begleichen: Die NPD, das „Flaggschiff der Rechtsradikalen“, müsse nun endlich „versenkt“ werden.19 Was soll das mit der Aufklärung in Sachen NSU zu tun haben? Diese Spielart des Schiffeversenkens ist grotesk. Dass sich die Sicherheitsbehörden bis auf die Knochen blamiert haben, versetzt die deutsche Politik in einen Zustand gesteigerter Hilf- und Kopflosigkeit. Und was tut sie? Statt wenigstens die eigene Ratlosigkeit – die im Grunde doch alle teilen – einzugestehen und nachzudenken, wird Handlungsfähigkeit simuliert: hier eine neue Antiterrordatei, da ein „Abwehrzentrum Rechtsextremismus“ und dort ein energisches Parteiverbot. Im Spielfilm Casablanca lässt der Polizeichef „die üblichen Verdächtigen“ verhaften; hiesige Politiker lassen, sobald es brenzlig wird, die „üblichen Extremisten“ verbieten.
Diese deutschen Zustände sind unter aller Kritik, doch sie bleiben ihr Gegenstand. Um es gleich zu sagen: Die neuerliche Verbotsdebatte hat kein Fundament in der Sache. Symptomatisch dafür ist, dass sie sogleich mit dem Bekanntwerden der Mordserie aufgewärmt wurde: zu einer Zeit, als es nicht den geringsten Hinweis auf irgendeine direkte Verbindung zwischen der NPD und der Terrorzelle NSU gab. Doch als käme es darauf gar nicht an, kaprizierten sich die Verbotsbefürworter, einer schlechten Gewohnheit folgend, auf die indirekten Verbindungen. Dabei geriet die Sprache der Kommentatoren arg ins Schleudern. „Geistige Brandstifter“ war noch das Geringste; die Partei als „Schulungszentrum für handgreiflichen Rassismus“ und „Durchlauferhitzer für Gewalt“, als „Nährboden für Hass und tödliche Gewalt“ und „Hort“ der Terroristen – die vielfach variierten Anwürfe steigerten sich ins Nebulös-Fantastische.20 Das mag sich für kritischen Journalismus halten; es begründet aber keine Kausalität zwischen schlimmer Hetze und schlimmerer Tat. Mutmaßungen über Fernverbindungen taugen nichts; das wird klar, sobald hieb- und stichfeste, das heißt gerichtsverwertbare Tatsachen verlangt werden, die man für ein Parteiverbot bekanntlich braucht.
Aber es gehe doch, lautet ein oft zu hörender Einwand, um politische Brunnenvergiftung: Zählt die gar nicht? Als Frage der politischen Kultur sicher, aber nicht als Kurzschluss zwischen Wort und Tat. Rassistische genau wie antisemitische Propaganda kann das gesellschaftliche Klima vergiften – doch bleibt selbst das Schüren von Vorurteilen Teil des Meinungskampfes und ist durch die Meinungsfreiheit geschützt. Bei weitem nicht alles, was viele als abstoßend und unanständig empfinden, ist in einer Demokratie als Volksverhetzung strafbar. Und das ist gut so. Es gehört, auch wenn es manchmal weh tut, zum Ertragen, ja zum Stolz auf das Grundgesetz, selbst Ausländerfeinden und Antisemiten die Meinungs-, Versammlungs- und Parteienfreiheit zuzugestehen.21
Um noch einmal Missverständnissen vorzubeugen: Gäbe es wirklich direkte Verbindungen zwischen NPD und NSU, das Schicksal der Partei wäre besiegelt. Die Unterstützung fremdenfeindlicher Mordtaten, und sei sie noch so geringfügig, ist ein Verbotsgrund par excellence. Einer Partei der Helfershelfer könnte das Verfassungsgericht, bei Gefahr im Verzuge, sogar im Eilverfahren alle Aktivitäten vorläufig untersagen. Nehmen wir zum Beispiel an, ein hauptamtlicher Funktionär der NPD hätte sich am Tatort in Kassel aufgehalten – aber anwesend war, rein zufällig, ein hauptamtlicher Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes! Oder nehmen wir an, die späteren Hinrichter hätten sich in der NPD radikalisiert – aber nein, sie taten es ja im „Thüringer Heimatschutz“! Und der wurde, wie man inzwischen weiß, von einem hochbezahlten V-Mann des Verfassungsschutzes aufgebaut und angeführt.22
Zutreffend ist, dass Ralf W., ein ehemaliger Thüringer NPD-Funktionär, als mutmaßlicher Unterstützer des NSU festgenommen wurde; er sitzt in Untersuchungshaft, die Vorwürfe gegen ihn wiegen schwer. Und der Verdacht, er habe dem NSU eine Waffe zukommen lassen, scheint sich zu erhärten. Das geht aus einem Geständnis des später inhaftierten, mutmaßlichen Helfers Carsten S. hervor: Er will 1999 von Ralf W. Geld für das Besorgen der späteren Tatwaffe, der berüchtigten Ceska-Pistole bekommen haben (und war so wie W. zeitweise in der NPD aktiv). Ob sich das Verhalten beider der NPD als Partei zurechnen lässt, das müssen die Ermittlungen allerdings erst noch zeigen.23 Der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, bezeichnete den springenden Punkt: Das kriminelle Verhalten eines Einzelnen muss der Partei als organisationsspezifische Eigenart24